Morgengrauen - Alexander Rieckhoff - E-Book

Morgengrauen E-Book

Alexander Rieckhoff

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Beschreibung

Frühschwimmen ist gesund – allerdings nicht für die Professorin Verena Böck, die beim Bahnenziehen im Villinger Kneippbad ermordet wird. Die Spuren führen Hubertus Hummel, den ermittelnden Lehrer, in die Schwenninger Hochschulszene. Ausgerechnet bei einem Fest der Polizei-Fachhochschule geschieht ein zweiter Mord. Diesmal stirbt das Opfer durch das Gift des Blauen Eisenhuts. Bei der Suche nach dem Täter quer durch den Schwarzwald muss am Ende sogar Hummels Frau als Lockvogel dienen …

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www.piper.de

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-95925-4

© 2004 Romäus Verlag, Villingen-Schwenningen

Stefan Ummenhofer & Alexander Rieckhoff GbR

Erstausgabe: Romäus Verlag, Villingen-Schwenningen 2004

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagabbildung: Colin Anderson/Getty Images

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

1. FRÜHSCHWIMMER

Die Turmglocken des Villinger Münsters schlugen gerade erst Viertel nach sechs, als Verena Böck ihr Fahrrad durch den Hausflur auf die Obere Straße schob. Sie trat hinaus in die menschenleere Fußgängerzone der alten Zähringerstadt, warf einen flüchtigen Blick auf die prachtvollen Zwillingstürme und schwang sich dann auf das alte schwarze Fahrrad, das ihr einst vom Großvater vermacht worden war. Darauf hatte sie schwer zu treten, von Gangschaltung keine Spur, doch tat das ganz gut und wärmte etwas auf in der morgendlich kühlen Luft. Zwar war tagsüber der Frühsommer auch bis zu den Schwarzwaldhöhen vorgedrungen und konnte für dreißig Grad und mehr sorgen, frühmorgens war man Mitte Juni von mediterranen Temperaturen jedoch noch weit entfernt.

Gerade mal sieben Grad hatte das Thermometer auf der Dachterrasse angezeigt. Beim Blick auf die Quecksilbersäule hatte es Verena gefröstelt. Zumal bei der Aussicht, sich gleich ins kalte Nass des Villinger Kneippbads zu stürzen.

Das war Verenas neueste Entdeckung in Sachen Fitnesstrip. Denn auf dem befand sie sich seit der Trennung von Frank. Während des Studiums hatten sie sich kennengelernt, zwölf Jahre lang waren sie ein Paar gewesen, hatten gemeinsam alle Höhen und Tiefen durchlebt. Kurz vor der lange geplanten Hochzeit und unmittelbar nachdem er Professor geworden war, hatte Frank dann etwas mit einer Sekretärin aus der Fachhochschule angefangen: Irene.

Verena hatte mit achtunddreißig plötzlich alleine dagestanden und mitansehen müssen, wie Irene ihren täglich runder werdenden Bauch voller Stolz zur Schau trug. Frank war daran alles andere als unschuldig. Dabei hatte er doch nie Kinder gewollt …

»Irene, dieses blonde Flittchen«, zischte Verena vor sich hin, als sie ihr Vehikel den Brigachweg entlangsteuerte. Eigentlich hatte sie sich all diese Gedanken schon mehrfach kategorisch verboten. Zwar war Frank längst aus der gemeinsamen Dachwohnung in der Villinger Innenstadt ausgezogen, doch die dienstliche Nähe zu ihrem Ex blieb. Er arbeitete an der Schwenninger Berufsakademie, während Verena nicht weit entfernt in der Fachhochschule ihre Brötchen verdiente. Ebenso wie Frank war sie Wirtschaftswissenschaftlerin.

Mindestens dreimal die Woche sah man sich beim Mittagessen im »Vau«, in Fachkreisen auch »Professorenmensa« genannt. Dort turtelte Frank ungeniert vor ihren Augen mit Irene herum. Sie spielten das hemmungslos verliebte Paar – und diese Zicke Irene schien es zu genießen, dass sie einer Professorin den Mann ausgespannt hatte.

Seit einem halben Jahr ging das schon so. Es quälte sie, doch damit sollte jetzt endlich Schluss sein: Sie musste ihr Privatleben neu ordnen.

