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Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Zeitgemässer und kompetenzorientierter Unterricht im Fach Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG) beruht auf Nachdenken und vernetzt Perspektiven. Dieses Studienbuch zeigt Grundlagen und Nutzen eines solchen Unterrichts auf, bietet eine Basis für die Erarbeitung von kompetenzorientierten Aufgaben und hilft bei der Planung des eigenen Unterrichts. Es werden elf übergeordnete Fragestellungen mit didaktischen Analysen und konkreten Aufgabenbeispielen vorgestellt. Hinweise auf Unterrichtsmaterialien und weiterführende Literatur erleichtern die Umsetzung. Zur vertieften Auseinandersetzung motivieren Fragen und Arbeitsaufträge für die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen.
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Seitenzahl: 474
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Paolo Trevisan, Dominik Helbling (Hrsg.)
Nachdenken und vernetzen in Natur, Mensch, Gesellschaft
Studienbuch für den kompetenzorientierten Unterricht im 1. und 2. Zyklus
ISBN Print: 978-3-0355-0789-8 ISBN E-Book: 978-3-0355-1207-6
Coverfoto: ExcaliburMedia, iStock/Thinkstock
1. Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
© 2018 hep verlag ag, Bern
www.hep-verlag.ch
Zusatzmaterialien und -angebote zu diesem Buch: http://mehr.hep-verlag.ch/nachdenken-und-vernetzen
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
TEIL 1 – FACHVERSTÄNDNIS
Natur, Mensch, Gesellschaft – ein vielperspektivisches und integratives Fach | Paolo Trevisan
1 NMG – ein vielperspektivisches Fach in der Begegnung und Auseinandersetzung mit der Welt
2 Grundlegende Bildung als Ziel im NMG-Unterricht
3 Fachperspektivität und Integration in NMG
4 Die übergeordnete Fragestellung als Dreh- und Angelpunkt
5 Ausblick: Die übergeordnete Fragestellung im Kontext der Unterrichtsplanung
Literaturverzeichnis
Fragen zu Teil 1
Arbeitsanregungen für die Aus- und Weiterbildung
TEIL 2 – PHILOSOPHIEREN
Der Fraglichkeit der Welt mit nachdenklichem Lernen begegnen: Philosophieren in Natur, Mensch, Gesellschaft | Dominik Helbling
1 Philosophieren mit Kindern
2 Philosophieren in Natur, Mensch, Gesellschaft
3 Philosophieren anleiten
4 Ertrag: Nachdenken fördern
Literaturverzeichnis
Fragen zu Teil 2
Arbeitsanregungen für die Aus- und Weiterbildung
TEIL 3 – KOMPETENZFÖRDERUNG
Unterrichtseinheiten planen: LUKAS-Prozessmodell kompetenzfördernder Aufgabensets | Yves Karrer
1 Praxisbeispiel
2 Definition
3 Kompetenzfördernde Aufgabensets im Planungsprozess
4 Unterschiedliche funktionale Aufgabentypen
5 Aufgabensets in einer kompetenzorientierten Unterrichtseinheit
6 Planungsschritte
7 Umsetzungshilfen
Literaturverzeichnis
Fragen zu Teil 3
Arbeitsanregungen für die Aus- und Weiterbildung
TEIL 4 – ÜBERGEORDNETE FRAGESTELLUNGEN
Kann man Zeit sehen? (Kindergarten) | Claudia Röösli Stübi
1 Kindergarten-Zeit
2 Begründung der Fragestellung
3 Zentrale Sachkonzepte zur Fragestellung
4 Das Aufgabenset im Überblick
5 Exemplarische Aufgaben
6 Die philosophische Frage zum Thema: Ist Zeit immer gleich lang?
7 Ertrag: Für ein eigenständiges Leben zentral
Hinweise auf Materialien
Literaturverzeichnis
Warum feiern Menschen Feste? (1./2. Klasse) | Dominik Helbling
1 Die feiernde Schule
2 Begründung der Fragestellung
3 Zentrale Sachkonzepte zur Fragestellung
4 Das Aufgabenset im Überblick
5 Exemplarische Aufgaben
6 Die philosophische Frage zum Thema: Warum feiern Menschen Feste?
7 Ertrag: Klären und begehen
Hinweise auf Materialien
Literaturverzeichnis
Mädchen Hochhäuser bauen, und dürfen Jungen mit Puppen spielen? (1. Zyklus) | Sandra Büchel-Thalmaier
1 Geschlechterbewusste Pädagogik: Den Wahrnehmungs- und Handlungsspielraum erweitern
2 Begründung der Fragestellung
3 Zentrale Sachkonzepte zur Fragestellung
4 Das Aufgabenset im Überblick
5 Exemplarische Aufgaben
6 Die philosophische Frage zum Thema: Können Frauen und Männer (Mädchen und Jungen) alles gleich gut?
7 Ertrag: Geschlechterbewusst – auf verschiedenen Ebenen ansetzen
Hinweise auf Materialien
Literaturverzeichnis
Wie glücklich sind (meine) Haustiere? (3./4. Klasse) | Regula Schmidt
1 Haustiere – ein Thema für die Schule?
2 Begründung der Fragestellung
3 Zentrale Sachkonzepte zur Fragestellung
4 Das Aufgabenset im Überblick
5 Exemplarische Aufgaben
6 Die philosophische Frage zum Thema: Was ist Glück?
7 Ertrag: Unrealistische Darstellungen hinterfragen
Hinweise auf Materialien
Literaturverzeichnis
Warum schmeckt mir, was mir schmeckt? (3./4. Klasse) | Edith Fink
1 Warum sollen wir uns in der Schule mit Geschmäckern und gesundem Essen befassen?
2 Begründung der Fragestellung
3 Zentrale Sachkonzepte zur Fragestellung
4 Das Aufgabenset im Überblick
5 Exemplarische Aufgaben
6 Die philosophische Frage zum Thema: Warum mögen wir nicht alle dasselbe?
7 Ertrag: Warum schmeckt mir, was mir schmeckt?
Hinweise auf Materialien
Literaturverzeichnis
Wie echt sind Dinosaurier wirklich? (3./4. Klasse) | Paolo Trevisan
1 Was haben Dinos in der Schule zu suchen?
2 Begründung der Fragestellung
3 Zentrale Sachkonzepte zur Fragestellung
4 Das Aufgabenset im Überblick
5 Exemplarische Aufgaben
6 Die philosophische Frage zum Thema: Warum interessieren uns längst ausgestorbene Tiere wie die Dinosaurier?
7 Ertrag: Was haben Dinosaurier in der Schule zu suchen?
Hinweise auf Materialien
Literaturverzeichnis
Was nützt uns heute die Römerstadt Augusta Raurica? (3./4. Klasse) | Sabine Ziegler
1 Abschied von den alten Römern?
2 Begründung der Fragestellung
3 Zentrale Sachkonzepte zur Fragestellung
4 Das Aufgabenset im Überblick
5 Exemplarische Aufgaben
6 Die philosophische Frage zum Thema: Welche Reste aus der Vergangenheit sind erhaltens- und schützenswert und warum?
7 Ertrag: Die Römer bleiben! Und: Ausserschulisches Lernen – immer eine Reise wert
Hinweise auf Materialien
Literaturverzeichnis
Was ist Heimat? Nachdenken über Heimat, Migration und Flucht (4.–6. Klasse) | Yves Karrer
1 Heimat – Bedürfnis und Zumutung
2 Begründung der Fragestellung
3 Zentrale Sachkonzepte zur Fragestellung
4 Das Aufgabenset im Überblick
5 Exemplarische Aufgaben
6 Die philosophische Frage zum Thema: Was ist Heimat?
7 Ertrag: Heimat als Unterrichtsgegenstand in der Schule?
Hinweise auf Materialien
Literaturverzeichnis
Wen macht Schokolade glücklich? (2. Zyklus) | Matthias Hoesli
1 Weshalb Schokolade in den NMG-Unterricht gehört
2 Begründung der Fragestellung
3 Zentrale Sachkonzepte zur Fragestellung
4 Das Aufgabenset im Überblick
5 Exemplarische Aufgaben
6 Die philosophische Frage zum Thema: Was ist gerecht?
7 Ertrag: Perspektivenwechsel und Wertediskussion
Hinweise auf Materialien
Literaturverzeichnis
Wem gehört der Sempachersee? (5./6. Klasse) | Gilbert Stalder
1 Warum eine alte Geschichte in der Primarschule aufrollen?
2 Begründung der Fragestellung
3 Zentrale Sachkonzepte zur Fragestellung
4 Das Aufgabenset im Überblick
5 Exemplarische Aufgaben
6 Die philosophische Frage zum Thema: Muss man auf andere Rücksicht nehmen?
7 Ertrag: Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) am Beispiel des Sempachersees
Hinweise auf Materialien
Literaturverzeichnis
Wann wird Schall zu Lärm? (5./6. Klasse) | Ueli Studhalter
1 Von lauten Klassenzimmern und akustischen Phänomenen
2 Begründung der Fragestellung
3 Zentrale Sachkonzepte zur Fragestellung
4 Das Aufgabenset im Überblick
5 Exemplarische Aufgaben
6 Die philosophische Frage zum Thema: Ist alles, was laut ist, Lärm?
7 Ertrag: Erkenntnisse zu akustischen Phänomenen anhand des Umweltproblems Lärm
Hinweise auf Materialien
Literaturverzeichnis
Fragen zu Teil 4
Arbeitsanregungen für die Aus- und Weiterbildung
TEIL 5 – JAHRES- UND ZYKLENPLANUNG
Jahres- und Zyklusplanung in Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG) – ein Modell für den 1. und 2. Zyklus | Sandra Büchel, Claudia Röösli Stübi, Ueli Studhalter, Paolo Trevisan
1 Worum geht es?
2 Jahres- und Zyklusplanung als Teil einer dreifachen Unterrichtsplanung
3 Lehrplan 21: Verbindlichkeiten und Probleme
4 Allgemeine Grundlagen der Jahres- und Zyklusplanung
5 Modell zur Erstellung einer Jahres- und Zyklusplanung im 1. Zyklus
6 Beispiel einer Jahres- und Zyklusplanung im 1. Zyklus
7 Modell zur Erstellung einer Jahres- und Zyklusplanung im 2. Zyklus
8 Beispiel einer Jahres- und Zyklusplanung im 2. Zyklus
Literaturverzeichnis
Fragen zu Teil 5
Arbeitsanregungen für die Aus- und Weiterbildung
Bildnachweis
Autorinnen und Autoren
«Natur, Mensch, Gesellschaft» (NMG) – so wird im Lehrplan 21 das Schulfach der Volksschule genannt, das in der wissenschaftlichen Gemeinschaft in der Regel mit dem Begriff «Sachunterricht» bezeichnet wird. Die Konkretisierung des Sachunterrichts durch diese drei Begriffe verdeutlicht, worum es gemäss Lehrplan 21 in diesem Fachbereich geht. Die Schülerinnen und Schüler sollen ihre Lebenswelt zur Frage werden lassen und deren Strukturen in umfassender Weise fachlich neu erschliessen und somit hinterfragbar werden lassen. Sie sollen sich in der Wissensvielfalt orientieren und zunehmend kompetent handeln lernen. Gleichzeitig macht der Dreiklang auch deutlich, dass das Schulfach seine fachwissenschaftlichen Grundlagen aus verschiedenen grossen Wissenschaftsbereichen bezieht, aus Natur- und Technikwissenschaften ebenso wie aus den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. Der NMG-Unterricht soll jedoch dadurch nicht zu einem Sammelgefäss für verschiedene einzelfachliche Didaktiken, sondern zu einem Integrationsfach mit eigener Dignität werden. Die einzelnen Wissenschaftsbereiche werden aus diesem Grunde im Lehrplan 21 nicht als separat verstandene Bezugsdisziplinen, sondern als fachliche Perspektiven aufgeführt, die es im Unterricht sinnstiftend zu verbinden gilt. Dies bietet dem Fachbereich neben zahlreichen Chancen auch spezifische Herausforderungen.
