Narzissten sind auch nur Menschen - Udo Rauchfleisch - E-Book

Narzissten sind auch nur Menschen E-Book

Rauchfleisch Udo

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Beschreibung

Narzissmus heißt das Krankheitsbild unserer Zeit. Personen mit übersteigertem Ego begegnen uns in Familie, Beziehung und Freundeskreis genauso wie in den Chefetagen und in der Politik. Narzissten sind anstrengend. Einerseits können sie sehr charmant sein, andererseits kalt wie ein Fisch. Einerseits gieren sie nach Aufmerksamkeit und dabei ist ihnen jedes Mittel recht, andererseits sind sie empfindlich wie ein rohes Ei. Wie kommen wir mit ihnen zurecht, ohne selbst Schaden zu nehmen? Udo Rauchfleisch klärt über das Phänomen Narzissmus auf und vermittelt Hintergründe und damit Verständnis für narzisstische Persönlichkeiten. Auf dieser Basis können wir lernen, konstruktiv mit ihnen umzugehen, ohne ihnen auf den Leim zu gehen oder sie zu verteufeln.

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Udo Rauchfleisch

Narzissten sind auch nur Menschen

Wie wir mit ihnen klarkommen

Patmos Verlag

Inhalt

Einleitung: Warum dieses Buch?

1. Was ist Narzissmus?

2. »Wach endlich auf! Du lebst in einer Traumwelt.«

3. »Diese Gier nach Lob und Bestätigung ist mir unerträglich.«

4. »Andere Menschen sind ihr nur Mittel zum Zweck.«

5. »Unglaublich! Einerseits empfindlich wie ein rohes Ei, andererseits unberührbar und voll kalter Aggression.«

6. »Warum hat sie das getan? Es schien ihr doch so gut zu gehen.«

7. »Er ist ein Don Juan, wie er im Buche steht.«

8. »Jetzt stellt sie sich total stur und ist unnahbar wie ein Eisberg.«

9. »Macht, Macht und nochmals Macht!«

10. »Sie fühlt sich wie ein Nichts.«

11. »Er will der Größte sein, wenn nicht im Guten, dann im Bösen.«

12. »Ich habe noch nie jemanden erlebt, der so schamlos ist.«

13. »Eigentlich genial: Selbst dem größten Misserfolg kann er noch etwas Positives abgewinnen.«

Das Wichtigste auf einen Blick

Anmerkungen

Literatur

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Einleitung: Warum dieses Buch?

Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sich in der psychologisch-psychiatrischen Fachliteratur oder im Internet umschauen, werden Sie erfahren, dass nur zwischen 0,5 und 2,5 Prozent der Bevölkerung eine klinisch diagnostizierbare narzisstische Persönlichkeitsstörung aufweisen. Macht es da Sinn, für Angehörige, Freundinnen oder Kollegen von Narzissten einen speziellen Ratgeber zu verfassen?

Als Frau Christiane Neuen vom Patmos Verlag sich mit der Bitte an mich wandte, einen solchen Ratgeber zu schreiben, habe ich aus den erwähnten Gründen zunächst gezögert. Als ich mich jedoch genauer kundig gemacht habe, stellte ich fest, dass es aus drei Gründen doch sinnvoll ist, einen Ratgeber dieser Art zu verfassen: Zum einen ist der oben genannte Anteil der narzisstischen Personen zu korrigieren. Denn die Zahl derjenigen, die landläufig als Narzissten bezeichnet werden, ist viel größer. Dazu zählen nämlich auch Menschen, die zwar nicht die Kriterien der medizinischen Diagnosekataloge erfüllen, aber mehr oder weniger starke narzisstische Persönlichkeitszüge erkennen lassen.

