Narrentreiben - Alexander Rieckhoff - E-Book

Narrentreiben E-Book

Alexander Rieckhoff

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Beschreibung

Es ist Fasnacht, Schwarzwald und Baar befinden sich im Ausnahmezustand. Da wird der Villinger Bauunternehmer Heinrich Berger am Morgen nach dem Zunftball tot aufgefunden – ausgerechnet am Schwenninger Narrenbrunnen und noch mit seinem Narrohäs bekleidet. Rätselhafte Botschaften lassen vermuten, dass der Mord mit der "fünften Jahreszeit" in Verbindung stehen könnte, und einige Spuren führen in andere Fasnachtshochburgen. Lehrer Hubertus Hummel und Lokaljournalist Klaus Riesle sind dem Mörder dicht auf den Fersen und tauchen dabei tief in die Schwäbisch-Alemannische Fasnacht ein. Stress pur für Hummel, denn noch dazu ist seine Tochter Martina hochschwanger ...

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96323-7

© Piper Verlag GmbH, München 2014

Erstausgabe: © Romäus Verlag, Villingen-Schwenningen 2004

Covergestaltung: bürosüd°, München

Covermotiv: Markus Fehrenbach (Maske), Mauritius Images (Stadt), Shutterstock (Wimpel)

Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

1. ZUNFTBALL

Hubertus Hummel stakste in strassbesetzten Pumps über den verschneiten Gehweg der Bertholdstraße. Wie schafften es Frauen nur, sich in so etwas fortzubewegen? Außerdem kribbelte seine Haut, die Gummizüge seines Bauchtänzerinnen-Kostüms spannten schmerzhaft und ließen den Bauchansatz noch mehr als sonst hervorquellen. Zu gerne hätte er sich mit den Fingernägeln am ganzen Körper gekratzt, doch der Mantel verhinderte das. Und den ließ er lieber zugeknöpft, sonst hätte ihn der kalte Schwarzwälder Februarwind augenblicklich zu einer Eisskulptur erstarren lassen.

Auch die schwarze, wuschelige Perücke juckte auf seiner sonst nur spärlich bedeckten Kopfhaut. Wenigstens würde er damit auf dem Fasnetsball kaum erkannt werden – das hoffte er jedenfalls. Denn sein Aufzug war ihm einfach nur peinlich. Daran, dass ihm womöglich im Verlauf des Abends auch einer seiner Schüler über den Weg laufen könnte, wollte Hummel, Studienrat für Deutsch und Gemeinschaftskunde am Villinger Gymnasium am Romäusring, erst gar nicht denken.

»Wie konnte ich mich bloß auf diesen Blödsinn einlassen?«, schimpfte der Mittvierziger vor sich hin. Er hatte mit seinem eleganten Schuhwerk auf dem rutschigen Terrain Mühe, seiner Frau Elke und seiner hochschwangeren Tochter Martina zu folgen. Auch sie wollten sich die Saalfasnet nicht entgehen lassen.

Die beiden kicherten über Hubertus’ Auftritt.

»Didi hätte sich wirklich ein bisschen mehr anstrengen können, dann wäre mir dieser Aufzug erspart geblieben«, ärgerte sich Hubertus, als endlich das hell beleuchtete Foyer der Tonhalle in Sichtweite war.

Im Vorfeld der Wahl zum neuen Villinger Zunftmeister hatte der Studienrat nämlich mit seinem Journalistenfreund Klaus Riesle gewettet. Hubertus hatte auf seinen angehenden Schwiegersohn Dietmar Bäuerle als neuen Obernarro gesetzt. Doch ausgerechnet Klaus, der von Narrozunft so viel verstand wie Hubertus von Frauenkleidung, hatte auf den richtigen Kandidaten getippt: Thomas Stöhrle.

Zur Strafe musste Hubertus nun auf dem Ball der Historischen Narrozunft 1584 e.V. als orientalische Schönheit aufkreuzen.

Zum Glück war er nicht die einzige Person in lächerlicher Aufmachung. Vor dem Foyer warteten bereits weitere seltsame Gestalten mit überdimensionalen Perücken und bemalten Gesichtern auf Einlass.

»Eine Bauchtänzerin braucht nun mal eine vollschlanke Figur«, stichelte Martina, die sich passend zur Aufmachung ihres Vaters als Sindbad der Seefahrer mit weißem Turban verkleidet hatte. Dass Sindbad schwanger war, passte allerdings nicht ganz ins Bild. In vier Wochen sollte es so weit sein.

