Näher als du glaubst - Irene Scharenberg - E-Book

Näher als du glaubst E-Book

Irene Scharenberg

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Beschreibung

Albträume plagen Laura seit dem Tod ihrer Mutter. Wie sie ausgesehen hat, weiß sie nicht. Erinnerungen hat sie nicht, sie war noch klein, als es passierte. Warum hat ihr Vater kein einziges Foto ihrer Mutter aufbewahrt, warum nie von ihr erzählt? Als ihr Vater stirbt, gerät Lauras Leben völlig aus den Fugen. Sie trennt sich von ihrem Freund, kündigt ihre Stelle in einer Duisburger Galerie und zieht nach Datteln, in das Haus ihrer frühen Kindheit. Hier möchte sie zur Ruhe kommen, sich wieder selbst der Malerei widmen, in ihr Heilung suchen. Doch schon bald merkt sie, dass sie hier nicht willkommen ist. Mehr als das. Jemand scheint sie vertreiben zu wollen. Sie bekommt Drohbriefe, Türklinken werden mit ätzenden Stoffen beschmiert … Schließlich dringt sogar jemand in das Haus ein und zerstört ihre Bilder. Als Laura dem Geheimnis um den Tod ihrer Mutter auf die Spur kommt, spitzen die Ereignisse sich zu.

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Inhalte

Titelangaben

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Epilog

Danksagung

Irene Scharenberg
Näher als du glaubst
Ein Kriminalroman aus dem Ruhrgebiet
ProlibrisVerlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Veranstaltungen, Institutionen, Straßen und Schauplätze im Ruhrgebiet.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2021
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto:
© paulrs051941-Fotocommunity
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-232-4
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-222-5
www.prolibris-verlag.de
Die Autorin
Irene Scharenberg ist in Duisburg aufgewachsen und hat hier Chemie und Theologie für das Lehramt studiert.
Seit 2004 sind zahlreiche ihrer Kurzgeschichten in Anthologien und Zeitschriften erschienen und in Wettbewerben ausgezeichnet worden. 2009 gehörte die Autorin zu den Gewinnern des Buchjournal-Schreibwettbewerbs, zu dem mehr als 750 Geschichten eingereicht wurden.
Irene Scharenberg ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Auch wenn sie heute am Rande des Ruhrgebiets in Moers lebt, so ist sie doch nach wie vor ihrer alten Heimat Duisburg und dem gesamten Pott sehr verbunden. »Näher als du glaubst« ist ihr zehnter Kriminalroman.
Für meinen Vater
Kapitel 1
»Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub«, hörte ich die Stimme des Pfarrers wie aus der Ferne.
Durch einen Tränenschleier nahm ich die Schaufel in seiner Hand wahr, helle Flecken auf dem schwarzen Sarg. »Plop« und noch einmal »Plop«. Ich verharrte, unfähig mich zu rühren. Erst als Alexander mich sanft weiter nach vorne bugsierte, reagierte ich und nahm die Stelle des Pfarrers ein.
»Das ging alles viel zu schnell«, flüsterte ich so leise, dass es unmöglich jemand hören konnte. »Ich wollte dich noch so vieles fragen, dir wieder nah sein. Und du hast mir nicht anvertraut, was dir auf dem Herzen lag, bevor du ...«
Wieder spürte ich Alexander. Er schob mich zur Seite. Hatte ich wirklich zu lange am offenen Grab gestanden? Ich hätte dort gerne weiter Zwiesprache gehalten mit meinem toten Vater, aber in diesem Moment verspürte ich keine Kraft, mich gegen meinen Freund zu wehren. Wahrscheinlich hatte er Recht. Die anderen Trauergäste wollten sich ebenfalls von dem Toten verabschieden, auch wenn ihm bei Weitem niemand so nahe gestanden hatte wie ich. Kein Wunder. Abgesehen von seiner demenzkranken Schwester Margot besaßen wir keine lebenden Verwandten. Vaters Liebschaften hatten nie lange gehalten und sein engster Freund wohnte im Ausland. Deshalb hatte Alexander mir den Beerdigungskaffee ausreden wollen, aber in diesem Fall hatte ich mich durchgesetzt. Mein Vater hätte nicht gewollt, dass die Trauergäste sich nach seiner Beisetzung einfach zerstreuten, ohne die Möglichkeit zu haben, miteinander ins Gespräch zu kommen. Also hatte ich einen Gastraum in der Nähe des Duisburger Waldfriedhofs reserviert.
Tröstende Worte, der feste Druck von Händen, Umarmungen ließen meine Tränen nicht versiegen. Endlich hatte ich die Beileidsbekundungen am Grab überstanden und wir setzten uns in Bewegung. Einige Teilnehmer des überschaubaren Trauerzuges redeten leise, nur ich starrte stumm vor mich hin, ließ mich von Alexander willenlos führen. Plötzlich verspürte ich den unwiderstehlichen Drang, noch einmal nach hinten zu schauen. Ein letzter Blick auf den Kranz mit den lachsfarbenen Rosen und weißen Lilien, auf die Totengräber, die sich anschickten, das Grab zuzuschütten.