Zweitens besteht in der Öffentlichkeit ein sehr großes Interesse an dieser Personengruppe, sind es doch Menschen, die einerseits faszinieren und bewundert werden, andererseits aber gefürchtet und verhasst sind. Der dritte Grund besteht darin, dass Sie in der Fachliteratur und im Internet meist nur Informationen über die narzisstischen Menschen selbst finden. Sie als Mutter oder Vater, als Freundin oder Freund oder auch als Mitarbeitende oder Vorgesetzte von Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung oder narzisstischen Persönlichkeitszügen kommen dabei selten vor. Dabei tragen Sie als eine Bezugsperson einen großen Teil der Last, die Beziehungen mit Narzissten in der Regel mit sich bringen.

In diesem Ratgeber werde ich in 12 Kapiteln die wichtigsten Fragen und Probleme diskutieren, mit denen sich Menschen konfrontiert sehen, die in einer persönlichen Beziehung zu narzisstischen Personen stehen. Zur Veranschaulichung dienen Beispiele, die das Erleben und Verhalten realer Personen beschreiben, wobei ich aber jeweils Teile aus verschiedenen Lebensgeschichten zu einem Beispiel zusammengefügt habe, so dass die Anonymität der einzelnen Personen absolut gewährleistet ist. Die verwendeten Namen sind fiktiv.

Im ersten Kapitel werde ich genauer schildern, was wir unter Narzissmus, also unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung und narzisstischen Persönlichkeitszügen, verstehen. Dabei werde ich auch auf den antiken Narkissos-Mythos eingehen, von dem sich die Bezeichnung der Störung herleitet, und mich mit den Versuchen einiger Autoren, den Narzissmusbegriff auf gesellschaft­liche Prozesse auszuweiten, auseinandersetzen. Das Ziel dieses Kapitels ist natürlich nicht, Sie zu einer Fachperson zu machen, die in der Lage wäre, mit hinreichender Sicherheit die Diagnose »narzisstische Persönlichkeitsstörung« zu stellen. Es geht vielmehr darum, Ihnen nahezubringen, was im Inneren eines narzisstischen Menschen abläuft und Sie damit für all das zu sensibilisieren, was Sie als Angehöriger und Freund oder als Kollegin eines Menschen, der unter dieser Störung leidet, erleben können. Und ich möchte Ihnen dazu verhelfen, dass Sie Verständnis für die narzisstische Person entwickeln und konstruktiv, ohne selbst Schaden zu nehmen, mit ihr umzugehen lernen. Dazu möchte ich Ihnen hilfreiche Anregungen liefern – Patentrezepte gibt es selbstverständlich nicht.

Die folgenden Kapitel orientieren sich an den Hauptsymptomen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung: die Tendenz des Narzissten, sich bei Schwierigkeiten in eine Fantasiewelt zurückzuziehen (Kapitel 2); seine Gier nach Lob und Bestätigung (Kapitel 3); die Tendenz, andere Menschen als »Mittel zum Zweck« zu betrachten und entsprechend zu handeln (Kapitel 4); die einerseits extreme Empfindlichkeit und Kränkbarkeit des narzisstischen Menschen und andererseits seine kalte Aggressivität (Kapitel 5); die Fassade von Selbstsicherheit und Konfliktlosigkeit, hinter der sich Gefühle von tiefer Verzweiflung und zentralen Selbstwertzweifeln verbergen (Kapitel 6); das Don-Juan-Verhalten (Kapitel 7); die gekränkt-trotzige Zurückweisung von Näheangeboten anderer Menschen (Kapitel 8); das extreme Machtstreben von narzisstischen Menschen (Kapitel 9); das sie beherrschende Gefühl eines zentralen Selbstunwerts (Kapitel 10); das bohrende Bedürfnis, der »Größte« zu sein (Kapitel 11); das schamlose Verhalten, hinter dem sich extreme Schamgefühle verbergen (Kapitel 12).