»Klaus mit seinem Waschbrettbauch hätte in dem Kostüm bestimmt keine so zauberhafte Figur gemacht«, setzte Elke alias Lawrence von Arabien noch einen drauf, als sie den Eingangsbereich passierten. Dort standen zwei Männer der historischen Villinger Bürgermiliz in braunem Gehrock und mit Dreispitzhut Spalier. Bei jedem neuen Ballbesucher schüttelten die Bürgersoldaten ihren Schellenbaum.

Mit seiner Kamera lauerte Klaus Riesle bereits an der Garderobe. Die Wettschuld musste eingelöst werden – und der kleine, schwarzhaarige Lokaljournalist freute sich schon.

»Huberta, du wunderschöne Perle des Orients!«, trällerte er. Klaus, dessen einzige Verkleidung aus einem rotweiß geringelten T-Shirt und einem schief aufgemalten Herz auf der Wange bestand, half seinem Freund aus dem Mantel.

»Seit fünfzehn Jahren versuche ich, so gut es geht, mich vor der Fasnetberichterstattung zu drücken«, sagte er laut. »Aber für so eine Spitzenfrau werfe ich meine Prinzipien gern über Bord.«

»Könntest du vielleicht freundlicherweise etwas weniger Aufhebens machen?«, schnauzte Hubertus ihn an. Doch eigentlich waren seine Sorgen unbegründet, denn im allgemeinen »Narri Narro« achteten nur wenige auf die orientalische Tänzerin.

Auch wenn Hubertus seine Kostümierung heute albern fand: Auf die Straßenfasnacht freute er sich. Ja, er fieberte ihr sogar entgegen. Und das handbemalte »Narrohäs«, in das er an »Fasnetmentig« und an »Fasnetzischtig« schlüpfen wollte, würde er wieder mit Stolz und Würde tragen – so wie schon sein Vater und sein Großvater es getan hatten. Fasnet war schließlich nicht nur Spaß, sondern ein Brauch. Mehr noch: eine Verpflichtung.

»Und jetzt bitte alle mal freundlich lächeln für den Schwarzwälder Kurier«, bat Klaus.

Elke und Martina grinsten in die Kamera. Hubertus verzog sein mit Puder, Rouge und lila Lidschatten überschminktes Gesicht zu einer faltigen Grimasse.

»Sollte das Foto im Kurier erscheinen, verklage ich dich auf Schmerzensgeld«, raunzte er und betrat rasch den Saal. Schließlich konnte das Programm jeden Moment beginnen. Und ein zweites Mal würde er sich keinesfalls in diesem Aufzug ablichten lassen.

Fast wäre er mit Didi Bäuerle zusammengeprallt, der auf seinem Kopf eine weißblaue Ratskappe trug. An der gebogenen Spitze über seiner schweißbesetzten Stirn hing ein Glöckchen. Er war nicht nur Ratsherr bei der Narrozunft, sondern auch Umzugssprecher und Regisseur dieses Zunftballs. Und als solcher wurde von ihm am heutigen Abend ein besonders anspruchsvolles Programm erwartet, denn die geballte Prominenz machte ihre Aufwartung – bis hin zum Ministerpräsidenten. Auch dem hatte die Narrozunft schon eine Ehrenkappe vermacht, obgleich dessen unverkennbar schwäbischer Akzent nicht so recht in den badischen Teil der Doppelstadt Villingen-Schwenningen passte.

Als Didi den Vater seiner Zukünftigen in dem zartblau glänzenden Kostüm sah – das Oberteil mit großen Luftballons ausgestopft –, stutzte er zunächst und musste dann laut lachen.

»Du kannst dir jeglichen Kommentar sparen. Wo sind unsere Plätze?«, fragte Hubertus barsch, denn Didi hatte seiner Familie die heiß begehrten Karten besorgt.