Tief in Gedanken versunken lief ich den Weg zurück zum Eingangstor. Erst als ein Passant seine Begleitung recht laut auf das versteckt liegende Grab von Wilhelm Lehmbruck aufmerksam machte, nahm ich die Umgebung wieder wahr. Mein erster Besuch auf diesem Friedhof hatte genau dieser Ruhestätte gegolten, nachdem ich im Studium ein Seminar über den großen Duisburger Künstler belegt hatte. Damals hatte ich nicht geahnt, welch traurigen Anlass mein zweiter Besuch haben würde. Während wir an den Trauerhallen vorbeikamen, erinnerte ich mich an meine Hand auf der kalten Haut meines toten Vaters. Ich weinte erneut, und die Tränen versiegten nicht, bevor wir den Friedhof durch den Haupteingang verlassen hatten.
Zu meiner Freude gesellte sich der Pfarrer im Gasthaus zu unserer kleinen Runde. Neben Alexander und mir bestand sie nur noch aus zwei alten Studienkollegen meines Vaters und fünf Nachbarn. Benjamin Baumer, ein junger Mann in meinem Alter, hatte direkt neben meinem Vater gewohnt. Meine Freundin Jeannette lag leider mit Grippe im Bett und meine Arbeitskollegin musste mich in der Galerie vertreten.
Nachdem wir alle Platz genommen hatten, schenkte die Bedienung recht zügig Kaffee ein. Der Pfarrer drehte sich zu mir um und sah mich mitfühlend an. Er saß unter einem Landschaftsbild, das an eines meiner ersten Werke an der Kunstakademie erinnerte. Auf ihm spiegelten sich dunkle Wolken in einem See.
»Es kam so plötzlich«, sprudelte es aus mir heraus. »Mein Vater war doch viel zu jung zum Sterben. Er hatte noch viele Pläne: Das Haus verkaufen. Seinen besten Freund in den Staaten besuchen und ...«
»Dafür hat er nicht lange gelitten«, fiel Alexander mir ins Wort.
Das stimmte zwar, aber die mitleidlose Art, wie er das aussprach, als argumentiere er in seiner Funktion als Jurist vor Gericht, gefiel mir nicht. Dem Pfarrer wohl auch nicht. Zumindest zog er seine rechte Augenbraue kurz in die Höhe. »Die engsten Angehörigen empfinden den Tod eines geliebten Menschen anders als jemand, der weiter außen steht«, erklärte er laut.
Alexanders Blick verdüsterte sich. Möglicherweise ärgerte er sich weniger über die Worte als über die Aufmerksamkeit, die der Mann mir schenkte. Für einen kurzen Moment sah ich den Pfarrer mit Alexanders eifersüchtig wachenden Augen und wünschte mir, auf den Beerdigungskaffee verzichtet zu haben.
Bald verabschiedete sich der Pfarrer und die ehemaligen Studienkollegen blieben auch nicht viel länger. Die Nachbarn diskutierten leise, ob sie die Plätze wechseln oder ebenfalls aufbrechen sollten. Als Alexander die Toilette aufsuchte, setzte sich Benjamin Baumer neben mich. Normalerweise hätte ich mich in der Gesellschaft des jungen Mannes mit dem kurzen blonden Stoppelhaar und dem gewinnenden Lächeln wohlgefühlt, aber der Gedanke, dass Alexander bald zurückkehren würde, hielt mich davon ab, und natürlich die Trauer.
»Ich habe Ihren Vater nicht so lange gekannt wie die anderen Nachbarn«, begann Benjamin Baumer. »Aber unser Verhältnis hat sich in den letzten Wochen intensiviert.« Er lächelte kurz, wurde aber sofort wieder ernst. »Wie das Leben manchmal so spielt. Man wohnt nebeneinander und doch geht der Kontakt nicht über einen kurzen Gruß hinaus oder man gibt ein Päckchen ab. Dann trifft man sich zufällig am Dellplatz und plötzlich sieht man sich mit ganz anderen Augen. Weil es zu regnen angefangen hat, sind wir ins Webster gegangen. Dort sind wir hängengeblieben. Der Regen hat einfach nicht aufgehört.« Baumers Miene wirkte versonnen, als sei er ganz in seiner Erinnerung gefangen. »Ihr Vater hat viel von Ihnen erzählt. Er war so stolz auf Ihr Kunststudium, auf Ihre Arbeitsstelle in der Galerie. Und das alles trotz Ihrer schweren Kindheit mit dem frühen Tod Ihrer Mutter.«
»Das hat er erzählt?«, fragte ich erstaunt.
»Ja, sogar mehrmals.« Benjamin Baumer fuhr sich mit der Hand durch das kurze Haar. Mit einem Mal lächelte er wieder. »Nun, zum Schluss waren wir wohl beide nicht mehr ganz nüchtern. Im Nachhinein denke ich sogar, dass Ihr Vater geahnt hat, dass er bald stirbt. Das wollte ich Ihnen unbedingt erzählen, auch wenn ich nicht sicher bin, ob Sie das tröstet.«
Seine Andeutung irritierte mich. »Hat er Ihnen gegenüber gesundheitliche Beschwerden erwähnt?«
»Nein, nicht konkret, und damals habe ich mir auch nichts bei seinen Äußerungen gedacht, aber als ich erfahren habe ...«
Mein Herz schlug heftig. Benjamin Baumer runzelte die Stirn und es dauerte eine Weile, bis er die richtigen Worte gefunden hatte. »Für mich hat er eine Art Resümee gezogen. Er hat betont, dass er in seinem Leben einiges hätte anders machen sollen. Auf keinen Fall hätte er den Kopf in den Sand stecken dürfen. Offensichtlich gab es etwas, das für ihn noch nicht ausgestanden war ... das ihn nun sehr beschäftigte, nachdem er es lange verdrängt hatte.«
»Was denn?«
»Das hat er nicht gesagt, auch wenn er einige Male dazu angesetzt hat. Wahrscheinlich fiel es ihm ungeheuer schwer, darüber zu reden. Ich weiß nur, dass er der Meinung war, er hätte etwas aufklären müssen, statt fortzulaufen.«
»Das verstehe ich nicht. Hat er in diesem Zusammenhang vielleicht sein Haus in Datteln erwähnt? Wollte er es vielleicht doch nicht verkaufen?«
Ich hatte die Frage kaum ausgesprochen, da fühlte ich mich beobachtet. Instinktiv schaute ich mich um und sah Alexander direkt auf uns zueilen. Etwas Feindseliges lag in seinem Blick. Anscheinend blieb Alexanders Missfallen auch Benjamin Baumer nicht verborgen. Zumindest erhob er sich rasch und reichte mir die Hand.