In einem abschließenden Kapitel (13) zeige ich am Beispiel eines Mannes die positiven Eigenschaften von Narzissten auf. Sie haben nämlich eine bemerkenswerte Fähigkeit, selbst großen Misserfolgen noch etwas Positives abzugewinnen und dadurch in schwierigsten Situationen zu überleben. Eine Fähigkeit, der wir Respekt und Bewunderung zollen müssen.

Am Ende jedes Kapitels werden die wichtigsten Aspekte noch einmal zusammengefasst und »auf den Punkt gebracht«. Außerdem formuliere ich Hinweise für ein konstruktives Verhalten unter der Rubrik: »Was Sie tun können.« Den Abschluss dieses Ratgebers bildet eine kurze thesenartige Zusammenfassung der Hauptthemen. Ganz am Ende finden Sie Angaben zu weiterführender Literatur.

Möge dieser Ratgeber Ihnen bei der Auseinandersetzung mit dem Phänomen »Narzissmus« eine Hilfe sein, einen realistischen und konstruktiven Zugang zu den Menschen zu finden, die unter dieser Störung leiden oder zumindest ausgeprägte Persönlichkeitszüge in eine narzisstische Richtung aufweisen. Und möge er Ihnen den Weg ebnen bei der Suche nach einem Dialog mit Ihrem Angehörigen, Ihrer Freundin oder Ihrem Mitarbeiter. Es würde mich freuen, wenn es mir gelänge, mit meinen Ausführungen auch Leserinnen und Leser, die selbst unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden, aus der Einsamkeit zu befreien, in der sie oft ebenso leben wie ihre Angehörigen, Freundinnen und Freunde.

Im Herbst 2017

Udo Rauchfleisch

1. Was ist Narzissmus?

Wenn Sie im Internet recherchieren und sich in der psychologischen und psychiatrischen Fachliteratur zum Thema Narzissmus oder narzisstische Persönlichkeitsstörung umsehen, werden Sie eine unüberschaubare Zahl von Publikationen finden. Die verschiedenen psychologischen Schulen haben ihre je eigenen Theorien entwickelt und präsentieren Ihnen dementsprechend unterschiedliche Konzepte zum Verständnis dieser Störung. Auch bei den therapeutischen Ansätzen zur Behandlung von Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung finden Sie eine große Zahl von – einander zum Teil sogar widersprechenden – Veröffentlichungen.

Im Unterschied zu anderen psychischen Erkrankungen werden narzisstische Störungen oft auch unter soziologischen Gesichtspunkten betrachtet. Dabei wird die medizinische Diagnose, die wir eigentlich für Individuen verwenden, auf die Gesamtgesellschaft ausgeweitet.

So spricht Maaz1 von einer »narzisstischen Gesellschaft«, die durch die narzisstische Störung ihrer Mitglieder geprägt sei. Aufgrund der narzisstischen Kompensationen der in ihrem Kern verunsicherten Menschen der Gegenwart bedürfe es der ständigen Ablenkung durch Konsum, Besitz, Animation und Aktion. Die Gier sei ein zentrales Merkmal der narzisstischen Bedürftigkeit der meisten Bürgerinnen und Bürger der westlichen Konsumgesellschaften und führe sie in die »Narzissmusfalle«.

Ähnlich sehen andere Autoren wie Haller2 im Narzissmus die »Leitneurose« unserer Zeit, in der Selfies und Spiegel »Merkmale für den dominierenden, phasenweise gar grassierenden Narzissmus«3 seien. Oft werden in solchen Diskussionen auch die Social-Media-Kanäle wie Facebook und Twitter erwähnt, und es wird darauf verwiesen, dass sie Ausdruck eines für unsere Zeit typischen, extremen Bedürfnisses nach Selbstdarstellung seien. Noch dramatischer schildern Twenge und Campbell4 unsere Gesellschaft, wenn sie vom Narzissmus als einer »Seuche« sprechen und darauf hinweisen, dass der Narzissmus sich in der Gegenwart »wie ein Virus« ausbreite, gegen den »keine Impfung in Sicht« sei.5