Nun deutete Hummels Schwiegersohn in spe die ungefähre Richtung an und machte dann seinem Ärger Luft: »Könnt ihr euch das vorstellen? In zehn Minuten beginnt das Programm – und vier Akteure fehlen noch. Unter anderem der Fehrenbach, der eigentlich für die Beleuchtung zuständig ist, und drei andere Narros – darunter der Berger, unser Inquisitions-Narro, der überall Verrat wittert. Der wird heute mit dem Narrenbecher für besondere Verdienste geehrt. Das wird er ja kaum verpassen wollen.«

Er schüttelte den Kopf, nahm seine Kappe ab und rieb sich über die blonden Stoppelhaare. »Ich habe es wirklich nur mit Dilettanten zu tun.«

Hummel fühlte sich bei diesen Worten an einen seiner Freunde erinnert – Edelbert Burgbacher, den Regisseur des Zähringer-Theaters. Von dem waren solche Sätze unablässig zu hören.

Für Didi nahte indes Hilfe, denn ein stattlicher Narro lief auf ihn zu. Der Narro war die Hauptfigur der Villinger Fasnet, und seine Kleidung, das sogenannte Häs, kostete ein halbes Vermögen. Nicht jeder konnte sich das leisten, doch viele taten es. Die Lindenholzmaske, die man Scheme nannte, hatte dieser Narro gelüftet, sodass sein verschwitztes Gesicht zu erkennen war.

Bäuerle atmete etwas auf. »Guten Morgen, Graf Zahl, wird Zeit, dass du kommst. Tja, der Weg aus Schwaben ist weit. Jetzt sind wir immerhin acht Narros. Nun aber ab in den Einmarschraum, die anderen warten schon. Peinlich genug, dass du dich hier vor all den Leuten ohne Scheme zeigst.«

Graf Zahl hieß eigentlich Moser und war ein guter Bekannter von Bäuerle und Hummel. Seinen Spitznamen verdankte er einer Figur aus der »Sesamstraße« und der Tatsache, dass Moser nicht nur ein ausgewiesener Fasnetexperte, sondern auch Mathematiklehrer am Wirtschaftsgymnasium war. Als einer der ganz wenigen Villinger Narros wohnte er in Schwenningen. Man konnte mit jeder Art von mathematischem Rätsel zu ihm kommen – er löste es.

Moser konterte mit einem anderen Spruch. »Tut mir leid, aber du weißt ja, Bäuerle: Die Letzten werden die Ersten sein.«

2. »SANITÄTER!«

Mit Mühe presste Hubertus seinen Bauch zwischen den Stuhlreihen hindurch und bahnte den Weg für seine Tochter. Besorgt blickte er sich immer wieder nach dem schwangeren Sindbad um. Didi war nach einem flüchtigen Kuss für die Liebste schon längst wieder hinter der Bühne verschwunden.

Als sie endlich ihre Plätze gefunden hatten, verschlechterte sich Hubertus’ Laune noch weiter. Ihnen gegenüber saß ein Mann, der mit rotem Dirndl und blonder Lockenperücke offenbar den Versuch gemacht hatte, sich als Synthese aus Margot und Maria Hellwig zu verkleiden. Es war – ausgerechnet! – Rechtsanwalt Dr. Bertram Bröse, mit dem Elke während ihrer zwischenzeitlichen Ehekrise eine Weile liiert gewesen war.

Jeder seiner Schüler wäre Hubertus jetzt als Tischnachbar lieber gewesen. Auch Elke schien irritiert, nickte Bröse nur kurz zu und blickte mehrfach zu Hubertus. Sie wusste, dass dieser immer gut für einen Eifersuchtsanfall war. Und hier vor all den Leuten …

So oder so: Das Karma an diesem Tisch würde heute Abend nicht besonders gut sein.

»Guten Abend, Herr Hummel … oh … ähm … Hallo, Elke. Wie geht’s?«, stotterte Bröse. Ihm schien die Begegnung ebenfalls peinlich zu sein. Zumal neben ihm eine schätzungsweise zwanzigjährige Blondine mit tief ausgeschnittenem Dekolleté saß, die ihre Arme um den Hals des Rechtsanwalts geschlungen hatte. Der war immerhin auch schon Anfang fünfzig.

Hubertus sah seine Chance und ging in die Offensive: »Herr Bröse, ich wusste gar nicht, dass Sie schon eine so große Tochter haben! Oder ist das gar das Fräulein Enkelin?«

Wäre Hummel nicht als Frau verkleidet gewesen – der Auftritt wäre ihm noch leichter gefallen. Seine Bemerkung wirkte aber auch so …

»Das ist nicht … äh … meine Tochter«, murmelte Bröse ziemlich verlegen. »Das ist meine … ähm … Lebensabschnittsgefährtin Susi.« Peinlich berührt stellte er seiner Susi die Familie Hummel vor. Schließlich würde man wohl oder übel noch einige Stunden miteinander verbringen müssen.

