Nachfolge Christi leben - Bernd Liebendörfer - E-Book

Nachfolge Christi leben E-Book

Bernd Liebendörfer

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Beschreibung

Nachfolge ist für viele ein faszinierender, aber oft unklarer Begriff: Was genau heißt es, Nachfolge Christi zu leben? Gedanken von Thomas von Kempen, Dietrich Bonhoeffer und aus Taizé können erste Anregungen geben. Im Anschluss daran und auf Grundlage biblischer Texte entfaltet der Autor Nachfolge als einen speziellen Begriff des Glaubens und zeigt das Verhältnis zu anderen wichtigen theologischen Grundgedanken auf. Er beschreibt ausführlich, wie Nachfolge heute verstanden und gelebt werden kann: in engem Kontakt mit Gott Schritte des Vertrauens wagen. Gut verständlich und nahe an biblischen Texten zeichnet der Autor ein fundiertes Bild von Nachfolge, das den Blick ganz auf Gott richtet und zugleich die Mündigkeit des modernen Menschen bewahrt.

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Bernd Liebendörfer

Nachfolge Christi leben

Schritte des Vertrauens wagen

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032603-3

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-032604-0

epub: ISBN 978-3-17-032605-7

mobi: ISBN 978-3-17-032606-4

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Nachfolge ist für viele ein faszinierender, aber oft unklarer Begriff: Was genau heißt es, Nachfolge Christi zu leben? Gedanken von Thomas von Kempen, Dietrich Bonhoeffer und aus Taizé können erste Anregungen geben. Im Anschluss daran und auf Grundlage biblischer Texte entfaltet der Autor Nachfolge als einen speziellen Begriff des Glaubens und zeigt das Verhältnis zu anderen wichtigen theologischen Grundgedanken auf. Er beschreibt ausführlich, wie Nachfolge heute verstanden und gelebt werden kann: in engem Kontakt mit Gott Schritte des Vertrauens wagen.

Gut verständlich und nahe an biblischen Texten zeichnet der Autor ein fundiertes Bild von Nachfolge, das den Blick ganz auf Gott richtet und zugleich die Mündigkeit des modernen Menschen bewahrt.

 

Bernd Liebendörfer, evangelischer Dekan in Böblingen, hat über dieses Thema seine Doktorarbeit verfasst.

Inhalt

Einleitung

Drei Beispiele der Vorstellung von Nachfolge

Imitatio Christi des Thomas von Kempen

Die »Nachfolge« von Dietrich Bonhoeffer

Der Nachfolge-Gedanke in Taizé

Nachfolge als Bildwort und Metapher des Glaubens

Die Metapher »Nachfolge« entfaltet sich von selbst

Nachfolge und andere Formen des Glaubens

Nachfolge und Glaube im Neuen Testament

Vielfalt des Glaubens in der Gegenwart

Redeweisen vom Glauben

Nachfolge als Redeweise vom Glauben

Nachfolge in der theologischen Gedankenwelt

Gedanken zu Gott

Gedanken zu Christus

Gedanken zum Heiligen Geist

Gedanken zur Dreieinigkeit

Gedanken zum Menschenbild

Gedanken zu Rechtfertigung und Gnade

Gedanken zur Sünde

Gedanken zur Kirche

Gedanken zur Ethik

Ergebnis

Nachfolge als gelebter Glaube

Beginn der Nachfolge

Ein auf Gott ausgerichtetes Leben

Der Glaube findet seine Gestalt

Spiritualität und praktizierte Frömmigkeit

Sich führen lassen

Aufbruch ins Ungeahnte

Der Einzelne und die Gemeinschaft

Der individuelle Weg

Gottes Weisungen sind vielfältig

Nachfolge kann schon im Kleinen beginnen

Das Außerordentliche

Der Bruch

Einsamkeit in der Nachfolge

Die Gemeinschaft der Gläubigen

Das Kreuz tragen – Stufen des Leidens

Christus hilft tragen

Nachfolge ist Gnade, Freude und Erfüllung

Die Wünsche des Menschen

Suche des Gebotenen im doppelten Dialog

Schritte des Vertrauens wagen

Gehorsam und Heiligung

Schlusswort

Benutzte und weiterführende Literatur

Einleitung

Menschen werden aufmerksam, sobald von Nachfolge Christi oder Nachfolge Jesu gesprochen wird. Das Stichwort Nachfolge an sich erweckt Interesse. Es ist ein Thema, das nicht nur Menschen anspricht, die sich viel mit Fragen des Glaubens befassen. Auch andere, die distanziert zum Glauben leben, werden bei diesem Stichwort hellhörig. Doch was ist mit Nachfolge Christi heute gemeint?

Eins ist von alleine klar und muss nicht näher erläutert werden: Wenn wir heute von Nachfolge Christi sprechen, muss etwas anderes gemeint sein als zu der Zeit, in der Jesus durch Galiläa zog und seine Jüngerinnen und Jünger ihm nachfolgten. Nachfolge heute bedeutet nicht, dass wir alle wie damals Wanderprediger werden müssen, und sie gibt uns auch nicht die Möglichkeit, mit Jesus so einfach Dinge unmittelbar besprechen zu können, wie das damals möglich war. Das leuchtet von alleine ein, doch das verschärft nur die Frage, was heute mit Nachfolge gemeint ist.

Ein Zeitgenosse aus unseren Tagen berichtet:

Mir war mein Glaube schon sehr wichtig, bevor ich die Form der Nachfolge kennengelernt habe. Ich ging regelmäßig in die Kirche, ich las in der Bibel und habe mich in unserer Kirchengemeinde engagiert. Nachfolge kennen zu lernen, war für mich aber dann, wie wenn eine Tür in einen neuen Raum weit aufgestoßen wurde und ich diesen Raum zögerlich betrat. Es war für mich neu, meine Sorgen wirklich im Vertrauen Gott hinzulegen. Es war neu, ihn direkt zu bitten, dass er mir zeigen möge, wie ich mein Leben vom Glauben her gestalten soll. Es war neu, zu hören und aufmerksam zu sein, ob ich Zeichen Gottes erkennen kann, die mir sagen, was mein Weg sein soll. Es war neu, aus dem Glauben heraus konkrete Schritte des Vertrauens zu wagen. Und ich hatte einen Raum betreten, aus dem ich seitdem nie wieder zurück wollte.

Kann diese Aussage weiterhelfen? Was dieser Zeitgenosse berichtet, klingt geheimnisvoll. Vielleicht macht es neugierig. Aber es gibt letztlich noch nicht viel Auskunft über Nachfolge. Klärungsbedarf ist also vorhanden.