Natürlich hätte sie mit einem ihrer Kollegen anbandeln können. Die Auswahl war groß und multikulturell – vom Asiaten bis zum Australier. Doch Berufliches und Privates würde sie nie wieder vermischen.

Verena erhöhte die Trittfrequenz, als sie nun rechts die in Richtung Donau plätschernde Brigach neben sich hatte. Zum Frühschwimmen wollte sie keinesfalls zu spät kommen, denn der Kampf um die Bahnen war sonst hoffnungslos verloren.

Sie durchfuhr die Sebastian-Kneipp-Straße mit ihren üppigen Baumalleen und ihren verträumten kleinen Villen. Dann warf sie einen Blick in Richtung des SABA-Areals. Der Firmenname prangte immer noch in großen blauen Lettern über dem Hauptgebäude. Von hier aus hatte die »Schwarzwälder Apparate-Bau-Anstalt« einst Radios und Fernseher in die ganze Welt exportiert. Über 2500 Menschen hatten an der Schwarzwälder Hochtechnologie gefeilt, Villinger ebenso wie Nachbarn aus Schwenningen, mit denen sie seit 1972 zur gemeinsamen Stadt vereint waren. Doch wegen der aufkommenden Billigkonkurrenz aus Fernost war damit Schluss gewesen. Ihr altes SABA-Radio, Typ »Villingen«, lief hingegen immer noch wie ein Schwarzwälder Uhrwerk.

Verena nahm einen tiefen Atemzug, als sie in den Kurpark am Villinger Stadtrand hineinfuhr. Die morgendliche Schwarzwaldluft mochte noch so kalt sein, aber gesund war sie allemal. »Luftkurort« hatte sich das Städtchen mal nennen dürfen. Doch von Kurgästen war kaum noch eine Spur, schon gar nicht um diese Uhrzeit. Und der Kurpark, den Verena gerade längs der Brigach passierte, war etwas in die Jahre gekommen.

Ein kurzer Blick auf die Armbanduhr: 6.27 Uhr. Gerade noch rechtzeitig kam sie am Eingangstor des Kneippbads an, vor dem bereits fast zwei Dutzend Badegäste ungeduldig murmelnd auf den Einlass warteten. Einige sahen sie abschätzig an. Es war dieselbe Besetzung wie jeden Morgen. Ein ganz Voreiliger rüttelte am Gitter wie einst Gerhard Schröder – der Legende nach – vor einigen Jahrzehnten an dem des Kanzleramts. Herr Keller, ein schüchterner, freundlicher älterer Mann, stand etwas abseits. Er faltete gerade seinen Schwarzwälder Kurier zusammen und klemmte ihn sich unter die Achseln. Und obwohl er jeden Morgen der Erste war, begab er sich auch heute wieder ans Ende der Menschentraube. Herr Keller war eine Ausnahme in der rauen Frühschwimmerwelt.

Wenigstens Willy, der langhaarige Schwimmmeister mit üppigem Dreitagebart und markanter langer Nase, wusste Kellers Freundlichkeit zu schätzen. Jeden Morgen bedankte er sich mit einem Lächeln für die Zeitung, die Keller den Bademeistern schenkte – manchmal brachte er ihnen sogar ein Frühstücksbrötchen mit.

»S’isch scho längscht halbe siebene, und s’ Tor isch immer no zue«, beschwerte sich ein anderer Frühschwimmer mit unverkennbar alemannischem Zungenschlag, ein weißhaariger Herr um die siebzig, der den morgendlichen Frühsport kaum erwarten konnte.

»Immer mit der Ruhe, die Herrschaften«, beschwichtigte Willy und schlappte unbeeindruckt gemütlich in Richtung Kassenhäuschen, um das Gittertor zu öffnen.

Dann endlich fiel der Frühschwimmerschwarm ins Kneippbad ein wie Schnäppchenjäger beim Schlussverkauf. Die meisten aus der Gruppe von Individualisten hasteten direkt zur Umkleidekabine, ohne den Schwimmmeister auch nur eines Blickes zu würdigen. Verena hielt kurz inne und genoss für einen Moment die Atmosphäre. So viel Zeit musste trotz der Hektik sein.

