Nachhausekommen - Jan Peter Bremer - E-Book

Nachhausekommen E-Book

Jan Peter Bremer

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Beschreibung

Sechs Jahre jung ist der Erzähler, als ihn seine Eltern aus dem wilden Berlin der 1970er-Jahre ins dörfliche Gümse des niedersächsischen Wendlands verpflanzen. Nicht nur ist sein imposanter Vater ein erfolgreicher Künstler, auch wird ihr Zuhause ein regelmäßiger Treffpunkt für die Kunst- und Kulturszene der alten Bundesrepublik. Mit dem intellektuellen, politisch links stehenden Milieu der Eltern und dem ländlich-provinziellen Leben des Dorfes im »Zonenrandgebiet« prallen Welten aufeinander, zwischen denen der Junge Orientierung sucht – und schließlich im Schreiben findet. In einer großen Erinnerungsbewegung schildert Jan Peter Bremer eine Kindheit auf dem Land, seine literarisch meisterhaft erzählte, tragikomische, berührende Geschichte.

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Die Arbeit des Autors am vorliegenden Buch wurde vom Deutschen Literaturfonds e. V. gefördert.

 

* Der Autor ist sich bewusst, dass in diesem Buch einige diffamierende Wörter verwendet werden, die aber allein den Umständen im Text und der damaligen Zeit geschuldet sind.

 

Für John, Paul, George und Ringo und meiner ganzen Familie

 

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2023

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitat

Obwohl ich wusste, …

Plötzlich selbst in …

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

»Frau C.s stolz ist ihr prächtiger busen,

herrn C.s stolz seine breiten kniescheiben,

der stolz des bäckergesellen aber,

seine fertigkeit, dreizehn schrippen auf einmal jonglieren zu können. Ungleiche welt!«

H. C. Artmann, Der handkolorierte Menschenfresser

Obwohl ich wusste, dass er es schon seit Jahrzehnten aufgegeben hatte, war das Erste, was mir vor Augen stand, als meine Mutter mir am Telefon mitteilte, T. S. sei gestorben, die Art und Weise, wie er früher geraucht hatte. Sobald er an seiner filterlosen Zigarette gezogen hatte, öffnete sich sein Mund, und nun schwebte der Rauch einem Ballon gleich über die Oberlippe hinweg in den schwarzen Bart hinein. Dann urplötzlich sog er ihn von dort erneut ein und entließ ihn erst eine Ewigkeit später, von einem Schnauben begleitet, durch die Nasenlöcher.

 

Im Umfeld, in dem ich aufwuchs, wurde unentwegt geraucht, und wenn meine Eltern abends Besuch bekamen und der Fernseher, ganz gleich, was gerade lief, ausgeschaltet wurde, bestand meine Beschäftigung darin, zu beobachten, wer wann seine Zigarette ausdrückte und wer sich in der Zwischenzeit wieder eine neue angezündet hatte. Gekoppelt an diese Beschäftigung, entwickelte ich den Ehrgeiz, die Luft, wenn tatsächlich plötzlich keiner mehr rauchte, so lange anhalten zu können, bis sich wieder einer eine neue Zigarette ansteckte. Mit wachsender Zahl der Gäste wurde diese Aufgabe natürlich leichter, weshalb ich auch immer wieder ungeduldig zum Fenster blickte, ob nicht ein weiteres Scheinwerferpaar in unserer Einfahrt aufleuchten würde.