Konsens herrscht in der Fachwelt dahingehend, dass die zentrale Idee des Sachunterrichts sich in der Integration der wissenschaftlichen Bezüge zeigt. Es stellt sich also zunächst die Frage, wie sich die Kultur eines Fachs fassen lässt, das mehrere fachliche Perspektiven aufweist. An der damit verbundenen Frage nach dem Verhältnis von Disziplinarität und Interdisziplinarität wird – mit unterschiedlichen Konjunkturen – seit den 1970er-Jahren in unterschiedlichen theoretischen Konzeptionen gearbeitet. Insbesondere die Konzepte aus den 70er-Jahren wurden in der Fachwelt zwar hoch gelobt, waren aber in Bezug auf Ihre Praxistauglichkeit eingeschränkt und fanden daher kaum Verbreitung. In der Zwischenzeit wurden vor allem perspektivenbezogene Arbeiten und Konzepte verfolgt, dies jedoch ohne den Grundanspruch der Interdisziplinarität explizit aufzugeben.
Mit dem Aufkommen des fächerübergreifenden Anliegens einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) erhielt dieser Grundanspruch eine neue Bedeutung und Dringlichkeit. Aus der Zusammenarbeit zwischen Expertinnen und Experten aus den Bereichen Sachunterrichtsdidaktik und BNE an der damaligen Pädagogischen Hochschule Solothurn wurden folgende Leitgedanken für einen integrativ verstandenen Sachunterricht erarbeitet:
•«Der Unterricht dient dem übergeordneten Ziel, die Schülerinnen und Schüler bei der Erschliessung der Lebenswirklichkeit zu unterstützen und ihre Bereitschaft und Fähigkeit zu fördern und zum Handeln zu ermutigen. Deshalb ist eine Rückbindung an übergeordnete Bildungsziele im Sinne der Allgemeinbildung notwendig.
•Für den Unterricht werden komplexe, gesellschaftlich und fachlich relevante Themen gewählt; diese Themen werden sachgerecht und unter Hinzuziehen relevanten Wissens aus den Bezugswissenschaften des Sachunterrichts bearbeitet. Ausgangspunkt dazu ist die Formulierung einer übergeordneten Fragestellung.
•Die Themen des Unterrichts werden so umrissen und aufbereitet, dass sie die Balance halten zwischen der Orientierung an fachwissenschaftlicher Relevanz und der Orientierung an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Der Unterricht vermittelt den Schülerinnen und Schülern belastbares Wissen sowie grundlegende Erfahrungen und Einsichten aus relevanten Gebieten wissenschaftlichen Denkens.
•Die Wissensbestände und Vorgehensweisen verschiedener fachwissenschaftlicher Perspektiven des Sachunterrichts werden bei der Bearbeitung komplexer Themen nicht additiv nebeneinandergestellt, sondern anhand einer übergeordneten Fragestellung zu einer Gesamtsicht vernetzt. Mittel dazu ist ein interdisziplinär reflektierter perspektivenverbindender Sachunterricht.
•Die verschiedenen ‹Modi der Weltbegegnung› und ein konstruktivistisches Lernverständnis, das das individuelle Lernen der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt stellt, charakterisieren den Sachunterricht.»[1]
Das vorliegende Studienbuch zeigt, wie diese Leitgedanken in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung an der Pädagogischen Hochschule Luzern weiterentwickelt werden, und gibt praktische Hinweise, wie Sachunterricht anders verstanden und umgesetzt werden kann. Es ist erfreulich, dass Studierende mit diesen neuen Zugängen konfrontiert werden und Modelle für eine integrative Unterrichtsgestaltung kennenlernen. Das Studienbuch leistet damit einen wertvollen Beitrag im Hinblick auf einen integrativ konstituierten NMG-Unterricht.
Prof. Dr. Christine Künzli David und Prof. Kuno Schmid
Einleitung
Neue Herausforderungen
Als einziges Schul- und Studienfach, das sich mit der Welt in all ihren Facetten beschäftigt, stellt der Sachunterricht an sich – nach neuem Lehrplan «Natur, Mensch, Gesellschaft» (NMG) – schon eine grosse Herausforderung für Studierende und Lehrende dar. Wie soll mit der Vielzahl seiner fachlichen Perspektiven umgegangen werden? Welche Inhalte sollen zum Tragen kommen und warum gerade diese? Was soll das Fach zur Allgemeinbildung beitragen? Wie gelingt es, zum Nachdenken anzuregen, statt nur deklaratives Wissen anzuhäufen? Mit der Einführung des Lehrplans 21 kommen weitere Herausforderungen hinzu, wie zum Beispiel die Ausrichtung des Unterrichts auf Kompetenzen mit detailliert aufgeführten Kompetenzstufen und eine darauf aufbauende Zyklenstruktur, in der NMG nicht wie bisher nur die Primarstufe betrifft, sondern vom Kindergarten bis zum Ende der Volkschule reicht, oder die Forderung, die überfachlichen Kompetenzen von Medien und Informatik und von Bildung für nachhaltige Entwicklung in NMG einzubauen.
Gerade für die ersten beiden Zyklen kann die Vielzahl der aufgelisteten Kompetenzen, Kompetenzstufen und Inhalte dazu führen, dass diese einfach nacheinander abgearbeitet werden. Auf der Strecke blieben dadurch gerade jene Aspekte, die das Wesentliche des Fachs ausmachen: den Lernenden eine vertiefte und vernetzende Begegnung und Auseinandersetzung mit der Welt in all ihren Perspektiven zu ermöglichen. Ziel des vorliegenden Studienbuches ist deshalb, für die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen des ersten und zweiten Zyklus Anregungen zu geben für einen auf Nachdenken beruhenden und Perspektiven vernetzenden Unterricht in NMG, der bildungsrelevant und kompetenzorientiert ist. Es zeigt Grundlagen und Nutzen eines solchen Unterrichts auf, bietet eine Basis für die Erarbeitung von kompetenzorientierten Aufgaben, hilft bei der Planung des eigenen Unterrichts und stellt ausgehend von übergeordneten Fragestellungen elf didaktische Analysen mit konkreten Aufgabenbeispielen vor, zu denen Hinweise zu Unterrichtsmaterialien und weiterführender Literatur geliefert werden. Das Studienbuch ist in fünf Teile gegliedert.
Teil 1: Fachverständnis
Durch seine vielfältigen Bezüge zu verschiedenen Disziplinen bzw. Fächern stellt NMG als Schulfach des ersten und zweiten Zyklus ein besonderes Konstrukt dar. Ein Konstrukt, das jedoch nicht als blosse «kleine Ausgabe» der überwiegend auf fachlichen Strukturen beruhenden Perspektiven des dritten Zyklus verstanden werden darf. Auch eine Reduzierung seiner Rolle und Bedeutung auf eine reine Zubringerfunktion für weiterführende Schulen würde entschieden zu kurz greifen. In den ersten beiden Zyklen besitzt NMG einen eigenständigen Bildungswert, der sich in der vielfältigen Auseinandersetzung und Begegnung von Schülerinnen und Schülern mit der Welt manifestiert. Seine Berechtigung als Schulfach erhält es, so wie alle anderen Fächer auch, durch explizit auszuweisende Beiträge zu einer grundlegenden Bildung.[2] Wissen und Können der fachlichen Bezugsdisziplinen, der Zielstufe entsprechend konkretisiert in den Kompetenzen und Kompetenzstufen des Lehrplans, bilden dabei die Grundlage des Fachs. Sie dienen dazu, verschiedene Erkenntnisinteressen und Zugänge zur Welt voneinander zu unterscheiden und die Lebenswelt zu erschliessen und zu ordnen. Das Verstehen einer komplexen Welt bedingt jedoch zudem die Fähigkeit, Wissen zu vernetzen und über grundlegende Fragen nachzudenken. Lehrpersonen müssen deshalb fähig sein, ein solches Wissen und Können bei den Lernenden im Hinblick auf die Beschäftigung mit gesellschaftlichen, das heisst bildungsrelevanten Fragestellungen zu entwickeln. Übergeordnete Fragestellungen dienen dabei als Dreh- und Angelpunkt des NMG-Unterrichts und bilden sozusagen den roten Faden, der sich durch eine Unterrichtseinheit zieht, da sowohl Zielsetzung als auch Sachanalyse und Auswahl der Methoden sich danach ausrichten.
Teil 2: Philosophieren
Ein an Fachwissenschaften orientierter Lehrplan macht Schülerinnen und Schülern spezifisches Wissen und Zugänge verfügbar. Er kann jedoch auch dazu führen, dass Schülerinnen und Schüler vor allem lernen, dass es auf alles eine Antwort gibt und die Lehrperson sie weiss. Eine solche Welt, die bis in den hintersten Winkel vermessen ist, ist für Kinder denkbar uninteressant. Und eine pädagogische Haltung, die sie mit Erwachsenenwissen belehrt, verhindert Neugierde und Entdeckungslust. Der Ansatz des Philosophierens mit Kindern möchte deshalb das Staunen und Hinterfragen kultivieren und das kritische Nachdenken fördern. Dazu braucht es kein eigenes Fach, denn in allen Fächern lassen sich Fragen stellen, die nicht fachlich zu beantworten sind und deshalb nach einem Gespräch verlangen. Damit dies für den NMG-Unterricht nutzbar gemacht werden kann, wird der Ansatz des Philosophierens eingeführt und es werden einige grundlegende Arbeitsmittel vorgestellt. Gerade die übergeordnete Fragestellung ist häufig philosophischer Natur, weil sie uneindeutig ist, fachliche Perspektiven überschreitet, einen existenziellen Kern aufweist und ergebnisoffen formuliert ist. Sie kann die Schülerinnen und Schüler dazu anregen, Wissen miteinander zu vernetzen und gleichzeitig über dessen Grenzen hinaus nachzudenken. Wer sich auf das Abenteuer einlässt, mit den Schülerinnen und Schülern zu staunen, zu fragen und in Zweifel zu ziehen, der wird eine Bereicherung des Unterrichts für sich und die ganze Klasse erfahren.