»So, so, Ihre Lebensabschnittsgefährtin«, wiederholte Hummel genüsslich und so laut, dass die Leute an den Nebentischen ihre Unterhaltungen für einen Moment unterbrachen und zu Bröse hinüberstarrten. Endlich hatte Hummel ein Ventil für seine Aggressionen.

Mit einem Begriff wie Lebensabschnittsgefährtin konnte er einfach nichts anfangen. Wahrscheinlich hatte Bröse auch mal seine Frau mit diesem komischen Wort bedacht. Offenbar wollte niemand mehr Bindungen von Dauer eingehen. Für Hummel war so etwas undenkbar. Zwar hatte er vor allem während seiner Studienzeit in Freiburg mit linkem Wortschatz geglänzt, im Grunde seines Herzens war er aber ein konservativer Schwarzwälder.

Wenigstens wurde die steife Unterhaltung durch ein Geräusch unterbrochen, das für Hubertus – mal abgesehen von Elkes Stimme natürlich – der schönste Ton der Welt war. Sein Pulsschlag erhöhte sich, sein gerade noch grimmiges Gesicht bekam einen sanften, fast entrückten Ausdruck.

Es war ein Geräusch, das eigentlich unbeschreiblich war. War es ein Klingen, ein Läuten oder Bimmeln? Hubertus hatte oft darüber nachgedacht. Es stammte von den kugelförmigen Bronzeglocken, den »Rollen«, die – an Lederriemen befestigt – über den Schultern der Narros hingen. Eine Gruppe Hästräger zog, angeführt von der Stadt- und Bürgerwehrmusik sowie den Ratsherren, in den Saal ein und brachte die Rollen durch den Narrosprung in Bewegung.

Unter dem Tisch machte Hubertus den Sprung mit. Er war wie in Trance.

Das Programm des Zunftballs war durchaus amüsant. Die Sketche, Tänze, Lieder und durchaus auch gehässigen Anspielungen in Richtung Rathausspitze sorgten in den nächsten zweieinhalb Stunden für Stimmung im Saal und vor allem dafür, dass sich eine weitere Unterhaltung mit Bröse erübrigte.

Abgesehen davon hatte der ohnehin mehr Augen für das Dekolleté seiner Begleitung als für die Akteure der Narrozunft. Nein, der Herr Rechtsanwalt gab keine souveräne Figur ab. Midlife-Crisis, diagnostizierte Hummel. Das würde ihm selbst nicht passieren. Ich, dachte Hummel und schaute sich versonnen ins eigene Dekolleté, habe schon etwas mehr moralische Standfestigkeit als dieser Windbeutel.

Als der Tanz im Foyer eröffnet wurde und Bröse gerade einen erneuten Plauderversuch über den schneereichen Winter unternahm, sagte Hummel zu Elke: »Schatz, das ist doch unser Lied. Komm, lass uns tanzen!«

Elke war darüber so verdutzt, dass sie kein Wort herausbrachte. Erstens war der »Zillertaler Hochzeitsmarsch« ganz sicher nicht ihr Lied. Vor allem aber hatte Hubertus sie noch nie freiwillig zum Tanzen aufgefordert. In ihrem Bekanntenkreis war er gar als Tanzmuffel berüchtigt. Dennoch wagte sie nicht zu widersprechen und ließ sich auf die Tanzfläche ziehen.

Didi, der nach dem Programm sofort zu Martina geeilt war und sich vor Schulterklopfern kaum retten konnte, hatte sich seine schwangere Freundin geschnappt.

Hubertus setzte wieder einen besorgten Blick auf. In diesem Zustand tanzen? Dem Enkel würde es bei diesem Gewackel sicher ganz schön übel werden. Er versuchte die Tanzdrehungen immer so zu steuern, dass er Martina und Didi im Auge behalten konnte.

Während der langhaarige Sänger der Band den Stimmungsklassiker »Da hat das rote Pferd sich einfach umgekehrt« anstimmte, steuerte Hubertus mit Elke die Bar an. Seine Ohren standen kurz vor der Kapitulation.