Wie jeden Morgen hatte sich ein sanfter Nebelschleier über das Kneippbad gelegt. Es sah aus wie in einem Stillleben. Das dreiundzwanzig Grad warme Badewasser und die nur wenige Meter entfernt vorbeifließende Brigach hatten die kühle Nacht hindurch Dampf erzeugt. Auch heftige Gewitterschauer hatten dazu beigetragen. Zwar kämpfte die tief stehende Sonne bereits gegen die Nebelschwaden an, doch noch war die Anlage nur schemenhaft zu erkennen. Für Verena waren diese Momente fast meditativer Natur.

Ehe sie die Umkleiden betrat, kamen schon die ersten Frühschwimmer herausgestürmt. Zwei von ihnen hatten sich sogar in Neoprenanzüge gezwängt. Als Verena endlich ihren Badeanzug übergestreift hatte, hörte sie den schrillen Schrei einer Frau: Sie wusste, dass es zu den Ritualen einer der Frühschwimmerinnen gehörte, sich mit einem lauten Juchzer ins Wasser zu stürzen.

Als Verena am Becken angelangt war, spritzten bereits überall Wasserfontänen auf, waren schnaufende Geräusche zu vernehmen – nicht nur das Geschnatter eines Entenpärchens, das sich unter die Frühschwimmer gemischt hatte, sondern auch das zweier Damen mit rosa Rüschen auf den Badehauben. Sonst sah man relativ wenig. Der Nebel lag dicht über dem Wasser, es sah fast aus wie in einem Thermalbad. Dass die Enten offenbar völlig unbeeindruckt von den um sich schlagenden Schwimmern weiter ihre Bahnen zogen, machte Verena Hoffnung: Auch sie würde sich ihren Platz im Becken erkämpfen können.

Ihre ersten Schwimmzüge an diesem Morgen glichen allerdings eher einem Spießrutenlauf, obwohl sie sich gleich abseits auf Bahn 8 verzogen hatte. Ein bulliger Typ mit stark behaartem Oberkörper und getönter Schwimmbrille raunzte sie an, versetzte ihr beim Vorbeischwimmen gar ein paar Tritte.

Die würden bestimmt blaue Flecken an den Oberschenkeln nach sich ziehen, dachte sie.

Also versuchte sie es im zentralen Bereich des Beckens. Auf Bahn 3 kam ihr ein ebenfalls Bebrillter mit Schnauzbart nahe, der ein bisschen wie der ehemalige Olympiasieger Mark Spitz aussah, mit den Armen beim Kraulen aber fuchtelte, als würde er gleich ertrinken. Ein weiterer Badegast mit einer Haut, so weiß wie Papier, diskutierte gerade – wie Verena schemenhaft bemerkte – am Beckenrand mit dem anderen Bademeister, einem braun gebrannten Franzosen mit angegrautem Haar. Aber nicht nur des Teints wegen waren die beiden sehr gegensätzlich.

»Höret Sie mol: Des Wasser hät nie und nimmer dreiundzwanzig Grad, des isch jo arschkalt«, hörte Verena den Mann schimpfen.

»Aber natürlisch, Monsieur. Schauen Sie mal auf mein Thermometer«, schlug der Bademeister vor.

»Ha, seller isch bestimmt kaputt«, ließ sich der Schwimmer nicht beirren.

»Wenn Sie mir nischt glauben, dann müssen Sie eben schneller schwimmen«, schlug der Franzose vor.

Der Mann grummelte etwas von »sich bei den Stadtwerken beschweren« und stieß sich kräftig vom Rand ab. Verena legte sich auf den Rücken, streckte Beine und Arme von sich und schloss für einen Augenblick die Augen, um sich zu entspannen.

Noch einem weiteren Schwimmer schien sie offenbar im Wege zu sein: Ein kräftiger Körper legte sich plötzlich auf sie, drückte ihren Oberkörper nach unten und gegen die Beckenwand. Verena spürte einen engen Klammergriff um Beine, Becken und Po, und das Wasser stieg mit einem stechenden Schmerz in ihrer Nase auf. Erlaubte sich jemand einen überaus schlechten Scherz?

Wohl kaum. Verena begriff, dass die Situation bitterernst war. Todesangst überkam sie. Sie strampelte verzweifelt mit den Beinen, boxte mit den Armen, wollte mit den Zähnen irgendwie die Waden ihres Peinigers zu fassen bekommen. Ihre Fingernägel bohrten sich krampfhaft in das Fleisch des Angreifers.

Wieso kam ihr denn niemand zu Hilfe?