In der kirchlichen Alltagsfrömmigkeit wird der Begriff Nachfolge von vielen so benutzt, als sei er von alleine verständlich. Doch in der Regel bleibt eher diffus, was wirklich unter Nachfolge verstanden werden soll. Auf Nachfrage kann kaum jemand dazu Auskunft geben. Auch hier bestätigt sich, dass es Klärungsbedarf gibt.

Wer sich allerdings näher mit dem Thema Nachfolge auf dem Feld der wissenschaftlichen Theologie befasst, sieht genauso schnell, dass das Verständnis von Nachfolge dort ebenfalls sehr unterschiedlich ausfällt. Zur Vielfalt der Vorstellungen von Nachfolge in den letzten knapp 80 Jahren, besonders seit Bonhoeffers einschlägigem Buch »Nachfolge«, gibt es eine eigene, umfangreiche wissenschaftliche Untersuchung1. Sie zeigt, der Bedarf der Klärung ist bei der akademischen Theologie nicht geringer als bei den Menschen in den Kirchengemeinden insgesamt. Der Versuch solch einer Klärung soll mit den hier zusammengefassten Gedanken vorgenommen werden. Das ist das Hauptziel des vorliegenden Buches.

In die Reihe großer Namen, die sich mit dem Thema Nachfolge befasst haben, gehören neben Dietrich Bonhoeffer vor allem Karl Barth, Albrecht Schönherr, Wolfgang Huber oder Frère Roger. Ihre Beiträge zum Thema sind besonders wertvoll. Deswegen wird auf sie und ein paar weitere Denker immer wieder in den folgenden Darstellungen Bezug genommen. In der Diskussion mit ihnen kann leichter die nötige Klärung herbeigeführt und ein eigenes Verständnis von Nachfolge entwickelt werden. Die Positionen von Dietrich Bonhoeffer und Frère Roger werden sogar im ersten Kapitel gesondert, zumindest in gewissen Grundlinien, erläutert.

Das Buch verfolgt aber noch ein weiteres Ziel: In der Literatur zum Thema wird kaum einmal nachvollziehbar erläutert, warum das Nachfolge-Verständnis des jeweiligen Autors so und nicht anders ist. In der Regel fehlt eine Begründung oder eine Herleitung. Das jeweilige Verständnis wird einfach in den Raum gestellt und behauptet. Das soll in diesem Buch anders sein. Es ist geradezu ein Anliegen dieser Arbeit, das Verständnis von Nachfolge so zu begründen, dass man weiß, warum gerade so und nicht anders von Nachfolge geredet wird. Es soll deutlich werden, welche Aspekte zum Nachfolge-Gedanken dazugehören.

Zudem sollen Fragende wissen, womit man rechnen darf und muss, wenn man Nachfolge leben möchte. In dem Teil »Nachfolge als gelebter Glaube« geht es ganz praktisch um diese Fragen. Beide Teile, das theologische Nachdenken und die Beschreibung eines Lebens in der Nachfolge, sind eng aufeinander bezogen. Je nach Interessenslage kann der zweite Teil aber auch vor dem ersten gelesen werden.

Vorab sollen aber für die Leserin oder den Leser dazu noch zwei Hinweise gegeben werden:

Im Text finden sich immer wieder Angaben von Bibelstellen, Fußnoten oder andere Verweise. Das Buch kann allerdings durchaus gelesen werden, ohne diesen Hinweisen Beachtung zu schenken. Bibelstellen, die im Text auftauchen, braucht man nicht nachschlagen, Fußnoten oder anderen Verweisen bzw. Belegstellen muss man in keiner Weise nachgehen. Sie sollen nur denen, die vielleicht noch tiefer in das Thema eintauchen möchten, die Möglichkeit geben, dort jeweils weiterzulesen. Zum Verständnis dieses Buches und seines Gedankenganges ist dies aber nicht notwendig. Literatur zur Vertiefung findet sich für besonders Interessierte zudem noch am Ende des Buches.

Schließlich verdient noch der Erwähnung, dass dieses Buch versucht, die Überlegungen in gut verständlicher Sprache anzubieten. Es will keine Fachkenntnisse voraussetzen. Dennoch kommen immer wieder Fachbegriffe darin vor. Sie werden aber in aller Regel erläutert. Oft werden sie sogar bewusst eingeführt, um interessierten Leserinnen und Lesern den Anschluss dieser Überlegungen an die theologische Fachdiskussion zu zeigen. Außerdem lernen viele Menschen in unterschiedlichen Bereichen des Lebens durchaus gerne die jeweiligen Fachbegriffe und finden Spaß an Ausdrücken der Fachsprache. Vielleicht ist das für manche Interessierte bei diesem Thema ebenso der Fall. Niemand braucht sich aber bei der Lektüre vor diesen Begriffen scheuen. Es ist für die Sache, um die es eigentlich geht, nicht wichtig, sich diese Begriffe zu merken. Es geht vielmehr um ein Verständnis davon, was mit einem Leben in der Nachfolge Christi heute gemeint sein kann.

Drei Beispiele der Vorstellung von Nachfolge

Um genauer zu erfahren, was Nachfolge ist, liegt es nahe, sich zuerst zu fragen, was andere darunter verstehen. Dabei könnte man auf viele Denker und Autoren zugehen. Schnell wird dann bestätigt, dass die Vorstellungen von Nachfolge weit auseinandergehen. Ignatius von Antiochien z. B. wollte ca. 110 n. Chr. für seinen Glauben sterben und verstand gerade das als Nachfolge. Er hielt die Gemeinde in Rom sogar davon ab, ihn vor diesem Märtyrer-Tod zu bewahren. Für ihn war dieser Tod das rechte Zeichen der Nachfolge. Reiner Strunk, der württembergische Theologe und frühere Assistent von Jürgen Moltmann, sieht in seinem Buch zum Thema Nachfolge in den Kreuzzügen des Mittelalters eine Art von Nachfolge, obwohl wir als Christen die Welt heute dafür um Vergebung bitten müssen. Ansonsten besteht für ihn Nachfolge in symbolischen Provokationen, die aus dem Evangelium kommen. Wolfgang Huber war Theologie-Professor, Bischof und Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Er ist also einer der prominentesten Zeitgenossen. Er sagte zu seinem Nachfolge-Verständnis in einem Vortrag zum 100. Geburtstag von Dietrich Bonhoeffer sehr nebulös und unscharf lediglich, Nachfolge sei konsequentes Christsein. Er greift zu dieser Aussage, weil das lateinische Wort »sequi«, das im Wort »konsequent« steckt, auf Deutsch »nachfolgen« bedeutet.

