Nachtsilber (Band 1) - Die Dunkle Drachenhüterin - Annaliese Avery - E-Book

Nachtsilber (Band 1) - Die Dunkle Drachenhüterin E-Book

Annaliese Avery

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Beschreibung

Eine Prophezeiung, die alles verändert Der Schock ist groß, als Paisley ihr Schicksal in Form einer Sternenkarte auf das Handgelenk geprägt bekommt. Sie soll bald sterben! Den Grund dafür findet Paisley schnell heraus: Eine uralte, böse Macht erhebt sich im Untergrund. Hat die Dunkle Drachenhüterin etwas mit dem Verschwinden von Paisleys Mutter zu tun? Ihr bleibt nur ein Weg, dies herauszufinden … Sie muss ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen! Band 1 der atemberaubenden Drachenfantasy In der actionreichen und abenteuerlichenFantasy-Reihe tauchen Kinder ab 10 Jahren ein in eine Welt voller mächtiger Drachen und geheimnisvoller Sterne. Die mutige Heldin erinnert an Katniss Everdeen und nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand. Überraschende Wendungen und ein gelungenes Worldbuilding in einem fiktiven London machen die Kinderbuchreihe zu einem wahren Page Turner. Der Titel ist bei Antolin gelistet.

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Seitenzahl: 318

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Für meinen Opa Buster,der mir die Sterne gezeigt und mich ihr Lied gelehrt hat.

Non est ad astra mollis e terris via.Es gibt keinen bequemen Weg von der Erde zu den Sternen.

Seneca der Jüngere

INHALT

Der Ruf des Schicksals

Die Wahrheit der Sterne

Die Drachengabe

Der Tag der kleinen Wenden

Alle Sterne in Bewegung

Der Drache im Apparat

Die Yardwächter

Die Finsternis der Träume

Nachtsilber-Versprechen

Finstere Taten

Die Entdeckung der Drachen

Ein radloser Narr

Roachs Absturz

Wissen ist kostbar

Corbetts Fehler

Der Meister der Lügen

London von oben

Das Drachengewölbe

Drachensagen

Die Reichtümer der Welt

Der Schatz der Daxons

Die Meisterin des Krieges

Die Flucht der Fitzwilliams

Der Drache im Dunkeln

Der Herrscher der Drachen

Der Drachenflügel

ODWW

Schlafende Drachen

Kampf und Verrat

Greenwich Below

Zwei Herzen

Paisleys Abschied

Die Nacht zwischen den Welten

Die zweiten Sterne von Paisley Fitzwilliam

Die Erfindung der Nacht

Eine neue Zeitenwende

DER RUFDES SCHICKSALS

Das Schicksal rief. Paisley Fitzwilliam hielt seine schriftliche Einladung in der Hand.

Während sie das Aero-Dock verließ, rückte sie den Riemen ihrer Drachenledertasche zurecht, die früher ihrem Vater gehört hatte. Ihre feuerroten Locken ringelten sich unter dem Rand ihr Wollmütze hervor. In ihren Ohren dröhnte der Lärm der Aerokopter, die sich in den Himmel über London erhoben.

Paisley sah nach oben und kniff die Augen zusammen. Der Himmel war winterlich klar. Sie konnte gerade so die Umrisse des schwebenden Viertels Greenwich Overhead ausmachen, das um diese Zeit im Westen stand, gegenüber der aufgehenden Sonne. Abends, wenn die Sonne unterging, würde es im Osten stehen und die anbrechende Nacht willkommen heißen.

Ein kalter Nordwind hatte London ergriffen und streckte seine eisigen Finger nach dem Rest des Königreichs Albion aus. Doch Paisley achtete kaum darauf, als sie durch die raureifbedeckten Straßen Lower Londons lief. Für sie gab es Wichtigeres als die gefrorene Themse. Dies war der Tag, auf den sie dreizehn Wenden lang gewartet hatte. Heute würde sie erfahren, was die Sterne für sie bereithielten. Paisley warf einen Blick auf ihre Einladung. Die gedruckten schwarzen Lettern in altkeltischer Schrift hoben sich scharf gegen den weißen Untergrund des Papiers ab und forderten sie auf, herauszufinden, was der Oberste Gestalter für ihren Lebensweg vorgesehen hatte. Lächelnd überquerte Paisley die Old Broad Street und eilte weiter in Richtung der Mechanistenkapelle. Sie war sich ihrer Zukunft so gewiss, wie sie sich sicher war, dass die Sonne aus Drachenfeuer bestand und die Erde ein Uhrwerk war.

Paisley wusste, dass sie Forscherin werden und auf Entdeckungsreisen gehen würde, genau wie ihr Vater.

Sie kam an einem Zeitungsjungen vorbei, der gerade lautstark die Schlagzeile des Königlichen Boten verkündete.

»Tödlicher Komet könnte Anfang vom Ende einläuten«, rief er. »Wissenschaftlerin überzeugt, dass es sich nicht um einen Drachen handelt.«

Beim Wort »Wissenschaftlerin« blieb Paisley wie angewurzelt stehen. Sie fuhr zu ihm herum und griff nach einer Ausgabe der Zeitung.

»He, das is hier keine Bibblothek – wenn du’s lesen willst, musst du’s schon kaufen«, schnauzte der Junge.

Paisley schob die Hand in die Tasche ihres dicken Wollmantels. Als sie ihm eine silberne Münze gab, bemerkte sie, wie der Junge ihr linkes Handgelenk musterte. Ihr Ärmel war hochgerutscht und gab den Blick auf ein breites Drachenlederarmband frei. Paisley errötete. Sie versuchte, nicht darauf zu achten, wie der Junge die Augen verengte und ihr das Wechselgeld abschätzig in die Handfläche fallen ließ. Heute war der letzte Tag, an dem sie es tragen musste. Sobald sie ihren Lebensweg erfahren hatte, konnte sie ihre Sterne in all ihrer leuchtenden Pracht offen zeigen.

Langsam lief sie weiter. Im Gehen überflog sie den Zeitungsartikel. Der Name ihrer Mutter sprang ihr förmlich entgegen.