 

Dieses Wohnzimmer, der Hauptraum eines kleinen, mittelalterlichen Fachwerkschlösschens, war damals, etwa Mitte der Siebzigerjahre, mit seinen englischen Stühlen und Sesseln, die um einen großen, massiven Eichentisch herumstanden, das Zentrum einer gerade erst zusammengekommenen Künstlerkolonie in einem der abgelegensten Landstriche Westdeutschlands. Die Gäste, die abends, meist von ihren Frauen begleitet, dort eintrafen, waren größtenteils Schriftsteller und Journalisten oder, wie mein Vater, gestaltende Künstler, die sich ihrerseits in den umliegenden Dörfern Fachwerkhäuser gekauft hatten, in denen sie, im Gegensatz zu uns, jedoch meist nur einen Teil des Jahres verbrachten. Sie alle gehörten der gleichen Generation an und bildeten bereits seit den Sechzigerjahren einen Freundeskreis, der sich in West-Berlin gefunden hatte. Die Druckwerkstatt, benannt nach einem Berliner Stadtteil, die mein Vater dort mit drei Künstlerkollegen betrieben hatte, war ein wichtiger Teil dieses Umfelds gewesen. Unter anderem hatte sie auch eine Fußballmannschaft hervorgebracht, in der fast alle Gäste, die sich jetzt in diesem Wohnzimmer einfanden, schon damals mitgespielt hatten.

 

Jetzt war diese Druckwerkstatt im Nachbarhaus untergebracht, das ebenfalls zu unserem Besitz zählte, und auch das Fußballspiel wurde hier auf dem Land ausgetragen. Allerdings fand es nicht mehr jeden Sonntag statt, wie damals in West-Berlin, sondern nur einmal im Jahr, nämlich zu Pfingsten. Das war dann zum Beispiel ein Anlass, zu dem auch T. S. immer anreiste, und aus dem recht überschaubaren Kreis von Menschen, die sich regelmäßig auf dem Land aufhielten, wurden plötzlich viele, wenn der alte West-Berliner Freundeskreis zu diesem Spiel zusammenkam. Mir erschien es dann so, als hätten die, die auf unserem Grundstück nach etwa viereinhalbstündiger Fahrt ihren Autos entstiegen, alles, was es in den letzten Wochen und Monaten zu sagen gegeben hatte, nur für diesen Tag aufgespart, so laut und lebhaft ging es zu, und die Frauen kicherten über die Männer, die sich, von ihren Blicken getroffen, sogleich in Pose warfen, und die Torwartfrage war ja auch noch nicht ausgemacht, und irgendein Penner musste noch die steifbeinige Verteidigung verstärken, und dieser Penner musste einen Eisenfuß haben, und dann wurde auch gleich noch geklärt, wer denn eigentlich der mit Abstand Hässlichste von ihnen allen sei, und das war jedes Jahr der Gleiche, und allein der Abschreckung wegen wurde der dann auch der Verteidigung zugeteilt, und wie jedes Jahr war er auch dieses Mal wieder der Einzige, der nicht so laut darüber lachen konnte, und dann ging es wieder in die Autos, und nachdem auf irgendeinem Sportplatz im Umkreis das Spiel stattgefunden hatte, kehrten sie zu uns zurück, um sich jetzt in unserem Haus oder ums Haus herum umzuziehen, und die Hoden pendelten ihnen aus den schlabbrigen Unterhosen, und die Füße waren bei den meisten nach der Anstrengung käseweiß und wollten gar nicht mehr zum übrigen Körper passen, und weil das Spiel noch wie im Rausch über ihren Köpfen schwebte, wurde in scherzhaft aufbrausender Weise über Pässe und Anspiele gestritten und wild in die Luft gestikuliert, die nach Schweiß, Bier und Zigaretten roch, und auch wenn der Gegner, meist irgendein Dorfverein, wie immer gewonnen hatte, so hatte er doch trotzdem gegen diese Meute blass ausgesehen, die mit ihren Bärten und wilden Frisuren genauso gut der wildesten Bebilderung meines Schatzinsel-Buches hätte entstiegen sein können und die sich für mich, der ich mit meinen neun, zehn oder elf Jahren, mitgerissen von der Aufregung zwar, aber natürlich nur als Beobachter, irgendwo herumstand, wiederum in die Wichtigen, nicht ganz so Wichtigen und Unwichtigen aufteilte, denn es gab auch die, die nicht jeden Satz, der von irgendwoher geschmettert kam, lauthals parieren konnten, es gab auch die, die, so wie ich, mehr oder weniger am Rande vor sich hin lächelten und deren Äußerungen, wenn sie sich doch mal hervorwagten oder auf direkte Ansprache reagierten, im allgemeinen Lärm einfach übergangen wurden und, wie es schien, nur von mir wahrgenommen, noch eine Weile durch die Luft schwebten.