Doch dann verstummte die Musik plötzlich. Vor der Bühne hatten die Tänzer einen Pulk gebildet. Ein Schwächeanfall, dachte sich Hubertus. Während er zwei Sekt-Orange für Elke und sich bestellte, suchten seine Blicke Martina.

Verdammt, er hatte sie für einen Moment aus den Augen verloren. Hubertus wurde es mulmig. Der Enkel? Didis ungelenke Tanzbewegungen?

»Martina!«, schrie Hubertus so laut, dass selbst ein ziemlich angetrunkener älterer Herr neben ihm wieder die Hand aus der Bluse seiner jüngeren, aber genauso betrunkenen Begleiterin nahm.

Hubertus stürmte zur Bühne und stieß sie alle weg: die Robin Hoods, Captain Kirks und die Frankensteins oder was immer diese Gestalten auch darstellten. Als er fast zur Mitte des Menschenauflaufs vorgedrungen war, sah er schon den breiten Rücken von Didi, der sich über eine bleiche Martina gebeugt hatte.

»Sanitäter!«, brüllte Hubertus. Schon knieten sich zwei junge Männer in orangefarbenen Jacken neben ihn hin.

Immer wieder stieß Martina Ächzer aus. Hubertus schauderte es. Martina würde doch nicht jetzt etwa ihr Kind bekommen? Vier Wochen zu früh und vor all diesen Leuten?

Bitte nicht!

Hubertus verfolgte die Bewegungen der Sanitäter. Der eine fächerte seiner Tochter gerade mit der Speisen- und Getränkekarte Luft zu. Gut so!

Doch was machte der andere? Der streichelte ihr den Bauch!

»He, Sie!«, brüllte Hubertus den Sanitäter an. »Was machen Sie denn mit meiner Tochter? Sie haben Ihre Sanitätsausbildung wohl beim Sommerfest der Narrozunft gewonnen?«

Der Sanitäter sah ihn nur mit glasigen Augen an. Auch das noch! Betrunken im Dienst!

»Ich werde dafür sorgen, dass Sie diese Jacke nicht mehr lange tragen«, raunzte ihn Hubertus an. Er wusste nicht erst seit seiner Zivildienstzeit bei den Maltesern, dass dies disziplinarische Maßnahmen nach sich ziehen musste.

Der Mann zeigte sich jedoch keineswegs beeindruckt. »He, he«, lallte er und streichelte nun Hubertus über den Bauch. »Am Aschermittwoch ist eh alles vorbei!«

Nun mischte sich Didi ein: »Diese beiden Idioten sind nicht echt«, erklärte er. »Das ist doch nur eine Verkleidung.« Er beugte sich wieder über Martina, die immer noch am Boden lag und die Augen geschlossen hatte.

3. SÄBELTANZ

Berta Gremmelsbacher schnaufte schwer. Siebenundsiebzig Kilo, verteilt auf einen Meter zweiundsechzig Körpergröße, dazu noch der von Schneematsch bedeckte Gehweg – das war zu viel für sie und ihre Einkaufstasche. Nur langsam kam sie voran, denn die Laternen funzelten matt. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie sich bald in der Brigach wiederfinden, die neben der Straße still vor sich hin gluckerte. Und ein Bad in dem eisigen Bach würde sie in ihrem Alter und bei dieser Jahreszeit wohl kaum überleben.

Dabei waren es nur noch wenige Meter bis zum Haus von Heinrich Berger in der Mönchweiler Straße, dessen Haushälterin sie war. Gevatter Tod würde warten müssen.

War ja auch gut so, denn schließlich stand die Fasnet vor der Tür. Berta Gremmelsbacher war eine alte, traditionsbewusste Villingerin. Und sah man mal von der Weihnachtszeit ab, wenn die beiden Töchter aus München und Heidelberg und die insgesamt fünf Enkel zu Besuch kamen, war das ganze Jahr über nicht viel los bei ihr.

Ihr einziger Sohn Robert wohnte zwar gerade mal sechzig Kilometer entfernt in der Nähe von Freiburg, ließ sich aber nur selten bei ihr blicken. Wahrscheinlich hatte sie ihm in letzter Zeit zu viele Vorwürfe gemacht, weil er arbeitslos war.