Einen Augenblick lang schien es, als könne sie sich aus der Umklammerung lösen. Ihr Körper entglitt für einen kurzen Moment den muskulösen Armen des Angreifers. Ein kraftvolles Nachfassen: Verenas Hoffnung starb. Die Kräfte verließen sie, das Wasser bahnte sich seinen Weg in ihre Lungen. Ihr wurde schwarz vor Augen.

Der letzte Gedanke in Verenas Leben galt Frank.

2. PRIVATRADIO

Die Stimmung im Opel Kadett, der im Morgengrauen gerade von der A 81 auf die Schnellstraße in Richtung Villingen abgebogen war, war prächtig.

»Unglaublich.« Hubertus Hummel schüttelte auf dem Beifahrersitz den cocktailgeschwängerten Kopf. Normalerweise lehnte er dieses »Yuppiegesöff«, wie er es nannte, strikt ab, doch gemeinsam mit seinen beiden Kumpanen hatte er in dieser Nacht 1420 Euro im Konstanzer Spielcasino gewonnen. Abzüglich der 82 Euro, die sie in der Hotelbar eines Starkochs neben dem Casino umgesetzt hatten, als dieses um drei Uhr seine Pforten geschlossen hatte.

»Da gehe ich zum dritten Mal in meinem Leben ins Casino und gewinne.« Hummel, Mitte vierzig, Bauchansatz, Nickelbrille und spärliche Haarpracht, war erst skeptisch gewesen, als ihn sein bester Kumpel Klaus Riesle zum Ausflug nach Konstanz überreden wollte. Aber schließlich hatte Hummel als Lehrer für Deutsch und Gemeinschaftskunde am Villinger Gymnasium am Romäusring Pfingstferien und nichts Besonderes vor.

Die Sonne war mittlerweile über Schwarzwald und Baar aufgegangen. Von Weitem konnten die Autoinsassen die Silhouette der spitzen Salzsiedertürme des Städtchens Bad Dürrheim erkennen, eines vor allem bei älteren Feriengästen beliebten Kurorts. Salz wurde dort zwar seit über dreißig Jahren nicht mehr produziert, dafür durfte sich der beschauliche Ort mittlerweile aber »Soleheilbad«, »Naturwaldgemeinde« und »Solarkommune« nennen.

Hubertus freute sich auf den langsam erwachenden Tag. Der Ausflug nach Konstanz war eine gute Entscheidung gewesen. Das fand auch Freund Riesle, der als Lokaljournalist in der Villinger Redaktion des Schwarzwälder Kuriers ohnehin meist flexibel und bereit für kurzfristige Unternehmungen war. Und das, obwohl er nach längerem Junggesellendasein seit einigen Monaten eine feste Beziehung hatte – Kerstin, eine Schwenninger Lehrerin. Es schien ganz gut zu laufen mit ihr, aber gelegentliche Herrenabende mussten sein. Ein Spielchen im Casino hatte sich Riesle ohnehin schon lange mal wieder vorgenommen.

Der Journalist, klein, schwarzhaarig und drahtig, schmunzelte über Hummels Freude, denn dieser hatte noch zu Beginn des Abends seinen Bedenken überaus wortreich Ausdruck verliehen, vor einem »überbordenden Kapitalismus« gewarnt und bei Riesle Spielsucht diagnostiziert.

Nur mit der Erinnerung an einen Kriminalfall, der die beiden Hobbydetektive schon einmal ins Zockermilieu geführt hatte, ließ sich Hubertus für den Casinobesuch ködern. Zu Recht. 1420 Euro minus 82 machte 1338. Das Ganze durch drei ergab, äh …

»Will man mir nicht Danke sagen, bitte schenn?«, ertönte eine Stimme vom Rücksitz des Kadetts. Sie gehörte Radovan Josipović, einem berufsmäßigen Spieler und bosnischen Hobbyphilosophen, den sie bei ihren Recherchen damals kennengelernt hatten. Auch heute hatten sie den Bosnier im Casino getroffen.

»Ist ja gut«, winkte Hubertus ab. »Danke, Radovan.«

»Musst du nicht so tun«, setzte Josipović nach. »Wer hat euch beigebracht Spiel Paroli bis Maximum?«

»Radovan Josipović, der größte Zocker zwischen Baden-Baden und Sarajevo«, nickte Hubertus.