Zeigen diese kleinen Andeutungen schon ein gewisses Spektrum der Vorstellungen, so sollen auf dem Weg zu einer klaren Vorstellung von Nachfolge drei ausgewählte und besonders prominente Beispiele von Nachfolge noch etwas genauer in den Blick genommen werden.

Imitatio Christi des Thomas von Kempen

»Imitatio Christi« ist der Titel eines Buches, das zu den am meisten gelesenen Büchern nicht nur der christlichen, sondern der ganzen Weltliteratur gehört. Geschrieben hat es Thomas von Kempen (1380–1471) und für viele Menschen hat es die Vorstellung von Nachfolge geprägt, weil das lateinische Wort »imitatio« in der Regel bei diesem Buchtitel mit »Nachfolge« ins Deutsche übersetzt wird. Damit steht am Anfang unserer Annäherung an ein heutiges Verständnis von Nachfolge das Buch mit dem frühesten Entstehungsdatum unserer drei Beispiele.

Eigentlich bedeutet das Wort imitatio auf Deutsch genau genommen Nachahmung und nicht Nachfolge. Doch sogar im 36-bändigen Fachlexikon Theologische Realenzyklopädie (TRE), einem großen Standardwerk für Fachkreise, wird im Artikel zur Nachfolge die imitatio Christi abgehandelt.

Die Rede von der imitatio Christi findet sich allerdings nicht erst bei Thomas von Kempen, sondern schon in der frühen Christenheit. Im Grunde wurzelt dieser Gedanke in der Bibel selbst. Als klassische Beleg-Stelle gilt 1. Petr 2. Diese Bibelstelle gibt den Hinweis auf das Beispiel, das Christus uns gegeben hat, damit wir in seinen Fußstapfen nachfolgen (V 21). Im Hintergrund steht dabei dem Neutestamentler Rudolf Schnackenburg (1914–2002) zufolge freilich eine Aussage in Jes 53. Dort findet man den Gedanken des leidenden Gottesknechtes. Daraus hat sich laut Schnackenburg schon in der Zeit der ersten Christen die Empfehlung der sogenannten »passiven Tugenden« entwickelt. Schnackenburg sieht darin vor allem die Forderung, sich Gott ganz zu ergeben (»eine Sklavengesinnung«). Für Schnackenburg ist das »eine Anwendung der viel weiteren Idee der Nachfolge Christi auf eine bestimmte Situation«.1

Wenn auch die imitatio Christi als Form gelebten Glaubens in der Christenheit schon ganz früh nachweisbar ist, so ist sie doch in ganz besonderer Weise beschrieben im gleichnamigen Buch des Thomas von Kempen. Dieses Buch erschien nach allem, was man weiß, zum ersten Mal in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts anonym, vermutlich im Jahr 1418. Es war lateinisch geschrieben. Um seinen Autor und sein ursprüngliches Erscheinungsdatum gibt es eine breite wissenschaftliche Diskussion, die hier allerdings nicht weiter zu interessieren braucht. Die deutschen Ausgaben haben in der Regel »Nachfolge Christi« als Titel. Selbst Papst Johannes Paul II hat dieses Buch noch als einen »Wegweiser von bleibendem Wert« empfohlen. Dort hat die Vorstellung von imitatio ihre ganz besondere Ausprägung erhalten.

Formal gesehen sind es vier Bücher, die in der »imitatio Christi« von Thomas zusammengefasst sind. Ihre Titel sind: »Anleitung zum geistlichen Leben«, »Wege zum inneren Leben«, »Kampf und Trost« sowie »Vom Sakrament des Altares«. In diesen Büchern kommt sehr viel allgemeine Lebensweisheit zum Ausdruck. Literaturwissenschaftler würden das Werk als weisheitliche Literatur einordnen, wie sie z. B. in der Bibel in den Sprüchen Salomons ebenfalls zu finden ist. Diese Weisheit in der »imitatio Christi« ist keineswegs alleine oder auch nur überwiegend biblisch geprägt. Es gibt etliche Bezüge zum Alten Testament, einige zum Neuen Testament, aber es ist keineswegs so, dass Jesus Christus in spezieller Weise als Vorbild dargestellt und ausgemalt wird. Die Ausrichtung auf Christus ist keineswegs so ausgeprägt, wie der Titel es eigentlich erwarten lässt. In den ersten beiden Büchern wendet sich Thomas ständig mit Appellen, grammatikalisch gesprochen mit Imperativen, an seine Leser. So sind es Ratschläge, die er seinen Lesern gibt. In dem dritten und vierten Buch verwendet Thomas die Form des Dialoges. Im dritten Buch ist es der Dialog zwischen Herr und Knecht, im vierten Buch der zwischen der Stimme Christi oder dem Geliebten auf der einen Seite und dem Jünger auf der anderen Seite. Gemeint ist damit immer ein Dialog zwischen Gott bzw. Christus einerseits und dem Gläubigen andererseits. An einigen Stellen wird erkennbar, dass sich das Buch eigentlich an Mönche oder vor allem im letzten Teil an Priester wendet, also nicht unbedingt an das ganze Kirchenvolk.

Inhaltlich geht es nicht um eine Lehre, in die der Leser eingeführt wird. Es gibt wenig gedanklichen Fortschritt. Das Buch kreist vielmehr in immer neuen Wendungen darum, dass der Mensch sich ganz auf Gott und auf Christus ausrichten soll. Dazu muss der Mensch im Gegenzug alles Weltliche hinter sich lassen. Darin wird deutlich, dass Thomas in zwei Welten denkt, also ein dualistisches Weltbild hat. Er sieht die Welt und alles Weltliche als einen Bereich des Lebens an, alles Geistliche und die Zugehörigkeit zu Gott als einen anderen Bereich. Thomas geht davon aus, dass es einen Fortschritt geben kann, durch den der Mensch die Welt hinter sich lässt und sich zum Höheren, zum Geistlichen entwickelt. Der zentrale Gedanke, der ständig wieder auftaucht, ist, dass der Mensch ganz demütig werden müsse. Er müsse von sich selbst ganz gering denken, geringer als von seinen Mitmenschen, und er müsse darum wissen, dass er alles von Gott her bekomme. So solle er ganz von sich selbst, von seinen eigenen Interessen und Bedürfnissen absehen, dafür vielmehr ganz auf Gott hin ausgerichtet leben. Er solle nur geistlich leben und Gottes Willen tun.