Solchen Erweiterungen des Narzissmusbegriffs hält Schneider6 entgegen, dass die neuen medialen Möglichkeiten der Intersubjektivität wie Facebook, Flickr oder Twitter zwar unser jeweiliges Verhältnis zu uns selbst verändern. Schneider bezweifelt jedoch, ob man diese Veränderungen einfach nur als Entwicklung zu mehr pathologischem Narzissmus beschreiben kann. Derartige Zeitdiagnosen seien »meistens ein Gemisch aus kulturpessimistischer Verfallsrhetorik, anekdotischer Plausibilität sowie journalistischer Aufgeregtheit«.7

Tatsächlich sollten wir meiner Meinung nach vorsichtig sein, psychiatrische Diagnosen, die zur Beschreibung von Individuen konzipiert worden sind, auf gesamtgesellschaftliche Prozesse anzuwenden. Dennoch eignet sich das Narzissmuskonzept zweifellos auch zur Beschreibung von Zeitströmungen und zum Verständnis des Verhaltens von Personen des öffentlichen Lebens, ohne dass wir aber so weit gehen sollten, sie mit klinischen Diagnosen zu belegen.

Sichtet man die Literatur zum Narzissmuskonzept, so stellt man fest, dass dem Begriff »Narzissmus« im Allgemeinen etwas sehr Negatives anhaftet. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird die Eigenschaft »narzisstisch« für einen Menschen verwendet, der selbstverliebt und eitel ist. Eine solche Charakterisierung trifft zwar zum Teil zu. Sie beschreibt aber lediglich die Oberfläche, den im Verhalten eines solchen Menschen sichtbaren Teil seiner Persönlichkeit. Die dieser Persönlichkeitsstörung zugrunde liegende Selbstwertstörung wird mit der Beschreibung »selbstverliebt« und »eitel« jedoch nicht berücksichtigt.

Ohnehin ist der Begriff »Narzissmus« schwierig. Unter diesem Etikett werden in der Fachliteratur zum Teil völlig verschiedene Phänomene behandelt. Seien Sie deshalb vorsichtig mit dem Gebrauch des Wortes »narzisstisch«. Außerdem gehen verschiedene Autoren von ganz unterschiedlichen Entstehungsbedingungen einer narzisstischen Störung aus und empfehlen dementsprechend auch kein einheitliches therapeutisches Vorgehen. Deshalb spricht Schlagmann geradezu von einer »Sprachverwirrung von babylonischem Ausmaß«.8

Wichtig ist, sich vor Augen zu halten, dass es beim Thema Narzissmus nicht von vornherein um etwas Pathologisches geht, sondern zunächst einmal um die Frage nach dem Selbstwerterleben eines Menschen. Es besteht ein Spektrum, das von einem normalen, angemessenen Narzissmus, also einem gesunden Selbstwert­erleben und Selbstbewusstsein, bis hin zu schweren narzisstischen Störungen reicht. Dazwischen gibt es Menschen mit narzisstischen Zügen, die die Kriterien der narzisstischen Persönlichkeitsstörung nicht erfüllen und weniger ausgeprägte narzisstische Symptome aufweisen. Dennoch bezeichnet man diese Menschen im Alltag auch als Narzissten.

Eine Besonderheit unter den psychischen Erkrankungen stellt der Narzissmus schließlich auch insofern dar, als er auf einen antiken Mythos zurückgeht. Es besteht die Ansicht, es sei die von verschiedenen antiken Autoren in übereinstimmender Weise berichtete Geschichte des allseits umworbenen Jünglings Narkissos, der aus Stolz auf seine Schönheit alle Verehrerinnen und Verehrer zurückweist. Narkissos verliebt sich in sein eigenes Spiegelbild im Wasser einer Quelle, stürzt beim Versuch, dieses Spiegelbild zu greifen und festzuhalten, ins Wasser und ertrinkt.