Professorin Violetta Fitzwilliam, führende Himmelsphysikerin und die bislang erste und einzige Frau mit Sitz im schwebenden Viertel Greenwich Overhead, gilt als Entdeckerin eines schnell herannahenden Kometen, der in Anlehnung an ihren Großvater, einen ebenfalls renommierten Wissenschaftler, auf den Namen Wolstenholme-Komet getauft wurde. Sein heller Schein wird in den kommenden Tagen am Himmel über unserem glorreichen Königreich und über den Nördlichen Gefilden zu sehen sein.

Die Gilde der Mechanisten versichert allen beunruhigten Bürgern, dass dieser Komet, sollten sich Fitzwilliams Behauptungen als wahr erweisen, Teil des Plans des Obersten Gestalters ist.

Es melden sich jedoch auch Stimmen zu Wort, die der Ansicht sind, dass der Himmelsmechanismus aus dem Takt geraten ist.

Die Sorge wächst, dass es sich bei diesem sogenannten Kometen um niemand anderen als Malgol handelt – den Großen Drachen aus den Weissagungen der Drachenmeisterinnen.

In Anbetracht des turbulenten Lebenswegs von Professorin Fitzwilliam ist diese Einschätzung womöglich nicht ganz von der Hand zu weisen. Wie sich unsere werten Leserinnen und Leser vielleicht erinnern, ist Professorin Fitzwilliam die Ehefrau des verstorbenen Sir Edmund Fitzwilliam, Ritter von Albion, Beschützer von König George und Anführer des Bundes der Forscher und Entdecker. Sir Edmund kam während eines Einsatzes als diplomatischer Gesandter des Königs in den Östlichen Reichen ums Leben. Zudem ist sie Mutter eines verkrüppelten Sohnes und einer heranwachsenden Tochter, die Berichten zufolge noch ohne bestimmten Lebensweg ist.

Professorin Fitzwilliam hält heute Abend einen Vortrag über ihre Entdeckung. Der Bote wird in seiner morgigen Ausgabe darüber berichten. Für weitere Informationen über die Weissagung blättern Sie um auf Seite 8.

Genervt verzog Paisley das Gesicht und faltete die Zeitung zusammen. Große Drachen, so ein Unsinn, dachte sie. Ihre Mutter hatte den Verlauf des Kometen über Wochen hinweg beobachtet und dokumentiert, während er seine unsichtbare Bahn entlang des Mechanismus zog. Die Vorstellung, dass es sich um einen Großen Drachen handeln könnte, war zutiefst unwissenschaftlich! Und was ihren Lebensweg anging … Nun, das würde sich in Kürze ändern.

Die Turmuhr schlug, als sie die Wormwood Street entlanglief. Mit ihrem Kuppeldach und den gezwirbelten Turmspitzen überragte die Mechanistenkapelle alles andere in der Straße.

Paisley griff nach dem Zahnrad in der Mitte der aufwendig verzierten Eingangstür, hielt dann jedoch inne.

Sie blickte sich um. Hinter ihr auf der Straße herrschte das gewohnt geschäftige Treiben. Die Menschen gingen ihrem Alltag nach, sicher und unbeirrt. Nur Paisley fühlte sich auf einmal ganz atemlos.

Was, wenn ihr nicht gefiel, was die Sterne für sie bereithielten?

Was, wenn die Sterne sie des Schicksals beraubten, das sie für sich geplant hatte?

Paisley atmete tief ein. Die eiskalte Luft prickelte wie winzige Nadelstiche in ihrer Lunge. Sie stieß sie in einem kräftigen Schwall wieder aus. Eine Dampfwolke stieg vor ihrem Gesicht auf, als wäre sie ein Drache. Alles wäre so viel einfacher, wenn sie ihre Sterne schon als Baby erhalten hätte, so wie jeder andere auch. In ihrem Umfeld hatten alle ihren Lebensweg bereits in früher Kindheit bekommen. So war es eigentlich üblich. Dadurch wussten sie von klein auf, welches Schicksal sie erwartete.

Nur Paisley nicht.

Sie hatte dreizehn Wenden lang Zeit gehabt zu träumen und zu hoffen. Sich auszumalen, wie ihr Lebensweg wohl aussehen würde. Nun hatte sie eigene Pläne für ihre Zukunft. Pläne, die nicht der Oberste Gestalter entworfen hatte.

Es war selten, dass jemand seinen Lebensweg erst so spät erfuhr, aber nicht völlig unmöglich. Die Mechanisten enthüllten ein Schicksal erst, wenn die Sterne verkündeten, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war. Und in Paisleys Fall hatten die Sterne aus irgendeinem rätselhaften Grund bis jetzt geschwiegen. Doch nun, da es endlich so weit war, begannen die Zweifel, an ihr zu nagen.

Paisley ließ die Hand sinken und biss sich auf die Lippe. Was, wenn der Oberste Gestalter etwas für sie geplant hatte, das sie nicht wollte?

Aus diesem Grund hatte sie die Einladung vor ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder Dax geheim gehalten. Sie konnte einfach wieder nach Hause gehen und niemand würde es jemals erfahren. Sie trat einen Schritt zurück und wandte sich zum Gehen.

Dann hielt sie erneut inne.

Sie betrachtete den Umschlag, öffnete ihn und ließ die kleine Kupferscheibe herausgleiten. Nicht zum ersten Mal strich sie mit den Fingern über die Vertiefungen am Rand und über die feinen Linien und Kerben auf der Oberfläche, die ihr Schicksal bestimmen würden.

Niemand würde mehr auf sie herabblicken können, weil die Sterne ihr noch nicht den Weg gewiesen hatten. Sie ballte die Faust um die Metallscheibe und öffnete die schwere Eingangstür, bereit, ihrer Zukunft entgegenzutreten.

Paisleys Stiefel verursachten auf dem steinernen Boden klackernde Geräusche. Ihr Blick folgte den gewundenen Säulen aus sich langsam drehenden Zahnrädern, die bis hinauf zur tintenschwarzen Decke reichten. Die Decke selbst erstrahlte im Glanz Tausender künstlicher Sterne, die allesamt den echten Sternen nachempfunden waren. Jeder einzelne verfolgte präzise dieselbe Bahn wie sein reales Gegenstück am Himmel.