 

Dieses Fußballspiel, die Freundschaften, die Werkstatt, in der sich die Künstler in unregelmäßigen Abständen trafen, um zu viert oder mit einem Schriftsteller, den sie dazu eingeladen hatten, etwas für die Blätter, an denen sie arbeiteten, zu dichten, das heroische Skatspiel, zu dem als einer der Hauptakteure auch T. S. immer anreiste, die Feste, die hier meist in Scheunen gefeiert wurden und auf denen ab einem bestimmten Zeitpunkt immer dieselben von einer Bühne aus, die auch eine Bierkiste sein konnte, die gleichen Lieder schmetterten, die Aufregung um die Muhammad-Ali-Kämpfe herum und das Durchwachen dieser Nächte in einem größeren Kreis, all dieses knüpfte an die gemeinsam verbrachte West-Berliner Zeit an, in der ich zwar schon auf der Welt, aber noch zu klein gewesen war, um sie miterlebt zu haben. All diese Dinge und Ereignisse, die mir in ihrer ungeheuren Erscheinung und Wichtigkeit jederzeit vor Augen standen, weil sie hier, von ihrer eigenen Kraft getragen, weitergelebt und fortgesetzt wurden, hatten ihren Ursprung in Berlin. Wenn von Berlin die Rede war, wie wer wen kennengelernt hatte, was in dieser oder jener Kneipe passiert war, wer nachts mal nicht mehr nach Hause gefunden hatte oder von dem einen Balkon auf den benachbarten geklettert war, konnte ich gar nicht genug davon bekommen. Alles zum Beispiel, was ich an Anekdotischem aus den Gesprächen aufschnappte, die mein Vater und seine drei Künstlerkollegen führten, erschien mir als so wild und frei, so verrückt und verzaubert, dass ich mir Berlin darum wie eine Traumlandschaft baute, in der die Häuser nach Belieben ihre Plätze wechselten und die Bürgersteige durch sie hindurchführten und man von Menschen angesprochen wurde, die, wenn sie nicht sowieso auf dem Kopf standen, unmöglich schief an der Wand lehnten. Natürlich wusste ich, dass es nicht so war, aber gleichzeitig wusste ich, dass man es entdecken konnte. Nur war das schwer möglich, weil wir, obwohl noch so gut wie alle Kontakte dorthin verwiesen, fast nie nach Berlin fuhren. Es war einfach zu schön bei uns.

 

Am Rand des Dorfes lag unser Grundstück hinter einem großen, schmiedeeisernen Tor, zu dem ein schmaler Schotterweg hinführte. Wenn ich wusste, dass, wie zum Beispiel an Pfingsten, viele Gäste kommen würden, verbrachte ich, mit einem Plastikschwert bewaffnet, oft Stunden an diesem Tor, um denjenigen, die zu uns vorfuhren, einen kleinen Wegzoll abzupressen. Erst dann öffnete ich ihnen das Tor, das sonst nie geschlossen wurde.