Teil 3: Kompetenzförderung
Die derzeitige didaktische Diskussion und der Lehrplan 21 folgen dem Paradigma der Kompetenzorientierung. Nicht möglichst viel deklaratives Wissen soll angehäuft, sondern ausgewählte Kompetenzen sollen gefördert werden. Merkmale dieses kompetenzfördernden Unterrichts sind insbesondere authentische Anforderungssituationen und der kumulative Kompetenzaufbau. Diese beiden Merkmale beeinflussen die Aufgabenkultur des NMG-Unterrichts entscheidend. Zum einen sind Aufgaben so zu gestalten, dass Schülerinnen und Schüler immer für eine für sie nachvollziehbare Anwendung lernen. Zum anderen muss Lernen so gestaltet sein, dass das Erlernte gefestigt und immer wieder geübt wird. Erst dadurch wird eine Kompetenz auch nachhaltig erworben. Ein wirksames Mittel für die Planung von kompetenzförderndem Unterricht ist das Prozessmodell LUKAS (Luzerner Modell zur Entwicklung kompetenzfördernder Aufgabensets)[3], das in Anlehnung an geläufige Unterrichtsartikulationsschemen verschiedene Funktionen von Aufgaben unterscheidet und zueinander in Beziehung setzt. Teil 3 führt in das Prozessmodell ein und formuliert Beispiele für den NMG-Unterricht.
Teil 4: Übergeordnete Fragestellungen
Warum schmeckt mir das, was mir schmeckt? Wie glücklich sind Haustiere? Ist alles, was laut ist, auch lärmig? Was sich inhaltlich und an der Planung und Durchführung von Unterricht ändert, wenn statt eines Stichworts (z. B. «Ernährung», «Tiere» oder «Schall») eine Fragestellung im Zentrum steht, zeigen elf Beiträge, die verschiedene fachliche Perspektiven aufnehmen und miteinander kombinieren. Sie beinhalten didaktische Analysen, kompetenzfördernde Aufgabensets mit exemplarischen Aufgaben und einen dazugehörigen Katalog zu einer philosophischen Frage. Sie lösen damit exemplarisch ein, was der didaktische Ansatz einfordert, nämlich einen zum Nachdenken anregenden und vernetzenden Unterricht zu gestalten. Die elf Beiträge weisen stets denselben Aufbau auf: Eine Einleitung macht den Zusammenhang zur Schule deutlich; daran anschliessend wird die Bildungsrelevanz der Fragestellung entlang der didaktischen Trias Kind–Sache–Gesellschaft und die Verortung im Lehrplan erörtert; zentrale Sachkonzepte verdeutlichen, unter welcher Perspektive ein Gegenstand erschlossen wird; eine Übersicht zu einem möglichen Aufgabenset und exemplarische Aufgaben geben Einblick, wie Kompetenzförderung konkret geschehen soll; eine dazu passende philosophische Frage wird mit einem Fragenkatalog aufbereitet; eine Zusammenfassung beschliesst jeweils den Beitrag. Schliesslich verweisen wir auf relevante Literatur und didaktisches Material. Auf diese Weise wird der didaktische Ansatz konkret.
Teil 5: Jahres- und Zyklenplanung
Ein Konzept für eine Jahresplanung im Fachbereich NMG für den ersten und zweiten Zyklus bewegt sich zwischen rechtlichen Rahmenbedingungen (z. B. Wochenstundentafel), Vorgaben des Lehrplans (z. B. Zyklenstruktur, Kompetenzorientierung, verbindliche Inhalte) und Umsetzungsbedingungen in der Praxis. Da eine Eins-zu-eins-Umsetzung der zahlreichen Kompetenz(-stufen) und verbindlichen Inhalte des Lehrplans weder zu bewältigen noch wünschenswert ist, muss eine Gewichtung und Auswahl getroffen werden. Auch in diesem Fall leistet die Ausrichtung auf übergeordnete Fragestellungen gute Hilfe. Geht man von übergeordneten Fragestellungen aus, können verschiedene Kompetenzbereiche und Kompetenzen verbunden werden, was nicht zuletzt der mehrperspektivischen und integrativen Anlage des Fachs entgegenkommt. Mit sechs bis sieben Fragestellungen als Unterrichtsthemen pro Jahr können die zentralen Anforderungen des Lehrplans abgedeckt werden. Selbst überfachliche Anliegen aus den Bereichen Bildung für nachhaltige Entwicklung sowie Medien und Informatik lassen sich jeweils sinnvoll für die Behandlung einer Fragestellung berücksichtigen.
Der Flipper
Die Suche nach einer geeigneten übergeordneten Fragestellung führt eine Lehrperson zunächst dazu, sich mit einigen wesentlichen Aspekten von Unterricht in NMG auseinanderzusetzen. Dazu gehört speziell die Herausforderung, für Lernende relevante Wissens- und Könnensbereiche zu identifizieren. Geht man von einem inhaltlichen Stichwort aus, besteht die Gefahr, unzusammenhängendes und beliebiges Wissen zu produzieren. Auf der Suche nach einer geeigneten übergeordneten Fragestellung muss man sich aber vielmehr ihre Bedeutsamkeit für Kind, Sache und Gesellschaft vergegenwärtigen. Wie in einem Flipper geht zum Beispiel das Stichwort «Ernährung» (der Spielball) von einem Bezugspunkt zum anderen, um abzuklären, worin die relevanten Fragen, fachlichen Potenziale, Lehrplanbezüge zu diesem Stichwort bestehen. Es gilt, den «Spielball» möglichst lange im Spielfeld zu halten, da dadurch die Chance steigt, eine gute übergeordnete Fragestellung formulieren zu können. Hat man eine befriedigende Fragestellung gefunden, folgt danach eine Auswahl der an der Behandlung der Frage beteiligten fachlichen Perspektiven und deren Wissensbestände. Überlegungen zu Unterrichtszielen und zu Unterrichtsmethoden können nun folgen. Das Bild des Flippers stellt eine Metapher dar für den zirkulären Prozess der Unterrichtsvorbereitung. Der hinten im Buch beigelegte Flipper liefert eine Kurzform des didaktischen Ansatzes, der die Unterrichtsvorbereitung erleichtert.
Zum Gebrauch des Studienbuches
«Nachdenken und vernetzen in Natur, Mensch, Gesellschaft» ist als Studienbuch konzipiert. Es gehört damit in die Hand von angehenden und praktizierenden Lehrpersonen sowie von Dozierenden an pädagogischen Hochschulen. Es ist allerdings nicht allein zur Lektüre geeignet, sondern auch zum Weiterdenken und Weiterarbeiten in Lehrveranstaltungen, Kursen und Teamdiskussionen. Dazu einige Anregungen:
•Den Ansatz der übergeordneten Fragestellung versteht man am besten, wenn man sich in der Formulierung solcher Fragestellungen übt. Bilder der Welt (z. B. Burgruine, Flüchtlingsboot, Gebetsfahnen, Tiere, Getränkeflasche) dienen als Inspiration, eine solche zu formulieren.
•Manche NMG-Werkstatt ist ein Sammelsurium unzusammenhängenden Wissens. Solche Unterrichtsmaterialien werden entlang der didaktischen Trias auf ihre Bildungsrelevanz analysiert. Der Flipper hilft dabei, den Überblick zu wahren.
•Philosophieren lernt man durch Philosophieren. Es lohnt sich, im Rahmen von Lehrveranstaltungen mit Studierenden, in Weiterbildungskursen und im Team philosophische Gespräche zu führen und sie führen zu lassen.
•Wenn man das System der Aufgabensets verstanden hat, dann erleichtert es die Strukturierung des Unterrichts. Bis dahin braucht es Übung. Mit verschiedenfarbigen Kärtchen können Aufgaben entlang des Prozessmodells so lange geordnet werden, bis ein stimmiges kompetenzförderndes Aufgabenset erstellt ist.
•Aus den Analysen und den Aufgabensets der elf exemplarischen Fragestellungen können Unterrichtsmaterialien erstellt werden. Umgekehrt kann ausgehend von bestehendem Unterrichtsmaterial entlang des Aufbaus der elf Fragestellungen eine didaktische Analyse erstellt werden.
•Letztlich ist jedes Team gefordert, eine für seine Situation stimmige Planung zu erstellen. Die vorliegende Jahresplanung ist ein Vorschlag, an dem man Vor- und Nachteile benennen oder alternative Fragestellungen diskutieren kann.
Konkrete Fragen und Arbeitsaufträge sind jeweils am Schluss der Teile 1 bis 5 zu finden.
Dank
Die Herausforderungen, welche die komplexe Struktur von NMG an Studierende und Lehrpersonen in der Praxis stellt, gelten in gleichem Masse auch für Lehrende der Fachdidaktik NMG an pädagogischen Hochschulen. Hinzu tritt, dass die Mehrperspektivität des Fachs es notwendig macht, dass sich Dozierende aus mehreren Bezugswissenschaften des NMG-Unterrichts zusammen mit Expertinnen und Experten aus verschiedenen fächerübergreifenden Bildungsanliegen an der Entwicklung und Umsetzung des Studienplans beteiligen müssen. Alle sind dabei gefordert, ihr disziplinäres und interdisziplinäres Wissen im Hinblick auf dessen Beitrag zur Entwicklung einer von allen getragenen mehrperspektivischen und integrativen Fachdidaktik kritisch zu hinterfragen.[4] In diesem Sinne stellt der vorliegende Band auch ein Teamentwicklungsprojekt dar, das zum Ziel hatte, ausgehend von je unterschiedlichen fachlichen Hintergründen einen Beitrag zu einem gemeinsamen Verständnis des Fachs NMG zu leisten. Dieses didaktische Konzept möchten wir damit in die fachdidaktische Diskussion einbringen. Den Herausgebern ist es ein Anliegen, den Kolleginnen und Kollegen für ihren Beitrag zum Gelingen des Projekts «Studienbuch NMG» herzlich zu danken.
Der hep verlag hat uns in unserem Vorhaben, unseren didaktischen Ansatz einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, von Beginn an unterstützt. Wir danken Peter Egger und Susanne Gentsch für die Aufnahme in das Verlagsprogramm und Tatjana Straka für die zuverlässige Begleitung.
Für den namhaften Zuschuss zu den Druckkosten danken wir der Pädagogischen Hochschule Luzern. Unser Dank geht auch an die Dienststelle für Volksschulbildung des Kantons Luzern, welche die Ausarbeitung eines Modells zur Jahres- und Zyklenplanung finanziell unterstützt hat.
Wir wünschen den Lesenden in Aus- und Weiterbildung anregende Lektüre und erhellende Diskussionen. Wir hoffen, dass wir einen Beitrag zur Entwicklung der NMG-Didaktik leisten können.
