Höhenschwindel - Alexander Rieckhoff - E-Book

Höhenschwindel E-Book

Alexander Rieckhoff

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Beschreibung

Leider bringt die Schwarzwaldwanderung von Hubertus Hummel und seinem Freund Riesle kaum Erholung: Hubertus wird fast von einem Mountainbikefahrer umgefahren, und kurz darauf müssen sie ihre Tour beenden, denn wenige Kilometer entfernt ist ein Mann an einem sagenumwobenen Felsen tödlich verunglückt. Das Opfer ist der Anwalt Dr. Guntram Bröse, ehemaliger Lebensgefährte von Hubertus' Frau Elke. Schon bald findet die Polizei heraus, dass er vom Felsen gestoßen wurde. Und dann gibt es einen weiteren Toten. Hat sich letztlich doch die düstere Weissagung erfüllt, die sich um den Felsen rankt?

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

2. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-96695-5

© Piper Verlag GmbH, München 2011

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Andrea Schoenrock/plainpicture, Tobias Pfau/iStockphoto

Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

1. TEUFELSFELSEN

Er fühlte sich wie einer der »Huber-Buam«.

Na ja, vielleicht eher wie ein älterer Bruder der beiden Kletterstars.

»Ich werde dich bezwingen!«, flüsterte Dr. Guntram Bröse.

Er fühlte sich von diesem Felsen herausgefordert. So wie sonst im Gerichtssaal vom gegnerischen Anwalt und im Gemeinderat vom Oberbürgermeister.

Bröse brauchte die Bestätigung des Sieges. Des Triumphes, dass der Berg einen wie ihn nicht aufhalten konnte. Auch wenn es weder Eiger-Nordwand noch Nanga Parbat, sondern nur der vierzig Meter hohe Teufelsfelsen war, der sich gerade vor ihm aufbaute.

Der Anwalt war klettertechnisch ziemlich aus der Übung. Zu viel Beruf, zu wenig Freizeit – aber er war eben in sehr vielen Bereichen ein Getriebener.

Und als solcher musste er an diesem auf fast tausend Metern Meereshöhe gelegenen Koloss seine Grenzen austesten. Zwar lag der raue Granitstein versteckt in einem dicht bewaldeten Steilhang und streckte nur mühevoll seine Felsspitzen über die Wipfel der Schwarzwaldfichten hinaus. Doch wer ihn ausfindig machte, empfand ihn als überaus imposante Erscheinung – steil, gewaltig, ursprünglich, ja sogar etwas geheimnisvoll.

Bröse nahm die letzten Meter des schmalen Pfades, der am Steilhang entlang zum Felsen führte. Aus der Tiefe hörte er das Rauschen des Leutschenbachs. Ein Fehltritt, und schon drohte der Absturz. Doch Bröse witterte Gefahren, das war sein großer Vorteil. Am Berg und im Gerichtssaal.

Kurz vor dem Felsen hatte er eine merkwürdige Begegnung. Eine alte Frau mit einem Strohkorb voll abgezupfter Pflanzen kam ihm entgegen und hielt ihm ungefragt einen Vortrag über allerlei Waldkräuter von Giersch bis Sauerklee, deren Heilkraft sie lobte. Als Bröse ihr erläuterte, dass er keine Zeit zum Kräutersammeln habe und stattdessen den Teufelsfelsen erklettern werde, verfinsterte sich die Miene der Alten.

»De Teufelsfels bringt de Tod«, krächzte sie ihm entgegen und hob ihren leicht gekrümmten Zeigefinger. Rheuma, vermutete Bröse.

»Nehmt euch in Acht«, flüsterte sie und drehte sich zum Felsen um, als könne der sie belauschen. »De Teufelsfels bringt de Tod. Euch fehlt’s an Respekt! An Demut! Denkt an d’Prophezeiung! Wenn der Teufelsfels noch länger entweiht wird, gibt’s en Tote! Oder mehrere! Grad jetzt zur Mondwende!«

Wässrig hellblaue Augen starrten ihn an. Zerfurchte Gesichtszüge. Zerzaustes, weißes Haar. Und dazu ein Ur-Schwarzwälder Dialekt, dem Bröse nur mit Mühe folgen konnte.

»Wer sind Sie?«, fragte er nach einer Schrecksekunde mit sonorer Anwaltsstimme.

»Denkt an d’Prophezeiung! Sie bringt de Tod«, krächzte die Alte wieder.

Grußlos schob sie sich mit einer für ihr Alter erstaunlichen Geschwindigkeit an ihm vorbei und nahm den Pfad in Richtung des Örtchens Leutschenbach. Dann streckte sie noch einmal den gekrümmten Zeigefinger in die Höhe: »Denkt an d’Prophezeiung! Es isch wieder Mondwende. Ignoriert nit des geheime Wisse von de Kelte!«

»Was besagt diese Prophezeiung denn genau?«, rief Bröse der Frau hinterher. Doch schon nach wenigen Augenblicken hatte der moosige Waldboden die Alte verschluckt.

Ein seltsamer Auftritt. Die Frau schien aus einer anderen Zeit zu stammen. Und dann dieses Gerede von der Prophezeiung und der Mondwende … Zwar hatten Wissenschaftler tatsächlich einige Monate zuvor im Rahmen der Untersuchung eines Grabhügels bei Villingen entdeckt, dass es sich um ein frühkeltisches Kalenderwerk nach dem Mondzyklus handelte. Nun aber geheimnisvolle keltische Prophezeiungen zu konstruieren und diese mit alten Mythen zu verbinden, war lächerlich.