Ihr Blick blieb an einem kleinen, hell leuchtenden Stern hängen. In ihr flammte ein Fünkchen Hoffnung auf. Vielleicht sahen die Sterne ja genau die Zukunft für sie vor, die sie sich wünschte. Warum sonst hätte der Oberste Gestalter ihr erlauben sollen, von einem Weg zu träumen, der nicht ihrer war?

Über der Kanzel hing die Darstellung der Verdammung. Paisley hatte schon oft in einer der Bänke gesessen und die bunte Szene betrachtet, während der Mechanistenpriester aus den Blaupausen, den uralten Überlieferungen des Obersten Gestalters, las.

Die Verdammung bildete zwei Geschichten ab. Im ersten Teil war zu sehen, wie der Oberste Gestalter im heißen Atem der Großen Drachen die verschlungenen Pfade des Himmelsmechanismus schmiedete. Das Drachenfeuer leuchtete so hell wie die glänzenden Bahnen und funkelte im Licht der künstlichen Sterne am Kapellenfirmament.

Sie hatte die Geschichte aus den Überlieferungen schon oft gehört – der Drachenatem hatte die Sonne und das Licht erschaffen. Daraufhin hatte der Oberste Gestalter die Nacht erfunden, damit die Sterne den Menschen den Weg weisen konnten.

Der zweite Teil zeigte das Schicksal der Großen Drachen, die dafür bestraft wurden, dass sie sich vom Obersten Gestalter abgewandt und ihre eigenen Wege eingeschlagen hatten. Auf dem Bild war König George der Erste in all seiner Pracht zu sehen, wie er Ealdordóm herausforderte, den ersten der Großen Drachen, der in die Verbannung geschickt wurde. In der Hand hielt George seine Lanze Ascalon. Sie war den Überlieferungen zufolge speziell für ihn geschaffen worden, damit er sein Schicksal erfüllen und die Welt von den Großen Drachen befreien konnte, wie es der Oberste Gestalter geplant hatte.

Paisley fand insgeheim, dass die Großen Drachen ein anderes Schicksal verdient hätten. Warum mussten sie sterben, bloß weil sie ihren eigenen Lebensweg gehen wollten? Paisley war dreizehn Wenden lang ihren eigenen Weg gegangen und die Vorstellung, dass sie schon bald die Macht über ihr Schicksal verlieren würde, ließ in ihr einmal mehr die Frage aufkommen, ob es nicht besser war, ohne bestimmten Lebensweg zu bleiben.

Die Überlieferungen aus den Blaupausen waren jedoch eindeutig: Jeder und jede hatte einen vorbestimmten Weg, an den er oder sie gebunden war, und nun war endlich der Tag gekommen, an dem Paisley den ihren erhalten würde.

Oben auf der Kanzel wartete die Schematika bereits auf sie. Paisley spürte ein aufgeregtes Kribbeln im linken Handgelenk.

Wie die meisten Apparate der Mechanisten verfügte auch die Schematika über ein elegantes Design. Die Kupferscheibe passte haargenau in die Öffnung an der Oberseite und vorn befand sich eine weitere, kreisrunde Öffnung, die wie für ihre Hand gemacht schien.

Paisley konnte fühlen, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte. Es war so weit.

Die Räder des Schicksals hatten sich längst gedreht. Nun würde sie erfahren, wie ihr weiterer Lebensweg aussah. So groß ihre Furcht auch war, am Ende gewann ihre Neugier.

Sie hielt den Atem an und legte die linke Hand mit der Handfläche nach oben in den Apparat, dann schob sie die Kupferscheibe mit der anderen Hand in die dafür vorgesehene Öffnung. Im ersten Moment geschah nichts, doch dann schloss sich das Gerät um ihren Unterarm und hielt ihre Hand darin fest.

Paisleys Atem ging schneller. Auf ihrer Haut bildete sich kalter Schweiß. Ihr Handgelenk begann zu brennen und sie biss sich auf die Lippen. Der Schmerz ließ jedoch gleich wieder nach. Die Schematika öffnete sich und Paisley zog vorsichtig die Hand heraus.

Sie hielt den Arm ins Licht und betrachtete die goldenen Sterne, die ihr Handgelenk sprenkelten.

Paisley lächelte. Endlich hatte sie ihren Lebensweg. Nun war sie genau wie alle anderen im Königreich.

Aber etwas an ihren Sternen war seltsam. Auf all den Karten, die sie gesehen hatte, bildeten die goldenen Punkte immer eine kreisförmige Fläche, auf der sie sich recht gleichmäßig verteilten. Doch ihre Sterne formten lediglich einen Halbkreis, so als würde die andere Hälfte fehlen.

Aus der Schematika glitt unten ein langes Stück Pergament, auf dem ganz oben Paisleys Name in altkeltischen Lettern gedruckt stand. Darunter befand sich eine genaue Abbildung der Sterne auf ihrem Handgelenk.

Paisleys Blick wanderte zu den Symbolen und ausführlichen Erklärungen darunter. Rasch übersetzte sie sie im Kopf. Dort stand, welche Art von Person sie war und wie sich die Rädchen ihres Lebens drehen würden.

Ihr Lächeln wurde breiter. Alles, was sie über sich las, klang richtig. Anscheinend gab es keinen Grund, sich wegen der seltsamen Anordnung ihrer Sterne Sorgen zu machen. Den Sternen zufolge war sie tapfer und loyal. Sie war eine Verfechterin der Wahrheit und bereit, für ihre eigenen Rechte und die anderer zu kämpfen. Außerdem kamen andere für sie immer an erster Stelle, weshalb die Sterne sie ermahnten, ruhig öfter auf ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu hören. Plötzlich stockte sie.

Als sie den letzten Abschnitt ihrer Sternenkarte übersetzte, wurde ihr Mund ganz trocken. Ihr Atem ging schneller und schneller und in ihren Ohren dröhnte das Hämmern ihres Herzens. Eine gewaltige Furcht erfasste sie.