»Richtig, mein Freind.« Josipović schlug ihm von hinten auf die Schulter. Für ihn waren Gewinne in dieser Höhe nichts Besonderes. Verluste allerdings auch nicht …

Zum Dank für seine Unterstützung hatten Hubertus und Klaus ihm nicht nur drei Gläser Sekt spendiert, sondern auch noch angeboten, ihn mit nach Schwenningen zu nehmen, weil er dort einen Freund besuchen wollte.

»Mein Freind, mach einmal Musik.« Diesmal patschte Josipović’ Hand auf Klaus’ Schulter. »Oder soll ich singen bosnische Volkslied?«

Hubertus zuckte zusammen.

Klaus drehte sich zu Josipović um und sagte: »Rado, ich präsentiere dir was ganz Besonderes. Mein Privatradio!«

Er beugte sich nach rechts, schob Hubertus’ Knie zur Seite und öffnete das Handschuhfach. Hinter zahlreichen CD-Hüllen und gebrauchten Tempo-Taschentüchern, die Kerstin ihres chronischen Schnupfens wegen dort gehortet hatte, kam ein rechteckiger Kasten zum Vorschein, der nicht viel größer als ein Geldbeutel war.

Hummel schüttelte wieder den Kopf. Er kannte dessen Bestimmung bereits. »Klaus, das ist illegal! Völlig illegal!«

Riesle drehte am Knopf des rot-schwarzen Geräts, während der Wagen leichte Schlingerbewegungen machte, weil sein Fahrer nicht ausreichend auf die Straße achtete. Hubertus schrie auf. Mit dem ehemaligen Hobbyrennfahrer Klaus unterwegs zu sein wirkte sich negativ auf seinen Blutdruck aus.

Aus dem Kasten ertönte ein Piepsen und Knarzen. Auch Josipović war nun klar, worum es sich handelte: »Mein Junge: ist Polizeifunk!«

Riesle nickte. »Ja. Ohne das kommst du heute als Journalist nicht mehr weit.«

Bei dem Gerät stellte sich allerdings der Vorführeffekt ein. Es tat sich quasi gar nichts. Kein Wunder, um drei viertel sieben morgens.

Zehn Minuten später lieferten sie Josipović bei dessen Freund ab. Genauer gesagt, im menschenleeren Industriegebiet Herdenen zwischen den Stadtteilen Villingen und Schwenningen.

»Hier ist gutt«, sagte Josipović, als er sie in die Nähe des Einkaufszentrums dirigiert hatte.

»Hier?«, wunderte sich Hubertus. »Hier gibt’s kein einziges Privathaus. Bist du dir sicher, dass dein Freund hier wohnt?«

»Ja. Ist gutt, mein Freind«, bekräftigte Josipović, lehnte sich mit einem Ruck nach vorne, um Klaus und Hubertus mit seinen muskulösen Armen zu herzen, streichelte den Polizeifunkkasten geradezu liebevoll – dann war er weg.

Klaus kapierte es als Erster: »Der geht zu Häringer.«

»Ins Bordell«, fiel nun auch bei Hubertus der Groschen. »Von wegen zu einem Freund.«

Sie warteten einen Augenblick. Tatsächlich steuerte Josipović das Etablissement an, das Hubertus und Klaus auch schon hatten aufsuchen müssen. Rein beruflich, versteht sich …

Trotz dieser Entdeckung und der immer noch vorhandenen Euphorie nach dem Spielgewinn wirkte der Alkohol allmählich ermüdend. »Lass uns schnell nach Hause fahren«, gähnte Hubertus. »Und stell endlich diesen Kasten ab.«

Forderung eins stieß bei Klaus auf keinen Widerspruch, doch den Polizeifunk ließ er weiter vor sich hin rauschen.

Noch immer knarzte es. Doch dann ertönte eine Tonleiter – und erstmals eine Stimme: »Hilflose Person im Villinger Kneippbad. Möglicherweise Tötungsdelikt. Notarzt und Krankenwagen sind schon unterwegs. Bitte Kripo verständigen.«

Klaus war sofort elektrisiert. »Ich habe gewusst, dass sich das Gerät auszahlt. Ha! Nur 80 Euro habe ich dafür gezahlt«, jauchzte er.