Denn natürlich rankten sich auch um diesen Teufelsfelsen Sagen, wie eben fast überall im Schwarzwald. Bröse nahm so etwas nicht ernst: Phantastereien, die man sich auf einsamen Höfen an langen Winterabenden ausgedacht hatte und noch Jahrhunderte später verschreckten Kindern erzählte.

Bröse lebte nicht in der Vergangenheit. Er war ein Mann der Gegenwart oder sogar der Zukunft. Auch wenn er die fünfzig schon um einige Jahre überschritten hatte.

Verrückte Hinterwäldlerin … Auf Dauer konnte einem das Leben in diesen steilen, engen und lichtarmen Schwarzwaldtälern einfach nicht bekommen. Kein Wunder, dass findige Bewohner jüngst auf die Idee gekommen waren, Reflexionsspiegel in ihren Tälern zu installieren, um in den sich endlos dahinziehenden Wintermonaten das Licht der Sonne zu nutzen, damit der eigene Hof nicht immer im Schatten lag. Das war wohl der einzige Weg, um der Winterdepression zu entkommen.

Dieses Kräuterweiblein gehörte definitiv zu den weniger Findigen. Ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit.

Bröse hakte die Begegnung ab und wandte sich dem rauen Granit zu, der sich nun direkt vor ihm erhob. Er rieb sich die Finger. Heute würde er endlich wieder Hand an den Fels legen, wie die Kletterer sagten. Zu viele Verpflichtungen hatte er in der letzten Zeit gehabt. Prozesstermine, Rechtsberatungen, Gemeinderatssitzungen, Empfänge, die Ehrenämter. Der berufliche Erfolg hatte seinen Preis. Auch im Privatleben. Es reichte nur noch für Kurzzeitbeziehungen.

Immerhin: Auf dem Beziehungsmarkt stand er nach wie vor hoch im Kurs. Kein Wunder, er war gut in Schuss. Schlank. Drahtig. Erfolgreich. Und wer erfolgreich war, zu dem kamen die Frauen.

Keine seiner Partnerinnen hätte er sich allerdings je an einer Felswand vorstellen können.

Da traf es sich umso besser, dass er wieder Single war. Er konnte seine karge Freizeit nach eigenen Wünschen gestalten. Und der Teufelsfelsen war für die Wiederaufnahme seiner Bergsteigerkarriere genau richtig – Nanga Parbat und Eiger-Nordwand mussten eben noch etwas warten.

Bröse blinzelte empor, hielt nach den ersten Griffen und Tritten Ausschau. Schroff sahen sie aus, die Spitzen des Felsens. Sie hatten etwas von einer Miniaturausgabe der Südtiroler Drei Zinnen, die er vor einigen Jahren mit einem Freund erklettert hatte.

Es war alles eine Frage des Willens. Der Disziplin. Des Selbstbewusstseins. Alles war machbar. Zumindest für ihn, Dr. Guntram Bröse.

Für den Wiedereinstieg galt es jedoch, nicht übermütig zu werden. Er wählte eine leichte Route, eine IV+. Ohne Seilpartner und Sicherung war das angemessen.

Nachdem er die ersten Höhenmeter überwunden hatte, war er schnell im Fluss. Er genoss es, sich ohne Seil zu bewegen, sah aber dennoch immer wieder konzentriert nach dem nächsten Griff.

Die Sonne vollführte zusammen mit den Ästen der Schwarzwaldbäume ein atemberaubendes Licht- und Schattenspiel. Der Nachmittag kroch ganz allmählich auf den frühen Abend zu. Dunst hatte sich über den moosigen Waldboden gelegt. Bröse lauschte aufmerksam auf jedes Geräusch: das Zwitschern der Vögel, das Knarzen einiger Äste im Wind und das fortwährende Rauschen des Baches. Und das Zischen der Schwarzwaldbahn, die sich gerade die Berge hinaufmühte.

Als er etwa zwei Drittel der Route überwunden hatte, geriet der Anwalt erstmals wirklich außer Atem. Die Kletterei war schön, aber gewöhnungsbedürftig. Keine Frage: Dieser Felsen war ein zäher Bursche – so wie er selbst.

Bloß nicht abrutschen, dachte er sich. Nicht an dieser steilen Stelle der Route. Routiniert suchte er nach dem nächsten Griff. Doch diesmal fand er ihn nicht.

Bröses Hände wurden feucht.

Er warf einen kurzen Blick nach unten. Gut dreißig Meter ging es bis zum Wandfuß in die Tiefe. Bei einem Absturz allerdings noch viel weiter, da sich darunter ein bewaldeter Steilhang befand.

Ihm wurde etwas schummrig.

Ereilte ihn jetzt gar ein Höhenschwindel?

Oder war er die Sache nur zu schnell angegangen? Hatte er den Felsen unter- beziehungsweise sich selbst überschätzt? War er vielleicht doch schon zu alt?

Bröse wehrte sich gegen diesen Gedanken. Und gegen den nächsten erst recht: Sollte er lieber aufgeben und absteigen?

Nein, auf gar keinen Fall!

Bröses Augen verengten sich. Sie suchten weiter die Oberfläche des Teufelsfelsens ab. Endlich fand er den verborgenen Griff, der ihm den Weg nach oben wies. Er rieb sich die Hände an seinem neongelben Trikot trocken, dann zog er sich hinauf.

Den Rest der Route überwand er ohne größere Probleme.

Nach einigen Minuten stand Dr. Guntram Bröse allein auf dem Gipfel des Teufelsfelsens. Er hatte ihn bezwungen. Natürlich hatte er ihn bezwungen.

Er und alt – ha!

Sein Puls ging etwas ruhiger, als er über die Baumwipfel hinwegblickte. Dichter Schwarzwald, so weit das Auge reichte.