Schon bevor sie in die Einfahrt des Anwesens trat, sah sie, dass der Hausherr offenbar weniger sparen musste als manch anderer. Das zweistöckige Haus war hell erleuchtet – sogar im Keller brannte Licht. Die alte Jugendstilvilla protzte nicht mit Reichtum, aber man merkte schon, dass der alte Berger seinem Junior nicht nur ein solides Baugeschäft mit zwanzig Angestellten, sondern auch die eine oder andere Mark auf dem Konto vererbt hatte. Berta Gremmelsbacher rechnete noch immer in Mark.

Und der Heinrich Berger war für sie immer noch der »Junior«, weil sie ihn schon viele Jahrzehnte kannte. Nächstes Jahr würde er seinen 65. Geburtstag groß feiern, bei ihr hingegen stand der 70. an, den sie in kleinerem Kreise begehen würde.

Berta Gremmelsbacher streifte sorgfältig die Schuhe an der Fußmatte ab, öffnete mit ihrem Schlüssel die Haustür und rief: »Herr Berger, i bin’s – wie immer um die Ziet.« Pünktlich wie jeden Abend schaute sie um Viertel nach sieben nach dem Rechten.

So hell erleuchtet das Haus war, so still war es drinnen. »Herr Berger! I bring nu’s Esse fürs Woche’end.«

Immer noch Stille.

Berger bewohnte das Haus allein – meistens jedenfalls. Seit er sich von seiner Gattin getrennt hatte, war nur bisweilen eine Mitbewohnerin eingezogen. Genaueres wusste Berta Gremmelsbacher aber nicht – und zu fragen verbot ihr die Loyalität gegenüber ihrem Hausherrn. Sie fragte allenfalls, ob sie für mehrere Personen einkaufen oder das Bett für eine oder für zwei Personen herrichten sollte.

Um ihre Rolle musste sie nicht fürchten: Die deutlich jüngeren Partnerinnen ihres Arbeitgebers machten nicht den Eindruck, als wollten sie ihr den Rang der Küchenchefin streitig machen. Auch seine aktuelle Freundin nicht – eine Blondine, mit der er es aber ernst zu meinen schien und mit der es schon deutlich länger ging als mit ihren Vorgängerinnen. Berta Gremmelsbacher hatte vor Kurzem beim Aufräumen sogar einen Prospekt gefunden, in dem teure Hochzeitsreisen angeboten wurden.

Das bereitete ihr allerdings schon Sorgen. Wieder eine Frau fest im Haus … Bergers Scheidung lag erst ein Jahr zurück. Auch wenn sie schon fast zehn Jahre getrennt gewesen waren, hatte die Blondine wohl darauf gedrängt, weil sie nicht mit einem formell noch verheirateten Mann zusammenleben wollte.

Berta Gremmelsbacher ging in die Küche, legte Gemüse und Käse in den großen Kühlschrank und holte vorsichtig zwei Tupperschüsseln aus dem Einkaufskorb, in denen sich die Samstagsmahlzeit für Berger befand: gekochter Schinken in der einen, Kartoffelbrei und Schwarzwurzeln als Beilagen in der anderen Schüssel.

»Herr Berger?«, rief sie nochmals.

Sie überlegte, ob sie wieder gehen sollte, doch dann hörte sie ein Geräusch aus dem Keller. »Herr Berger?«

Langsam ging sie die Treppe hinunter. Musik dröhnte durch den weitläufigen Treppenaufgang: »Ta-taaa-ta-ta-ta-ta-ta-tataaaa-ta-ta-taaaa …« Ein Marsch. Natürlich. Der Villinger Narromarsch. Das passte zu den Bildern an den Wänden, die Impressionen aus etwa hundert Jahren Villinger Fasnetgeschichte zeigten. Die darauf abgebildeten Narrofiguren unterschieden sich im Lauf der Jahre kaum, während an den Häuserfassaden im Hintergrund der Wandel der Zeit allerdings nicht zu übersehen war. Während auf den alten Bildern mal das Hotel Blume Post, mal der Schreibwarenladen Singer, Eisen Werner oder Görlacher zu erkennen waren, bildeten auf den neuesten Farbbildern fast nur noch Schnäppchenläden, Modegeschäfte und Telekommunikationsshops den Hintergrund.

Auf einem Foto sah man eine Vierergruppe, die vor Bergers Baugeschäft posierte. Zwei Narros mit ihren Morbili, einer der weiblichen Fasnetfiguren.

»Herr Berger, i bin’s, d’ Berta«, rief die Haushälterin, so laut sie konnte.

Plötzlich verstummte die Musik.