»Ich frage lieber nicht, an wen«, grummelte Hubertus, der sich überlegte, ob seine Müdigkeit oder seine Neugier Oberhand gewinnen sollte. Aber zuerst musste er noch etwas moralisieren: »Du freust dich also über einen möglichen Mord? Du bist wirklich ein Beispiel dafür, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist.« Trotz dieses Exkurses in die philosophische Welt des Thomas Hobbes siegte auch bei Hubertus allmählich die Neugier. Ärger würde es so oder so geben, wenn sie jetzt zum Tatort fahren würden.

Und natürlich würden sie das …

»In fünf Minuten sind wir da«, meinte Klaus. »Vielleicht schaffen wir’s ja noch vor Kommissar Müller.« Mit ihm waren sie wegen ihrer Recherchen schon mehrfach aneinandergeraten. Er mochte weder Journalisten noch Lehrer, obwohl er mit Letzteren beruflich seltener konfrontiert wurde. Riesle und sein Freund im Duo waren für Müller jedoch die Garantie für einen verdorbenen Tag.

Der Kadett raste über den Bickenberg und war kurz darauf in der Kirnacher Straße, wo die verlassenen Kasernen der ehemaligen französischen Besatzungsmacht standen. Mit quietschenden Reifen fuhr Klaus auf den Parkplatz des Kneippbads und parkte zwischen einem Polizeiauto und einem Rettungswagen. Dann holte er aus dem Kofferraum seine Digitalkamera: »Für alle Fälle.«

Durch den Polizeifunk waren die Freunde inzwischen schon informiert, dass es sich nicht nur um eine bewusstlose, sondern um eine tote Person handelte und dass diese weiblichen Geschlechts war.

»Klaus«, zupfte Hubertus seinen Freund am Ärmel des zitronengelben Sakkos, das dieser im Casino getragen hatte. »Klaus, das gibt wirklich Ärger. Und wenn die erfahren, dass du den Polizeifunk abhörst …«

»Ach was«, widersprach Riesle gelassen. »Wir sind ganz normale Badegäste.«

»In dem Aufzug?«, gab Hubertus zu bedenken und sah an sich herunter. Eine graue Stoffhose, schwarze Slipper, ein weißes Hemd und eine Krawatte mit Gänsemotiv. Auch Riesle sah keineswegs wie ein morgendlicher Schwimmer aus. Unter dem gelben Sakko trug er ein schwarzes Hemd und eine Krawatte mit dem Aufdruck »Nobody’s perfect«. Seine Hose war weiß, seine Halbschuhe ebenfalls.

Der Journalist hatte diese Bedenken nicht. Er erwog sogar zunächst, sich mit seinem Presseausweis freien Eintritt zu verschaffen, doch konnte er ja schlecht sagen: »Riesle vom Kurier: Hier ist ein Mord passiert« – auch wenn er dies gerne getan hätte. Stattdessen löste er brav eine Eintrittskarte fürs Bad und spendierte sogar Hubertus noch eine.

Das Kassenhäuschen war erstaunlicherweise weiter geöffnet, auch wenn der französische Bademeister einen einigermaßen konsternierten Eindruck machte. Vielleicht hing das auch mit der Bärchentasche von Klaus’ Freundin Kerstin zusammen, die dieser im Kofferraum seines Wagens gefunden hatte und die er nun als Badetasche ausgab.

Die beiden Polizisten vor Ort – mehr waren es tatsächlich noch nicht – schienen überfordert. Sollte man das ganze Gelände absperren? Oder nur das Becken? Einstweilen taten sie gar nichts – und einige Frühschwimmer zogen deshalb unbeeindruckt weiter ihre Bahnen.

Die Tote war teilweise von einem weißen Tuch bedeckt und lag neben dem Becken, über dem die Sonne nun die Nebelschwaden weitgehend verdrängt hatte. Im Halbkreis um die Leiche standen die Rettungssanitäter, der Notarzt, Bademeister Willy – und Herr Keller.

»Grüß dich, Willy«, sagte Klaus, der in seinen achtzehn Berufsjahren beim Schwarzwälder Kurier Bekanntschaft mit so ziemlich jedem Doppelstädter gemacht hatte.

Riesle hob wie selbstverständlich das weiße Tuch an, doch das Gesicht der Leiche löste bei ihm zunächst keinen Wiedererkennungseffekt aus.