Dass dieses Buch hoch geschätzt wird, wurde bereits gesagt. Worauf man dort eingestimmt wird, ist vor allem die gerade beschriebene Grundhaltung, das Weltliche zu verachten, von sich ganz niedrig zu denken und sich ganz auf Gott zu konzentrieren. Beachtlich ist die Atmosphäre, die Thomas dem Leser vermittelt. Eine Vorstellung, wie Christus konkret nachgeahmt werden solle, wird dagegen nicht vermittelt. Thomas denkt auch nicht darüber nach, ob es berechtigte Rückfragen an Gott gibt. Er beschäftigt sich nicht mit den Fragen von Verantwortung oder eigenen Entscheidungen. Seine Schrift ist kein Lehrbuch, gewiss auch kein theologisch-wissenschaftliches Werk. Viele Begriffe wie Mühen, Leiden, Nöte, Tadel, Demütigung oder Zurechtweisung bleiben völlig allgemein und deswegen unscharf. Das lässt der Phantasie freien Raum, was gleichzeitig bedeutet, dass die Ausführungen in diesem Sinne auch keine konkreten Hilfestellungen geben. Dass Thomas im dritten und im vierten Buch Gott und Christus direkt reden lässt, kann man ebenfalls sehr kritisch betrachten. Woher meint er zu wissen, dass Gott wirklich so zu uns redet? Manches bleibt theologisch fragwürdig und sogar angreifbar. Schwierigkeiten oder auch ein angemessenes Verhältnis zum Mitmenschen werden nicht in den Blick genommen. Doch alle diese Bemerkungen würden Thomas von Kempen vermutlich gar nicht stören, denn er schließt sein Buch mit einem Kapitel, in dem er geradezu davor warnt, sich zu viel Gedanken zu machen. Er sieht darin die Gefahr, im Abgrund des Zweifels zu versinken. »Glaube ist von Dir verlangt, … nicht hoher Verstand und tiefe Einsicht in die Geheimnisse Gottes«, so seine klare Aussage in diesem letzten Kapitel.

So sehr das Buch des Thomas von Kempen zu würdigen ist und so groß seine Wirkung ist, so ist dennoch bei unseren Überlegungen darauf aufmerksam zu machen und damit Rudolf Schnackenburg zuzustimmen, dass die imitatio auch über Thomas von Kempen hinaus den Fokus in erster Linie auf einer Gesinnung hat, die man meint als Grundhaltung Jesu zu erkennen. Aber Nachfolge umfasst weit mehr als nur solch eine Gesinnung. Nachfolge erschöpft sich nicht in dem Versuch, sich die Gesinnung Jesu zu eigen zu machen. Bei ihr geht es über die Gesinnungsfrage hinaus um ein Handeln, um ein Tun dessen, was man im Sinne Christi jeweils für richtig erkennt. Nachfolge dringt dabei immer wieder in den Bereich vor, in dem Jesus gerade nicht mehr nachgeahmt werden kann, weil sich ständig neue und andere Situationen ergeben, die er noch nicht erlebt hat und nicht erleben konnte. So kommt imitatio immer an ihre Grenzen, wenn das Leben den Menschen vor eine neue Herausforderung stellt, die beim Vorbild, also im Leben Jesu, nicht aufgefunden werden kann, folglich nicht einfach nachgeahmt werden kann.

Dennoch wird daran festzuhalten sein, dass zur Nachfolge in einem gewissen Maß auch imitatio gehört. Denn es zielt eindeutig auf die Gesinnung, wenn Jesus in Mk 10,43ff sagt: »Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein«. Und Jesus macht diese Haltung fest an seiner eigenen, dass er gekommen sei, zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele (V 45). Parallel dazu kann man die Fußwaschung in Joh 13 ansehen, mit der Jesus seinen Jüngern ein Beispiel gibt, damit sie ebenso handeln (V 15). Oder man kann an die Einladung Jesu in Mt 11,28–30 denken, wo er die Mühseligen und Beladenen auffordert, zu ihm zu kommen und von ihm zu lernen, denn er sei sanftmütig und von Herzen demütig. Wenn die Menschen diese Haltung von ihm lernen, dann verheißt er, dass sie es leicht haben werden und ihre Seelen Ruhe finden werden. In gewissem Umfang gehört also imitatio, die Orientierung an Jesu Gesinnung, soweit wir sie überhaupt erkennen und ermessen können, auch zu einem Leben in der Nachfolge dazu, aber dies allein reicht noch nicht aus.

Die »Nachfolge« von Dietrich Bonhoeffer

Von Thomas von Kempen zu Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) ist es zeitlich ein großer Schritt. Aber wer heute über Nachfolge nachdenken will, kommt an Dietrich Bonhoeffer nicht vorbei. Bonhoeffer hat 1937 ein Buch mit dem Titel »Nachfolge« herausgegeben, das als die wichtigste Veröffentlichung zum Thema in der Neuzeit gelten kann. Es fand gleich nach seinem Erscheinen viel Beachtung. Mit dem Blick auf Bonhoeffer wird nicht nur zeitlich bereits eine Nähe zu unserer Gegenwart erreicht, sondern Bonhoeffers Vorstellung beschreibt auch schon konkreter, was unter Nachfolge verstanden werden kann, als das bei Thomas von Kempen der Fall war.

Bonhoeffer hatte viele Jahre die Entwicklung der Kirche mit großer Sorge betrachtet. Sie war ihm viel zu schwach und sie machte nach seinen Vorstellungen viel zu wenig deutlich, dass Gottes Gnade zwar den Menschen gilt, dass Gott aber auch konkrete Ansprüche an die Menschen erhebt. Zuletzt hatte Bonhoeffer junge Pfarrer ausgebildet und mit ihnen in Finkenwalde gemeinschaftliches Leben eingeübt. Es war ihm ein Anliegen, dass die Pfarrer und darüber hinaus die ganze Kirche sich klar zu Christus bekannten. Er wollte die Kirche wach rütteln. Aus diesen Motiven heraus fasste er zusammen, was ihn seit Jahren beschäftigt hatte und schrieb dieses Buch »Nachfolge«.

Dabei darf nicht übersehen werden, dass Bonhoeffer in der Zeit des Nationalsozialismus und des Hitler-Regimes schrieb. Dieser gesellschaftliche Kontext hat Bonhoeffers Gedanken ein zum Teil hartes Profil gegeben. Gerade in der Zeit, in der die Menschen aufgefordert wurden, allein Hitler als »Führer« zu folgen, betonte Bonhoeffer, dass es darauf ankomme, allein Christus als Führer zu folgen. Dieses Buch soll nun in seinen Grundzügen nachgezeichnet werden. Die Zahlen in Klammern geben dabei die Seitenzahlen aus seinem Buch an.