Bröse schnaufte nun gleichmäßiger. Er war mit sich wieder im Reinen. Und sein Gehirn sandte ihm auch keine demütigenden Gedanken mehr. Im Gegenteil, es sagte: Gut gemacht, Guntram.

Er war nur etwas aus der Übung. Ein klein wenig. Aber das würde sich ändern.

Jetzt musste er sich aber abseilen. Er warf einen letzten Blick auf die herrliche Aussicht, nahm dann einen Karabiner und klinkte diesen in einen Bohrhaken. Nun hängte er das Seil an der Mittelmarkierung ein, fädelte es in den Abseilachter und verband diesen mit seiner Anseilschlaufe am Gurt. Er überprüfte noch einmal ganz genau, ob alles saß. Sorgfalt tat not.

Nun ließ er sich vorsichtig ab und das Seil durch den Achter laufen. Zunächst langsam. Dann etwas schneller. Immer wieder stieß er sich mit den Füßen vom Granit ab. Es war ein herrliches Gefühl, endlich wieder in einer Wand zu hängen.

Als er gut fünfundzwanzig Meter über dem Fuß des Felsens mit einem kurzen Ruck das Abseilmanöver abbremste, spürte er zunächst den elastisch federnden Widerstand des Seils.

Dann plötzlich nicht mehr.

Hatte er das Seil nicht richtig an der Felsspitze befestigt?

War da nicht sogar ein kleines, dumpfes Geräusch gewesen?

Tatsächlich: kein Widerstand mehr, kein Seil, das ihn hielt!

War es gerissen?

Reflexartig tastete Bröse nach dem rauen Granit, bekam mit letzter Kraft einen kleinen Griff zu fassen.

Er hing über dem Abgrund, an einer Hand.

Wie lange würde er sich so halten können? Sicher nicht allzu lange, auch wenn er noch so durchtrainiert sein mochte.

Verzweifelt versuchte er, mit der zweiten Hand ebenfalls einen Griff zu ertasten. Nichts!

Nur noch die schweißnassen Fingerkuppen krallten sich fest. Sie drohten weiter abzurutschen.

Gedanken schossen in atemberaubender Geschwindigkeit durch Bröses Kopf. Gedankenfetzen.

»Zu alt«, hämmerte sein Gehirn. »Du bist doch zu alt.«

Dann entschied das Gehirn, es müsse noch wichtigere Gedanken geben.

Etwa die an die Frauen in seinem Leben. Eine war weniger oberflächlich als die anderen gewesen, hatte es besonders mit der Selbstfindung gehabt.

Elke.

Bröse hingegen hatte sich nie mit derartigen Themen befasst. War er vielleicht doch den falschen Götzen nachgelaufen? Immer nur Geld und Prestige …

Wenn ich aus dieser Sache einigermaßen gesund herauskomme, versuchte Bröse eine Abmachung mit sich selbst, dann ändere ich mein Leben. Oder ich spende etwas. Viel sogar …

Dann schenkte ihm sein Gehirn den Gedankenblitz, dass er sich ja schon wieder mit Geld befasste.

Jede weitere Hoffnung auf eine Rettung konnte er sich sparen. Denn Dr. Guntram Bröse verlor den letzten Halt und stürzte in die Tiefe.

Sein Schädel brach an der Wurzel einer mächtigen Fichte, ehe sein Körper noch weiter den bewaldeten Steilhang hinab in Richtung Gremmelsbach geschleudert wurde.

Eine weitere Fichtenwurzel bremste schließlich Bröses Körper. Das letzte Bild, das sein Gehirn vor seinem Tod abgespeichert hatte, war das von herrlichen Schwarzwaldfichten im gleißenden Sonnenlicht. Ihr harziger Duft drängte sich in seine Nase.

2. WANDERVÖGEL

Auch Hubertus Hummel, der sich nur wenige Kilometer entfernt auf einem Wanderweg bei Schonach befand, hatte die Schwarzwaldfichten im Blick und erspürte mit seiner feinen Stupsnase das Harz der Nadelbäume.

»Klaus, jetzt mach doch mal langsam! Wir sind nicht auf der Flucht«, schimpfte Hubertus seinem Freund hinterher. Der hatte sich auf der siebten Etappe des Westwegs einen militärisch anmutenden Laufschritt zu- und etliche Meter zwischen sich und Hubertus gelegt. »Bei diesem Höllentempo kann man den Schwarzwald überhaupt nicht genießen.«

»Wir sind doch schon fast am Ziel. Die Wilhelmshöhe kann nicht mehr weit sein. Außerdem nimmst du schneller ab, wenn du einen Zahn zulegst.«

»Klaus, ich mache den Westweg nicht wegen einer möglichen Gewichtsreduktion«, antwortete der Lehrer pikiert. »Ich will einfach mal abschalten. Und dir täte das auch ganz gut.«

Hubertus dachte an die Kur, die er vor einigen Monaten in Königsfeld gemacht hatte. Sie hatte ihm letztlich nicht viel gebracht, zumal sich dort alles mehr um einen Mordfall gedreht hatte als um seine Gewichtsabnahme.

»Herr Hummel, Sie sind ein hoffnungsloser Fall«, waren Schwester Svetlanas Abschiedsworte gewesen.

Seit Carolin mit ihm Schluss gemacht hatte, traf dies mehr denn je zu. Hummel fühlte sich leer, orientierungslos und vollkommen aus dem seelischen Gleichgewicht, wie seine schon länger von ihm getrennte Ehefrau Elke gesagt hätte.

Nach einigen Monaten des überaus stressigen Schulalltags hatte Dr. Luft ein Machtwort gesprochen und ihn wieder krankgeschrieben. Die vom Arzt erneut verordnete Kur hatte Hummel diesmal aber abgelehnt und stattdessen beschlossen, alleine den Schwarzwald zu durchwandern. Es musste ja nicht gleich der Jakobsweg nach Santiago de Compostela sein.