Die weitere Konversation wurde durch einen Mann mit Brille erschwert, der – äußerst korrekt gekleidet – in Begleitung seines Kollegen Winterhalter durch das Eingangstor auf die Gruppe zuging. »Das kann doch wohl nicht wahr sein«, schimpfte der Bebrillte zunächst auf die Streifenbeamten, um sich dann an Willy zu wenden: »Sind Sie der Bademeister? Mein Name ist Müller, Kripo VS. Ich möchte Sie bitten, umgehend dafür zu sorgen, dass der Badebetrieb eingestellt und das Bad geschlossen wird. Und wenn Sie jeden Schwimmer einzeln aus dem Becken ziehen müssen. Hier handelt es sich schließlich um einen Tatort!«

Nun wandte er sich Klaus und Hubertus zu: »Wie kommen Sie denn hierher?«

Hubertus fasste sich als Erster ein Herz: »Wir wollten baden.«

Der Kommissar schaute beide Freunde scharf an. Er blickte ihnen ins Gesicht, dann auf die Kleidung, auf die Bärchentasche und wieder ins Gesicht.

Winterhalter mischte sich ein: »Stilvolle Kleidung für einen Badeausflug«, merkte er an. Dann streichelte er das Bärchen: »Und die Tasch isch jo herzallerliebscht.«

Winterhalter war ein echter Schwarzwälder – bodenständig und in seiner Art manchmal staubtrocken. Hauptberuflich war er Kommissar, nebenberuflich hatte er den Bauernhof seiner Eltern übernommen – in Linach, etwa zwanzig Autominuten von Villingen entfernt.

Dann wandte sich der Nebenerwerbslandwirt an Kommissar Müller: »Ich versuch mol, die Personalie von dene Badegäscht aufzunehme.«

»Tun Sie das«, meinte Müller kurz. »Sorgen Sie dafür, dass niemand den Raum … ähem, das Bad verlässt.« Pause. »Außer diesen beiden Herren hier.« Er deutete auf Hummel und Riesle und schob nach: »Oder haben Sie etwa sachdienliche Hinweise zu dem Fall?«

»Wir sind gerade mal seit einer Minute da, Herr Kommissar«, beeilte sich Hummel zu versichern. »Eine Minute vor Ihnen«, ergänzte Riesle. Das »vor« betonte er.

Müller war das zu viel. Da wurde man vom Frühstückstisch weg zu einem vermutlichen Mord gerufen, und wen traf man als Erstes: den Villinger Oberschnüffler und seinen korpulenten Freund. Beim letzten Fall hatte er ihnen immerhin ein Schnippchen schlagen können …

Müller konnte sich auf das abermalige Erscheinen des Duos an einem Tatort keinen wirklichen Reim machen, doch die beiden störten. Sie mussten weg. »Seien Sie froh, dass ich keinen Alkoholtest bei Ihnen machen lasse«, meinte Müller noch. Offenbar merkte oder roch man den Freunden die durchfeierte Nacht noch an.

Da halfen alle Proteste von Klaus nichts – sie wurden von den beiden Streifenpolizisten zum Ausgang eskortiert. Noch nicht einmal mit Willy durften sie sprechen.

»War’s denn nun ein Mord?«, wollte Riesle von dem Polizistenduo wissen.

»Sonst hätte der Herr Hauptkommissar ja wohl nicht so schlechte Laune«, murmelte der eine, doch fuhr sein Kollege dem Beamten umgehend über den Mund: »Ruhig! Zur Presse nie auch nur ein Wort!«

Riesle grinste schief und beschloss, einen Rechercheplan auszuhecken.

Hummel wollte einfach nur schlafen.

Es war 7.35 Uhr.

3. FRÜHSTÜCK BEI HUMMELS

Hubertus ließ sich von Klaus zwar in der Villinger Südstadt absetzen, in der er wohnte – aber ein paar Hundert Meter von seinem Haus entfernt. Er hatte beschlossen, schnell noch bei einer Bäckerei vorbeizugehen und Brötchen zu holen. Elke würde sich sicher freuen, wenn er sie mit einem dampfenden Cappuccino und einem gedeckten Frühstückstisch weckte.

Die Familie wollte gepflegt sein. Schließlich wohnte Elke erst seit wenigen Monaten wieder bei ihm, war die Ehekrise beigelegt. Und auch auf Martina, seine Tochter, die vor Kurzem ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert hatte, freute sich Hubertus. Aber ob die in den Schulferien vor elf aufstehen würde?