»Herr Berger?«

Keine Antwort, keine Spur vom Hausherrn.

Als sie am Hobbyraum vorbeikam, schnellte Berta Gremmelsbacher ein Säbel entgegen.

»Um Gott’s wille«, entfuhr es ihr.

An der Tapete zeichneten sich die Umrisse einer großen, massigen Gestalt ab. Berta Gremmelsbacher spürte, wie ihr abwechselnd heiß und kalt wurde.

»Huhuhu«, klang es dumpf.

Berta Gremmelsbacher atmete dreimal tief durch. Fast glaubte sie, ihr letztes Stündlein hätte nun tatsächlich geschlagen. Doch vor ihr stand der Herr des Hauses – vielmehr: ein Narro. Berger war seit vielen Jahrzehnten in der Narrozunft aktiv. Und es war Tradition, dass man kurz vor den tollen Tagen das Häs überprüfte, mitsamt der Rollen und der Scheme. Die vermeintliche Waffe, mit der Berger vor ihrer Nase herumgefuchtelt hatte, war zum Glück nur ein handgeschnitzter Narrosäbel aus Holz.

»Jo, Mäschgerle, isch dei Tochter immer no z’Heidelberg?«, fragte der Narro und machte dann im Kellerflur den Narrosprung zur Musik.

Berta Gremmelsbacher hatte sich wieder beruhigt. »Jo, aber am Schmotzige Dunnschtig kunnt se viellicht mit de Enkelin, Herr Berger … äh … Narro.«

Ein eisernes Gesetz der Villinger Fasnet besagte, dass man den Narro, während er seine Scheme aufhatte, nie mit dem bürgerlichen Namen ansprach. Sofern man ihn überhaupt einmal erkannte.

Der Narro schritt wieder majestätisch durch den Kellerflur, sprang und breitete das Foulard aus, ein seidenes Tuch. Dann setzte er ab.

»Woasch, Mäschgerle, in ä paar Johr wer’e mir die Rolle z’schwer si«, fuhr er fort. »Manchmol beneidet mer fascht di andere Zünft – de Elzacher Schuttig zum Biespiel. Aber immer nu kurz – und dann woaß i wieder, dass es die schenscht Sach vu der Welt isch, en echte Villinger Narro zu si.«

Wieder sprang der Narro durch den Flur und machte dazu juchzende Geräusche, die durch die Scheme dumpf klangen.

»Aber, Herr Berger, äh, Maschgere«, widersprach Berta Gremmelsbacher. »Du springsch doch wie en junge Hupfer.«

»Des isch lieb, Mäschgerle«, antwortete der Narro. »Du siehsch au zehn Johr jünger us. Aber du häsch recht. Bi de Wiiber kumm i immer no guet a – die könnet mir nit widerstau. I han no jedes Johr ä andere.«

Berta Gremmelsbacher lächelte unsicher. Das klang nicht nach baldiger Hochzeit …

Zum Glück neigte sich die Unterhaltung dem Ende zu: »Also, dankschön – und e schen’s Woche’end. I gang nochher no uf de Zunftball un mach bim Einmarsch mit«, sagte der Narro.

»Dann wünsch i viel Spaß, Maschgere«, antwortete Berta Gremmelsbacher. »De Schinke isch übrigens im Kühlschrank.«

Sie ging langsam die Treppe hoch. Puh. Berger hatte sie ganz schön erschreckt. Auch als sie bereits vor der Haustür stand, dröhnten ihr noch immer der zünftige Narromarsch und der helle Klang der Rollen in den Ohren.

Sie schaute auf die Uhr. Zwanzig vor acht. Der Chef würde vor lauter Anprobe zu spät zum Zunftball kommen.

Aber sie dafür pünktlich zum Freitagskrimi im Fernsehen.

4. AM NARRENBRUNNEN

Kriminalhauptkommissar Stefan Müller wälzte sich in seinem Bett in der Rottweiler Königstraße hin und her. In letzter Zeit schlief er immer schlechter, sein Sodbrennen machte ihm zu schaffen. Heute Nacht spitzte sich die Problemlage zu: Beim Skat mit Freunden im Gasthof Kreuz in Villingendorf hatte er wohl einen Trollinger zu viel getrunken …

Wie spät es wohl sein mochte? Sechs Uhr? Sieben? Nein, so wurde das nichts. Weiterschlafen, weiterschlafen, redete er sich ein. Wenn du erst mal das Licht angemacht hast oder auf die Toilette gehst, findest du nie mehr in den Schlaf.