Die Herausgeber, April 2018
Das Fach Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG) lädt zur Auseinandersetzung mit der Welt aus unterschiedlichen Perspektiven ein. Um einen bildungsrelevanten Unterricht gewährleisten zu können, werden didaktische Kriterien benötigt. Dieser Teil führt zunächst entlang des Lehrplans 21 ins Fach ein und legt dar, wie grundlegende Bildung im Fachbereich NMG verstanden werden kann. Danach führt er durch unterschiedliche Arten der Perspektivenkoordination und optiert für einen perspektivenübergreifenden Ansatz. Als Dreh- und Angelpunkt wird die übergeordnete Fragestellung als Mittel zur Unterrichtsplanung eingeführt.
Natur, Mensch, Gesellschaft – ein vielperspektivisches und integratives Fach
Paolo Trevisan
Mit der Einführung des Lehrplans 21 in den Kantonen der Deutschschweiz entsteht vom Kindergarten bis zur Sekundarstufe I ein neues Schulfach mit der Bezeichnung «Natur, Mensch, Gesellschaft» (NMG). Dieses neue Schulfach tritt auf der Primarschulstufe die Nachfolge eines Schulfaches an, das zuvor noch viele Namen trug und auf unterschiedlichen Lehrplänen fusste. In der Innerschweiz und in den Kantonen Sankt Gallen und Zürich hiess es zum Beispiel «Mensch und Umwelt», im Kanton Solothurn «Sachunterricht», im Kanton Bern «Natur–Mensch–Mitwelt», in den Kantonen Aargau, Graubünden und Thurgau «Realien», in Basel-Land und Basel-Stadt «Mensch–Gesellschaft–Umwelt». NMG stellt in der Schullandschaft etwas Besonderes dar, da es eine Vielzahl unterschiedlicher fachlicher Perspektiven aufweist und in sich integriert. Der neue Lehrplan weist denn auch besonders auf diese «Spezialität» hin: «Natürliche und kulturelle, wirtschaftliche, soziale und historische Phänomene, Situationen und Sachen stehen im Fachbereich Natur, Mensch, Gesellschaft im Vordergrund, insbesondere auch die Wechselwirkungen zwischen Menschen und ihrer Um- und Mitwelt. Diese Phänomene, Sachen und Situationen können aus verschiedenen inhaltlichen Perspektiven und mit verschiedenen Zugangsweisen und Methoden betrachtet und erschlossen werden.»[5]
Diese inhaltliche Vielfalt äussert sich in den Themen, die im Rahmen dieses Fachs unterrichtet werden. So tauchen in den Unterrichtsstuben der Primarschule regelmässig Themen wie «Herbst», «Wasser», «Unsere Gemeinde», «Leben in der Jungsteinzeit», «Waldtiere», «Apfel» usw. auf, deren Inhalte auf unterschiedliche fachliche Perspektiven verweisen. Am Beispiel «Apfel» lässt sich diese vielperspektivische Zugangsweise gut illustrieren (siehe Abb. 1).
Jede fachliche Perspektive von NMG bezieht sich dabei auf unterschiedliche Wissensdomänen und begegnet der Sache deshalb mit je eigenem Erkenntnisinteresse und mit je eigenem Erkenntnispotenzial. Je nachdem, welche fachliche «Brille» wir aufsetzen, haben wir einen ganz anderen Apfel vor uns. Die einzelnen fachlichen Perspektiven haben aber für sich allein betrachtet auch ihre Erkenntnisgrenzen und können dadurch nur einen eingeschränkten Ausschnitt der Welt erklären. Erst im Zusammenspiel mit anderen fachlichen Perspektiven können viele Gegenstände, Probleme und Fragen unserer Welt in ihrem Reichtum und in ihren Widersprüchen erfasst und verstanden werden. Deshalb muss oft auch «quer» zu den fachlichen Perspektiven gedacht werden, damit Zusammenhänge sichtbar werden. Also nicht nur ein bisschen «historischer Apfel», dann ein bisschen «geografischer» und zuletzt ein bisschen «biologischer Apfel». NMG versteht sich in Kindergarten und Primarschule vielmehr als ein Integrationsfach, das diese fachliche Vielfalt als Chance sieht, bei Kindern ein vernetztes Verstehen ihrer Um- und Mitwelt anzubahnen und zu fördern. Das könnte zum Beispiel gelingen, wenn man im Unterricht von der Frage ausgeht, was eigentlich aus der Sicht unterschiedlicher fachlicher Perspektiven und Akteure einen «guten» Apfel ausmacht.
Tabelle 1
Perspektivfelder, Disziplinen/Fächer, Themenbereiche und Handlungsaspekte von NMG (in Anlehnung an GDSU 2013)
Fachliche Perspektiven NMG
Fächer/Disziplinen
Konzepte, Themenbereiche
Handlungsaspekte
Ethische und Philosophische Perspektive
Philosophie
Werte und Normen
Ethische Urteilsfindung;
Philosophieren
Religionskundliche Perspektive
Religionswissenschaft, Theologie
Religionen und Weltsichten
Kulturelle Spuren identifizieren, religiöse Texte und Schriften erläutern
Historische Perspektive
Geschichte
Zeit, Dauer und Wandel, Fakten und Fiktionen, Orientierung in der Zeit
Sich in Zeiten orientieren, Umgang mit Quellen und Darstellungen, Geschichte rekonstruieren
Geografische Perspektive
Geografie
Raumnutzung, Lebensweisen und Lebensräume
Räume erkunden, sich in Räumen orientieren
Sozioökonomische Perspektive
Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaften
Konsum und Lebensstil, Produktions- und Arbeitswelten
Wünsche und Bedürfnisse beschreiben, ordnen, vergleichen
Naturwissenschaftliche/technische Perspektive
Biologie, Chemie, Physik
Tiere, Pflanzen, Lebensräume, natürliche Phänomene, Stoffe, technische Entwicklungen
Wechselwirkungen innerhalb von Lebensräumen identifizieren und mit Modellen verdeutlichen
Soziale Perspektive
Soziologie
Gemeinschaft und Gesellschaft, Zusammenleben, Konflikte und Konfliktlösungsstrategien
Argumentieren, zwischen Gruppen verhandeln, partizipieren
Was ist unter fachlichen Perspektiven in Zusammenhang mit NMG zu verstehen? Fachliche Perspektiven dienen der Welterschliessung, sie ordnen und interpretieren die Welt unter Zuhilfenahme bewährter und erprobter Instrumente und ergänzen, vertiefen, korrigieren unser alltagsweltliches Wissen in Richtung belastbareres Wissen.[6] Sie bilden nicht direkt Fächer wie «Geschichte», «Biologie» usw. der weiterführenden Schulen oder wissenschaftliche Disziplinen ab. So ist zum Beispiel die historische Perspektive nicht einfach mit der universitären Disziplin oder dem Fach «Geschichte» gleichzusetzen. Sie beruht zwar auf deren inhaltlichen und methodischen Erkenntnissen, geht aber von den Interessen der Kinder und ihren Lebenswelterfahrungen «mit Fragen menschlichen Lebens und Handelns im Wandel der Zeit»[7]. Kinder leben in einer Welt voller geschichtlicher Bezüge, sei es in Form von Computerspielen mit historischem Inhalt, sei es in Form von Filmen, Büchern oder Museen. Kinder entwickeln dadurch eigene Vorstellungen und Fragen zu geschichtlichen Themen. Hier knüpft die historische Perspektive innerhalb des Fachbereichs NMG an, indem sie diese kindlichen Vorstellungen aufnimmt und in Richtung belastbares Wissen weiterentwickelt. Ähnlich verhält es sich mit den anderen fachlichen Perspektiven von NMG.
Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die fachlichen Perspektiven von NMG.[8] Die Spalte «Fächer/Disziplinen» benennt die an die Perspektiven anschliessenden Fächer der weiterführenden Schulen bzw. die zugrundliegenden wissenschaftlichen Disziplinen. Die Spalten «Themenbereiche» und «Handlungsaspekte» konkretisieren die spezifischen Leistungen der fachlichen Perspektiven von NMG anhand von Beispielen. Diese Beispiele sollen veranschaulichen, welchen Beitrag die fachlichen Perspektiven von NMG für das zentrale Bildungsziel dieses Schulfachs, die Kinder in ihrem Weltverstehen zu unterstützen und zu fördern, leisten. Fachliche Perspektiven können deshalb auch als «Aufgabenbereiche» von NMG betrachtet werden, die «sich in Bezug auf Inhalte und Verfahren einerseits aus der Position der Kinder, d. h. aus ihrem Erfahrungshintergrund und ihrem Lernbedürfnis, andererseits als Perspektiven auf Wissenschaftsbereiche und das kulturell bedeutsame Wissen [konstituieren]».[9]
Der Verweis in Tabelle 1 auf «Konzepte/Themenbereiche» und «Handlungsaspekte» der fachlichen Perspektiven weist darauf hin, dass diese nicht allein durch fachliche Inhalte definiert sind. Durch die Zusammenführung der Kategorien «Konzepte/Themenbereiche» und «Handlungsaspekte» können spezifische Kompetenzen formuliert werden, über die Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Primarschulzeit verfügen sollen.
Tabelle 2
Kompetenzbereiche NMG und zugrundeliegende fachliche Perspektiven im Lehrplan 21 (nach D-EDK 2016). Inhaltliche Konzepte/Themenbereiche sind fett ausgezeichnet, Handlungsaspekte kursiv.
Kompetenzbereiche NMG (1. und 2. Zyklus)
Zentrale fachliche Perspektiven
1.Identität, Körper, Gesundheit – sich kennen und sich Sorge tragen
Soziale und naturwissenschaftliche Perspektive
2.Tiere, Pflanzen und Lebensräumeerkunden und erhalten
Naturwissenschaftliche/technische Perspektive; geografische Perspektive
3.Stoffe, Energie und Bewegungenbeschreiben, untersuchen und nutzen
Naturwissenschaftliche/technische Perspektive
4.Phänomene der belebten und unbelebten Naturerforschen und erklären
Naturwissenschaftliche/technische Perspektive
5.Technische Entwicklungen und Umsetzungenerschliessen, einschätzen und anwenden
Naturwissenschaftliche/technische Perspektive
6.Arbeit, Produktion und Konsum – Situationen erschliessen
Sozioökonomische Perspektive
7.Lebensweisen und Lebensräume von Menschenerschliessen und vergleichen
Geografische Perspektive
8.MenschennutzenRäume– sich orientieren und mitgestalten
Geografische Perspektive
9.Zeit, Dauer und Wandelverstehen– Geschichte und Geschichtenunterscheiden
Historische Perspektive
10.Gemeinschaft und Gesellschaft – Zusammenlebengestalten und sich engagieren
Historische und sozioökonomische Perspektive
11.Grunderfahrungen, Werte und Normenerkunden und reflektieren
Philosophische Perspektive
12.Religionen und Weltsichtenbegegnen
Religionskundliche Perspektive
Im Lehrplan 21 für den Fachbereich NMG erscheinen die in Tabelle 1 genannten fachlichen Perspektiven für den ersten (Kindergarten bis 2. Klasse) und zweiten Zyklus (3. bis 6. Klasse) denn auch nicht als solche, sondern als Bestandteil von zwölf Kompetenzbereichen (siehe Tab. 2). Diese umfassen sowohl inhaltliche Konzepte/Themenbereiche (mit Substantiven ausgedrückt) als auch Handlungsaspekte (mit Verben ausgedrückt). Die inhaltlichen Konzepte und Themenbereiche der Kompetenzbereiche können einer oder mehreren fachlichen Perspektiven von NMG zugewiesen werden. Jeder der zwölf Kompetenzbereiche enthält seinerseits in der Regel vier bis sechs Kompetenzen. Jede Kompetenz wird dann noch in die Kompetenzstufen a bis x unterteilt. Wie bei den Kompetenzbereichen umfassen Kompetenzen und Kompetenzstufen sowohl inhaltliche Konzepte/Themenbereiche als auch Handlungsbereiche.