War man durch das Tor hindurch und hatte sein Auto gleich auf der Wiese geparkt, lag rechts hinter großen Eichen das Schlösschen. Schaute man in die andere Richtung, so sah man auf eine alte Apfelplantage, die auch zu unserem Grundstück gehörte und hinter der dann wiederum das Dorf begann. Zwischen den Bäumen dieser Plantage weideten, weiträumig eingezäunt, unsere Schafe, und manchmal standen auch ein Pferd oder ein Esel oder beides dazwischen. Trat man von der Parkplatzwiese wieder auf den Weg zurück, sah man geradeaus das stattliche Bauernhaus, in dessen Diele sich die Werkstatt der vier Künstler befand. Über der Werkstatt hatte mein Vater sein eigenes Atelier, und die andere Hälfte des Hauses war damals an Bekannte vermietet, mit denen meine Eltern jedoch bereits heillos zerstritten waren. Hinter dem Bauernhaus ging es dann einen kleinen Abhang hinunter auf eine große Wiese, die sogenannte Badewiese, denn das ganze Grundstück wurde zu der einen Seite hin von einem länglichen See eingegrenzt, der auch direkt unterhalb des Schlösschens verlief und uns zumindest aus dieser Richtung vor Angriffen schützte.

 

Bevor mein Vater dieses Anwesen am See mit seinen zwei Gebäuden und dem viele Hektar messenden Grundstück 1972 erwarb, hatten wir in einem Dorf gelebt, das weniger als zehn Kilometer entfernt lag. In diesem ersten Dorf hatte mein Vater nur anderthalb Jahre zuvor, noch von Berlin aus, für wenig Geld ein Bauernhaus mit angrenzenden Stallungen gekauft. Während sich meine Eltern das Bauernhaus hatten ausbauen lassen, waren unsere Nachbarn, die jetzt in der Haushälfte neben der Werkstatt lebten, dort in die früheren Stallungen eingezogen. Sie waren als Erste der Berliner Freunde oder Bekannten meinen Eltern in die Gegend gefolgt.

In meiner Erinnerung an diese Zeit herrscht immer Sommer, und mir ist, als hätte ich die Frösche vom nahen Tümpel her das ganze Jahr über quaken gehört. Ich sah einen alten Mann, der einen Marder erschoss, der sich fauchend an eine Hauswand gedrückt hatte, und die Galeristen, die uns besuchten, kauften nicht nur die Bilder meines Vaters, sondern auch meine, die ich äußerst schnell auf die Abfallstücke von hellen Brettern pinselte und immer auch gleich mit einem Preis versah. Polternd, den Kopf hin und her werfend, entstieg ein Pferd einem Wagen, das von nun an unsere Wiese rauf und runter trabte, und morgens, wenn ich erwachte, ging ich zuerst zu unserem Hund, der damals noch ein Welpe war. Unentwegt versuchte er, mir in die Schuhe zu beißen, und wenn ich morgens aufbrach, um in die Schule zu gehen, die zu Fuß nur wenige Minuten von unserem Haus entfernt lag, war das Wichtigste, die Tür so schnell und geschickt hinter mir zu schließen, dass er nicht entwich, um mir zu folgen.

Im ersten Schuljahr, das ich dort durchlief, zählte meine Klasse nur vier Schüler. Alle Jahrgänge wurden von einem Lehrer unterrichtet, der mit seinen zahlreichen Kindern, die einen beträchtlichen Anteil der Gesamtschülerschaft stellten, im oberen Stockwerk des Schulgebäudes lebte. Für uns Erstklässler interessierte er sich kaum, also sahen wir ihn nur selten. Uns den Blockflötenunterricht persönlich zu erteilen, ließ er sich allerdings nie nehmen. Ansonsten delegierte er meist einen seiner Söhne, einen Viertklässler, der uns Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen sollte. Meine erste Lesefibel kann ich bis heute auswendig hersagen, nur hatte ich das damals gelernt, ohne die geringste Verbindung mit den Buchstaben herzustellen.

Die Nachmittage verbrachte ich mit einem Mädchen, mit dem ich mir auch die Schulbank teilte. Wir durchstöberten Scheunen und Ställe, zogen über Wiesen und Felder, fingen Frösche, die uns leider oft schon in den Eimern vertrockneten, bevor wir sie mit den Kartoffelkäfern füttern konnten, die wir für sie sammelten und die es hier in Unmengen gab, und an den Sonntagen trafen wir uns am Dorfkrug, um, hinter einer Ecke versteckt, kichernd zu beobachten, wie die Frauen nach dem Frühschoppen ihre betrunkenen Männer in Schubkarren heimbrachten.