Tatsächlich jedoch existieren verschiedene Überlieferungen des Narkissos-Mythos, die es sich lohnt, zu betrachten.9 Es gibt nämlich unterschiedliche Versionen, wie Narkissos zu Tode gekommen ist. Darin bildet sich viel von dem ab, was für Menschen mit einer narzisstischen Störung charakteristisch ist.

Trotz etlicher Unterschiede stimmen die Darstellungen des Narkissos-Mythos in einer Hinsicht überein: nämlich darin, dass der Tod des Narkissos mit dem Schauen ins Wasser in Zusammenhang gebracht wird. Narkissos kehrt als Kind zweier Wasserwesen, des Flussgottes Kephessos und der Quellnymphe Leiriope, im Tod gleichsam zu seinem Ursprung zurück.

In einer ersten Version des Mythos, überliefert von Pausanias (115 bis 180 n. Chr.), wird berichtet, Narkissos habe eine ihm im Aussehen gleichende Zwillingsschwester gehabt, zu der er in Liebe entbrannt sei. Als sie gestorben sei, habe er an den Quellen zwar seinen eigenen Schatten gesehen, habe jedoch gedacht, ein Bild seiner Schwester zu erkennen. In diesem Fall geht es im Mythos darum, dass ein geliebter Mensch als der eigenen Person gleich erlebt und eine Verschmelzung mit dieser Person (im Sinne eines Selbstobjekts10) gesucht wird.

Nach einer unbekannten römischen Überlieferung hat Narkissos in der Quelle seinen Vater, den Flussgott, gesucht. Hier könnte man im Sinne unserer modernen Narzissmustheorien von der Suche nach einem Idealobjekt11 sprechen.

Vibius Sequester (4./5. Jahrhundert n. Chr.) hingegen bringt den Tod des Narkissos in Zusammenhang mit seiner Suche nach der Mutter, der Quellnymphe. Auch hier kann man von der Suche nach einem Idealobjekt sprechen.

Die berühmteste Version des Mythos stammt von Ovid (43 v. Chr. bis 17 n. Chr.). Ovid beschreibt im dritten Buch der »Metamorphosen« Narkissos als außerordentlich schönen Jüngling, der die Liebe und Bewunderung aller auf sich zieht, jedoch niemals erwidert. So weist er die Bergnymphe Echo ebenso zurück wie den Bewerber Ameinias. Letzterer nimmt sich vor der Tür des Narkissos das Leben, nachdem er die Götter angefleht hat, seinen Tod zu rächen. Nemesis erhört diese Bitte und straft Narkissos mit unstillbarer Selbstliebe. Narkissos verliebt sich daraufhin in sein Spiegelbild im Wasser einer Quelle und greift verzweifelt nach dem eigenen Bild, das er festhalten möchte. Doch muss er erkennen, dass dies nicht gelingt und seine Selbstliebe unerfüllbar ist. Narkissos stirbt, und zurück bleibt die aus seinem Blut hervorgegangene Narzisse, die in der Antike als Blume der Unterwelt, der Toten, galt. Die Ovid’sche Version des Narkissos-Mythos beinhaltet im Sinne unserer modernen Narzissmustheorien die verhängnisvolle Situation eines Menschen, der die Erfüllung seiner Liebeswünsche in der Konzentration auf sich selbst sucht.

Andere Versionen des Mythos thematisieren vor allem die Konflikte, die aus der gleichgeschlechtlichen Liebe zweier Männer zu Narkissos resultieren. Neben dem bereits erwähnten Ameinias (in der Überlieferung von Konon, 444 v. Chr. – 390 v. Chr.) gab es noch den um Narkissos werbenden und von ihm verschmähten Ellops (in der Version von Probus, 1. Jahrhundert n. Chr.). Im ersten Fall nimmt sich Narkissos das Leben, weil er die unerfüllte Sehnsucht nach dem eigenen Spiegelbild nicht erträgt. In der Ellops-Variante heißt es in der Überlieferung von Probus, Narkissos sei von Ellops wegen der verschmähten Liebe getötet worden. Aus dem Blut des Narkissos seien die Blumen hervorgegangen, die seinen Namen tragen. Im Zentrum dieser beiden Versionen des Mythos stehen, ähnlich wie in der Geschichte der von Narkissos verschmähten Nymphe Echo, die Zurückweisung der Liebeswünsche anderer Menschen.