»Noch einmal alles Gute für Sie. Es tut mir leid, dass ich Ihnen die Fragen nicht beantworten konnte. Ihr Vater hat wirklich ein bisschen in Rätseln gesprochen.« Abrupt ließ er meine Hand los, die er die ganze Zeit über festgehalten hatte. »Auch für Sie noch einmal herzliches Beileid«, wandte er sich nun an Alexander.
Nachdem alle Gäste aufgebrochen waren, lief ich neben Alexander zu seinem schwarzen Mercedes.
»Ich an deiner Stelle hätte mich nicht so aufgeführt, Laura«, bemerkte er, wobei er sich um einen neutralen Tonfall bemühte. »Den Männern schöne Augen machen. Noch dazu an einem solchen Tag.«
»Alexander, nicht schon wieder«, stöhnte ich. »Ich habe deine grundlose Eifersucht oft genug ertragen, aber ich hatte gehofft, dass du wenigstens auf meine Trauer Rücksicht nehmen würdest.«
Ein seltsamer Laut entfuhr seiner Kehle. »Rücksicht?«, höhnte er. »Wer hat denn vergessen, dass es um deinen toten Vater geht und nicht um diesen schnöden Blondschopf? So vertraut, wie du mit ihm warst ... Wahrscheinlich habt ihr euch schon öfter getroffen, erst zufällig, wenn du deinen Vater besucht hast, dann ...«
»Nein, und nochmals nein!«, schrie ich lauter als beabsichtigt. Mir lagen so viele Entgegnungen auf den Lippen, aber heute zu streiten, passte einfach nicht. Während ich an meinen Vater dachte, schüttelte mich plötzlich ein Weinkrampf. Bäche von Tränen rannen meine Wangen hinunter. Ich fühlte mich ausgelaugt und allein. Alexander hielt mir ein Taschentuch hin, aber ich nahm es nicht an, wischte mir lieber mit dem Handrücken übers Gesicht.
»Nun komm schon«, hörte ich seine Stimme, die inzwischen versöhnlich klang. »Ich habe es nicht so gemeint. Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe. Ich habe einfach nur Angst, dich zu verlieren. Gerade auf einer Beerdigung geht es ja um Verlust. Da wird man daran erinnert ...«
»Alexander, so kann es nicht weitergehen«, erwiderte ich, nachdem ich mich endlich etwas gefangen hatte.
»Jetzt fahre ich dich erst einmal nach Hause«, säuselte er und strich mir übers Haar. »Du legst dich hin und morgen sieht die Welt schon wieder etwas besser aus.«
Ich setzte an, zu protestieren, hielt mich aber zurück. Heute würde ich es nicht schaffen, zu streiten, erst recht nicht, einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen. Ich hatte das Bedürfnis, allein zu sein. Aus diesem Grund durfte ich ihm keinen Anlass für weitere Diskussionen bieten.
Im Duisburger Süden parkte Alexander direkt vor dem Mietshaus, in dem ich in der ersten Etage wohnte. Er sprang aus dem Wagen und riss die Beifahrertür auf. Als ich ausstieg, schaute ich zu den Balkonen mit den hübschen Blumenkästen, ohne sie wirklich zu sehen. Während Alexander den Arm um mich legte und zur Eingangstür führte, hatte ich das Gefühl, mich berührte eine völlig fremde Person, ein Sanitäter, der eine Kranke begleitet. In meiner Wohnung suchte ich sofort das Badezimmer auf. Ich wusch mir das Gesicht und starrte mich im Spiegel aus verheulten Augen an. Nachdenklich holte ich aus dem Medikamentenschrank die Schlaftabletten, die der Hausarzt mir direkt nach dem Tod meines Vaters verschrieben hatte. Bisher hatte ich die Packung nicht angerührt. Nun drückte ich eine Tablette aus dem Blister. Ich zögerte kurz, dann warf ich sie ins Klo. Die Spülung rauschte in meinen Ohren. Ich verließ das Badezimmer und wäre in der Diele fast mit Alexander zusammengestoßen.
»Na, da bist du ja«, sagte er in einem jovialen Ton, der nicht gerade zu meiner Stimmung passte.
»Ich habe eine Schlaftablette genommen«, log ich, obwohl ich Konflikte normalerweise nicht mit Lügen zu lösen versuchte. »Am besten lege ich mich sofort hin.«
»Soll ich bei dir bleiben?«
»Nicht nötig. Wir sehen uns morgen.« Ich bezweifelte zwar, dass ich ihn in den nächsten Tagen sehen wollte, aber im Moment war ich bereit, alles zu tun, damit er möglichst bald verschwand. Tatsächlich hatte ich es mir nicht so leicht vorgestellt, ihn abzuschütteln. Zum Abschied nahm er mich in die Arme. Eher widerwillig ließ ich es geschehen.