Im dritten Zyklus (Sekundarstufe I) fasst der Lehrplan 21 für NMG die fachlichen Perspektiven in vier grosse Perspektivfelder zusammen: «Natur und Technik» (NT), «Wirtschaft, Arbeit, Haushalt» (WAH), «Räume, Zeiten, Gesellschaften» (RZG) und «Ethik, Religionen, Gemeinschaft» (ERG). Die Grundlage dieser vier Perspektivfelder bilden jeweils traditionelle Disziplinen bzw. Fächer, gleichzeitig beinhalten sie aber auch Bezüge zu überfachlichen Bereichen wie Technik, Haushalt oder Gemeinschaft. Auch im dritten Zyklus umfasst jede Perspektive verschiedene Kompetenzen, die ihrerseits in Kompetenzstufen aufgegliedert werden.
Neben der Ausrichtung an Kompetenzformulierungen hat sich das vielperspektivische Fach NMG, wie alle anderen Schulfächer, grundsätzlich an der Frage zu messen, inwiefern es einen Beitrag zur grundlegenden Bildung von Kindern leistet.
Bildung ist eine pädagogische Aufgabe, die gerichtet ist «auf das geistige Werden junger Menschen, auf die Entwicklung der Vernunft, auf Selbstfindungsprozesse und den Aufbau von Selbstständigkeit sowie auf mögliche Lebensperspektiven, auf verständige Teilhabe an der Kultur und Zuwachs an Entfaltungsmöglichkeiten»[10]. Hans Werner Heymann konkretisiert den Bildungsbegriff mittels eines Aufgabenkatalogs, der als Grundlage für die Verortung der spezifischen Leistung eines Schulfaches zur grundlegenden Bildung zu verstehen ist. Als Aufgaben im Sinne einer Allgemeinbildung nennt Heymann: Lebensvorbereitung, Stiftung kultureller Kohärenz, Weltorientierung, Anleitung zum kritischen Vernunftgebrauch, Entfaltung von Verantwortungsbereitschaft, Einübung in Verständigung und Kooperation und Stärkung des Schüler-Ichs.[11] Nicht jedes Schulfach wird jede Teilaufgabe gleichwertig erfüllen können, jedes Fach sollte sich aber darüber Rechenschaft abgeben, zu welcher dieser Teilaufgaben es einen Beitrag leisten kann (siehe Tab. 3).
Tabelle 3
Beitrag des Fachbereichs NMG zu den Aufgaben von Bildung (nach Heymann 1997)
Teilaufgaben von Bildung nach Heymann
Leitfragen
Mögliche Beiträge NMG
Lebensvorbereitung
Die Lernenden eignen sich Qualifikationen an, die für eine vernünftige Bewältigung alltäglicher Situationen des Berufs- und Privatlebens in unserer Gesellschaft hilfreich oder unverzichtbar sind.
Welche elementaren Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten vermittelt das Fach?
Verschiedene Denk-, Arbeits- und Handlungsweisen (die Welt wahrnehmen, sich die Welt erschliessen und sich darin orientieren, in der Welt handeln)[12]
Stiftung kultureller Kohärenz
Die Lernenden verstehen und erleben sich als Teil der Kultur, in der sie leben, und anerkennen andere Kulturen als gleichberechtigte Daseinsformen.
Welche zentralen kulturellen Errungenschaften thematisiert das Fach?
Welche Bezüge bestehen zwischen «Fachkultur» und «Gesamtkultur»?
Verschiedene Beiträge der einzelnen fachlichen Perspektiven in der Begegnung und Auseinandersetzung mit der Welt.[13] Vielperspektivität als Zugang zu komplexen und perspektivenübergreifenden gesellschaftlichen Fragen und Problemen
Weltorientierung[14]
Die Lernenden setzen sich mit «epochaltypischen Schlüsselproblemen»[15] auseinander, die also zeitspezifisch und exemplarisch sind.
Welche Schlüsselprobleme unserer Welt werden thematisiert?
Geht es im Unterricht um gesellschaftlich relevante bzw. kontroverse Themen? Werden Sinnzusammenhänge erkennbar?
«Sich in der Welt orientieren»:[16] Beiträge der einzelnen Kompetenzbereiche zu «epochaltypischen Schlüsselproblemen» wie die Umweltfrage, das rapide Bevölkerungswachstum, Chancen und Gefahren des naturwissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Fortschritts usw.
Anleitung zum kritischen Vernunftgebrauch
Die Lernenden können selbst denken und sich von Bevormundung emanzipieren.
Welche Gelegenheit bietet das Fach zum kritischen Vernunftgebrauch?
«Die Welt wahrnehmen»:[17] Kritische Auseinandersetzung mit kontroversen und komplexen gesellschaftlichen Fragen; Prinzip des Perspektivenwechsels als Grundlage für Verstehensprozesse
Entfaltung von Verantwortungsbereitschaft
Die Lernenden setzen ihre Kompetenzen verantwortungsbewusst ein zugunsten eines befriedigenden gesellschaftlichen Miteinanders.
Bietet die Art, wie mit Sachthemen und miteinander umgegangen wird, einen Rahmen für die Entfaltung von Verantwortungsbereitschaft?
«In der Welt handeln»:[18] Verstehen (Wissen und Können ermöglichen, um sich in der Welt engagieren zu können).
Einübung in Verständigung und Kooperation
Die Lernenden arbeiten zusammen in einer Atmosphäre der Toleranz, der Kompromissfähigkeit, des Interessenausgleichs, der Partizipation, der Einsicht in fremde Standpunkte.
Welche Gelegenheiten bietet das Fach zu Verständigung und Kooperation? Gibt es fachspezifische Besonderheiten, die diese fördern oder behindern?
Die Auseinandersetzung mit komplexen gesellschaftlichen Fragen und Problemen unserer Zeit erfordert die Förderung von «Eigenständigkeit, Dialogfähigkeit und Zusammenarbeit mit Blick auf ein kompetentes und zukunftsorientiertes Handeln in der Welt».[19]
Stärkung des Schülerinnen-Ichs
Die Lernenden entwickeln sich zu selbstbewussten, verantwortlichen, kritischen, sozialen, bewusst handelnden, kreativen und sinnlichen Persönlichkeiten.
Fördert das Fach die einzelnen Aspekte der Persönlichkeit?
NMG-spezifische Lernumgebungen, die z. B. befähigen, «zunehmend eigenständig und kooperativ Sachen nachzugehen, Vorhaben zu planen und darzustellen».[20]
Sucht man nun nach dem spezifischen Beitrag des Fachbereichs NMG zu den Teilaufgaben von Bildung, ist dieser auf den ersten Blick vor allem im Bereich der «Weltorientierung» zu sehen, wo es um die vielperspektivische Auseinandersetzung mit Fragen und Problemen unserer Zeit geht. Eine Möglichkeit, den Unterricht in NMG auf grundlegende und relevante Themen zu beziehen, ist die Ausrichtung auf Wolfgang Klafkis «epochaltypische Schlüsselprobleme». Klafki identifiziert sechs solcher Schlüsselprobleme: die Frage von Krieg und Frieden, die Umweltfrage oder die ökologische Frage, den rapiden Wachstum der Weltbevölkerung, die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit, die Gefahren und die Chancen der neuen technischen Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmedien, die Subjektivität des Einzelnen und das Phänomen der Ich-du-Beziehungen.[21] Heute sind diese Schlüsselfragen durchaus noch aktuell oder haben sich gar verschärft. Diverse Autoren und Autorinnen listen inzwischen noch weitere akute Bedrohungen auf, wie etwa ungebremste Globalisierung, nicht nachhaltige Energienutzung, Pandemien, Datenschutz, Terrorismus, Wirtschafts- und Finanzkrisen, Migration.[22] Vielperspektivische Schlüsselfragen solcher Art bilden eine besondere Herausforderung für den Unterricht in NMG. Einerseits muss der Bezug zur kindlichen Lebenswelt durch die Wahl eines geeigneten Unterrichtsthemas (z. B. in Form einer geeigneten Fragestellung) gewährleistet sein und andererseits müssen vielfältige inhaltliche Angebote und methodische Zugänge den Kindern ein vernetztes Verstehen des Problems ermöglichen. Dieser Anspruch kann zum Beispiel durch den Ansatz des «Philosophierens mit Kindern» eingelöst werden.[23]
Der Bildungsauftrag von NMG geht jedoch weit über die Teilaufgabe «Weltorientierung» hinaus, wie im Lehrplan zum Fachbereich NMG formuliert:
Im Zentrum von Natur, Mensch, Gesellschaft steht die Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit der Welt. Um sich in der Welt orientieren, diese verstehen, sie aktiv mitgestalten und in ihr verantwortungsvoll handeln zu können, erwerben und vertiefen sie grundlegendes Wissen und Können. Sie erweitern ihre Erfahrungen und entwickeln neue Interessen.[24]
Die Auseinandersetzung mit der Welt in all ihren Facetten soll die Kinder dazu befähigen, «zukünftigen Herausforderungen zu begegnen sowie Erfahrungen, Strategien und Ressourcen nachhaltig zu nutzen und ihr Handeln zu verantworten»[25]. Folgt man dieser Definition von NMG, lassen sich für alle Teilaufgaben von Heymann spezifische Beiträge finden (siehe Tab. 3). Was für den Fachbereich als Ganzes gilt, gilt für die Formulierung und Wahl des Unterrichtsthemas im Einzelnen. Ein Unterrichtsthema kann sich mithilfe von Heymanns Teilaufgaben von Bildung daraufhin überprüfen lassen, inwiefern es bildungsrelevant ist, das heisst einen Beitrag zur Allgemeinbildung beisteuert.
Wie man von einem Stichwort über die Identifizierung von Bildungsinhalten zu einem Unterrichtsthema in Form einer Fragestellung gelangt, wird in Kapitel 4 aufgegriffen und vertieft. Im folgenden Kapitel wird es darum gehen, einen Überblick zu geben über unterschiedliche Arten, wie fachliche Perspektiven von NMG «in Kontakt» kommen bzw. zusammenspielen können.
Spielarten des Zusammenwirkens von fachlichen Perspektiven
In Abbildung 2a werden, ausgehend vom Stichwort «Wasser», drei Möglichkeiten dargestellt, in welchem Verhältnis fachliche Perspektivität und fachliche Integration stehen können. Zwei weitere Möglichkeiten werden am Ende dieses Unterkapitels beschrieben.