DUWIRSTMUTIGSEIN. DUWIRSTDEIN BESTESGEBEN. DUWIRSTEINENWEITEN WEGZURÜCKLEGENMÜSSEN, DOCHDIE REISEDORTHINISTKURZ. DUWIRSTGROSSE VERLUSTEERLEIDEN. DEINE STERNESAGEN, DASSDUSCHEITERNWIRST. PAISLEY FITZWILLIAM, NOCHVORDEM ABLAUFDEINERVIERZEHNTEN WENDEWIRDDEIN RÄDCHENZUM STEHENKOMMEN. DEIN WEGWIRDENDENUNDDUWIRSTSTERBEN.

DIE WAHRHEITDER STERNE

Paisley hielt es in der Kapelle nicht länger aus. Die Luft darin kam ihr unerträglich stickig und abgestanden vor. Sie musste raus an die frische Luft. Wenn sie erst mal richtig durchatmen konnte, würde das Schwindelgefühl in ihrem Kopf bestimmt bald aufhören. So wie ihr Lebensweg.

Sie unterdrückte ein Schluchzen. Tränen strömten ihr über die Wangen, als sie zum Ausgang der Kapelle taumelte. Der Lebensweg, der ihr zugeteilt worden war, kam ihr beengt und schlecht durchdacht vor. Für einen Augenblick hielt sie im Licht der mit Sternen besetzten Decke inne. Sie wollte die künstlichen Sterne, die dort oben in aller Stille ihre Runden drehten, anschreien. Sie wollte den Obersten Gestalter anschreien. »Wozu all das? Warum setzt ihr mir solche Träume in den Kopf, wenn ich demnächst sterben soll?«

Doch die Worte wagten nicht, herauszukommen. Stattdessen stolperte sie nach draußen. Die schwache Wintersonne spendete keine Wärme und die Kälte ließ ihre Tränen gefrieren.

Wäre sie geblieben, hätte sie vielleicht den Jungen bemerkt, der sich im Schatten der Kapelle herumdrückte.

So aber nahm sie keine Notiz von ihm. Nicht einmal, als er sich in Bewegung setzte und ihr folgte.

Ziellos und wie benebelt wanderte sie durch die Straßen, das Pergament in eine ihrer Manteltaschen gestopft.

Gerade noch war sie sich ihrer Zukunft so gewiss gewesen wie der Tatsache, dass der Mechanismus seine Bahnen zog. Sie war sich sicher gewesen, dass sie in die Fußstapfen ihres Vaters treten und ihn stolz machen würde. Nun fühlte sie sich, als wäre ihr Rädchen aus der Spur gesprungen und würde sich immer langsamer drehen. Sie rang nach Luft.

Wenn meine Sterne recht hatten, dachte sie, werde ich ihn schon bald wiedersehen. Sie drückte die Tasche ihres Vaters an sich, während ihr neue Tränen in die Augen stiegen. Bestimmt würde er enttäuscht sein, wie kurz ihr Lebensweg war und wie wenig sie erreicht hatte.

Mühsam schluckte sie die Tränen runter.

NOCHVORDEM ABLAUFDEINERVIERZEHNTEN WENDEWIRDDEIN RÄDCHENZUM STEHENKOMMEN. DEIN WEGWIRDENDENUNDDUWIRSTSTERBEN.

Irgendwann innerhalb der nächsten neun Monate würde sie, Paisley Fitzwilliam, sterben. Ihr Lebensweg hatte gerade erst begonnen und nun würde er bald schon wieder enden. Ihr schwirrte der Kopf. All die Träume, die sie gehabt hatte, waren von einem Augenblick auf den anderen zunichtegemacht worden. Sie würde diese Welt verlassen und hinter den Schleier treten. Sie fragte sich, ob die Mechanisten recht hatten. Lag hinter dem Schleier wirklich der Ort, wo der Funke, der einen Menschen ausmachte, nach dessen Tod landete und darauf wartete, dass ihm der Oberste Gestalter einen neuen Lebensweg zuteilte? Sie hoffte von ganzem Herzen, dass es stimmte. Ihr Vater war hinter dem Schleier – daran hatte sie immer geglaubt. Und auch daran, dass sie ihn dort eines Tages wiedersehen würde. Aber doch noch nicht jetzt! Es gab noch so viel zu erleben und so viele Menschen, die sie liebte.

Das war der Moment, in dem ihr aufging, dass sie auch ihre Mutter und Dax verlieren würde. Frustriert ballte sie die Fäuste, so fest, dass sich die Fingernägel in ihre Handflächen bohrten. Was sollte sie ihnen nur sagen? Wie sollte sie ihnen diese schreckliche Nachricht überbringen?

Paisley beschloss, ihnen nichts zu verraten. Sie würde ihre Sterne verdecken und so tun, als gäbe es sie nicht. Ihre Gedanken kreisten, während sie tiefer und tiefer in der Dunkelheit ihres Schicksals versank.

Sie war so mit sich beschäftigt, dass sie die Welt um sich herum nicht mehr wahrnahm. Weder den Aufruhr vor ihr noch die Gefahr, die in Gestalt des dunkelhaarigen Jungen von hinten nahte. Erst als er sie anrempelte, wurde sie jäh zurück ins Hier und Jetzt gerissen. Was sie dabei jedoch nicht mitbekam, war, wie er heimlich eine Hand in ihre Manteltasche steckte und das Pergament herauszog.

Paisley blieb stehen und blinzelte. Sie stellte fest, dass die Straße vor ihr blockiert war. Die Elektrika-Fahrzeuge der Yardwächter mit ihren rot-schwarzen Emblemen standen quer auf der Fahrbahn und versperrten den Eingang eines Kaufhauses.

Paisley schlängelte sich durch die versammelte Menge nach vorn.

»Was geht hier vor?«, fragte ein Mann hinter ihr.

Eine Dame neben ihr antwortete laut flüsternd: »Eine der Verkäuferinnen hat die Drachengabe.«

Die Drachengabe. Paisley stellten sich sämtliche Haare auf.

»Nein! Dieses dreckige Halbblut!« Der Mann spuckte aus. Die Dame tat es ihm gleich. Auf diese Weise glaubten sie, die Drachengabe von sich abwenden zu können.

»Immerhin kein Junge. Wär ja noch schöner bei dieser ganzen Kometensache und so«, meinte ein anderer Mann.

Paisley sah, wie die Kaufhaustür aufflog und zwei Yardwächter in rot-schwarzen Uniformen herauskamen. Sie schleiften die junge Verkäuferin hinter sich her.