Nachdem Alexander fort war, verzog ich mich ins Bett und starrte an die Decke. In der Fantasie sah ich meinen Vater als jungen Mann. Er lief neben mir her und hielt den Gepäckträger fest, während ich auf einem viel zu großen Fahrrad fuhr. Keine Spur von meiner Mutter, wie immer. Plötzlich tauchte eine der Gespielinnen meines Vaters in einem geblümten Sommerkleid auf. Ich riss mich von der Erinnerung los und dachte an Benjamin Baumers Worte. Hatte mein Vater wirklich geahnt, dass er bald sterben würde? Und was hatte er falsch gemacht? Sich nach dem frühen Unfalltod meiner Mutter eine Geliebte nach der anderen zuzulegen? Leider würde ich das nie erfahren, nicht einmal, was er mir direkt vor seinem Tod hatte mitteilen wollen.
»Du musst ... das Haus«, waren seine letzten Worte gewesen, dann hatte er, meine Hand in der seinen, den letzten Atemzug getan.
Während nun wieder Tränen über meine Wangen liefen, versuchte ich, mich an das Haus zu erinnern, in dem ich meine ersten Lebensjahre verbracht hatte, aber es stellten sich keine Bilder ein. Vielleicht hatte er zum Schluss den Plan aufgegeben, es zu verkaufen. Die Nachbarn, die es erwerben wollten, hatten nur einen sehr niedrigen Preis geboten. Und die wenigen Interessenten von außerhalb waren alle abgesprungen. Schade, dass die langjährigen Mieter vor ein paar Monaten ausgezogen waren. Was sollte jetzt nur mit dem Haus passieren, das ich seit meinem vierten Lebensjahr nicht mehr betreten hatte? Mit einem Mal wurde ich furchtbar müde. Ich schnäuzte noch einmal ins Taschentuch, drehte mich auf die Seite und kuschelte mich in Embryonalstellung in meine Decke.
Kapitel 2
Schneller, schneller, dröhnte es in meinem Kopf. Ich keuchte, mühte mich ab, die bleischweren Füße vom Boden zu heben, kam jedoch kaum voran. Die Schritte hinter mir wurden lauter. In wilder Panik drehte ich mich um. Ein kurzer, gehetzter Blick und ich wusste, dass es kein Entrinnen gab. Die gesichtslose Gestalt hatte aufgeholt. Der Abstand betrug nur noch wenige Meter. Schneller, schneller, hallte es in meinem schmerzenden Schädel. Ich rannte. Wollte rennen, aber es war kaum mehr als ein Stolpern. Plötzlich tauchte vor mir eine hohe Mauer auf. Links und rechts erkannte ich Dornenhecken. Der einzige Fluchtweg führte über eine hölzerne Treppe. Ich versuchte, die Stufen hinaufzuklettern, aber sie brachen unter meiner Last zusammen. Ich fiel. Hinter mir raschelte etwas. Feuchter Atem streifte meinen Nacken, kalte Hände legten sich um meinen Hals. Sie schnürten mir die Luft ab. Hilfe, ich sterbe, war mein letzter Gedanke, dann riss mich ein Schrei aus dem Schlaf.
Ruckartig schnellte ich hoch und schlug die Augen auf. Diffuses, graues Morgenlicht drang ins Zimmer. Ich erkannte die Umrisse der Möbel, trotzdem fiel es mir schwer, mich zu orientieren. Mein Atem ging schneller und ich verspürte immer noch Angst. Fahrig wischte ich mir über die feuchte Stirn. In meinem Kopf schienen sich die Bilder von der Beerdigung und Szenen aus dem Traum zu überlagern. Die Gestalt hatte einen Strauß aus weißen Lilien und lachsfarbenen Rosen auf die Erde geworfen. Der Sarg war eine seltsame Schräge hinabgerutscht. Verwirrt starrte ich vor mich hin. Albträume begleiteten mein Leben, hatten mir immer wieder den Schlaf geraubt, mir Ärger auf der Arbeit eingebracht, wenn ich übernächtigt Fehler gemacht hatte. Natürlich war ich auch in den letzten Tagen immer wieder aus einem bedrückenden Traum erwacht. Nur hatte ich das Gefühl, sie hätten sich verändert, ich konnte mich aber kein einziges Mal erinnern oder erspüren, inwiefern. Inzwischen störten sie jede Nacht. Das hing offensichtlich mit Vaters Tod zusammen.
Ich starrte vor mich hin und versuchte erneut, den Kern des Traums zu analysieren. Die Flucht, die Hindernisse, die gesichtslose Gestalt. Dabei atmete ich so schwer, als liefe ich Marathon. Erschöpft sank ich auf das Kissen zurück und schloss die Augen. Im Geiste sah ich meinen Vater. Eine seltsame Mischung aus Angst und Einsamkeit übermannte mich.
»Du solltest zum Therapeuten gehen«, hatte meine Freundin Jeanette mir vor einigen Wochen an einem Abend mit zu viel Merlot geraten. »Dass dieser Traum immer wiederkehrt, ist nicht normal.« Und nun war es noch schlimmer geworden und ich musste ihr Recht geben. Jede Nacht einen Albtraum, wie lange hielt man das aus? Zudem irritierte mich, dass er sich irgendwie verändert hatte. Eine Therapie wäre wirklich das Beste, aber etwas in meinem Inneren sträubte sich dagegen, einen Psychologen aufzusuchen. »Jeder träumt hin und wieder schlecht«, hatte ich an dem Abend abgewiegelt und nach einem weiteren Glas Rotwein hatte Jeanette Ruhe gegeben. Abgesehen von ihr wussten nur meine Ex-Partner und Alexander von diesen schrecklichen Nächten.