 

Die eigentlich geringe Entfernung zwischen diesen beiden Dörfern hätte für mich kaum größer sein können. Wie zuvor schon Berlin, so fiel auch dieses erste Dorf nach unserem Umzug für mich wie aus der Welt, und ich blickte mich ganz neu um. Zwar gab es auch hier am Ufer des länglichen Sees Frösche, aber doch bei Weitem nicht so viele wie in dem modrigen Teich nahe unserem ersten Haus, und ich fing sie jetzt allein. Da ich nicht schwimmen konnte, barg dieser See für mich außerdem eine ständige Gefahr.

Zu allen Seiten von hohen Bäumen umgeben, waren die Räume des neuen Zuhauses immer schattig, und wie in jedem Schloss spukte auch in unserem ein Geist, eine alte Frau, die es um Mitternacht im Nachthemd durchwehte. Die älteren Menschen im Dorf hatten diese Frau sogar noch gekannt, weil sie im oder nach dem Krieg tatsächlich hier oder im Nachbarhaus gewohnt hatte. Mir allerdings ist sie nie erschienen, und ich weiß noch, dass ich mich sogar darüber wunderte, weshalb ich mich vor dem Einschlafen nicht viel mehr vor ihrem Herannahen fürchtete. Vielleicht lag es daran, dass unser Schlösschen, das ja wirklich ein Schloss war, weil es fünfhundert Jahre zuvor ein Raubritter erbaut hatte und wie zum Beweis aus seinem Gewölbekeller heraus zur Seeseite hin zwei Schießscharten aufwies, von seinen Räumlichkeiten her nicht größer war als das Bauernhaus, in dem wir vorher gewohnt hatten. Nicht nur sein Alter und seine Geschichte, von der nicht allzu viel bekannt war, auch seine Überschaubarkeit war es, die diesem Schlösschen etwas ganz Besonderes verlieh. Während es Bauernhäuser verschiedenster Größe hier in dieser Gegend wie Sand am Meer gab, war unser Schlösschen am See das einzige seiner Art, und gerade weil es das einzige seiner Art war, war es, verglichen mit den ortsüblichen Preisen, auch keinesfalls günstig gewesen, und deshalb musste derjenige, der es gekauft hatte, auch jemand sein, der sich das leisten konnte, jemand, der sich von den anderen nicht nur durch diesen Besitz selbst, sondern auch durch seinen außergewöhnlichen Erfolg unterschied, der ihm das alles erst ermöglichte. An diesem neuen Ort stand mir nun auch mein Vater plötzlich in seiner ganzen Bedeutung sichtbar vor Augen, und ich begriff, dass er, mein Vater, ein ganz außergewöhnlicher Mensch war, der dort, an seinem Arbeitsplatz über eine neue Radierung oder ein neues Bild gebeugt, etwas Einmaliges schuf, das er, kaum war die Farbe getrocknet, schon wieder für unvorstellbar viel Geld verkaufen konnte. Ich begriff, dass er, kaum über dreißig, schon Unglaubliches erreicht hatte, weil er diese Kraft besaß, dass alles, was er tat und sagte, wichtig war. Die Handwerker wussten das und auch die Galeristen, und die Sammler hingen ohnehin an seinen Lippen, und abends im Kreis der Freunde wurde laut gelacht, und ich wusste, dass er auch das brauchte, denn gerade weil er so viel erreicht hatte, trug er jetzt auch diese enorme Verantwortung, und die trug er auch für meine Mutter und mich, und deshalb waren auch wir jetzt Teil dieser Verantwortung. Nur mussten wir im Gegensatz zu ihm viel weniger dafür tun, und während meine Mutter in ihren weitaus begrenzteren Bereichen ihre Aufgaben pflichtgetreu erfüllte, bestand meine Aufgabe lediglich darin, glücklich zu sein.