Die Hände des Mädchens waren auf dem Rücken gefesselt und um den Hals trug es ein Halsband aus Nachtsilber. Einer der Yardwächter zog grob an der Kette, die daran befestigt war. In Paisley begann es zu brodeln.

Das Mädchen stieß ein Wimmern aus und stolperte vorwärts. In dem Moment erkannte Paisley, dass die Ärmel ihres Kleides abgerissen worden waren.

Paisley schauderte. Schuld war der Anblick, der sich ihr bot, und die Furcht davor, was er bedeutete. Denn von den Ellbogen aufwärts waren die Arme des Mädchens mit leuchtend roten Schuppen bedeckt.

Die Drachengabe.

Die Menge um Paisley herum johlte und schimpfte.

»Halbblut!«

»Tötet den Drachen!«

Entsetzliche Angst stand in das Gesicht des Mädchens geschrieben. Ihre großen Augen waren gerötet, ihre Wangen tränennass. Paisley erkannte, dass das Mädchen nur wenig älter war als sie. Heiße Wut flammte in ihr auf. Unwillkürlich trat sie einen Schritt vor. Sie wusste selbst nicht recht, was sie vorhatte, doch wenn ihre Sterne etwas wert waren, dann musste sie jetzt handeln.

In dem Moment riss das Mädchen den Mund auf, viel weiter, als Paisley es je für möglich gehalten hätte. Ihr Unterkiefer sprang aus dem Gelenk und schnellte nach vorn. Aus den Tiefen ihrer Kehle stieg ein Brüllen auf.

Das Brüllen erfüllte die ganze Straße – vielleicht sogar die ganze Welt. Es drang in Paisleys Ohren, obwohl sie sie sich hastig zuhielt.

Sie wusste, dass sich die Drachengabe auf vielfältige Weise zeigte und jedem, der sie erhalten hatte, andere Eigenschaften verlieh. Daher, und weil sie so selten war, hatte Paisley noch nie etwas Vergleichbares gesehen oder auch nur davon gehört.

Ehrfürchtig beobachtete sie das Mädchen, während sich das Brüllen in ihr Gehirn grub und ihre Knie weich werden ließ. Ihr war plötzlich schwummrig. Sie schloss die Augen und krümmte sich. Ihre Ohren, ihr Kopf, ihr ganzer Körper vibrierte. Und dann verlor Paisley wie alle um sie herum das Bewusstsein.

Als sie erwachte, lag sie auf dem kalten, harten Kopfsteinpflaster und blickte in den Himmel. Über ihr zog die düstere, gedrungene Silhouette des fliegenden Viertels Harrow-on-High vorbei.

Zitternd stand sie auf. Der Rest der Menge lag immer noch auf dem Boden. Sie stolperte durch den abgeriegelten Bereich, während sie sich vergeblich nach dem Drachenmädchen umschaute. In den wenigen Minuten, die Paisley bewusstlos gewesen war, war das Mädchen verschwunden. Alles, was noch auf sie hindeutete, waren ein paar Schlüssel, das Halsband und die Handschellen.

Paisley lächelte.

Die Yardwächter kamen ebenfalls zu sich. Paisley tauchte weit weg von ihnen in der Menge unter. Die meisten Leute waren immer noch ohnmächtig oder hatten sich sichtlich benommen aufgerichtet.

»Wo ist sie hin?«, brüllte der Hauptmann.

Einer der jüngeren Yardwächter übergab sich auf den Bürgersteig. Der Hauptmann warf ihm einen angewiderten Blick zu und blaffte: »Finde den Drachenabschaum!«

Während sich Paisley vom Ort des Geschehens entfernte, hoffte sie, dass es dem Mädchen gelingen würde, sich in Sicherheit zu bringen. Vielleicht schaffte sie es in eines der fliegenden Viertel über London. Oder sie würde von den Drachenmeisterinnen gerettet.

Paisley hoffte, dass in den Sternen des Drachenmädchens geschrieben stand, dass es überleben würde. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob der Mechanismus für diejenigen, die die Drachengabe besaßen, ebenso funktionierte wie für alle anderen auch.

* * *

Während sich Paisley auf den Heimweg machte, eilte der Junge, der ihr Pergament gestohlen hatte, auf die Tiefen seines eigenen Schicksals zu.

Er huschte durch Gassen und Hinterhöfe, in denen sich sonst nur Ratten und anderes Gesindel herumtrieben. Kurz blieb er stehen, um einen Blick auf Paisleys Sternenkarte zu werfen. Er hielt sein eigenes Handgelenk daneben. Seine Sterne waren paarweise und in kleinen Grüppchen über die kreisrunde Fläche auf seiner olivbraunen Haut verteilt. Eine Anordnung wie auf Paisleys Karte hatte er noch nie zuvor gesehen: eng zusammengedrängt und nur auf einer Hälfte. Wahrscheinlich war sie deswegen so wichtig für seine Gebieterin. Ansonsten war ihm nämlich nichts Besonderes an ihr aufgefallen.

Er überflog den altkeltischen Text. So richtig hatte er die alte Sprache nie gelernt, aber was er wusste, reichte aus, um Paisleys Schicksal zu entziffern. Das Mädchen würde die nächste Wende nicht überleben.

Er rollte das Pergament zusammen und schob es in die Innentasche seines Mantels, dann holte er seine Elektrika-Lampe hervor und betrat die Tunnel der Kanalisation.

Mit großen Schritten ließ er das Herz der Stadt hinter sich. Das Halstuch über seiner Nase hielt den schlimmsten Gestank des brackigen Abwassers ab, das um seine Füße schwappte. Je weiter er sich von den Kanälen, die zur gefrorenen Themse hinabführten, entfernte, desto schwächer wurde der Mief.

Im schwachen Licht der Lampe war die Tür kaum zu erkennen, doch er wusste genau, wo sich ihr Schlüsselloch befand und wie er es aufschließen musste.

Die Tunnel weiteten sich, die Luft wurde besser und das Mauerwerk kunstvoller. Schließlich verriet ihm eine Reihe von Elektrika-Lichtern, dass es nicht mehr weit war. Er steckte seine Lampe ein und betrat das weitläufige Gewölbe.