Die in den verschiedenen Versionen des Mythos thematisierten Motive finden sich in der einen oder anderen Weise auch in den modernen psychologischen Narzissmustheorien. Im Zentrum steht die Unfähigkeit der narzisstischen Person, die Liebe anderer Menschen anzunehmen und darauf mit eigenen Liebesgefühlen zu antworten. Ich werde in den verschiedenen Kapiteln dieses Ratgebers Menschen schildern, bei denen wir diese Persönlichkeitszüge finden.

Über alle unterschiedlichen Theorien hinweg lassen sich im Sinne des psychiatrischen Diagnosesystems DSM bestimmte Phänomene benennen, die charakteristisch für narzisstische Persönlichkeitsstörungen sind. Laut DSM-5 ist die narzisstische Störung eine Persönlichkeitsstörung. Dies sind länger anhaltende Zustandsbilder und Verhaltensmuster, die sich im Lebensstil und im Verhältnis zur eigenen Person und zu anderen Menschen zeigen. Die Abweichungen gegenüber anderen Menschen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in den Beziehungen sind so ausgeprägt, dass das daraus resultierende Verhalten in vielen persönlichen und sozialen Situationen deutlich wird. Dabei ist für Persönlichkeitsstörungen bezeichnend, dass sie zumeist in der Kindheit oder Adoleszenz beginnen und sich im Laufe der Zeit starre Reaktionsmuster entwickeln, die die betreffenden Menschen unflexibel machen und zu einem sozial unangepassten oder auf andere Art unzweckmäßigen Verhalten führen. Häufig gehen diese Erkrankungen mit persön­lichem Leiden und einer gestörten sozialen Funktionsfähigkeit einher.

Unter den Persönlichkeitsstörungen stellt die narzisstische Persönlichkeitsstörung zwar eine relativ selten gestellte Diagnose dar (nach Schätzungen beträgt der Anteil in der Gesamtbevölkerung zwischen 0,5 und 2,5 Prozent). Wie bereits erwähnt, soll es in diesem Buch aber auch um Menschen gehen, die »nur« mehr oder weniger starke narzisstische Persönlichkeitszüge erkennen lassen.

Die wichtigsten Merkmale der narzisstischen Persönlichkeitsstörung sind die folgenden:

Diagnostische Kriterien der narzisstischen Persönlichkeitsstörung nach DSM-5

Ein tiefgreifendes Muster von Großartigkeit (in Fantasie oder Verhalten), Bedürfnis nach Bewunderung und Mangel an Empathie.

Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter, und das Muster zeigt sich in verschiedenen Situationen. Mindestens fünf der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:

Hat ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit (z. B. übertreibt die eigenen Leistungen und Talente; erwartet, ohne entsprechende Leistungen als überlegen anerkannt zu werden).Ist stark eingenommen von Fantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe.Glaubt von sich, »besonders« und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder angesehenen Personen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder nur mit diesen verkehren zu können.Verlangt nach übermäßiger Bewunderung.Legt ein Anspruchsdenken an den Tag (d. h. übertriebene Erwartungen an eine besonders bevorzugte Behandlung oder automatisches Eingehen auf die eigenen Erwartungen).Ist in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbeuterisch (d. h. zieht Nutzen aus anderen, um die eigenen Ziele zu erreichen).Zeigt einen Mangel an Empathie: Ist nicht willens, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu erkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren.Ist häufig neidisch auf andere oder glaubt, andere seien neidisch auf ihn/sie.Zeigt arrogante, überhebliche Verhaltensweisen oder Haltungen.