»Alexander!«, stieß ich leise hervor, was trotz des Flüstertons seltsam ironisch klang. Alexander, der mit seiner Kontrollsucht langsam selbst zu einer Art Albtraum wurde.
Mühsam erhob ich mich aus dem Bett und wankte in die Küche. Ich öffnete den Kühlschrank und starrte hinein. Mit zitternden Händen holte ich eine angebrochene Flasche Wasser heraus. Zuerst wandte ich mich zu dem Schrank mit den Gläsern über der Anrichte, aber dann blieb ich stehen und setzte die Flasche einfach an. Während ich gierig trank, rannen mir einige Tropfen aus den Mundwinkeln, liefen am Kinn entlang, den Hals hinunter und mischten sich mit dem feuchten Film auf meiner Haut. Ich strich das halblange braune Haar mit der unbändigen Lockenflut nach hinten und fuhr mehrmals mit dem Finger über das winzige Muttermal auf dem Wangenknochen schräg unter dem linken Auge. Früher hatte ich stets darauf geachtet, die Haare so weit ins Gesicht zu kämmen, bis der Fleck hinter den Locken verschwunden war, auch wenn mehrere meiner einstigen Freunde auf verschiedene Art behauptet hatten, meine großen blau-grünen Augen und der hübsch geschwungene Mund kompensierten den kleinen Schönheitsfehler allemal, oder auch, er würde mich noch interessanter aussehen lassen. Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Angesichts des Todes eines geliebten Menschen waren solche Äußerlichkeiten mehr als banal.
Ruckartig setzte ich die Flasche ab und starrte auf eine Reihe von Fotos an der gegenüberliegenden Wand. Die Bilder zeigten mich und Alexander. Nur auf dem Rechten lächelte ich alleine in die Kamera. Ein hübsches Paar im Urlaub, am Strand. Vor einem guten halben Jahr. Ausgelassen. Glücklich. Was war seither nur geschehen? Während meine Gedanken von Alexander wieder zu meinem Vater wanderten, füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich sah das Bild vor mir, wie der Sarg mit dem Bouquet aus lachsfarbenen Rosen und weißen Lilien in der Erde versank.
Entgegen allen gut gemeinten Ratschlägen hatte ich die Beerdigung so lange wie möglich hinausgeschoben und in diesem Moment wurde mir endlich bewusst, warum. Dadurch hatte ich hinausgezögert, mich um den Nachlass zu kümmern, besonders um das kleine Haus in Datteln, in dem ich gelebt hatte, bis meine Mutter gestorben war. Seit Vaters Tod rätselte ich, was er mir in den letzten Minuten im Zusammenhang mit dem Haus hatte mitteilen wollen. Was sollte nach seinem Willen damit geschehen? Benjamin Baumers seltsame Andeutungen hatten keine Antworten geliefert, sondern mein unsicheres Gefühl nur verstärkt. Sollte ich das Häuschen wirklich verkaufen, wie mein Vater es vorgehabt hatte? Oder hatte er mir auf dem Sterbebett zu erklären versucht, dass er sich anders entschieden hatte? Vielleicht war dieses Haus eine Art Fingerzeig, allen Problemen aus dem Weg zu gehen. Der nörgelnden Chefin und vor allem Alexander.
Nachdenklich nahm ich eines der Fotos von der Wand. Darauf schmiegte ich mich an meinen Freund und sah verliebt zu ihm hoch. Wie glücklich ich in diesem ersten gemeinsamen Urlaub gewesen war. Dass Alexander seine Gefühle mit immer neuen ausgefallenen Worten ausdrücken konnte, hatte mir imponiert. Liebesbeteuerungen schon am Frühstückstisch. In dieser noblen Ferienwohnung am Gardasee hatte noch nichts mein Glück getrübt. Warum auch? Er brauchte mich ja nicht zu kontrollieren, wenn ich Tag und Nacht bei ihm war, brauchte nicht zu befürchten, dass ich einem anderen Mann schöne Augen machte. Wie sehr hatte ich seine Feinfühligkeit bewundert. Als Minou, seine geliebte Perserkatze, kurz nach unserem Kennenlernen ernsthaft erkrankte und operiert werden musste, hatte er sogar geweint. Minou hatte sich allerdings schnell erholt und sich für ihre Nickerchen flugs in sein Bett geschlichen, was ihr zuvor nicht gestattet gewesen war. Alexanders fürsorgliche Art sowohl mir als auch der Katzendame gegenüber hatte ihm in dieser frühen Phase unserer Beziehung etliche Pluspunkte beschert und die von meinem Vater vorsichtig vorgebrachte Skepsis in den Hintergrund treten lassen.
Ich hielt das Foto noch einmal näher an meine Augen und betrachtete es intensiv. Alexanders Lächeln wirkte fremd und einstudiert. Wie anders ich diese Momentaufnahme nun interpretierte. Entschlossen löste ich das Bild aus dem Rahmen und zerriss es. Anschließend entsorgte ich die Fetzen im Abfalleimer. Ich würde mich von Alexander trennen, definitiv. Der Tod meines Vaters und die nächtlichen Albträume setzten mir wahrlich genug zu. Nicht einmal auf der Beerdigung gestern hatte er Rücksicht auf mich genommen.