Die acht kunstvoll gemauerten Wände der unterirdischen Halle liefen hoch oben in einer Spitzkuppel zusammen. Von dort führten geschwungene Säulen nach unten, wo sie den Kopf eines Drachen formten, der mit offenem Maul erwartungsvoll über allem hing.

Auf einer achteckigen Plattform unter dem klaffenden Drachenmaul stand ein Thron aus Nachtsilber, dessen tintenschwarzes Metall um die weißen Zähne eines großen Drachen gegossen worden war. Darauf saß ein wunderschönes Mädchen. Dem Aussehen nach schien sie nicht älter als zehn Wenden zu sein, doch der Junge wusste, dass sie in Wahrheit so alt war wie die Zähne in dem Thron unter ihr. Sie trug einen Mantel aus mitternachtsfarbenem Samt und Hosen aus Drachenleder. Ihr Haar war lang und fließend.

»Hast du es, Roach?«, rief sie ihm entgegen. Ihre Stimme hallte von den Wänden zurück.

Roach zog Paisleys Sternenkarte aus seiner Manteltasche und ging auf den Thron zu. Mit zusammengebissenen Zähnen verneigte er sich und überreichte ihr das zusammengerollte Pergament. Das Mädchen streckte die zierlichen rosafarbenen Finger aus und nahm es ihm ab.

»Hat sie dich gesehen?«

Roach schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«

Der Schlag kam aus dem Nichts. Sein Kopf flog zur Seite, seine Lippe begann zu bluten. Er konnte nicht sagen, ob sie ihn getreten oder geschlagen hatte. Er wusste nur, dass die Dunkle Drachenhüterin nicht zu unterschätzen war. Sie mochte wie ein süßes kleines Mädchen aussehen, aber sie war alles andere als das.

»Du glaubst nicht?«

Roach kniff die Augen zusammen und rieb sich das schmerzende Kinn. »Nein, hat sie nicht – da bin ich mir sicher.«

»Gut.«

Die Dunkle Drachenhüterin lehnte sich auf dem Thron zurück und entrollte Paisleys Pergament. Begierig überflog sie die altkeltische Schrift.

Roach sah, wie sich ihre Schultern entspannten und ein grausames Lächeln ihre Mundwinkel umspielte. Er wusste, was dort stand. Und dass die Dunkle Drachenhüterin Sorge hatte, dass die Sterne Paisley die Aufgabe zutragen könnten, sie aufzuhalten. Doch Paisleys Lebensweg zeigte in eine andere Richtung und darüber war Roach aus mehreren Gründen froh.

»Ausgezeichnet«, sagte die Dunkle Drachenhüterin. »Die Sterne stehen zu meinen Gunsten.«

DIE DRACHENGABE

Als Paisley die Haustür öffnete, wehte ihr der tröstliche Duft von warmem Lebkuchen entgegen. Augenblicklich verwandelte sich die Leere in ihrem Inneren in einen Bärenhunger.

»Ah, da bist du ja.« Mrs Keen, die Haushälterin, kam aus der Küche und eilte durch die weitläufige Diele. Mit einem Tablett voller gelb glasierter Lebkuchen-Zahnräder steuerte sie auf die Bibliothek zu.

Paisley blieb einen Moment lang stehen. Sie wollte jedes noch so kleine Detail in sich aufnehmen. Die Gerüche des Hauses. Die Art, wie sich das Licht des Kronleuchters über den Boden ergoss. Der Schwung der großen Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte, wo die Nachtsilberrüstung ihres Vaters stand. Und vor allem, wie es sich anfühlte, zu Hause zu sein – sicher und geborgen. Wer wusste schon, wie lange ihr noch blieb, bevor ihr Weg zu Ende ging? Bevor sie nichts mehr fühlen würde.

Sie wischte sich rasch die Tränen mit dem Saum ihres Ärmels aus dem Gesicht und folgte Mrs Keen in die Bibliothek. Unterwegs zog sie ihren Mantel aus, wickelte sich den Schal vom Hals und legte beides zusammen mit der Drachenledertasche auf einem Sessel ab.

Vier breite Fenster flankierten den offenen Kamin in der Bibliothek. Neben der Tür, durch die Paisley gekommen war, lag rechts eine weitere, hinter der sich das Arbeitszimmer ihrer Mutter verbarg. Die restlichen Wände waren von oben bis unten mit Büchern bedeckt.

Paisleys Bruder Dax saß an einem langen Tisch und studierte mit einer Vergrößerungsbrille auf der Nase mehrere Landkarten, die ausgebreitet vor ihm lagen.

Er sah nicht auf, als Mrs Keen das Tablett vor ihm abstellte, und auch nicht, als sie wieder hinausging. Doch kaum dass die Tür ins Schloss fiel, schoss seine Hand hervor und griff nach einem der Lebkuchen.

Paisley lächelte, als ihr kleiner Bruder einige Krümel von den Karten wischte und auf den Boden fallen ließ. Er hatte immer noch nicht mitbekommen, dass sie auch im Zimmer war.

Sie trat einen Schritt näher. Dax zuckte zusammen. »Mann, Paisley, jetzt wäre ich vor Schreck fast von meinem Lebensweg abgekommen«, schalt er sie kichernd.

Paisley stockte der Atem.

»Was ist los?« Er musterte sie aufmerksam. Die goldenen Locken standen ihm wie ein Gewirr aus ausgeleierten Sprungfedern vom Kopf ab und durch die Linsen seiner Vergrößerungsbrille wirkten seine Augen winzig und weit entfernt. »Hast du geweint?«, fragte er sanft.

»Nein, warum sollte ich? Es ist bloß so kalt da draußen«, log sie. Sie ging zum Kamin und rieb sich die Hände.

»Na, ich bin jedenfalls froh, dass du wieder da bist. Ich langweile mich zu Tode.«

»Ja, das sehe ich.« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf die Karten.

Er hatte die einzelnen Abschnitte so aneinandergelegt, dass sie eine große Weltkarte bildeten. Ganz oben befanden sich die Nördlichen Gefilde, deren kaltes Land von einem eisblauen Rand umgeben war.