 

Die Schule, in die ich jetzt in die zweite Klasse wechselte, lag am Beginn des nächsten Dorfes. Mit meinem kleinen, orangenen Fahrrad war es ein Weg von etwa zehn Minuten. Ich fuhr zum Tor hinaus, über den Schotterweg, der parallel zum See verlief, und bog rechts in die Dorfstraße ein, die schon bald zwischen den beiden großen Bauernhöfen des Ortes hindurchführte. Diese Höfe lagen einander direkt gegenüber, und die beiden Schäferhunde, die sie jeweils bewachten, glichen sich auf identische Weise. Jeden Morgen, aber auch jeden Mittag, wenn ich zurückfuhr, schossen sie gleichzeitig aus ihren jeweiligen Einfahrten hervor, um mich, völlig aufgebracht, mit gefletschten Zähnen und heißem Atem, den ich immer dicht an meinen Waden wusste, ein Stück weit zu verfolgen. Meist wechselte ihr Geknurre dann auf halbem Weg zwischen ihren Höfen und dem Bushäuschen, das auf der linken Seite folgte, in Gebell, und sie ließen von mir ab. Hinter dem Bushäuschen wurde die Straße von der einzig weiteren Straße des Dorfes gekreuzt. An diesem etwas dichter besiedelten Arm des Dorfes, der allerdings zu beiden Seiten bald ins Leere führte, standen zwischen vereinzelten Fachwerkhäusern, in denen schon seit Langem kein bäuerlicher Betrieb mehr stattfand, eine größere Anzahl kleiner, in den Fünfziger- oder Sechzigerjahren errichteter Backsteinhäuser, in denen Arbeiter und Handwerker mit ihren Familien lebten. Über die Kreuzung hinweg endete das Dorf auch bereits, und es ging nun geradewegs auf die Friedhofskurve zu, die nicht deshalb so hieß, weil sie so steil war, sondern weil in ihrer Beuge tatsächlich, winzig und zugig, der Dorffriedhof lag. Jetzt noch ein kurzes Aufbäumen gegen den Wind, der mir nach dieser Kurve meist plötzlich entgegenblies, und – doing! – war ich in der Schule.

 