Die Nachfolge, wie sie Bonhoeffer in diesem Buch beschreibt, ist für ihn die eine Form christlichen Glaubens. »Es gibt keinen anderen Weg zum Glauben als den Gehorsam gegen den Ruf Jesu« (46). Nachfolge ist laut Bonhoeffer »göttliches Gebot an alle Christen« (34). Nur durch die Nachfolge gelange der Gläubige zum Heil. Nur auf diesem Wege werde die Gnade wirksam. Nur hier sei die »Gnade, die wirklich Sünden vergibt und den Sünder befreit« (40).

Der Nachfolge gehe der Ruf Christi voraus. Nur Christus könne in die Nachfolge rufen (47 u. ö.). Aber weil Christus es ist, der ruft, sei ihm unbedingt gehorsam zu leisten (46). Nachfolge habe dabei zunächst keinen speziellen Inhalt. Sie bedeute somit zunächst »nichts anderes, als die Bindung an Jesus Christus allein« (47).

Der Ruf Christi und sein Wille gelten bei Bonhoeffer als klar und eindeutig. Der Gläubige darf daran nicht herumdeuteln (60ff). Es wird ihm sonst von Bonhoeffer unterstellt, dass er nicht bereit sei zu gehorchen. Eine ganz zentrale Stelle ist für Bonhoeffer dabei die Geschichte vom Sündenfall (61f) und darin die Frage der Schlange an Eva: »Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?« (Gen 3,1). Für Bonhoeffer ist diese Frage »Sollte Gott gesagt haben?« die teuflische Frage an sich. So hatte er es schon früher in seiner Vorlesung über die Schöpfungsgeschichte ausführlich hervorgehoben.2 In seiner »Nachfolge« kommt er darauf wieder zurück und betont diese Anschauung erneut. Allein wenn diese Frage auftaucht, ist für Bonhoeffer »der Gehorsam gegen das Gebot schon verweigert« (62). Die Stelle vom Sündenfall und der Frage der Schlange ist für Bonhoeffer und sein Verständnis von Nachfolge absolut zentral. Bonhoeffer stellt mit seiner Interpretation dabei den Gehorsam in den Mittelpunkt. Beim Sündenfall geht es für ihn um mangelnden oder verweigerten Gehorsam.

Bonhoeffer aber fordert diesen Gehorsam. Dabei müssen wir gleich in den Blick nehmen, dass es Gehorsam nur dort geben kann, wo es klare Weisungen, Gebote oder klare Willensäußerungen Gottes in anderer Form gibt. Bonhoeffer setzt dies in seiner »Nachfolge« voraus. Doch auch dann ist Gehorsam an sich zunächst etwas Formales, etwas Äußerliches und vielleicht sogar auch etwas Kaltes. Dies prägt den Charakter von Bonhoeffers ganzer »Nachfolge« und trägt wesentlich zu ihrer Radikalität und Strenge bei. Voraussetzung bleibt dabei immer die Klarheit des göttlichen Wortes. Bonhoeffer nennt das, was er daraufhin fordert einen einfältigen Gehorsam. Mit diesem Begriff des einfältigen Gehorsams meint er einen unmittelbaren Gehorsam, der auf jedes Zurückfragen oder Zögern verzichtet. Nichts dürfe sich zwischen Christus und den Nachfolgenden stellen, sonst werde diese enge Beziehung durchbrochen und außer Kraft gesetzt. Glaube und Gehorsam seien nicht voneinander zu trennen. »Nur der Glaubende ist gehorsam, und nur der Gehorsame glaubt« (52). Wir werden noch sehen, dass sich Bonhoeffer genau an der Frage von Sündenfall und Gehorsam ganz charakteristisch von Taizé unterscheidet. Genau durch diesen Unterschied wird der Nachfolge-Gedanke von Taizé eine deutlich andere Färbung haben.

Um in die Nachfolge einzutreten und den Ruf zu beantworten, muss der Gläubige nach Bonhoeffers Vorstellung alles verlassen (51 u. ö.), was sein bisheriges Leben ausmacht. Die Jünger Jesu sind dafür das Beispiel. Es ist ein hoher Preis, den der Gläubige somit zahlt. Deswegen spricht Bonhoeffer von der teuren Gnade. Wegen der Ungewissheit dieses Weges und wegen dieses hohen Preises kann nach Bonhoeffer kein Mensch von sich aus diesen Weg selbst wählen wollen (46, 48).

Wenn der Nachfolgende diese Schritte vollzieht, komme es damit automatisch zum Bruch. Dieser Bruch sei notwendig und konstitutiv für ein Leben in der Nachfolge. Es handle sich um einen Bruch mit dem seitherigen Leben, mit der Familie, mit den Freunden, im Zweifelsfall mit allem, was das bisherige Leben ausgemacht hat wie bei den Jüngern Jesu damals.

Der Nachfolgende werde so einerseits völlig einsam. Schon mit der Entscheidung, wie er den Ruf in die Nachfolge beantworte, stehe er ganz alleine vor Christus (87). Wenn es zur Nachfolge und somit zum Bruch gekommen sei, sei er erst recht einsam. Auf der anderen Seite gelte, dass der Schritt in die Nachfolge auch den Eintritt in die Christusgemeinschaft bedeute (50, 94). Der Gläubige bekomme damit gleichzeitig eine neue Existenz (50, 71 u. ö.).

Ein besonders prägnantes Kennzeichen des Weges in der Nachfolge ist bei Bonhoeffer, dass er ins Leiden führt. Das Martyrium müsse nicht gesucht werden. Aber das Kreuz gehöre zur Nachfolge unabdingbar dazu. Das Kreuz Christi habe der Nachfolgende auf sich zu nehmen. Dies sei als Teil der Christusgemeinschaft zu sehen. Trotz der starken, geradezu dominanten Betonung des Kreuzes bleibt Nachfolge für Bonhoeffer immer ebenso verbunden mit der Erfahrung von Gnade (40 u. ö.), stärker noch: Nachfolge sei Gnade und Freude (24).

Die Bergpredigt spielt bei Bonhoeffers Konzeption der Nachfolge eine hervorgehobene Rolle. Sie nimmt einen breiten Raum in seiner Darstellung ein und wird in die Nähe eines Leitfadens für ein Leben in der Nachfolge gerückt. Dazu passt gut, dass es bei einem Leben in der Nachfolge zum sogenannten Außerordentlichen kommen müsse. Nur dadurch unterscheidet sich der Christ nach Bonhoeffers Verständnis von den anderen. Seine Freunde zu lieben sei nichts Besonderes. Aber die Feindesliebe, die ihn von den anderen abhebe und unterscheide, gehöre in die Nachfolge des Christen.