Nur seine Familie und Klaus wussten von den Plänen für die zweiwöchige Aussteigertour. Hubertus hatte sich für den Westweg entschieden. Ein Kultwanderweg, den es schon seit über hundert Jahren gab und der alle typischen Schwarzwälder Landschaftsformen von Nord nach Süd erschloss. Hier wollte er allein sein, insgesamt zweihundertfünfundachtzig Kilometer von Pforzheim bis nach Basel.

Bis Hausach war alles wunderbar gewesen.

Hummel hatte sich berauscht an der Schönheit und Vielfalt der Landschaft. An den geheimnisvollen Hochmooren zwischen Dobel und Hohloh, an dem tief eingeschnittenen Murgtal und der Schwarzenbachtalsperre, an den dicht bewaldeten und hohen Bergen des Nordschwarzwaldes bei Freudenstadt. Und schließlich an dem fast schon wieder lieblichen Kinzigtal mit seinen Weinbergen. Immerhin über hundertfünfunddreißig Kilometer – fast die Hälfte der Strecke – hatte der Lehrer so zurückgelegt und keinen Meter bereut.

Doch dann war sein Freund Riesle plötzlich mitten in sein Frühstück geplatzt, das er sich in seinem Quartier in Hausach hatte schmecken lassen.

»Ich habe beschlossen, dir wenigstens auf einer Etappe Gesellschaft zu leisten«, hatte er verkündet. »Ich bin sogar extra mit der Schwarzwaldbahn hergefahren.« Und das hieß einiges für den Autofanatiker.

»Wie hast du überhaupt herausgefunden, dass ich hier bin?«

»Martina sei Dank. Du hast doch gestern mit deiner Tochter telefoniert und erzählt, wo du übernachtest. Nicht mal dein Handy hast du mitgenommen. Ziemlich bedenklich, oder? Es sind schon genügend Übergewichtige in freier Natur zusammengeklappt und hätten dringend Hilfe benötigt. Willkommen im 21.Jahrhundert …«

Hummel schnaufte – und zwar nicht vor Anstrengung.

Riesle war wirklich unverbesserlich. Er würde nie verstehen, dass es Teil des Konzepts dieser Wanderung war, eben nicht telefonisch erreichbar zu sein. Alleine diesen Weg zu bestreiten. Zu sich zu kommen.

Der Freund hingegen war Redakteur beim Schwarzwälder Kurier. Wenn er auch nur eine Stunde keine Handyverbindung hatte, befürchtete er einen entscheidenden Karriereknick.

Klaus Riesles Besuch war sicherlich nett gemeint gewesen. Aber spätestens jetzt, nach den fast zwanzig Kilometern der siebten Tagesetappe, bereute Hummel, den Freund nicht nach dem Frühstück gleich wieder zum Bahnhof begleitet und ihn in die Schwarzwaldbahn Richtung Villingen gesetzt zu haben.

Zumal es diese siebte Etappe in sich hatte. Fünfhundertfünfzig Höhenmeter hatten sie von Hausach bis zum Farrenkopf überwinden müssen. Und Riesle war wie eine Berggams immer wieder davongesprungen.

»Du fährst dann heute Abend also wieder zurück?«, vergewisserte sich Hummel und bemühte sich um einen Tonfall, der nicht allzu fordernd klang. »Sicher geht von der Wilhelmshöhe noch ein Bus zum Bahnhof Triberg. Die letzte Schwarzwaldbahn bekommst du dort bestimmt noch. Zumal bei deinem Tempo …«

Die Antwort war gar nicht nach Hummels Geschmack: »Ich denke, ich werde dir noch ein bisschen Gesellschaft leisten. Ich bin gut in Form und muss doch etwas auf dich aufpassen – so ganz ohne Handy …«

Der Lehrer verzog das Gesicht, was Riesle ob seines Vorsprungs nicht sehen konnte. Und die Gesichtszüge entgleisten ihm nach dem nächsten Satz noch weiter. »Ich denke sogar darüber nach, ob ich noch zwei, drei Etappen dranhängen sollte. Ich habe ja noch ein paar freie Tage abzufeiern. Aus mir könnte noch ein richtiger Wandervogel werden.« Dann begann er auch noch zu singen: »Das Wandern ist des Riesles Lust, das Waaandern …«

Na, prima.

Hubertus hatte auf den Etappen der letzten Woche schon das eine oder andere körperliche Tief durchgestanden. Doch das hier war die erste Psychokrise. Hier auf dem Westweg war sein Freund noch weniger zu ertragen als sonst.

Bei diesem Gedanken bekam er fast ein schlechtes Gewissen. Er mochte Klaus ja, hatte schon manches Abenteuer mit ihm bestanden. Seit einem gemeinsamen Tramperurlaub durch Südeuropa vor vielen Jahrzehnten wusste Hummel jedoch, dass er seine Anwesenheit immer nur stundenweise aushielt.

Hubertus schnaufte erneut. Er würde es ganz sicher nicht übers Herz bringen, Riesle einfach des gemeinsamen Wanderweges zu verweisen. Doch mit ihm vernünftig zu sprechen, das konnte man vergessen. Also musste er den üblichen Weg wählen, um seine Aggression zu kanalisieren: die Frotzelei.

»Du und ein Wandervogel? Mit deinen hautengen Sportklamotten und deinem bunten Stirnband siehst du eher aus wie ein Aerobic-Turner aus den Achtzigern. Oder wie John Travolta für Arme.«

Die Retourkutsche ließ nicht auf sich warten.

Alles wie immer. Gut eingespielt.