An dieser Schule gab es zwei Klassenräume und zwei Lehrer. Der eine unterrichtete in dem einen die erste und zweite Klasse, der andere in dem anderen die dritte und vierte. Es gab einen Pausenhof, aber, soweit ich mich erinnere, keine Klingel, denn ich höre noch den Pfiff, mit dem wir nach der Pause wieder zurückgerufen wurden. Und obwohl wir auch an dieser Schule nicht sonderlich viele Schüler und Schülerinnen gewesen sein können, veranstalteten die Jungs, wenn sie jetzt nach ihrem Fußball- oder Abwerfenspiel überhitzt in das Gebäude zurückströmten, immer ein großes Gedränge im Eingang, in das ich mich, so unauffällig wie möglich, vom Rand her zu begeben versuchte, denn bereits vorab, also gemeinsam mit den Mädchen, die immer dicht vor der kurzen Treppe, die in die Schule hinaufführte, Gummitwist spielten, wieder das Gebäude zu betreten, war etwas, das ich mir, wie ich schnell gelernt hatte, auf keinen Fall erlauben durfte. Die Mädchen sah man nicht an, und erst recht mischte man sich nicht mit ihnen. Wer ihnen zu nahe kam, war selbst ein Mädchen, und das war das Abartigste, was einem passieren konnte. Mädchen war dann auch das schlimmste Schimpfwort, das einen Jungen ereilen konnte, schlimmer sogar als Spast, Stinker oder Mongo, und es war, als hätte genau dieses Wort schon lange auf mich gewartet.* Gerade weil es so widerwärtig war, wurde mir ständig von irgendwoher in meine blonden Locken gegrapscht, und mit einem Ausdruck unbeschreiblichen Ekels, so, als ob man sich auf der Stelle übergeben müsste, wurde die Hand dann wieder hervorgezogen, und wenn es mir nicht gelang, meine Miene dabei ganz stillzuhalten, als hätte ich gar nichts wahrgenommen, hieß es sofort: Guck, das Mädchen heult gleich wieder! Vor allen Dingen die Jungs der dritten Klasse, also einen Jahrgang über meinem, hatten es auf mich abgesehen, und deshalb waren auch die Pausen, wenn alle auf dem Schulhof zusammenkamen, die Zeiten, denen ich, lange bevor die Stunde endete, beklommen entgegensah. So wie ich mein Fahrrad, weil es dort nichts zu suchen hatte, nicht zu den anderen Fahrrädern an den dafür vorgesehenen Ort stellen durfte, sondern es immer etwas abseits an einen Baum lehnen musste, so versuchte auch ich, mich in den Pausen irgendwo abseits aufzuhalten, und hatte trotzdem immer das Gefühl, dabei aus zahlreichen Augenwinkeln beobachtet zu werden. Es galten ja auch ganz eigene Regeln für mich. Wenn ich zum Beispiel, weil ich es nicht mehr aushielt, versuchte, möglichst ungesehen auf die Toilette zu schleichen, konnte es geschehen, dass mir trotzdem sogleich ein ganzer Pulk an Jungen folgte, die unter Androhung von Prügeln darüber wachten, dass ich tatsächlich in das äußere der drei Pinkelbecken machte, denn dieses Pinkelbecken war jetzt nur für mich bestimmt. Alle anderen nutzten die beiden übrigen. Auch musste der Haken neben dem Haken im Flur, an den ich meine Jacke hängte, immer frei bleiben, damit meine Jacke keine der Jacken meiner Mitschüler berührte. Manchmal wurde ich von einem der beiden Lehrer zu den Pausenspielen der Jungs herangewinkt. Ich stand dann neben den anderen und versuchte zu lächeln, und da ich nie gewählt wurde, wurde ich schließlich auf Geheiß des Lehrers einer der beiden Mannschaften zugeteilt. Mit weichen Beinen trabte ich hin und her und war am Ende froh, ja fast beglückt, wenn ich über das Spiel hinweg nicht gesehen worden war.

 

Der überwiegende Teil der Schülerschaft kam aus unserem und dem benachbarten Dorf, und die Hierarchie unter den Jungs spiegelte die Hierarchie wider, die in diesen Dörfern herrschte. An der Spitze standen die Bauern, und so waren auch die zwei Söhne, deren Eltern die beiden an der Dorfstraße einander gegenüberliegenden Höfe bewirtschafteten, die Helden unserer Schule. Der eine ging in meine Klasse und der andere einen Jahrgang höher. Diese Jungs wurden bewundert, weil ihre Väter beide einen Mercedes besaßen und sie schon selbst Traktor gefahren waren. Sie wussten, was ein Mähdrescher oder eine moderne Melkanlage kosteten, und allein diese Zahlen, mit denen sie großmäulig um sich warfen, waren fern der Welt derjenigen, deren Väter morgens auf ihren Fahrrädern in die Maurerbetriebe oder Schmieden radelten oder, sofern sie selbständig waren, sich in ihren kleinen Lieferwagen setzten, der dann wiederum in den Pausen von ihren Söhnen in die Waagschale geworfen werden konnte. Unser Auto hingegen, der auffällige gelbe VW-Kübelwagen, den mein Vater damals fuhr, zählte nichts. So wenig wie ich ein Junge war und unsere Englische Bulldogge ein Hund, so wenig war auch unser Auto ein Auto.