Bei diesen Anforderungen ist es nicht verwunderlich, wenn es nach den Vorstellungen Bonhoeffers letztlich immer bei einer kleinen Schar bleiben werde, die die Nachfolge lebe und damit Kirche Jesu Christi sei (184). Bonhoeffer zweifelt schon in seinem Vorwort, ob der normale Mensch, sei er Arbeiter oder Geschäftsmann, Landwirt oder Soldat, diesen Weg gehen könne (23).

Dennoch gilt es festzuhalten, dass nach Bonhoeffer der Christ in der Nachfolge sich nicht selbst von den anderen trennen könne. »Nicht die Gemeinde vollzieht die Scheidung« (183f). So ernst und eingehend auch Fragen der Kirchenzucht erörtert werden (285–291), die eigentliche Scheidung dürfe nur Christus vornehmen. »Eine kleine Schar, die Nachfolgenden, wird so getrennt von der großen Zahl der Menschen« (184).

Was die Kirche betrifft, so läuft die Konzeption von Bonhoeffers Nachfolge darauf zu, dass die wahre Kirche Christi Raum greife und deswegen sichtbare Kirche werde (241). Dennoch dürfe die vorfindliche, sichtbare Kirche keineswegs mit jener immer kleinen Schar identifiziert werden. Die Volkskirche wird von ihm scharf kritisiert (40f u. ö.). Das Verhältnis von Volkskirche und der kleinen Schar, die die eigentliche Kirche bilde, bleibt in einer gewissen Unschärfe und einer gewissen Spannung bestehen.

Für den Einzelnen aber laufe alles darauf hin, dass durch die Nachfolge in der Heiligung die Gottesebenbildlichkeit wiedergewonnen werde (298f, 303). »Christus ruht nicht mit seiner Arbeit an uns, bis er uns zur Christusgestalt gebracht hat« (301). Dieses gesamte Geschehen ist darauf ausgerichtet, dass wir Christus gleich seien und ebenso lebten (302f). Die Christusgleichheit wird von Bonhoeffer schon für dieses Leben erwartet (302, 304). Damit ist gleichzeitig gegeben, dass der Mensch in der Nachfolge eine neue Existenz erlangt habe und wahrhaft Gnade gefunden habe.

Mit diesem Buch hat Bonhoeffer ein Werk hervorgebracht, das bis heute eine hohe Verkaufszahl erreicht hat. Es wirkt freilich besonders überzeugend dadurch, dass Bonhoeffer selbst mit seinem Leben für seine Überzeugungen bezahlt hat und am 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg auf persönlichen Befehl Hitlers noch ganz kurz vor Kriegsende hingerichtet worden ist. Seine »Nachfolge« bringt allerdings seine Gedanken in sehr scharfer, teils radikaler Art hervor. Das Kreuz Christi und das Tragen des Kreuzes für die Nachfolgenden spielt eine große Rolle. So ist es ein Buch, dem man heute keineswegs mehr in allen Aussagen zustimmen kann. Dennoch hat Bonhoeffer in ganz besonderer Weise auf dieses Thema wieder aufmerksam gemacht. Sein Buch hält das Thema Nachfolge wach und lässt heute noch fragen, wie wir uns Nachfolge vorstellen sollen. Das ist ein großes Verdienst Bonhoeffers, das bleibt.

Der Nachfolge-Gedanke in Taizé

Ein sehr bedeutsames Beispiel von Nachfolge aus der heutigen Zeit bietet schließlich die Gemeinschaft von Taizé. Taizé ist eine Bruderschaft im gleichnamigen kleinen Dorf in Frankreich, in Burgund. 1949 legten die ersten Brüder ihr Gelöbnis ab, lebenslang zusammen zu bleiben. Gleichzeitig bestimmten sie Roger Schutz (1915–2005) zu ihrem Prior, wie sie den Leiter ihrer Gemeinschaft nennen. Dieser nannte sich ab jener Zeit Frère Roger, zu Deutsch Bruder Roger. Damals waren es sieben Brüder, heute sind es etwa 100, die vor allem in dem kleinen Dorf Taizé leben, aber auch auf jedem Kontinent vorzugsweise in ärmlichen Verhältnissen eine kleine Bruderschaft haben. Die Brüder stammen aus vielen verschiedenen Ländern und gehören verschiedenen christlichen Kirchen und Konfessionen an. Sie verstehen es als ihre Aufgabe, ein Zeichen der Versöhnung zwischen den getrennten christlichen Kirchen zu leben.

Jährlich kommen Zehntausende von Jugendlichen aus allen Kontinenten nach Taizé, um einige Tage der Einkehr bei den Brüdern unter einfachen Bedingungen zu verbringen. Das Beispiel der Brüder kann besonders strahlen, weil man diese Gemeinschaft besuchen kann und offen empfangen wird. Man kann so erleben, was bei ihnen mit Nachfolge gemeint ist.

Wenn bei Bonhoeffer sein Buch »Nachfolge« im Vordergrund stand, so ist es bei der Gemeinschaft von Taizé das gelebte Beispiel der Brüder und die Erfahrung, die man dort machen kann. In Taizé findet sich ein Nachfolge-Gedanke, der viel hellere Farben hat als bei Bonhoeffer und dadurch viel einladender wirkt.