Millon12 unterscheidet verschiedene Typen von narzisstischen Menschen, auf die ich in den verschiedenen Kapiteln dieses Ratgebers eingehen werde:

Normaler narzisstischer Mensch: Er erscheint kompetitiv, selbst­sicher und erfolgreich.Charakterloser Narzisst: Er ist betrügerisch, ausnutzend und skrupellos, hat häufig damit Erfolg, wird aber auch unter Umständen straffällig.Amouröser Narzisst: Er präsentiert sich verführerisch und exhibitionistisch und kann sich nicht auf tiefe Beziehungen einlassen.Kompensatorischer Narzisst: Er führt ein grandioses Selbst vor, dem jedoch massive Selbstzweifel, Minderwertigkeits- und Schamgefühle zugrunde liegen.Elitärer Narzisst: Er legt ein überhöhtes Selbstwertgefühl an den Tag, ist angeberisch und selbstbezogen, begierig auf sozialen Erfolg und süchtig nach Bewunderung.Fanatischer Narzisst: Er kompensiert sein niedriges Selbstwertgefühl und die reale Bedeutungslosigkeit durch Omnipotenzwahn. Sein Verhalten hat paranoide Züge.

In der Literatur wird im Zusammenhang mit narzisstischen Störungen oft auch von einer »dunklen Triade« gesprochen13. Sie umfasst drei Persönlichkeitstypen, die alle durch Narzissmus geprägt sind:

der Narzisst, gekennzeichnet durch die Vorstellung »die anderen sind dazu da, um mich zu bewundern«; er hält sich für etwas Besseres und zeichnet sich durch Selbstüberhöhung aus.der Machiavellist, der für sich das Lebensmotto »der Zweck heiligt die Mittel« in Anspruch nimmt; er legt ein manipulatives Verhalten an den Tag und verfolgt seine persönlichen Ziele ohne Rücksicht auf andere.der Psychopath, für den andere Menschen »Objekte« sind, deren er sich bedient; er ist kaltblütig und impulsiv und fürchtet keine Konsequenzen seines Verhaltens.

Das Problem bei den Diagnosekriterien und bei Beschreibungen, wie Millon und Paulhus sie geben, ist, dass sie äußerst negativ klingen und den Narzissten als einen unangenehmen Menschen erscheinen lassen, den man möglichst meiden sollte. Eine solche ­Einschätzung wird Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung indes nicht gerecht. Zum einen werden in solchen Charakterisierungen jeweils nur die Störungsmerkmale aufgelistet, nicht aber die Fähigkeiten und die kompensatorisch wirkenden Stärken des betreffenden Menschen. Dies sind beispielsweise seine Intelligenz, seine Vitalität, die Qualität seines Erfahrungsschatzes, seine über die Jahre hin erworbene Kompetenz in stabilisierenden Verhaltensweisen und sein soziales Umfeld.

Zum anderen zeigen Menschen mit einer narzisstischen Störung zwar die erwähnten negativen Verhaltensweisen. Diese stellen aber lediglich die Oberfläche dar. Darunter erkennt man einen empfindsamen, sensiblen und in seinem Selbstwert verletzten Menschen, der hinter der Fassade der genannten Symptome Schutz sucht. Auf diese Zusammenhänge werde ich in den verschiedenen Kapiteln dieses Ratgebers noch ausführlicher eingehen.

Schließlich ist noch zu berücksichtigen, dass längst nicht alle Menschen mit narzisstischen Störungen eine negative Wirkung auf ihre Umgebung ausüben. Zum Teil sind sie wichtige Exponenten in Wirtschaft, Politik, Kunst und allgemein im öffentlichen Leben. Wie ich im letzten Kapitel dieses Buches darstellen werde, nötigen sie uns mitunter Hochachtung und Bewunderung ab, dass sie mit Hilfe ihrer spezifischen Persönlichkeitszüge in einer Welt von Widrigkeiten und Verletzungen überleben können und fähig sind, selbst großen Misserfolgen und schwerwiegenden Einbußen in ihrem Leben immer noch etwas Positives abzugewinnen.