Und wenn ich mein ganzes Leben ändern, meinen Job hier kündigen und selbst in das kleine Haus einziehen würde? Keinen Ärger mehr mit meiner Chefin, keinen Streit mehr mit dem Vermieter, der sich mal wieder nicht an einer Reparatur beteiligen wollte. Ich könnte Alexanders Dunstkreis entkommen und endlich malen, statt den Kunden in der Galerie möglichst teure Kunstwerke aufzuschwatzen, nur damit Frau Caroline von Lothringen mit mir zufrieden war. Die Vorstellung, einfach alles hinter mir zu lassen, erschien mir sehr verlockend, auch wenn ich dafür einiges Vertraute aufgeben musste.
Grübelnd lief ich ins Badezimmer und stellte mich unter die Dusche. Ich hatte mir heute zwar freigenommen und hätte mich noch einmal ins Bett legen können, aber an Schlaf war jetzt sowieso nicht mehr zu denken. Während das Wasser auf meine Haut prasselte, richtete ich mir im Geiste ein kleines Atelier ein. Das Haus in Datteln würde dafür bestimmt ein Zimmer besitzen. Nachdem ich zusammen mit fünf weiteren Künstlern wegen Eigenbedarfs aus einer gemieteten Werkstatt hatte ausziehen müssen, stand die Staffelei zusammengepfercht mit anderen Utensilien im Keller. Seither hatte ich immer wieder versucht, mich an einem Atelier zu beteiligen, leider erfolglos. Entweder war die Künstlergemeinschaft schon komplett oder das Angebot war für mich zu teuer gewesen. Als ich aus der Dusche stieg und mich in ein großes Badetuch hüllte, begann der Umzug in meinen Gedanken konkrete Züge anzunehmen. In meiner Fantasie stellte ich bereits eine Staffelei in dem kleinen Häuschen auf. Irgendwo am Fenster mit Blick in den Garten. Verwundert schüttelte ich über mich selbst den Kopf. Schließlich hatte ich mich noch nicht definitiv zu diesem gravierenden Einschnitt in meinem Leben entschieden.
Kapitel 3
Es war mir gelungen, Alexander einige Tage aus dem Weg zu gehen. Vielleicht akzeptierte er meinen Wunsch nach Ruhe nur deshalb, weil ihn wegen der Eifersuchtsszene direkt nach der Beerdigung ein schlechtes Gewissen plagte, aber der Grund war mir letztendlich egal. Ich hatte die Zeit genutzt, um zumindest eine wichtige Entscheidung zu fällen. Ich würde mich von Alexander trennen. Danach stand das kleine Haus ganz oben auf meinem Plan.
Unruhig trippelte ich vor dem Eingang zum Finkenkrug, einem meiner Stammlokale, hin und her. Entgegen meiner Gewohnheit war ich viel zu früh am Treffpunkt erschienen, weshalb ich noch eine Weile auf Alexander warten musste. Der frische Wind schien es leider auf meine Beine abgesehen zu haben, die heute nur in einem Hauch anthrazitfarbener Nylons steckten. Nach weiteren zehn Minuten beschloss ich, mich nicht länger der Kälte auszusetzen und hineinzugehen.
Ich mochte den Finkenkrug wegen der Atmosphäre und sicher auch ein bisschen aus Gewohnheit. In dieser urigen Studentenkneipe hatte ich schon zum Ende meiner Schulzeit verkehrt und auch später noch gelegentlich, auch wenn ich nicht in Duisburg studiert hatte. Das Lokal hatte sich im Laufe der Zeit allerdings sehr verändert. Zur Straße hin hatte man einen Wintergarten angebaut. Und im Sommer konnte man eines der 300 Biersorten, darunter 30 vom Fass auch im Biergarten probieren, den es früher auch nicht gegeben hatte. Wie oft hatte ich hier schon mit Jeanette über Probleme diskutiert oder gelacht? Heute jedoch überlagerte die längst fällige Aussprache mit Alexander alle positiven Gefühle, die ich mit dem gastlichen Ort verband.
Zum ersten Mal fragte ich mich, ob sich Alexander verändert hatte oder eher meine Wahrnehmung. Die Beteuerung »Du bist die Liebe meines Lebens« hatte im Laufe der letzten Wochen und Monate einen schalen Beigeschmack angenommen, besonders weil er sie oft als Rechtfertigung für seine grundlosen Eifersuchtsattacken gebraucht hatte. Mit seiner extremen Anteilnahme an meinem Leben verhielt es sich ähnlich. In der Anfangszeit hatte es mir nichts ausgemacht, wenn er sich mitten in der Nacht vergewissern wollte, dass ich von einem Besuch bei Jeanette oder einem Umtrunk mit meiner Arbeitskollegin Stefanie heil nach Hause gekommen war. »Fürsorge«, ich spie das Wort aus, als sei es eine heiße Kartoffel. Wie wenig hatte ich davon nach dem schweren Herzinfarkt meines Vaters gespürt? Ich erkannte nun ganz deutlich: Der Tod meines Vaters war nicht nur Abschied von einem geliebten Menschen, sondern auch eine Zäsur in meiner Beziehung zu Alexander. Inzwischen widerte mich seine Kontrollsucht an, und ich war nicht weiter gewillt, darüber hinwegzusehen. Je eher wir uns trennten, desto mehr unschöne Szenen blieben uns beiden erspart.