Inhaltlich ist der Ausgangspunkt für das Verständnis von Nachfolge in Taizé, dass Gott uns immer schon zuerst geliebt habe. Christus warte in der Tiefe unseres Herzens auf uns, selbst wenn wir uns dessen nicht bewusst seien. Prägend ist für Taizé ein Gottes- und ein Christusbild, bei dem Gott bzw. Christus stets gegenwärtig ist, sich aber nie aufdrängt, den Menschen immer frei lässt. Dies Bild ist geprägt von einer Selbstlosigkeit Gottes, mit der Gott auf den Menschen zukomme, sich auf ihn einlasse, selbst auf die Gefahr hin, dass er auf Gleichgültigkeit oder Ablehnung stoße. Diese Haltung Gottes nennen die Brüder von Taizé Gratuität. Frère Roger hat diese Gottesvorstellung nirgends ausdrücklich hergeleitet oder begründet. Doch ist es ein Gedanke, der sehr viel für sich hat und der sich in vielen biblischen Texten findet. Dabei ist an die Menschwerdung Gottes in der Geburt Jesu (Lk 2 oder Joh 1) ebenso zu denken wie an den Verzicht Jesu, die himmlischen Legionen zur Hilfe zu rufen (Mt 26,53), als er verhaftet wurde. Es ist an den Hymnus zu denken, der beschreibt, wie Christus bei der Menschwerdung sich aller göttlicher Gestalt entäußert hat (Phil 2) oder bereits im Alten Testament an den Verzicht Gottes auf weitere Generalstrafen und Säuberungen nach der großen Sintflut in Gen 9,9–17 sowie an die Begegnung des Propheten Elia mit Gott im sanften Sausen in 1. Kön 19 und an vieles anderes mehr. Es ist ein Gottesbild, das es wohl verdient hätte, viel stärker ins Bewusstsein gebracht zu werden. Dass Frère Roger mit dieser zurückhaltenden und unaufdringlichen Art Gottes einen Wesenszug dieses Gottes treffend wiedergibt, wird auch durch einzelne Ausnahmen nicht widerlegt, wie z. B. die umwerfende Christusbegegnung des Paulus vor Damaskus, die jedoch auch nicht übersehen werden sollte.3 Eine wirklich exklusive Formulierung wie die von Frère Roger, dass Gott sich »niemals« aufdrängt4, wird dadurch allerdings etwas schwierig. Doch der Grundgedanke dieser Gottesvorstellung ist berechtigt und wirkt sich stark auf die Vorstellung von Nachfolge in Taizé aus.

Nachfolge kann nach dem Verständnis der Brüder durchaus vielerlei Gestalt haben. Sie kenne keine feste Form. Jede und jeder müsse seinen eigenen Weg im Hören auf Gottes Wort entdecken. Sich in der Stille vor Gott halten, sei dafür ein unverzichtbares Element. Doch ebenso wie in der Stille könne uns Christus in einem Mitmenschen begegnen. Auch Geschichtsdeutung, nicht nur in der Deutung einzelner Ereignisse, wie sie für Frère Roger biographisch Weichen stellend war, gehöre somit zur Nachfolge.5 Der Nachfolge-Gedanke gelte als Anspruch für die Brüder wie für andere gleichermaßen. Da gebe es keinen Unterschied.6

Es gibt auch in Taizé zweifellos eine Ausrichtung auf Christus hin. Doch kann man nicht von einer stark ausgeprägten Christozentrik sprechen wie bei Bonhoeffer. Es ist weit besser für eine trinitarische Ausgewogenheit gesorgt. Gott bzw. Christus warte immer schon in der Tiefe des Herzens. Um den Heiligen Geist wird in Taizé ständig gebetet und die roten, großen Tücher vorne in der Kirche erinnern an ihn. Es gebe den Ruf in die Nachfolge, man könne aber auch selbst darum bitten. Der Mensch habe einen eigenen aktiven Teil, indem er die Segel zum Empfang des Heiligen Geistes weit ausstellen könne und Schritte des Vertrauens gehen könne. Denn es reiche nicht aus, allein um Gottes Liebe zu uns zu wissen. Dennoch liege letztlich alles an Gott. Gottes Liebe wird stets vorausgesetzt. Nachfolge geschehe allein aus Dankbarkeit und als Antwort auf diese Liebe Gottes. Die Frage, wie man gerecht vor Gott werde, wie man Gottes Barmherzigkeit erlange, spielt dabei keine Rolle. Denn sie gilt als bereits vorab beantwortet.

Typisch für Taizé ist auch, dass Nachfolge im Kleinen beginnen könne. Es gehe um Schritte des Vertrauens, um eine lange Entwicklung. Jeder solle tun, was er vom Evangelium verstanden habe – und sei es noch so wenig. Das Wenige zähle schon und könne der Anfang sein zu mehr. Dabei wird von Gehorsam gegenüber Gott praktisch nicht gesprochen, aber von Schritten des Vertrauens oder von einer Willensänderung, einer Verklärung oder Verwandlung, die solch unmittelbares Tun mit sich bringe. Damit sind wir bei dem zentralen Unterschied zu Bonhoeffer, der oben schon angesprochen worden ist. Während für Bonhoeffer in Gen 3 bei der Geschichte vom Sündenfall mit der Frage der Schlange der Gehorsam auf dem Spiel stand, kann man in Taizé hören, dass es beim Sündenfall um die Frage des Vertrauens gehe. Adam und Eva haben auf einmal nicht mehr vorbehaltlos der guten Ordnung Gottes vertraut. Sie haben gedacht, es sei besser, selbst einsichtig und klug zu werden (Gen 3,6).7 Sie wollten selbst beurteilen können, worauf es ankomme, und entzogen damit Gott ihr Vertrauen. Wenn es bei dieser zentralen Stelle für Bonhoeffer also um Gehorsam geht, geht es für die Brüder von Taizé vielmehr um Vertrauen. Und während wir oben gesehen haben, dass es Gehorsam nur geben kann, wo bereits ein Gebot, eine Weisung oder eine klare Willensäußerung Gottes da ist, und dass Gehorsam zunächst als formal, äußerlich und womöglich sogar kalt zu bezeichnen ist, reicht Vertrauen weiter und hat einen anderen Charakter.

Vertrauen ist besonders gerade dort gefragt, wo es keine klare Weisung gibt, wo es nicht nur um das Halten von Geboten geht, wo Gehorsam im eigentlichen Wortsinn also gar nicht mehr gelebt werden kann. Vertrauen gehört im Unterschied zum Gehorsam zu viel offeneren Situationen. Es gehört dorthin, wo das Risiko besteht, ob der Mensch Gott überhaupt richtig verstanden hat, oder wo der Mensch nichts tun kann, sondern abwarten muss. Vertrauen ist gefordert, wenn der Mensch in offenes Land geht, wenn er sich führen lassen will, ohne die Marschroute en detail zu kennen. Vertrauen braucht es, wo in eigener Verantwortung Entscheidungen und Schritte gewagt werden müssen und damit Fehlversuche riskiert werden. Vertrauen braucht es, dass Gott den Menschen gerade auch in solchen Situationen nicht fallen lassen wird. Vertrauen baut darauf, dass Gott nicht verwirft, selbst wenn der Mensch sich geirrt hat. Und im praktischen Leben wird es oft um solch offene Situationen gehen, in denen dies alles gegeben ist. Denn wir haben es im Leben mit vielen Fragen zu tun, die neu auftauchen und für die es keine klaren Weisungen gibt und die sich nicht einfach z. B. aus den biblischen Geboten heraus beantworten lassen. Gerade hier ist also Gottvertrauen besonders gefragt.