Darunter lagen die Königreiche, die von König George regiert wurden, von denen sich Albion wie ein grünes Juwel ins türkisfarbene Meer schmiegte. Das Grün setzte sich in der gewaltigen Landmasse Europas fort, bis es von einer breiten Schneise aus Gelb und Braun abgelöst wurde, die für die Östlichen Reiche stand. Im Westen, auf der anderen Seite des Ozeans, lag Amerika. Das war die Gegend, mit der sich Dax gerade befasste.

»Ah, Amerika«, sagte Paisley.

»Ja, das ist echt faszinierend. Wusstest du, dass die Großen Drachen dorthin geflohen sind, als König George der Erste mit ihrer Vertreibung begonnen hatte? Und dass die Ritter des Königs ihnen über den Ozean gefolgt sind? Ein paar sind den Kraken zum Opfer gefallen, aber die meisten haben es nach Amerika geschafft und das Land dort besiedelt, während sie gleichzeitig weiter Jagd auf die Drachen machten.«

Paisley lächelte. »Ja, das wusste ich.«

»Dachte ich mir schon.« Er strich mit der flachen Hand über das Meer und Teile von Amerika. »Es gibt ein Buch darüber«, ergänzte er. Mit einem leisen Klonk sprang er vom Stuhl auf und griff nach seinem Gehstock. »Wusstest du, dass einige der Ritter inzwischen die Seite gewechselt haben? Sie haben ihr eigenes Heer gebildet und sich gegen die Streitmächte des Königs gewandt! Sie wollen ein Reich, in dem auch die Drachen und Drachenmeisterinnen friedlich leben können«, erklärte er.

»Ein bisschen komplizierter ist die Sache schon«, erwiderte Paisley, während Dax zum Bücherregal hinkte. Das Messing der Beinschiene, die er über seiner grauen Hose trug, glänzte im flackernden Feuerschein. Bei jedem zweiten Schritt erzeugte die Schiene ein leises Klirren und jedes Mal verzog er ganz leicht das Gesicht.

»Ich dachte, Mum hat gesagt, du sollst das alte Ding nicht mehr tragen«, meinte Paisley.

»Tja, Mum ist aber zu sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt, um etwas zu merken. Und die neue scheuert.«

»Aber die hier ist zu klein«, wandte Paisley ein.

»Schon gut«, sagte er, während er die Hand nach einem der Bücher ausstreckte. »Ich tausche sie aus, bevor Onkel Hector kommt, um uns zu Mums Vortrag zu bringen.«

Paisley fiel der Zeitungsartikel wieder ein, in dem der Vortrag erwähnt wurde. Sie fischte den Königlichen Boten aus ihrer Tasche, strich die erste Seite glatt und schlug die Zeitung auf. Die Artikel über die schlechte Gesundheit des Königs und die anhaltende Sorge, weil es keinen Thronfolger gab, überblätterte sie und hielt sich auch mit dem längeren Beitrag über die Unruhen in den Nördlichen Gefilden nicht weiter auf. Schließlich kam sie zu Seite acht.

»Der Herrscher der Drachen« lautete die Schlagzeile.

Paisley wusste bereits, was in dem Artikel stehen würde. Sie kannte die Weissagung. Es wird einst ein Junge zur Welt kommen, der die Drachengabe in sich trägt, und er wird den Großen Drachen Malgol herbeirufen, um den Himmelsmechanismus zu zerstören.

Obwohl es keine Großen Drachen mehr gab, die irgendwer hätte rufen können, hielten sich der Hass und die Furcht vor denjenigen, die die Drachengabe besaßen, hartnäckig. Dies war alles auf die Weissagung zurückzuführen. Das war auch der Grund, warum sich vor dem Kaufhaus eine solche Menschenmenge versammelt hatte und weshalb die Yardwächter derart aggressiv auf das Drachenmädchen reagiert hatten.

Paisley sah noch genau vor sich, wie der Wächter an der Kette gezogen hatte. In ihren Ohren klangen die erbitterten Rufe aus der Menge nach. »Wenigstens ist es kein Junge«, hatte jemand gesagt.

Es gab keine Jungen mit Drachengabe. Und falls doch eines Tages einer geboren würde, schien die gesamte Welt der Meinung zu sein, dass es besser war, wenn er noch als Säugling starb. Dann käme er gar nicht erst dazu, sein Schicksal zu erfüllen und die Drachenmeisterinnen an die Macht zu bringen.

Dax kam mit einem dicken Wälzer zurück. Er stolperte und schrie auf. »Dein Bein?«, erkundigte sich Paisley und eilte ihm entgegen.

Dax packte die Armlehne des Sessels und nickte. Er biss die Zähne fest zusammen.

Paisley half ihm in den Sessel und kniete sich neben ihn. Mit flinken Fingern löste sie die Schnallen und Bänder der Schiene, die Dax’ Bein begradigte. Kaum dass die Spannung nachließ, bog sich das Bein nach außen.

Dax stöhnte und ballte die Fäuste.

»Wo ist deine Salbe?«, fragte Paisley.

»Jacke. Tasche«, stieß er hervor. Mit einer Handbewegung deutete er auf den Tisch, an dem er gesessen hatte.

Paisley fand den Glastiegel mit der durchsichtigen Salbe in der Innentasche. Dazu ein Stück Bindfaden und das Etui mit den Schraubenziehern, das sie seit Wochen vergeblich suchte.

»Beeil dich, Paisley«, wimmerte Dax.

Er hatte Schuh und Strumpf ausgezogen und das Hosenbein bis zum Oberschenkel hochgeschoben. Paisley ging zu ihm. Der Anblick, der sich ihr bot, brachte sie schon lange nicht mehr aus der Fassung.

Der obere Teil von Dax’ Bein war hellhäutig und gerade, doch darunter krümmte sich der Oberschenkel nach außen. Der Rest des Beins war mit dunkelgrünen Schuppen überzogen, die beinahe schwarz schimmerten.

Ein Krampf durchfuhr Dax und sein krallenbesetzter Fuß schnellte nach oben.

»Hättest du lieber mal die neue Schiene getragen«, tadelte Paisley sanft, während sie sich hinkniete und den Tiegel mit der Salbe öffnete.