»Man muss als Wanderer ja nicht unbedingt Klischee-Cord-Kniebundhosen anziehen wie du.« Riesle blieb stehen und musterte seinen Freund. »Und dazu dieses schreckliche rot karierte Hemd und diese altbackene Steppjacke. An der Wilhelmshöhe kaufe ich dir noch einen Seppelhut dazu – dann ist das Outfit perfekt.«

»Wir sind hier nicht auf dem Laufsteg, Klaus. Ich durchwandere den Schwarzwald. Und da brauche ich keinen modischen Schnickschnack, sondern praktische, wetterfeste Kleidung«, konterte Hummel und registrierte beruhigt, dass sie erneut eine rote Raute passierten, die den Westweg kennzeichnete. Zum ersten Mal seit Beginn seiner Wanderung sehnte er flehentlich das Ende einer Etappe herbei.

Riesle schien das zu spüren. Kein Wunder, wenn man sich schon ungefähr vierzig Jahre lang kannte. Jedenfalls wurde er zusehends missmutiger.

Hubertus beschloss, seinen Freund zu ignorieren und sich der Atmosphäre des Waldes hinzugeben. Im Gasthaus würde er sich dann überlegen, wie er Riesle am besten loswürde.

Vielleicht sollte er ihn einfach mit Schwarzwälder Kirschwasser unter den Tisch trinken, dann in aller Herrgottsfrühe aufstehen und sich ohne Frühstück auf und davon machen? Bei Riesles Lauftempo würde der ihn aber vermutlich bald einholen. Und es war auch fraglich, ob er selbst nach entsprechendem Alkoholgenuss sonderlich fit wäre …

Womöglich sollte er stattdessen mit dem Zug vorfahren, statt der achten erst einmal die neunte Etappe absolvieren und später, wenn der Freund abgereist war, wieder zurückkommen, um …

»He! Was soll das?«, schrie Riesle plötzlich, als ein Mountainbikefahrer mit hohem Tempo um die Kurve kam, auf sie zufuhr und nur knapp an ihnen vorbeischoss. Riesles Ärmel hatte er noch leicht gestreift.

»Das ist ja wirklich eine Zumutung! Diese Mountainbiker gehen mir langsam auf den Geist«, schimpfte der Journalist. »Das war heute schon der dritte, der mich fast umgefahren hätte. Hast du das gesehen?«

»Ja, aber die fahren auch nicht rücksichtsloser als du mit deinem alten Kadett«, meinte Hummel schmunzelnd, dessen Laune der Zwischenfall aus unerfindlichen Gründen wieder gesteigert hatte. »Der Schwarzwald ist halt beliebt. Den haben die Wanderer nicht mehr für sich alleine. Toll finde ich das natürlich auch nicht. Aber schau mal hier.«

Hummel zeigte auf ein gelbes Schild mit blauem Bollenhutsymbol und der Aufschrift »Naturpark Südschwarzwald«. Ein behelmter Mountainbiker war abgebildet mit der Warnung »Bike-Crossing«.

»Auf jeden Fall hole ich den nächsten, der mir zu nahe kommt, vom Rad. Das sage ich dir«, versicherte Riesle wütend.

Ein Grund mehr, den Freund loszuwerden, dachte sich Hubertus Hummel. Er brauchte Ruhe. Zeuge von Schlägereien konnte er früh genug wieder werden, sobald er zurück im Schuldienst war.

Es war ein besonders schmaler Abschnitt des Weges, auf dem wenige Minuten später der nächste Mountainbikefahrer von hinten angerauscht kam. Hummel hatte den Radler bereits passieren lassen. Doch Riesle dachte nicht daran, zur Seite zu gehen. Der Biker betätigte die Klingel. Einmal, zweimal.

Riesle wanderte in aller Seelenruhe mitten auf dem Weg weiter.

»Achtung!«, rief der Biker.

Es hatte den Anschein, als wollte Riesle provozieren. Der tat nämlich immer noch so, als würde er nichts hören.

»He, Sie! Platz da!«

Keinen Millimeter wich der Journalist zur Seite. Der Mountainbiker versuchte, zwischen Wegesrand und Riesle ein Schlupfloch zu finden, und erwischte ihn dabei am Ellbogen.

Das genügte. »Sag mal, hast du sie noch alle?«, explodierte Riesle und zog den Radler so abrupt am Ärmel, dass dieser stürzte.

»Au!« Der Moutainbiker landete auf dem harten Schotterweg. »Sind Sie verrückt, was soll das?«

»Ihr meint wohl, der Weg gehört euch allein. Nur weil diese dämlichen, gelben Schilder hier rumstehen. Aber das ist kein Freibrief. Das ist verdammt noch mal ein Wanderweg. Ein Wanderweg, hörst du!«

Riesle konnte durchaus cholerisch werden, wenn er schlechte Laune hatte. Und die hatte er nun ganz eindeutig. Er stürzte sich auf den Mann, packte ihn am Kragen.

»Und jetzt entschuldige dich gefälligst!«

Der Gestürzte wehrte sich verbal, behielt aber die Contenance.

»Erstens sind wir nicht per Du. Und zweitens: Wieso soll ich mich entschuldigen? Sie haben mich doch vom Rad gezogen. Also müssten das wohl eher Sie tun. Schauen Sie mal.« Der Radler zeigte auf seine Schürfwunde am Oberschenkel. »Außerdem muss ich jetzt weiter.«

»Klaus, lass ihn. Das bringt doch nichts«, mischte sich Hubertus ein, der seine anfängliche Schockstarre überwunden hatte.

Der Mountainbiker versuchte sich von Riesle loszureißen, der ihn immer noch am Arm festhielt. Dabei traf er versehentlich den Journalisten im Brustbereich – und ein wenig auch am Kinn.