Womöglich würde er dann auch noch seine Frau wecken, die es wegen seines Schnarchens seit einigen Monaten vorzog, im Gästezimmer zu nächtigen. Gut so, dachte sich Hauptkommissar Müller in diesem Moment. Wahrscheinlich habe ich nach dieser Nacht mit dem Alkohol im Blut den halben Schwarzwald abgesägt …

Wieder wälzte er sich hin und her. Schließlich gab er auf. Leise fluchend drückte er den Knopf der antiken, vergoldeten Nachttischlampe und griff nach seiner Taschenuhr. Die hatte ihm sein Großvater mütterlicherseits hinterlassen – ein gebürtiger Triberger, der als Uhrmacher lokale Berühmtheit erlangt hatte.

Doch so schön die Uhr auch war, so mäßig war Müllers Laune, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte: Fünf Minuten vor fünf – viel zu früh, um aufzustehen.

Er setzte sich auf, schlüpfte in seine braunen Filzpantoffeln und schlurfte in Richtung Toilette, während er schlaftrunken ausrechnete: Um kurz vor eins ins Bett, das machten … gerade einmal vier Stunden Schlaf. Hoffentlich würde ihn seine Frau nicht wieder um halb acht wecken, damit er mit ihr auf den Markt ging. An Samstagen gehörte dies im Hause Müller eigentlich zum festen Ritual, seit sie nach Rottweil gezogen waren.

Müllers Triberger Haus hatte sich vor ein paar Jahren als baufällig erwiesen. Außerdem hatte er, nachdem er zur Kripo Villingen-Schwenningen versetzt worden war, darauf gepocht, in einem anderen Landkreis zu wohnen.

»Sonst fühle ich mich auch nach Feierabend so, als wäre ich im Dienst«, hatte er zur Begründung gesagt. Eigentlich hatte er diesen Schritt auch nicht bereut. Nur dass die Rottweiler genauso fasnachtsverrückt waren wie die Villinger und zunehmend auch Schwenninger – das störte ihn. Fasnacht bedeutete für ihn primär Überstunden und Ärger mit Betrunkenen, Sachbeschädigung und Körperverletzung.

Als er wieder in sein Bett kroch, beschloss er, nun ganz schnell und tief zu schlafen. Die Heizung bollerte vor sich hin. Ein guter Rhythmus zum Eindösen. Na also, es klappte doch. Schon träumte er. Was, wusste er nicht so genau – nur dass das Klingeln irgendwie nicht hineinpasste. Überhaupt nicht.

»Stefan«, ertönte eine weibliche Stimme.

Dann leuchtete es grell. »Stefan! Kommissar Winterhalter ist am Telefon.«

Die Stimme gehörte unzweifelhaft Müllers Frau. Er blinzelte, schaute dann abermals auf die Uhr. Viertel nach fünf. Verdammt. Er schlich zum Telefon. »Müller«, sagte er noch eine Spur barscher, als es eigentlich bei ihm üblich war.

»Ein Toter«, kam es aus der Muschel. Dem Ernst der Lage angemessen hatte Winterhalter sogar ins Hochdeutsche gewechselt.

»O nein – nicht jetzt«, sagte Müller, ehe ihm klar wurde, dass seine Sorgen im Vergleich zu denen der Familie des Opfers vermutlich kleiner waren. Also fügte er weniger aufgebracht hinzu: »Wo?«

»In Schwenninge, beim Narrenbrunne«, meldete Hauptkommissar Winterhalter.

Er wirkte frisch. Kein Wunder, ging es Müller durch den Kopf, als Nebenerwerbslandwirt kam sein Mitarbeiter nicht nur mit deutlich weniger Schlaf aus, sondern war auch körperlich topfit. Zumindest im Vergleich zu Müller. Sein Sodbrennen meldete sich wieder, als er abermals fragte: »Wo?«

»Beim Narrenbrunnen. Am Hexenzipfel … äh, also eigentlich am Hockenplatz. Schwenninger Innenstadt. Wahrscheinlich Mord. Und stelle Se sich vor: De Dote isch en Narro – also en Villinger Narro.«

»Ich komme«, seufzte Müller beinahe tonlos und legte auf.

Ende der Leseprobe