Das erste «perspektivische» Unterrichtsbeispiel geht von der Frage bzw. vom Unterrichtsthema «Warum schwimmen Schiffe?» aus. Zur Beantwortung dieser Frage ist ausschliesslich Wissen und Können aus der naturwissenschaftlich-technischen Perspektive angesprochen. Im Lehrplan 21 zum Fachbereich NMG deckt dieses Unterrichtsthema innerhalb des Kompetenzbereichs 3 («Stoffe, Energie und Bewegungen beschreiben, untersuchen und nutzen») die Kompetenz 3 («Die Schülerinnen und Schüler können Stoffe im Alltag und in natürlicher Umgebung wahrnehmen, untersuchen und ordnen») mit der Kompetenzstufe 3d («Die Schülerinnen und Schüler können mit Objekten und Stoffen laborieren und ihre Erkenntnisse festhalten») und den vorgeschlagenen Inhalt «Verhalten im Wasser: schwimmen, sinken» ab. Der Fokus der genannten Kompetenzstufe liegt, neben dem inhaltlichen Aspekt, das physikalische Phänomen zu verstehen, auf den Handlungsaspekten des «Laborierens» und «Dokumentierens».
Das zweite Beispiel in Abbildung 2a thematisiert den perspektivenaddierenden Unterricht. Diesmal steht nicht eine Frage, sondern das Stichwort «Wasser» im Zentrum der Unterrichtseinheit (siehe auch das Beispiel zum «Apfel» in Abb. 1). Zu diesem Stichwort kommt einem vieles in den Sinn, wie das Beispiel eines Themenhefts für die dritte/vierte Klasse zu «Wasser» zeigt.[26] Dort werden Inhalte genannt, die vom Wasservorkommen auf der Erde, von den unterschiedlichen Aggregatszuständen von Wasser, von der Oberflächenspannung und davon, wie Pflanzen ‹trinken›, über den Kreislauf des Wassers, Trinkwasserversorgung, Kläranlagen, Meeresschutz, Flossbau und Wassertiere bis hin zu Händels Wassermusik reichen. In der Art eines Brainstormings werden hier Wissensbestände bzw. dazugehörige fachliche Perspektiven zu einem Stichwort addierend aneinandergereiht. Die Folge davon ist, dass kaum ersichtlich wird, was zum Beispiel das Herstellen eines Wasserflosses mit dem Wasserkreislauf und Händels Wassermusik mit der örtlichen Wasserversorgung zu tun hat. Viele Materialien des Themenhefts beziehen sich auch auf sprachliche, mathematische und musische Inhalte, ohne einen ersichtlichen Zusammenhang zum eigentlichen Sachthema. Zudem dienen die musischen Fächer oft nur der Abwechslung, Rhythmisierung oder Dekoration. Kinder erwerben auf diese Weise unverbundene, oft belanglose Wissensinseln und keine Gesamtsicht zu einem Gegenstand. Sie werden nicht dazu angeregt, sich in einem komplexen Themenfeld eine eigene fundierte Meinung zu bilden und sich mit verschiedenen (fachlichen) Perspektiven bewusst auseinanderzusetzen. Ein Bezug zu den Kompetenzen des Lehrplans ist deshalb nur in Form einer beliebigen Aneinanderreihung denkbar. Als Ausgangspunkt für eine Studien- oder Projektwoche könnte ein Stichwort wie «Wasser» unter Umständen sinnvoll sein, wenn den Schülerinnen und Schülern eine möglichst hohe inhaltliche Wahlfreiheit angeboten werden soll. Aber die Auseinandersetzung beschränkt sich dann auf einen spezifischen und isolierten Aspekt, der aufgrund des Eigeninteresses vertieft behandelt wird.
Beim dritten Beispiel in Abbildung 2a zum perspektivenübergreifenden Unterricht geht es immer noch ums Wasser, aber diesmal eingebettet in die übergeordnete Fragestellung «Ist Wasser kostbar?». Was ändert sich dadurch in Bezug auf den NMG-Unterricht? Zunächst wird durch die übergeordnete Fragestellung eine inhaltliche Präzisierung und Fokussierung vorgenommen: Ausgehend vom alles umfassenden Stichwort «Wasser» wird von der Lehrerin, vom Lehrer überlegt, was daran für das Lernen der Kinder, für ihre Auseinandersetzung mit der Welt relevant, grundlegend und exemplarisch sein könnte (z. B. im Sinne von Heymanns Teilaufgaben von Bildung, siehe Tab. 3). Die Formulierung der vorliegenden übergeordneten Fragestellung führt auch dazu, dass es zu einer bewussten Auswahl und Reduzierung der fachlichen Perspektiven und ihrer entsprechenden Wissensbestände kommt. Denn im Gegensatz zum perspektivenaddierenden Beispiel schränkt die übergeordnete Fragestellung die Anzahl der infrage kommenden fachlichen Perspektiven ein. Zur Beantwortung dieser Frage benötigen wir Wissen hauptsächlich aus Kompetenzbereichen des Lehrplans, die sich an der sozialen (Zugang zu Trinkwasser), wirtschaftlichen (Wasser als Wirtschaftsfaktor, Kosten der Wasserversorgung in der Gemeinde) und geografischen Perspektive (Wasservorkommen und deren Nutzung) orientieren. Wissensbestände anderer Perspektiven von NMG oder anderer Fächer sind in diesem Fall nur am Rand oder gar nicht gefragt. Da die zur Beantwortung der Frage hinzugezogenen Wissensbestände und Handlungsaspekte sich alle auf diese zentrale Fragestellung beziehen, ist bei den Kindern eine Vernetzung des erworbenen Wissens, das zu vertieftem Verstehen führen soll, zu erwarten.
Eine vierte Variante, wie die vielperspektivische Ausrichtung von NMG im Unterricht umgesetzt werden kann, lässt sich als «transperspektivisch» bezeichnen (siehe Abb. 2b).
Komplexe gesellschaftliche Fragen, wie sie zum Beispiel von einer «Bildung für eine nachhaltige Entwicklung» (BNE) aufgeworfen werden, lassen sich selten allein durch die inhaltlichen und methodischen Angebote der fachlichen Perspektiven von NMG beantworten. Werden durch perspektivenübergreifendes Arbeiten Wissen sowie Denk- und Arbeitsweisen verschiedener fachlicher Perspektiven miteinander verbunden, so geht transperspektivisches Arbeiten darüber hinaus, indem ausserwissenschaftliches Akteurswissen zur Bearbeitung komplexer gesellschaftlicher Fragestellungen miteinbezogen wird.[27] Gemeindemitarbeitende und Angestellte von Wasserwerken könnten durchaus wertvolle Erkenntnisse beitragen, zum Beispiel zu unserem Unterrichtsthema «Ist Wasser kostbar?».
Eine fünfte Variante betrifft schliesslich das fächerübergreifende Arbeiten (siehe Abb. 2c). Während die perspektivenübergreifende Variante in Bezug auf eine übergeordnete Fragestellung Wissensbestände und Handlungsaspekte aus fachlichen Perspektiven von NMG ins Auge fasst, werden im fächerübergreifenden Unterricht neben Wissensbeständen verschiedener fachlicher Perspektiven von NMG auch Wissensbestände anderer Schulfächer zur Beantwortung einer übergeordneten Fragestellung hinzugezogen. Wenn wir wieder von der Fragestellung «Ist Wasser kostbar?» ausgehen, könnten dies die Fächer Mathematik (Wasserkosten oder Wasserverbrauch berechnen) oder Deutsch (Texte aufgrund von Interviews mit Gemeindevertretern entwerfen) sein. Der fächerübergreifende Unterricht in NMG bietet, wie der Lehrplan betont, «die Möglichkeit, die Grenzen der einzelnen Fachbereiche aufzulösen und Themen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Erst damit werden Komplexität und Zusammenhänge von Phänomenen und Situationen deutlich.»[28] Das, so heisst es weiter, trägt «zu einem bereichernden und vertiefenden Unterricht» bei.[29] Konkret kann fächerübergreifender Unterricht für NMG dann angebracht und sinnvoll sein, wenn die übergeordnete Fragestellung durch das Hinzuziehen von Wissensbeständen anderer Fachbereiche vertiefter und breiter beantwortet werden kann. Entscheidend ist dabei, dass es auch aus der Sicht der hinzugezogenen Fächer sinnvoll ist, sich auf diese Frage einzulassen. Blosse Alibibeiträge, Lückenfüller oder reine Unterhaltungsaktivitäten wären damit ausgeschlossen.
Fassen wir zusammen: Was ist die beste Unterrichtsform in NMG – perspektivisches, perspektivenaddierendes, perspektivenübergreifendes, transperspektivisches oder fächerübergreifendes Arbeiten? Entscheidend ist, dass man als Lehrerin oder Lehrer die Stärken und Schwächen dieser Möglichkeiten kennt und bewusst für die Planung und Umsetzung des eigenen Unterrichts berücksichtigt. Und bei allen dargestellten Varianten müssen sie sich Fragen stellen wie: Warum sollen sich Kinder eine gewisse Zeit lang mit diesem Unterrichtsthema auseinandersetzen bzw. inwiefern ist es bildungsrelevant für sie? Werden sie in der Beschäftigung mit diesem Unterrichtsthema zu «Spezialistinnen und Spezialisten für Zusammenhänge», erwerben sie dadurch vernetztes Wissen? Dient das erworbene Wissen dazu, «grundlegende Fragestellungen, die uns als Menschen oder unsere soziale, kulturelle und natürliche Um- und Mitwelt betreffen»,[30] anzugehen? Die zunehmende Komplexität und Widersprüchlichkeit vieler Probleme und Fragen heutzutage erfordert allerdings immer stärker eine perspektivenübergreifende bzw. transperspektivische Betrachtung. Am Beispiel des Ersatzes fossiler durch erneuerbare Energieträger kann dies gut illustriert werden: Einheimisches Rapsöl oder aus Indonesien importiertes Palmöl wird zunehmend als (sauberer) Biotreibstoff vermarktet. Daneben findet Palmöl auch in der Kosmetik, in Reinigungsmitteln und in Nahrungsmitteln (Margarine, Süsswaren) Verwendung. Durch die Rodung von Regenwäldern für den Plantagenbau ist die CO2-Bilanz von Palmöl jedoch höchst bedenklich: Eine Tonne Biokraftstoff aus Palmöl setzt zwei- bis achtmal mehr CO2 frei als die Verbrennung einer Tonne Erdöl.[31] Naturwissenschaftlich-technische, soziale, ökonomische, politische, ethische, geografische Wissensbestände und unterschiedliche Akteursperspektiven müssen herangezogen und vernetzt werden, will man diesen Sachverhalt gründlich verstehen. Das bedeutet, dass a) fundiertes Wissen aus verschiedenen Wissensdomänen bzw. von unterschiedlichen Akteuren benötigt wird und b) diese unterschiedlichen Wissensbestände sinnvoll miteinander in Verbindung gebracht werden müssen, um zu einem vertieften Verständnis des Problems gelangen zu können. Im folgenden Abschnitt wird der Fokus deshalb auf die Variante «perspektivenübergreifender Unterricht» in NMG gelegt.