Beide Männer waren etwa gleich groß, Riesles Aggressionspotenzial aber deutlich ausgeprägter.

»Dir werd ich’s zeigen!«, knurrte er.

Als Hubertus diese Worte hörte, wusste er, dass dies wieder mal eine der Situationen war, in denen Klaus heillos übers Ziel hinausschoss. Und, was ihn zusätzlich beunruhigte: Bei seinem Freund häuften sich solche Situationen in letzter Zeit.

Ihm selbst war so etwas fremd: In Krisen zog er sich eher zurück, vermied Konfrontationen, stürzte sich stattdessen aufs Essen.

Und so hatte er den Westweg mit einem neuen Rekordgewicht angetreten. Die genaue Kilozahl konnte er nicht nennen, denn er verzichtete seit geraumer Zeit großzügig aufs Betreten der Waage. Aber er merkte es an den Gürtelschnallen. Bei seinem jetzigen Gürtel benötigte er seit ein paar Wochen das äußerste Loch, um die Hose zu fixieren. Seit Beginn der Wanderung schien diesbezüglich allerdings eine leichte Entspannung eingetreten zu sein.

In diesem Moment holte Riesle tatsächlich aus und versetzte dem Radfahrer einen Fausthieb! Volltreffer! Die Nase gab einen lauten Knacks von sich. Der Radfahrer schrie und verzog das Gesicht.

»Klaus, Jesses nei, lass des doch«, rief Hubertus aufgeregt. »Bisch du völlig überg’schnappt?«

In Momenten äußerster Panik verfiel er in Schwarzwälder Mundart, die er ansonsten nur noch verwendete, wenn er sein Elternhaus betrat.

Als Antwort hätte er beinahe selbst die Faust ins Gesicht bekommen.

»Sie sind ja völlig irre!«, schrie jetzt der Radfahrer.

»Dich mach ich fertig, du Fahrradrowdy!«, rief Klaus und gab einen bedrohlich wirkenden Grunzlaut von sich. Anscheinend wähnte er sich in einem Action-Film.

Hummel hatte Mühe, den Freund weiter zurückzuhalten.

Der Radfahrer, der mittlerweile aus der Nase blutete, schätzte die Situation genau richtig ein und tat das, was in diesem Augenblick das einzig Richtige war. Er schwang sich auf sein leicht verbeultes Rad und fuhr eilig davon.

Jetzt geriet Hummel in Rage.

»Sag mal, Klaus, bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Wir wollen wandern und vom Stress abschalten. Und du veranstaltest hier so einen Zirkus …«

»Das ist ja wieder mal typisch!«, schrie Klaus. »Ich verteidige dich – und du fällst mir sogar noch in den Rücken!«

»Wie bitte? Mir hat der doch gar nichts getan.«

»Nichts getan? Der hätte uns fast umgefahren.«

»Du übertreibst maßlos. Er hat dich beim Vorbeifahren gestreift. Aber du hast ihm ja auch partout nicht Platz gemacht. Deshalb musst du ihm nicht gleich die Nase brechen.«

Bis zur Wilhelmshöhe übernahmen die Vögel mit ihrem Gezwitscher die Unterhaltung.

3. FALSCHES SCHUHWERK

Kriminalhauptkommissar Claas Thomsen kam in diesem Gelände einfach nicht zurecht. Er stammte aus Kiel, wo man richtige Berge nur vom Hörensagen kannte. Die Leiche lag in einem äußerst unwegsamen Waldgebiet unterhalb des Teufelsfelsens, und es ging vom Hauptweg zwischen hohen Fichten steil bergab. Schon ein paar Mal war Thomsen mit seinen Slippern auf dem moosigen Boden ausgerutscht. Dafür erwartete er mindestens einen spektakulären Mord. Für einen profanen Unfall wäre sein Einsatz unverhältnismäßig.

Kriminalhauptkommissar Winterhalter hingegen schien keinerlei Schwierigkeiten zu haben, sondern nahm den Abstieg dank seiner Wanderstiefel und jahrelanger Bergsteigererfahrung mit sicheren Tritten.

»Des isch alles nur ä Frag des passenden Schuhwerks«, kommentierte Winterhalter, als der norddeutsche Kollege sich schon wieder auf den Allerwertesten setzte.

Thomsen befiel derweil eine Panikeingebung: Er würde nicht nur den Hang hinabrutschen, sondern auch noch direkt auf der Leiche landen, die jetzt nur wenige Meter unter ihnen in verrenkter Haltung mit offenen, starren Augen an einem Baum kauerte.

Bitte nicht!

Kriminalhauptkommissar Thomsen war sehr reinlich. So drückte er es jedenfalls selbst aus. Andere Menschen sprachen von einem Sauberkeitsfimmel oder einer Phobie gegen jede Art von Schmutz.

Dabei war es doch nur natürlich, nicht mit dem schmutzigen Waldboden in Berührung kommen zu wollen, dachte Thomsen. Schließlich gediehen dort Abfallgewächse wie Pilze. Ganz zu schweigen von diversen Hinterlassenschaften von Tieren aller Art.

Er wusste schon, dass er mitunter ein wenig zu sensibel war, was Schmutz betraf. Dagegen musste er ja auch irgendwie angehen. Aber nicht, indem er selbst ein Schmutzfink wurde.

»Soll ich Ihne helfe?«, fragte Winterhalter freundlich. Doch sein Dialektsingsang sorgte dafür, dass Thomsen den Satz despektierlich auffasste.