Er täuschte sich in mehrfacher Hinsicht. Erstens war das Haus bereits erwacht, was zweitens wohl mit einem überraschenden Besuch zu tun hatte.

Denn vor der Tür parkte ein Wagen – ein senfgelber Ford Fiesta. Das war Didi Bäuerle, Hausmeister des Villinger-Münster-Gemeindezentrums und einer seiner besten Freunde, obwohl Didi gut zehn Jahre jünger war als er. Die beiden hatten mit dem »Bistro« in der Villinger Innenstadt dieselbe Stammkneipe.

Didi war passionierter Frühaufsteher, oft schon um sechs Uhr morgens im Gemeindezentrum unterwegs und außerdem offenbar ohne Gespür dafür, wann man im Urlaub morgens bei Freunden aufkreuzen kann.

Eine Minute später war Hummel um noch eine Überraschung sowie um eine Enttäuschung reicher: Die Überraschung bestand darin, dass Martina auch schon wach und am Frühstückstisch war. Sie trug außer einem »Robbie Williams«-T-Shirt nur einen Slip. Das war entschieden zu wenig – vor allem wenn Gäste im Haus waren.

»Zieh dir bitte was anderes an«, ermahnte Hubertus sie. »Ich meine damit: mehr!«

Seine Tochter schaute ihn an. Eine ganze Weile. Langsam zog sie ihre sommersprossige Stupsnase kraus, rieb sich ihr Piercing. Dann blickte sie ihn wieder an – fast so wie Kommissar Müller eine halbe Stunde zuvor. »Schönes Sakko, Papi«, grinste sie dann. Auch Didi schmunzelte.

Hubertus beschloss, das Thema Kleidung vorläufig zu vertagen.

Die Enttäuschung lag in einem Körbchen auf dem Tisch: Auch Didi hatte frische Brötchen besorgt. Eine Kanne Kaffee stand ebenfalls schon auf dem Tisch – wie immer, wenn Hubertus nicht da war, Filterkaffee.

Immer noch grinsend, blickte Didi Hubertus an: »Ich dachte, ich könnte dich wecken, dabei kommst du jetzt erst nach Hause. Hat wohl Spaß gemacht im Casino?«

Hubertus war hin und her gerissen. Eigentlich wollte er von seinem Gewinn erzählen, ein Drittel von 1338, aber Elke war alles andere als ein Casinofan – selbst wenn er dort Geld gewonnen hatte. Ihr war die Reise nach innen wichtiger als Finanzielles, weshalb sie eine durchmeditierte einer durchzechten und durchspielten Nacht auf jeden Fall vorzog.

»Es beruhigt mich ja, dass du zu mir wolltest, Didi«, begann Hubertus deshalb zu scherzen. »Ich dachte schon, du seist hinter Elke her.« Er warf seiner Frau einen bewundernden Blick zu. Sie sah wieder einmal zauberhaft aus – und das am frühen Morgen.

Gerade als er endlich wortreich die Neuigkeiten aus dem Kneippbad zum Besten geben wollte, klingelte das Telefon.

Natürlich: Klaus. Hätte er sich denken können, dass der bereits mitten im Fall steckte. »Mein Anruf im Freibad war nicht sehr ergiebig«, klärte er Hubertus auf. »Die Bademeister dürfen keinerlei Auskunft geben – noch nicht mal Willy. Und als ich anrief, habe ich auch noch Müller im Hintergrund gehört.«

»Und?«

»Dieser Wichtigtuer«, ärgerte sich Klaus. »Er rief nur: ›Dieser unsägliche Journalist soll sich beim Ö melden, wenn er etwas wissen will.‹«

»Und?«

»Und? Und?«, echote Klaus. »Und da rufe ich nachher an. Allerdings bin ich jetzt mit Kerstin verabredet. Ich halte dich auf dem Laufenden – wir recherchieren heute oder morgen noch mal im Bad.«

»Und was ist der Ö?«, wollte Hubertus wissen. »So heißt doch ein Grönemeyer-Album!«

»Das ist der Öffentlichkeitsarbeiter, du Hobby-Columbo. Die Polizeipressestelle«, erläuterte Klaus.

»Ah«, machte Hubertus nur.

Ende der Leseprobe