In Gedanken versunken lief ich an der Theke vorbei und steuerte im nächsten Raum auf die Balustrade zu. Hier oben hatten nur wenige kleine Tische Platz. Ich saß gern etwas erhöht und genoss den Überblick. Wegen des intimen Gesprächs schätzte ich heute jedoch eher die Distanz zu den anderen Gästen. Sicher gab es bessere Orte, um mit Alexander Schluss zu machen, aber notfalls könnten wir immer noch woanders hingehen oder draußen einen kleinen Spaziergang machen. Ich seufzte. Als eine hübsche junge Kellnerin in knallenger Röhrenjeans und nach hinten gegelten pechschwarzen Haaren erschien, bestellte ich einen trockenen Weißwein. Zwar wollte ich unbedingt einen kühlen Kopf bewahren, aber einige Schlucke zur Beruhigung konnten nicht schaden.
Alexander schlenderte endlich herein. Mir kam es vor, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Dabei störte mich weder der zu große Mantel noch die unmodische Hornbrille, eher sein Blick, in dem etwas Lauerndes lag, als müsse er auf der Hut sein, um die Lage beherrschen zu können. Ahnte er auf unerklärliche Weise, dass ich unsere Beziehung heute beenden wollte? Unwillkürlich zuckte mein linkes Augenlid. Ich versuchte, dagegen anzulächeln, was mir allerdings nicht einmal ansatzweise gelang. Alexander schaute sich um, nickte mir kurz zu und näherte sich meinem Tisch.
»Mein Liebes«, begrüßte er mich, obwohl ich ihm schon unzählige Male erklärt hatte, dass ich diese Anrede nicht mochte. Sie klang für mich nicht nach einer Beziehung, in der beide auf derselben Stufe standen. »Ich hoffe, du wartest nicht schon länger auf mich.« Mit einer unbeholfenen Geste erfasste er meine Schultern und hauchte einen Kuss auf meine Stirn.
»Nein, nein«, wiegelte ich ab. »Die Bedienung war nur äußerst schnell.«
Sein Blick taxierte mein Weinglas, seine Augenbrauen zogen sich leicht in die Höhe. »Aber Essen hast du noch nicht bestellt, mein Liebes?«
Seine Stimme klang vorwurfsvoll, gepaart mit einem Hauch von Ironie. Ich hasste diesen Tonfall und auch das, was er sagte. Warum fragte er nicht, wie es mir ging, wie ich mich fühlte, so wenige Tage nach der Beerdigung meines Vaters? Aus Rücksicht wohl eher nicht.
»Alexander, ich muss mit dir reden«, begann ich, wurde jedoch durch die nahende Bedienung unterbrochen.
Angesichts der riesigen Auswahl an Bieren aus aller Welt fiel Alexander die Entscheidung offensichtlich schwer. Er studierte die Karte ausgiebig und ließ die junge Frau in der Röhrenjeans in aller Ruhe warten. Peinlich berührt schaute ich zu der gegenüberliegenden Wand mit etlichen Flaschen als Dekoration.
Nachdem er endlich ein Weizenbier bestellt hatte, sah er mich mit einem Blick an, den ich nicht definieren konnte. Ich knetete meine Hände so heftig, bis die Knöchel schmerzten. »Also, ich habe lange über uns nachgedacht«, begann ich erneut. »Dabei bin ich immer wieder zu dem Schluss gekommen, dass wir nicht zusammenpassen.«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst.« Sein Blick drückte aus, für wie verrückt er mich hielt. »Wir kommen aus einer Schicht, wir haben ein ähnliches Bildungsniveau. Das ist geradezu ideal, da kannst du jede Statistik fragen.«
Ich stieß einen Laut aus, der in meinen Ohren arg hysterisch klang. »Es geht doch hier nicht um Statistik, sondern um uns!« Verständnislos starrte ich ihn an. »Zum Beispiel würde ich niemals über unser Bildungsniveau nachdenken. Und das Wort Schicht nehme ich erst gar nicht in den Mund. Das zeigt doch bereits, wie grundverschieden wir sind.«
»Da steckt mit Sicherheit ein anderer Mann hinter, erzähl doch nichts. Vielleicht dieser Nachbar von der Beerdigung, mit dem du dich so intensiv unterhalten hast. Seid ihr euch inzwischen noch nähergekommen oder geht das schon länger, wie ich von Anfang an vermutet habe?«
»Du bist so pervers«, erwiderte ich, wobei mich dieser drastische Ausdruck selbst ein wenig erschreckte.
Die Bedienung stellte ein Weißbierglas auf den Tisch und fragte nach weiteren Wünschen. »Danke, im Moment nicht«, erklärte Alexander schnell.
Ich stimmte ihm innerlich zu. Auch ich verspürte keinerlei Appetit. Gedankenversunken nestelte ich an den Knöpfen meiner Bluse herum.
»Mein Liebes, lass uns heute Abend nicht streiten«, säuselte Alexander, obwohl ich eine heftige Abwehr erwartet hatte. »Gut, der Mann war lediglich ein zufällig attraktiver junger Nachbar deines Vaters. Ich verzeihe dir das Getue auf der Beerdigung. Was willst du mehr?«
»Erstens gibt es nichts zu verzeihen«, erwiderte ich einige Nuancen lauter als beabsichtigt, »zweitens ist das hier kein Streit. Ich will mich nie mehr rechtfertigen müssen, wenn ich nicht wie erwartet zu Hause bin. Ich will auch nicht mehr dankbar sein, wenn du mir einen Fehler verzeihst, den ich nicht als solchen empfinde. Ich will einfach, dass wir künftig getrennte Wege gehen.«
So, nun war es heraus, und ich konnte aufatmen, zumindest bis seine Reaktion mich überraschte. Sicherlich hatte ich kaum erwartet, dass er sich wie andere meiner Verflossenen benahm, ein lockeres Okay, bleiben wir also gute Freunde auf den Lippen, trotzdem war ich auf diese kalte Wut in seinem Blick nicht vorbereitet gewesen.