Grundlagen und Chancen perspektivenübergreifenden Unterrichts in NMG
Beziehen wir das Biotreibstoff-Beispiel auf den Unterricht in NMG, heisst dies, dass auf der Basis von fachlichem Wissen und Können aus verschiedenen fachlichen Perspektiven von NMG den Lernenden ein vernetztes, perspektivenübergreifendes Verständnis komplexer Phänomene und Sachverhalte unserer Welt ermöglicht werden soll. Ausgehend von der Definition Klaus Moeglings für fächerübergreifenden Unterricht kann perspektivenübergreifender Unterricht wie folgt umschrieben werden:
Fächerübergreifender Unterricht [bzw. perspektivenübergreifender Unterricht] ist der didaktische Oberbegriff für alle Unterrichtsversuche, bei denen verschiedene Fachperspektiven [bzw. fachliche Perspektiven von NMG] systematisch zur Lösung eines Problems [bzw. einer übergeordneten Fragestellung] so miteinander vernetzt werden, dass ein thematisch-inhaltlicher Zusammenhang erkennbar wird, eine mehrperspektivische Analyse und Beurteilung gefördert werden und eine handlungsorientierte Problemlösung oder handlungsorientierte Problemlösungsalternativen aus verschiedenen Blickwinkeln heraus entwickelt werden können [...].[32]
Es geht demnach darum, «die Leistungsfähigkeit des Fachlichen einschätzen zu lernen, auch in Verbindung damit dessen Grenzen zu erkunden und darüber hinaus das Fachliche zu überschreiten»[33].
Didaktische Begründungen für perspektivenübergreifenden Unterricht
Perspektivenübergreifender Unterricht als Mittel zum Verstehen der Welt lässt sich anhand unterschiedlicher didaktischer Blickwinkel begründen.[34]
•Der entwicklungspsychologische Ansatz: Frühkindliches Denken ist schon rudimentär vernetzt, da es Sachverhalte (noch) nicht nach Fächern trennt. Ein perspektivenübergreifendes Vorgehen kann an dieses Denken anknüpfen und es im Sinne eines bewussteren und strukturierteren Denkens weiterentwickeln.
•Der konstruktivistische Ansatz: Ein perspektivenübergreifender Unterricht unterstützt die Kompetenz der Schülerinnen und Schüler, verschiedene Perspektiven zu einem Gegenstand kennenzulernen, einzunehmen und zu vertreten (Wie wird beobachtet? Wer beobachtet? Mit welchen Absichten, Interessen?); es geht dabei um Rekonstruktion, Dekonstruktion und Konstruktion fachlicher Blickwinkel durch die Schülerinnen und Schüler. Durch die Beschäftigung mit exemplarischen und aktuellen Themen wird sowohl an das Vorwissen und die Fragen der Kinder als auch an das Wissen der Fachperspektiven von NMG angeknüpft.
•Der bildungstheoretische Ansatz: Bildungsprozesse sind nicht auf Fachinhalte zu reduzieren (Klafki).[35] Sie sind Anregungen zur Entwicklung von Selbstkompetenz, Sachkompetenz, Mitbestimmungsfähigkeit und Fähigkeit zur Solidarität. Es geht um die Persönlichkeitsentwicklung zur Mündigkeit und um die Emanzipation von der Fremdbestimmung mittels selbstgesteuerten Lernens, um einen Beitrag zur Bewältigung der Schlüsselprobleme der Gegenwart und der Zukunft leisten zu können. Dies bedeutet, dass sich Bildung in Auseinandersetzung mit fächer- bzw. perspektivenübergreifenden Problemstellungen abspielen muss: «Diese komplexen Themen sind aus einem derart begriffenen Bildungsansatz heraus im Wechselspiel fachlicher Vorgehensweise und fächerübergreifender Mehrperspektivität so zu bearbeiten, dass die Schüler zunehmend zu Akteuren ihres Bildungsprozesses werden.»[36] Es geht um eine Ausweitung des Welthorizonts der Schüler und Schülerinnen, um eine «Komplexitätssteigerung im Sinne vernetzten Denkens»[37].
•Der gestalttheoretische Ansatz: Hier geht es darum, den Teil und das Ganze zueinander in Bezug zu setzen (siehe unten den systemischen Ansatz). Ein Phänomen, ein Problem, das aus der fachlichen Perspektive heraus erkannt wird, erfordert in vielen Fällen eine vielperspektivische Problemlösung. Andererseits repräsentiert das Fachliche nur einen Teilaspekt des Ganzen – das Ganze ist mehr als die Addition seiner Teile.
•Der systemische Ansatz: Alles ist miteinander vernetzt. Aufgrund der anstehenden komplexen Weltprobleme besteht deshalb die Notwendigkeit, systemisch, das heisst in Zusammenhängen, bzw. vernetzt zu denken – «Komplexität hängt mit Vernetzung zusammen und verlangt nach einem Denken in Zusammenhängen»[38].
•Der lernpsychologische Ansatz: Wirklichkeit bildet sich im Subjekt nicht fachbezogen ab: «Fächer helfen unterscheiden, differenziert wahrzunehmen, aber begrenzen auch gleichzeitig die Weltsicht. Erst das Zusammenspiel von fachlichen und fächerübergreifenden Perspektiven ermöglicht eine optimale Handlungsfähigkeit des Subjekts. Vernetztes Denken ist mehr als die lehrerzentrierte Addition der Teile eines Ganzen. Erst durch den Bezug auf ein für die Schüler relevantes Problem kann eine vernetzte Sichtweise entstehen.»[39] Durch den Aufbau vernetzten Wissens (und die daraus folgende Chance, solches Wissen vermehrt in Handlungssituationen einsetzen zu können) können den Schülern und Schülerinnen zudem Erfolgserlebnisse verschafft werden, was wiederum ihre Lernmotivation verstärkt.
•Der lernbiologische Ansatz: Lernen entsteht, wenn es zur Bildung und Vernetzung von Nervenzellen im Gehirn kommt.
Perspektivenübergreifender Unterricht und Kompetenzorientierung
Durch die Ausrichtung des Unterrichts auf die Entwicklung und Förderung von Kompetenzen stellt sich die Frage, welche Kompetenzen durch einen perspektivenübergreifenden Unterricht speziell entwickelt und gefördert werden. Veronica Boix Mansilla stellt in diesem Zusammenhang das «fächerübergreifende Verstehen» ins Zentrum ihrer Überlegungen:
Fächerübergreifendes Verstehen ist die Fähigkeit, Wissen oder Denkweisen aus zwei oder mehreren Fächern bzw. Wissensgebieten so zusammenzuführen, dass daraus ein Erkenntnisfortschritt resultiert, der die Möglichkeiten eines Einzelfaches übersteigt. Dieser Erkenntnisfortschritt kann darin bestehen, dass ein Phänomen erklärt, ein Problem gelöst, ein Produkt geschaffen oder eine neue Frage aufgeworfen wird.[40]
Vernetztes Denken und Verstehen ist in diesem Verständnis ein zielgerichteter Vorgang, der unter dem Einbezug verschiedener Fächer bzw. fachlicher Perspektiven einen Erkenntnisfortschritt anstrebt. Beim perspektivenübergreifenden Verstehen geht es um die Kompetenz, mit dem Fachwissen aus mehreren fachlichen Perspektiven eine überfachliche Fragestellung zu erschliessen und damit Wissen nicht bloss anzuhäufen, sondern es sich intelligent anzueignen und es anzuwenden. Es geht also um die Fähigkeit, kompetent mit Fachperspektiven umzugehen. Sich auf Klakfi beziehend, spricht Detlef Pech im Sinne eines integrativen Entwurfs von Bildung von der Notwendigkeit eines «Zusammenhangsdenkens». Für ihn stellt gerade «das Erschliessen von Zusammenhängen in und mit der Umwelt […] das bildungsrelevante Moment des Sachunterrichts»[41] dar.
Die Kompetenz des fächer- bzw. perspektivenübergreifenden Verstehens lässt sich in drei Teilkompetenzen ausdifferenzieren:[42]
•Fachkompetenz: Die Lernenden wenden fachliches Wissen und Können (Methoden) an.
•Die Fähigkeit, die Fachperspektiven bzw. fachlichen Perspektiven zusammenzuführen: Die Lernenden sind in der Lage, durch Einbezug unterschiedlicher fachlicher Wissensbestände ein Phänomen oder eine übergeordnete Frage zu erklären und zu verstehen.
•Die Reflexion dieses Vorgangs selbst: Die Lernenden besitzen die Fähigkeit, die Möglichkeiten und Grenzen einzelner Fächer in Bezug auf das zu untersuchende Phänomen bzw. in Bezug auf die Fragestellung zu erkennen und einzuschätzen.
«Fachlicher Perspektivenwechsel», «vernetztes Denken» und «komplexes Handeln» bilden dabei zentrale überfachliche didaktische Unterrichtsprinzipien, welche die Grundlage bilden zur Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte und Probleme.[43] Der Lehrplan 21 für NMG seinerseits betont die perspektivenübergreifenden Ziele des Unterrichts mit dem Instrument der vier «Handlungsaspekte in der Begegnung und Auseinandersetzung mit der Welt in NMG»[44]: In allen fachlichen Perspektiven bzw. Kompetenzbereichen von NMG sollen Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit erhalten, die Welt wahrzunehmen, sie zu erschliessen, sich in ihr zu orientieren und in ihr zu handeln. Die Bedeutung der Förderung und Entwicklung vernetzten Denkens als Ziel perspektivenübergreifenden Unterrichts ist besonders hervorzuheben. Vernetzendes Lernen als didaktisches Unterrichtsprinzip geht dabei von zwei Prämissen aus: Erstens muss Lernen vielperspektivisch stattfinden, indem im Unterricht verschiedene Aspekte zu einem Phänomen aufgezeigt werden, und zweitens müssen diese Perspektiven in Bezug auf einen Gegenstand (eine Fragestellung) verknüpft werden.[45]
Fazit: Wann ist es sinnvoll, einen perspektivenübergreifenden Unterricht durchzuführen?
Den Unterricht in NMG perspektivenübergreifend oder transperspektivisch durchzuführen ist dann sinnvoll, wenn das ausgewählte Unterrichtsthema vielperspektivisch und vielschichtig ist und sich die zentralen Fragen dazu deshalb auch nicht einfach mit «Ja» oder «Nein» beantworten lassen.