»Wollen Sie sich über mich lustig machen?«

»Nei, sicher nit. Ich wollt nur …«

»Danke, ich komme schon zurecht.«

Tatsächlich schaffte er die letzten Meter bis zum Leichenfundort unfallfrei. Er blickte auf seine schmutzigen Finger und den Dreck, der sich unter den sonst so reinen Fingernägeln angesammelt hatte. Das würde nach Dienstschluss mehrere Stunden in der Dusche bedeuten.

Thomsen hasste es, wenn er vom Wesentlichen abgelenkt wurde. Er versuchte sich zu konzentrieren und ignorierte dabei die Kollegen von der Polizeistreife, die bereits vor Ort waren.

Die Begrüßung erledigte Kollege Winterhalter: »Dag!«

»Dag«, erwiderte ein dicklicher Beamter in Uniform, der auf dem Weg zur Leiche sicher auch seine liebe Mühe gehabt hatte. Eine sanfte Gesichtsröte und eine Reihe von Schweißtropfen auf Nase und Stirn deuteten darauf hin.

»Winterhalter und Thomsen«, stellte Ersterer sich und den norddeutschen Kollegen vor.

»Angenehm, Kaltenbach. Und des isch der Aberle.« Er deutete auf einen jüngeren und drahtigeren Kollegen. »Mir habet einen Anruf von einem Wanderer kriegt. Der hät den Mann so vorg’funde und glei die 110 g’wählt. Die Leitstelle hät dann Notarzt und Polizei verständigt.«

Thomsen scannte Leiche und Fundort mit seinen kleinen Augen ab.

»Und wo isch de Notarzt jetzt?«, fragte Winterhalter.

»Schon weg«, antwortete der dicke Kaltenbach. »›Nicht natürliche Todesursache‹, sagt er. Der Mann isch wohl vom Teufelsfelse abg’stürzt.«

Mit etwas Mühe streckte der Beamte seinen zu kurz geratenen Arm in Richtung des mächtigen Felsens.

Fast ehrfürchtig betrachtete Winterhalter den schroffen Stein. Thomsen starrte immer noch auf die Leiche.

»Mir müsstet jetzt einen Arzt hinzuziehe, der die Leichenschau durchführt«, sagte Kaltenbach dann.

»Eine Leichenschau?«, fragte Winterhalter. »Was meinet Sie, Herr Thomsen?«

»Was? Wie bitte?«

»Der Kollege fragt, ob der Arzt die Leichenschau hier durchführen soll.«

»Hier? Nein, zu unwegsam.«

»Aber wie krieget mir die Leich von hier weg?«, wollte Winterhalter wissen.

Wie bekomme ich mich selbst wieder weg – das war doch die entscheidende Frage, schoss es Thomsen durch den Kopf. Er sah sich den steilen Waldboden auf allen Vieren hinaufkriechen.

»Die Bergwacht«, fiel Winterhalter dann ein. »Mir rufet die Bergwacht.«

Er erklärte dem Chef der zuständigen Bergwacht die Lage und machte sich dann rasch an die Leichenbesichtigung. Dazu zog er seinen weißen Overall über und die Silikonhandschuhe an, die er in seiner Eigenschaft als Kriminaltechniker immer dabeihatte. Er nahm das Diktiergerät und begann mit der Befundaufnahme.

Auch wenn das Ganze eher wie ein Unfall aussah, galt es, äußerst sorgfältig zu arbeiten. Leiche und Leichenfundort mussten genau dokumentiert werden, bevor möglicherweise wertvolle Spuren vernichtet wurden. Durch Witterung oder durch Menschen.

Er betrachtete den dicken Streifenpolizisten und seinen jüngeren Partner. Die beiden mochten sicher gute, pflichtbewusste Kollegen sein. Doch für ihn in seiner jetzigen Eigenschaft als Kriminaltechniker waren sie vor allem lästig. Potenzielle Spurenvernichter. Schließlich galt es, am Leichenfundort alles möglichst so zu belassen, wie es war. Gelegentlich hantierten die zuerst eintreffenden Polizisten sogar an den Leichen herum, drehten und wendeten sie. Und wenn es dann zu einem Mord- oder Totschlagsprozess kam, wurde dies Verhalten den Spurentechnikern gern mal als Dilettantismus vorgehalten.

Immerhin: Kaltenbach und sein Kollege schienen in dieser Hinsicht sensibler vorgegangen zu sein.

»Lag die Leich so do?«, erkundigte sich Winterhalter.

»Mir habet nix ang’langt«, antwortete Kaltenbach und hob die wulstigen Hände mit Unschuldsmiene in die Höhe.

»Die Leich liegt cirka fünfzehn Meter unterhalb des Felsfußes«, diktierte Winterhalter, um dann stakkatohaft zu den Witterungsbedingungen überzugehen: »Zwanzig Grad, Waldboden leicht feucht, kein Niederschlag.«

Dann wandte er sich an Thomsen: »Ein geheimnisvoller Fels isch des. Man erzählt sich, dass die Kelte hier früher Menschenopfer dargebracht habet.«

»Opfer?«, fragte Thomsen irritiert. »Wie haben sie die denn geopfert? Und wem?«

»Ha, ich war ja nit dabei. Da müsset mir uns mal informiere.«

Plötzlich stutzte Winterhalter: »Also irgendwie kommt mir der Kerle bekannt vor. Ich könnt nur nit sage, woher … Kennet ihr den Mann hier?«, wandte er sich an die Kollegen.

Die schüttelten den Kopf. »Aus Gremmelsbach isch der nit«, sagte Kaltenbach.

»Schwierig. Sieht jo ziemlich mitg’nomme aus«, ergänzte der Kollege.

Winterhalter betrachtete aufmerksam den Leichnam und diktierte: »Der Tote ist cirka eins siebzig groß und etwa fünfundsechzig Kilo schwer. Brillenhämatom um die Augen herum, Blut aus Nase und Ohren.«

Er drehte die Leiche zur Seite und entdeckte am Hinterkopf ein mittelgroßes Loch, aus dem ebenfalls Blut trat.