»Glaubst du wirklich, du könntest dich so einfach von mir trennen?«, höhnte er. »Bestellst mich hierher, um mich eiskalt abzuservieren. Denkst obendrein, damit durchzukommen. Nein, unsere Beziehung wurde mit Blut besiegelt.« Was meinte er damit? Ich runzelte die Stirn. »Hast du diese Nacht schon vergessen? Bedeutet sie dir etwa nichts?«
Plötzlich dämmerte mir, wovon er sprach. Ein intimes Beisammensein während meiner Menstruation in den ersten Wochen. Zweifellos hatte auch ich meinen Spaß daran gehabt, aber das notwendige Wechseln des roten, verschmierten Lakens hatte die Euphorie im Nachhinein bei mir schnell gedämpft. Für Alexander jedoch schien die mit Blut durchtränkte Wäsche eine ganz besondere Bedeutung zu haben. Wir waren eben grundverschieden. Warum wollte er das nicht wahrhaben? Warum machte er es mir nur so schwer?
»Gut, ich habe leider keinen Einfluss, darauf, ob du meinen Entschluss nachvollziehen kannst. Aber du wirst unsere Trennung wohl oder übel akzeptieren müssen. Du kannst mich nicht zwingen, unsere Beziehung aufrechtzuerhalten, nachdem meine Gefühle für Dich erloschen sind. Ich stehe jetzt auf, zahle an der Theke und gehe.«
»Nein, das wirst du nicht!«, zischte er mit drohendem Unterton. Dabei krallten sich seine Finger in meinen Arm. »Du bleibst jetzt hier, und zwar so lange, bis ich dir diese Flausen ausgeredet habe. Du bist doch einfach nur durcheinander, weil dein Vater so plötzlich gestorben ist.«
»Lass mich sofort los, du tust mir weh!« Es widerte mich an, dass er gerade jetzt meinen Vater erwähnte. Wahrscheinlich hatte er gedacht, ich würde nun in Tränen ausbrechen und dadurch meine Position schwächen. Allerdings hatte er sich diesmal verrechnet, meine Wut verdrängte die Trauer. Alexanders Griff verstärkte sich. Während ich aufstand, versuchte ich mich loszureißen, doch es gelang mir nicht. Bevor er mich wieder auf meinen Sitz ziehen konnte, schaltete sich einer der beiden jüngeren Männer ein, die inzwischen am Nachbartisch Platz genommen hatten.
»Haben Sie nicht verstanden, die Frau möchte gehen?« Sein Blick schien auszudrücken, dass er auch weiterhin gewillt war, sich einzumischen.
Alexander gab sich geschlagen und ließ meinen Arm los, nur in seinen Augen loderte weiterhin nackte Wut. Mit zitternden Knien wankte ich zur Theke, hielt der Bedienung einen Zehn-Euro-Schein hin und stürzte ohne Wechselgeld hinaus.
Draußen empfing mich erneut der kalte Wind, aber das war mir nur recht. Ich musste einen klaren Kopf bekommen. Jeden Moment konnte Alexander ebenfalls das Lokal verlassen. Hoffentlich wurde er von der Kellnerin aufgehalten oder von diesem couragierten Mann, der sich eingemischt hatte, vielleicht sogar von seiner Vernunft. Letzteres hielt ich allerdings für sehr unwahrscheinlich. Ich schlug den Weg zur Straßenbahn ein und drehte mich immer wieder nach hinten. Von Alexander fehlte zum Glück jede Spur.
Als ich von Weitem die Bahn erkannte, rannte ich los, als hinge mein Leben davon ab, sie zu erreichen. Tatsächlich schaffte ich es. Ein verliebtes Pärchen und eine ältere Frau standen an der Haltestelle, und ich entspannte mich langsam. Während ich noch einmal nach hinten blickte, fiel mir der schwere Unfall von Alexanders letzter Freundin ein. Ein Auto hatte von hinten ihr Rad gerammt. Die junge Frau war dabei ums Leben gekommen, und der rücksichtslose Fahrer des Wagens wurde nie gefasst. Wenn Alexander darüber sprach, überschüttete er sich mit Vorwürfen, weil er seine Freundin an dem Abend nicht von dem Treffen mit einer Bekannten abgehalten hatte. Gleichzeitig belehrte er mich, im Dunkeln nicht allein unterwegs zu sein.
Ich stieg nach dem turtelnden Paar in die Bahn und platzierte mich an einem der Fenster, so dass ich den Weg, den ich gegangen war, zurückschauen konnte. Seufzend drückte ich meine Stirn gegen die Scheibe. Eigentlich sollte ich stolz auf mich sein, aber das war ich nicht. Dabei hatte ich die entscheidenden Worte herausgebracht und war mir sicher, sie unter keinen Umständen zurückzunehmen. Alexanders Kontrollsucht hatte mich schon lange gestört und spüren lassen, dass ich in dieser Beziehung niemals unbeschwert und glücklich werden würde. Leider hatte ich mich davor gedrückt, endlich die Konsequenzen zu ziehen. Diese Unentschlossenheit hatte die ganze Zeit an mir gehaftet wie ein Makel. Warum nur war ich immer wieder in Alexanders Armen gelandet, obwohl ich mich dadurch weiter von mir selbst entfernt hatte?
Kapitel 4