So können Fragen wie zum Beispiel «Gehören Wölfe in unsere Wälder?» oder «Was ist ein guter Apfel?» nur dann sinnvoll beantwortet werden, wenn viele verschiedene sich gegenseitig beeinflussende Faktoren (Fakten, Annahmen, Thesen) berücksichtigt werden, die wiederum nur durch das Beiziehen von Wissensbeständen und methodischen Zugangsweisen unterschiedlicher fachlicher Perspektiven und/oder von Wissen betroffener Akteure befriedigend beleuchtet werden können.[46]
Um zu einem sinnvollen perspektivenübergreifenden oder transperspektivischen Unterrichtsthema zu gelangen, ist es nützlich, einen inhaltlichen Fokus in Form einer übergeordneten Fragestellung zu formulieren, der die Beiträge der fachlichen Perspektiven bzw. der Beiträge betroffener Akteure filtert, zusammenführt und sinnvoll vernetzt. Für Lehrerinnen und Lehrer, die einen solchen Unterricht gestalten wollen, besteht die Herausforderung in einem ersten Schritt deshalb darin, eine solche komplexe und bildungsrelevante Fragestellung zu finden. Erst im zweiten Schritt stellt sich dann die Frage, welche fachlichen Perspektiven von NMG bzw. welche Akteure einen Beitrag zur Beantwortung dieser übergeordneten Fragestellung leisten können. Durch die Formulierung einer übergeordneten Fragestellung wird der Unterrichtsgegenstand zudem eingegrenzt und die Vielzahl der möglichen fachlichen Perspektiven und deren inhaltliche und methodische Angebote reduziert.
Vom Stichwort zum Unterrichtsthema
Im Lehrplan 21 zum Fachbereich NMG finden sich zu den einzelnen Kompetenzstufen Stichworte zu verbindlich zu behandelnden Inhalten (z. B. «Lebensmittelverschwendung»), Stichworte zur freien Auswahl durch Lehrerinnen und Lehrer (z. B. «Znüni», «Zvieri», «einfaches Essen») oder gar keine Angaben. Auch Zeitschriften für die Praxis des Unterrichts in NMG[47] betiteln ihre Ausgaben oft mit knappen Stichworten wie «Tod und Trauer», «Insekten», «Weltraum», «Ernährung», «Leben in alter Zeit», «Vom Rad zum Roboter», «Spuren der Kindheit», um nur einige Beispiele der letzten Jahre zu nennen. Dasselbe ist anzutreffen, wenn anstatt Zeitschriften handelsübliche Unterrichtswerkstätten betrachtet werden – überall wird von Stichworten ausgegangen. Wie wir bereits am Beispiel eines Themenhefts zu «Wasser» gesehen haben, können daraus Probleme entstehen wie eine hohe Beliebigkeit der Inhalte und daraus resultierendes unverbundenes «Inselwissen» bei den Lernenden. Ginge man stattdessen als Unterrichtsthema von einer übergeordneten Fragestellung aus, liessen sich diese Probleme vermeiden.
Welche Vorteile bringt es, ein Unterrichtsthema, ob zentriert auf nur eine fachliche Perspektive oder perspektivenübergreifend, in Form einer übergeordneten Fragestellung zu formulieren?
•Eine übergeordnete Frage dient als roter Faden oder als Klammer einer Unterrichtseinheit. Einzelne Unterrichtssituationen des Unterrichtsprozesses stehen dadurch «in einem thematischen Zusammenhang […], der mit der Beantwortung der Frage seinen vorläufigen Abschluss findet»[48].
•Der Unterricht dient weniger der Vermittlung von kanonisiertem Wissen als der gemeinsamen Suche nach möglichen Antworten. Eine Frage als roter Faden einer Unterrichtseinheit stimuliert somit Bildungsprozesse, da sie diese «als sinngebend und sinnerschliessend erleben lässt»[49].
•Übergeordnete Fragestellungen legen den Fokus auf einen exemplarischen, bildungsrelevanten Sachverhalt und filtern dadurch die zur Sprache kommenden inhaltlichen und methodischen Beiträge der fachlichen Perspektiven.
Die übergeordnete Fragestellung dient in erster Linie der Lehrperson, um auf der Grundlage des Lehrplans das Unterrichtsthema zu definieren und die daraus resultierenden übergeordneten Lernziele und zentralen Inhalte herauszuschälen. Ob die übergeordnete Fragestellung unverändert den Schülerinnen und Schülern bekannt gegeben wird, ist von der Lehrperson von Fall zu Fall zu klären, da dies von der Stufe, vom Vorwissen usw. abhängt.
Tabelle 4
Unterscheidung von Stichwort, Bildungsinhalt und übergeordneter Fragestellung (vgl. Tänzer 2010)
Stichwort (Schlagwort, Gegenstand)
Stichworte wie «Apfel», «Wasser» oder «Schokolade» sind noch nicht nach pädagogischen und fachdidaktischen Gesichtspunkten ausgewählt und geprüft und können somit nicht unterrichtsleitend sein.
Bildungsinhalt (Bildungspotenzial)
«Wasser» als Stichwort oder Inhalt wird dann zum Bildungsinhalt, wenn sein pädagogisches und fachdidaktisches Potenzial innerhalb der Trias Kind–Sache–Gesellschaft ausgelotet wird: Inwiefern hat «Wasser» eine exemplarische Bedeutung für das Welterschliessen der Kinder?
Übergeordnete Fragestellung (Unterrichtsthema)
Aufbauend auf der Bestimmung des Bildungsinhalts eines Stichworts wie «Wasser» ist das Unterrichtsthema das Ergebnis von Ziel- und Inhaltentscheidungen bezogen auf den konkreten Unterricht in Form einer übergeordneten Fragestellung, z. B. «Ist Wasser kostbar?»
Bevor an Beispielen gezeigt wird, wie sich aus Stichworten konkrete Unterrichtsthemen in Form übergeordneter Fragestellungen formulieren lassen, sollen die Begriffe «Stichwort», «Bildungsinhalt» und «Übergeordnete Fragestellung» geklärt werden (siehe Tab. 4).
Unter «Stichwort» wird ein Sachverhalt verstanden, der noch nicht aus pädagogischer Sicht betrachtet worden ist.[50] Erst wenn die Fragen, Vorstellungen und Denkweisen der Kinder und die inhaltlichen und methodischen Angebote der fachlichen Perspektiven von NMG ins Spiel kommen, kann das Bildungspotenzial des zur Auswahl stehenden Stichworts herausgearbeitet werden. Als Suchraster bietet sich die in Abbildung 3 dargestellte didaktische Trias Kind–Sache–Gesellschaft an.[51] Ist man dem Bildungspotenzial eines Stichworts auf die Spur gekommen, ist der nächste Schritt die Formulierung des eigentlichen Unterrichtsthemas in Form einer übergeordneten Fragestellung.
Ausgangspunkt für die Formulierung übergeordneter Fragestellungen kann eine inhaltliche Angabe in Form eines (verbindlichen oder unverbindlichen) Stichworts aus dem Lehrplan 21 für NMG sein (z. B. «Lebensmittelverschwendung») oder ein von der Lehrerin oder dem Lehrer selbst gewähltes Stichwort (z. B. «Dinosaurier», siehe unten).
Wie oben beschrieben, besteht bei der Unterrichtsplanung ein erster Schritt in Richtung übergeordneter Fragestellung zunächst darin, mögliche Bildungsinhalte anhand der didaktischen Trias zu bestimmen. Der Aspekt «Kind» bezieht sich auf Begründungen zum Begriff der Lebenswelt, der Aspekt «Sache» geht von den inhaltlichen und methodischen Angeboten der fachlichen Perspektiven von NMG bzw. vom Akteurswissen beteiligter Akteure aus, der Aspekt «Gesellschaft» hat den Bildungsbegriff als Grundlage (siehe Abb. 3). Zwischen den drei Eckpunkten des Dreiecks bestehen jeweils Spannungsverhältnisse, so zum Beispiel zwischen «Kind» und «Sache». Auf der einen Seite stehen Fragen, Bedürfnisse, Vorwissen, kurz die Sichtweise der Kinder von der Welt, die für sich allein genommen zur Begründung von Bildungsinhalten nicht genügen. Auf der anderen Seite steht das inhaltliche und methodische Wissen der wissenschaftlichen Disziplinen von NMG (die «Sache»). Für Kahlert besteht die Aufgabe von NMG gerade darin, Kindern fachlich belastbares Wissen und Können zugänglich zu machen. Aber ohne Bezug zur kindlichen Lebenswelt wäre dieses Wissen steril.[52] Hinzu kommt – als zweites Spannungsverhältnis –, dass dieses Wissen und Können auch relevant sein sollte, um einen Beitrag zum Weltverstehen der Kinder zu leisten, zum Beispiel im Sinne von Heymanns Teilaufgaben von Bildung (siehe Tab. 3). Die Überlegungen zur Bildungsrelevanz stehen ihrerseits in einem dritten Spannungsverhältnis zu den individuellen und persönlichen Lebensentwürfen der Kinder. Aus dem Zusammenwirken dieser drei Bereiche des Dreiecks und unter Berücksichtigung der bestehenden Spannungsverhältnisse lassen sich mögliche Bildungsinhalte bzw. darauf aufbauend übergeordnete Fragestellungen (Unterrichtsthemen) von NMG bestimmen.
Die perfekte, allen Kriterien gerecht werdende Fragestellung gibt es allerdings nicht. Das Finden einer übergeordneten Fragestellung kann vielmehr als ein Annäherungsprozess verstanden werden mit dem Ziel, eine Balance zwischen den drei Eckpunkten der didaktischen Trias zu erreichen.[53] Wird dieser Anspruch im nachfolgenden Beispiel eingelöst?
Dinosaurier als Unterrichtsthema?
Am Beispiel des Stichworts «Dinosaurier» kann die Anwendung der didaktischen Trias zu folgenden inhaltlichen Aussagen führen:[54] Ausgehend vom Blickpunkt «Kind» lassen sich drei «Dinosaurier-Welten» unterscheiden. Die grausige, schreckliche Welt (Godzilla)[55], die nette, süsse Welt (Littlefoot)[56] und die reale Welt (Ausstellungen in Museen). Für alle fachlichen Perspektiven von NMG (Blickpunkt «Sache») sind relevante Wissensbestände und Fragestellungen zu finden. Für den Bereich Räume, Zeiten, Gesellschaften (RZG) könnten dies beispielsweise Fundorte, Periodisierungen, Überreste und Rekonstruktionen, Dinosaurier als Teil einer Populärkultur usw. sein. Für den Blickpunkt «Gesellschaft» kann die gerade speziell auf Kinder ausgerichtete Kommerzialisierung des Gegenstands «Dinosaurier» und der damit zusammenhängende Dino-Kult als Beispiel genannt werden. Diese wenigen Überlegungen weisen darauf hin, dass das Stichwort «Dinosaurier» einen potenziellen bildungsrelevanten Gegenstand von Unterricht darstellt.
Ausgehend von den Überlegungen zum Bildungsinhalt des Stichworts «Dinosaurier» könnte die übergeordnete Fragestellung für eine vier- bis fünfwöchige Unterrichtseinheit in einer dritten/vierten Klasse lauten: Wie echt sind Dinosaurier wirklich?. Um zu klären, ob die übergeordnete Fragestellung geeignet ist, das Unterrichtsthema zu erschliessen, können, wieder angelehnt an die Trias Kind–Sache–Gesellschaft, folgende Prüffragen benutzt werden:
•Ist die Fragestellung anschlussfähig an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler? Ist sie bedeutsam für die Gegenwart und Zukunft der Kinder?