Zu diesem offenen Wirkungsfeld, das Vertrauen von dem Wirkungsfeld des Gehorsams als Antwort auf ein klares Gebot unterscheidet, ist Vertrauen auch vom Charakter her etwas anderes als Gehorsam. Es schafft eine andere Art von Beziehung. Vertrauen ist gerade im Kontrast zu Gehorsam etwas Inhaltliches, Innerliches und Warmes.

Damit ist ein gravierender Unterschied zwischen Bonhoeffer und Taizé angesprochen, der sich in alle Bereiche der Vorstellung von Nachfolge hinein auswirken wird. Markanter als mit dieser Gegenüberstellung von Gehorsam bei Bonhoeffer und Vertrauen bei Taizé, mit ihrem unterschiedlichen Charakter von formal und kalt einerseits bzw. inhaltlich und warm andererseits sowie mit ihrem unterschiedlichen Wirkungsfeld bezogen auf vorgegebene Gebote oder eigenverantwortliches Handeln und offenes Land kann man den zentralen Differenzpunkt zwischen Bonhoeffer und Taizé nicht hervorheben.

Dabei darf nicht übersehen werden, dass sich Vertrauen und Gehorsam nicht strikt voneinander trennen lassen. Im Gegenteil, da gibt es durchaus Überschneidungen und ein gegenseitiges Durchdringen. Es ist gut, wenn Gehorsam auf Vertrauen basiert und Vertrauen führt natürlich in den Gehorsam, sobald entsprechend klare Vorgaben erkennbar sind. Beides gehört durchaus eng zusammen, aber es ist dennoch zu unterscheiden und beides ist in je unterschiedlichen Situationen besonders gefordert.

Zu der Konzentration auf das Vertrauen passt, dass für Frère Roger beim Glauben das Verstehen nicht vorrangig ist. Glaube sei vielmehr oft zunächst eine Intuition, der man folgen solle. Es gelte, dadurch Vertrauen zu Gott aufzubauen. Kenntnisse über den Glauben und das rechte Verstehen würden später nachkommen.

Dass es um Vertrauen geht, wird schließlich noch verstärkt, wenn man weiß, dass es in der Ursprache des Neuen Testaments, im Griechischen, ein und dasselbe Wort pistis ist, das wir mit glauben oder mit vertrauen übersetzen. Beides gehört schon von daher untrennbar zusammen.

Nachfolge kann nach dem Verständnis der Brüder von Taizé sehr wohl Gegenkräfte auf den Plan rufen. Sie könne »in unwegsames Gelände« führen oder Verleumdungen mit sich bringen. Es könne um Erdulden, Aushalten und Mitleiden mit Christus gehen. Das Kreuz-Tragen wird nicht ignoriert. Schließlich hatten die Brüder selbst früher, während der Zeit des Kommunismus, jedes Jahr Besuche in der DDR, in der Tschechoslowakei und in Ungarn gemacht und haben heute noch durch ihre Brüder in den Fraternitäten in diversen Ländern auf allen Kontinenten und durch zahlreiche andere Kontakte unmittelbare Erfahrungen dazu. Die Brüder wissen sehr wohl um das Leiden der Menschen, gerade auch der Zeugen Christi. Nicht zuletzt sei daran erinnert, dass Frère Roger selbst während eines der gemeinsamen Gebete in der Kirche eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Dennoch bleibt Nachfolge in Taizé stets eingebunden in einen positiven Kontext. Der Akzent liegt auf der Freude und dem ungeahnten Glück, das aus der Christusgemeinschaft heraus entstehe. Bezeichnend ist der Untertitel, den Frère Roger in seiner letzten Überarbeitung der »Quellen aus Taizé« 2001 verwendet hat. Er lautet ganz einfach, aber deutlich: »Dieu nous veut heureux«, auf Deutsch: »Gott will, dass wir glücklich sind«. Nachfolge ist nach dem Verständnis der Brüder von Taizé ein Weg zu ungeahnter Freude. Die Verheißungen der Seligpreisungen sind wichtig wie andere Verheißungen auch. Nachfolge führe zu hellem Jubel. Wer sich auf den Weg der Nachfolge begebe, lasse sich im Vertrauen auf Gott ein, der den Menschen immer stärker verwandele und verkläre.

Stärker, als es sonst irgendwo zu greifen ist, gehören in Taizé Nachfolge und Gemeinschaft zusammen. Frère Roger war schon bei der Gründung von Taizé geradezu von dem Motiv geleitet, ein gemeinschaftliches Leben anzustreben, um gegen den Individualismus die Gemeinschaft in der Kirche wieder zu beleben und zu intensivieren.8 So haben es sich die Brüder geradezu zum Ziel ihrer Gemeinschaft gemacht, symbolisch sogar die Gemeinschaft der weltweiten Kirche Jesu Christi zu leben. Sie wollen »ein Gleichnis der Gemeinschaft verwirklichen«9 und so zur Einheit der Kirche beitragen bzw. ein Ferment dieser Einheit sein. Schließlich darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass die Brüder ihre Besucher stets vor der Heimreise an die Rückbindung in die eigene Heimatgemeinde erinnern. In Taizé wird damit eine Nachfolge gelebt und propagiert, die gänzlich in den Kontext von Gemeinschaft und Kirche eingebunden ist.

Nachfolge ist dabei die eine Form des Glaubens, die in Taizé gelebt und propagiert wird. Eine Auseinandersetzung zwischen dieser und anderen verschiedenen Glaubensformen wird nicht diskutiert. Das hat seinen Grund wohl darin, dass Nachfolge als der Anspruch Gottes gesehen und so weitergegeben wird. Dabei wird durchaus wahrgenommen und anerkannt, dass es Christen gibt, die anders leben. Ihnen wird das Christsein deswegen in keiner Weise abgesprochen. Im Unterschied zu Bonhoeffer, der nur die Nachfolge gelten lässt und deswegen zu einer Vorstellung kommt, dass die Kirche immer nur eine kleine Schar sei, ist in Taizé mit dem Anerkennen der Vielfalt gelebten Glaubens die Vorstellung von Kirche viel weiter und offener.

Es gibt eine Formulierung von Frère Roger, in der sich ganz vieles von seinem Nachfolge-Gedanken wie in einer Zusammenfassung wiederfinden lässt. Frère Roger kann sagen: »Gott bittet dich darum, im Vertrauen des Glaubens dich Christus zu überlassen und seine Liebe zu empfangen.«10