»Vermutlich ein Schädelbasisbruch«, sagte er in Richtung Thomsen und diesmal nicht ins Diktiergerät. »Da hat es am Fels oder an einem Baum wohl sicher schön laut ›knack‹ g’macht.«

Thomsen verzog das Gesicht. Immerhin war der Spruch nur für ihn und nicht für den Bericht gedacht. An die hemdsärmlige Art Winterhalters würde er sich nie gewöhnen können. Der phobische Kommissar hatte fast den Eindruck, der Kollege mache sich einen Spaß daraus, ihn mit seiner Überempfindlichkeit aufzuziehen.

Neulich hatte Winterhalter ihn zusammen mit ein paar Kripokollegen zu einer »Hausschlachtung« auf seinen Bauernhof bei Linach eingeladen, den er als Nebenerwerbslandwirt betrieb.

»Das isch eine hochinteressante Sach«, hatte Winterhalter ihm freudestrahlend verkündet. »Da könnet Sie viel lerne …«

»Ganz bestimmt. Vielleicht ein andermal«, hatte Thomsen verkrampft lächelnd geantwortet und abgewunken. Die anderen Kollegen hatten später von einem gewaltigen Schlachtfest erzählt und sich davon beeindruckt gezeigt, wie Winterhalter die Tierkadaver mit seinen kräftigen, grobschlächtigen Händen auseinandergenommen hatte, ohne dabei zu vergessen, jedes der Tiere mit Namen zu benennen.

Beim anschließenden Essen hatte Winterhalter es sich nach Herzenslust schmecken lassen. Bei den Kollegen war der Appetit ob der blutrünstigen Prozedur doch etwas gezügelt gewesen.

»Hät der Mann einen Ausweis bei sich g’habt?«, fragte Winterhalter die beiden Streifenpolizisten, die wieder mit den Schultern zuckten.

»Mir habet ihn wirklich nit berührt«, beteuerte Kaltenbach.

Winterhalter wendete den Körper des Toten. Geldbeutel oder Ausweis waren nirgendwo zu sehen, sondern womöglich während des Sturzes irgendwo ins Gelände geschleudert worden. Andererseits: Nahm man seinen Geldbeutel zum Klettern mit?

Schließlich wurde er doch noch fündig, teilweise zumindest. Er fand nämlich in der zerrissenen Hosentasche des Toten den Teil einer Visitenkarte: »…röse«, stand fett darauf. Und darunter »…walt«, schließlich »rat« und – wohl als Teil der Adresse – »…ingen«.

Nach einem erneuten Blick in das Gesicht der Leiche fiel bei Winterhalter der Groschen.

»Au weh – Dr. Bröse!«, murmelte er. »Der Staranwalt und Gemeinderat!«

Währenddessen verfolgte Thomsen den Weg des Seiles, das sich vom Gurt des Leichnams fast schlangenhaft ein paar Meter den Hang hinaufzog. Er streifte ebenfalls Silikonhandschuhe über und nahm dann vorsichtig das Seilende zwischen seine Finger. Er hielt es immer wieder ins allmählich einsetzende abendliche Dämmerlicht, drehte es hin und her. Die abgetrennten Perlonfäden ragten in verschiedene Richtungen.

»Sieht aus wie ein Seilriss«, sagte Thomsen in Richtung Winterhalter, der beim Diktieren gerade eine Pause einlegte.

»Wenn’s jemand abg’schnitte hätte, tät’s wirklich andersch aussehe«, stellte Winterhalter fest. »Aber ein Seilriss isch bei einem Bergsteigerseil unter normale Umständ so gut wie ausg’schlosse. Die sind sehr stabil.«

Dann sprach er wieder in sein Diktiergerät: »Durchtrenntes Seilende sieht aus wie ein kleines, verfusseltes Wollknäuel.«

Thomsen betrachtete kritisch das Seilende, das auch von dunklen Flecken übersät war. Stammten sie vom moosigen Waldboden, über den das Seil beim Absturz geschleudert worden war? Der Schmutz an seiner Kleidung wies jedenfalls eine ähnliche Farbe auf.

»Wenn Sie einen Seilriss wegen eines Materialfehlers für unwahrscheinlich halten, wie erklären Sie sich dann das Geschehen?«, meinte Thomsen.

Winterhalter blickte den schroffen Teufelsfelsen empor. »Des Seil könnt an einer Felskante abgescheuert worde sei. Oder an einem Felsvorsprung. Gucket Sie mol.«

Winterhalter wies mit seiner Hand auf eine bestimmte Stelle am Fels. »Da hängt das andere End vom Seil. Da solltet mir na.«

Thomsen hatte mit dem letzten Satz in zweierlei Hinsicht Probleme. Zum einen mit dem Verständnis, doch bereits nach einigen Sekunden ging ihm auf, dass das »na« dem hochdeutschen »hin« entsprach – und daraus folgte Problem Nummer zwei: Er sollte da hinauf?

»Da … na …? Ich meine … hin?«, wiederholte Thomsen stotternd.

»Den Felsabschnitt müsset mir uns ganz genau anschaue, Herr Thomsen.«

Das konkrete »mir« gefiel dem norddeutschen Kollegen überhaupt nicht. Er zog es vor, das unpersönliche »man« zu benutzen.

»Wie sollte das gehen? Dazu müsste man ja den Fels hinaufklettern. Oder ihn vielleicht mit einem Hubschrauber abfliegen …«

Thomsen beobachtete die soeben eingetroffenen Kollegen von der Bergwacht, die die Bergung vorbereiteten.

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