Die Aromen von Lavendel und Patschuli strömten ihr entgegen. Sie verteilte die Salbe großzügig auf Dax’ Bein und massierte sie sorgfältig ein. Die Schuppen fühlten sich unter ihren Fingern an wie weicher Samt.

»Du weißt schon, dass das keine Entschuldigung ist, um dich vor Mums Vortrag zu drücken?« Paisley grinste.

Dax erwiderte ihr Lächeln nicht. Sein Blick war starr auf sein Bein gerichtet.

»Es sieht wirklich zum Fürchten aus«, sagte er. Paisley erkannte, dass er immer noch die Vergrößerungsbrille trug. Durch die Linsen mussten die Schuppen um ein Vielfaches größer und dunkler erscheinen.

Behutsam schob sie ihm die Brille auf den Kopf und zog das Stofftaschentuch aus seiner Westentasche, um ihm die Tränen abzutupfen.

»Ich finde es überhaupt nicht zum Fürchten«, versicherte sie. »Für mich seid ihr etwas ganz Besonderes, du und dein Bein.«

Und das meinte sie auch so. Paisley dachte an das Mädchen aus dem Kaufhaus und seine außergewöhnliche Fähigkeit. Sie hasste es, wie die Menschen mit ihr umgesprungen waren – das war weder gerecht noch richtig. Niemand sollte sein Leben lang Angst davor haben müssen, sein wahres Ich zu zeigen. Und am allerwenigsten ihr kleiner Bruder.

»Ich bin nicht besonders, Paisley. Ich bin verflucht.«

Paisley umfasste sein Gesicht mit beiden Händen. Dabei nahm sie aus dem Augenwinkel die Sterne an ihrem Handgelenk wahr, die unter dem Drachenlederarmband hervorlugten.

»Wir sind alle verflucht, Dax«, sagte sie. »Wir alle sind in unserem vorgegebenen Lebensweg gefangen. Aber weißt du was? Ich weigere mich, mein Leben davon bestimmen zu lassen. Oder deins. Ich werde beweisen, dass wir selbst wählen können, welchen Weg wir gehen. Ich weiß noch nicht, wie, aber eins verspreche ich dir, Dax. Wenn es irgendwie möglich ist, dann schaffen wir das.«

DER TAGDERKLEINEN WENDEN

Paisley und Dax waren fast mit ihrem Modell des Sonnensystems fertig. Die Nachbildung des Himmels, dessen goldene Bahnen den Lauf der Planeten und ihrer Monde zeigten, stand auf einem niedrigen Wohnzimmertisch. In der Mitte befand sich eine Messingsonne, die durch eine Reihe von Zahnrädern mit den kreisförmigen Bahnen verbunden war. Paisley kramte in der großen Holzkiste. Ganz am Boden waren noch ein paar kleine Rädchen und Bahnabschnitte übrig, die im Elektrika-Licht golden funkelten.

Das Modell aufzubauen, war neben den Geschenken und dem üppigen Festmahl eine von Dax’ Lieblingstraditionen am Tag der kleinen Wenden. Dies war der Tag, an dem die Sonne nur kurz am Himmel stand. Die lange Nacht, die darauf folgte, markierte den Beginn des Winters und zugleich eine neue Wende.

»Aha, hier ist es ja!« Paisley nahm ein kleines goldenes Rädchen aus der Kiste.

Dax kam auf sie zu und streckte die Hand aus. Er trug seine neue Schiene und stützte sich auf seinen Gehstock.

»Ich hab das Gefühl, es wird mit jeder Wende komplizierter«, meinte er, als Paisley ihm das Rädchen gab. Unwillkürlich zog sie den Ärmel ihrer Bluse zurecht, um das Armband und vor allem die Sterne darunter zu verbergen.

»Ich glaube, da hast du recht. Es sind aber nur noch ein paar Teile übrig. Wir sollten zusehen, dass wir fertig werden, bevor wir uns auf den Weg zum Vortrag machen.« Sie klaubte die restlichen Bauteile aus der Box und folgte ihm zu dem Tischchen, auf dem sie das Modell aufgebaut hatten.

»Ich wünschte, wir hätten so ein Modell wie in den Kapellen der Mechanisten«, sagte Dax, während er das nächste Rädchen entgegennahm und an die richtige Stelle setzte. »Ich hätte so gerne eins, das nicht nur die Planeten enthält, sondern auch die Sterne. Dann könnten wir rausfinden, wie dein Lebensweg aussieht. So wie die Mechanisten, wenn sie die Metallscheibe prägen, mit der die Schematika einem die Sterne ausdruckt.«

Paisley widerstand dem Drang, nach ihrem Handgelenk zu greifen, und warf Dax einen Blick zu. Wusste er etwas? Sein Gesichtsausdruck verriet jedenfalls nichts.

»Würdest du dein Schicksal nicht auch gerne kennen?«, fuhr er fort. »Ich finde es ziemlich mies, dass die Mechanisten es dir so lange vorenthalten.«

Paisley zuckte betont desinteressiert mit den Schultern, obwohl sie sich sicher war, dass ihre Wangen rot angelaufen waren. »Ist ja nicht ihre Schuld«, sagte sie. »Sie können es mir erst sagen, wenn die Sterne richtig stehen. Aber ich will sowieso machen, was ich will.«

Dax nickte. »Ich auch. Aber es wäre doch trotzdem schön, es wenigstens zu wissen, oder? Und ein Modell mit Sternen würde dabei bestimmt helfen. Ich werde Mum fragen, ob wir für den nächsten Tag der kleinen Wenden so eins bekommen können.«

Bei dem Gedanken an ihre Sterne wurde Paisley ganz heiß. Sie wollte auf keinen Fall, dass Dax herausfand, was der Oberste Gestalter für sie vorgesehen hatte. »Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie lange es dauern würde, ein Sternenmodell zusammenzubauen?«, fragte sie, während sie ein fehlendes Teil in die Mondumlaufbahn einsetzte.

»Ähmm … dieses Modell hier ist auch in Ordnung, schätze ich«, knickte Dax ein.

»Außerdem hätten wir nicht die geringste Ahnung, wie man es lesen muss – das steht in den geheimen Blaupausen. Nur die Mechanisten wissen, wie das geht.«