Was die Ursachen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung angeht, bestehen unterschiedliche Theorien. Neben biologischen Determinanten (zum Beispiel eine erhöhte Verletzlichkeit, eine Tendenz zur Feindseligkeit und ein erhöhtes Misstrauen) werden als Ursachen spezielle Bedingungen der Kindheit genannt. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung ist nach Ansicht des Psychoanalytikers Kernberg14 die Folge einer Erziehung durch Eltern, die dem Kind mit Ablehnung begegnet sind und ihm keine bedingungslose Akzeptanz entgegenbringen konnten. Daraus resultiere eine zentrale Selbstwertstörung, die das Kind und der spätere Erwachsene durch ein grandioses Selbstkonzept zu kompensieren versuche.

Demgegenüber schildert Kohut15, der Begründer der Selbst-Psychologie, die narzisstische Persönlichkeitsstörung als eine fehlgeschlagene Wendung innerhalb einer normalen Entwicklung. Der narzisstische Mensch bleibe quasi auf einem kindlichen Entwicklungsniveau stehen, weil das Kind die ablehnenden, es nicht bedingungslos akzeptierenden Eltern nicht ausreichend idealisieren und infolgedessen keine ausreichende, reife Fähigkeit der Selbstregulierung erlangen konnte. Stattdessen muss sich ein solcher Mensch für die Aufrechterhaltung seines Selbstbewusstseins permanent anderer Menschen bedienen, die ihm zugewandt sind und ihm empathische Aufmerksamkeit entgegenbringen.

2. »Wach endlich auf! Du lebst in einer Traumwelt.«

Von jeher hatte Lara Köster mehr in ihrer Fantasie als in der realen Welt gelebt. In ihren Schulzeugnissen stand unter dem Stichwort »Verhalten in der Schule« regelmäßig folgende Bewertung: »Lara ist im Unterricht unaufmerksam und verträumt.« Entsprechend schlecht waren ihre Leistungen, obwohl sie – wie eine Abklärung beim schulpsychologischen Dienst gezeigt hatte – über eine gute Intelligenz verfügte.

Die Psychologin, die die Untersuchung durchgeführt hatte, hatte Laras Eltern damals dringend geraten, die Tochter in eine Psychotherapie zu schicken. »Sie hat mir nur wenig von ihren Fantasien erzählt«, berichtete die Psychologin den Eltern, »aber ich habe den Eindruck gewonnen, dass Lara sehr ausgeprägt in ihren Fantasien lebt, in die sie sich bei den geringsten Schwierigkeiten im Alltag zurückzieht. Sie müssen aufpassen, dass sich das nicht noch verstärkt. Sonst bekommt Lara im Erwachsenenalter ziemliche Probleme.«

Laras Eltern hatten diese Warnung indes nicht sehr ernst genommen, zumal Lara sich auch vehement gegen eine Psychotherapie gewehrt hatte. »Sie ist halt ein sehr fantasievolles Kind«, dachte die Mutter. »Das wollen wir ihr doch nicht nehmen. Ein bisschen Fantasie hat in unserer schlimmen Welt noch nie geschadet. All das Elend, die Gewalt und die Rücksichtslosigkeit, die in unserer Welt heute herrschen, kann man nur ertragen, wenn man dem etwas Schönes entgegensetzt. Das mache ich doch auch, sonst würde ich draufgehen in der Ehe mit diesem schrecklichen Mann!«

Tatsächlich lebten Laras Eltern in einer von großen Spannungen geprägten Ehe. Laras Vater trank in erheblichem Maße Alkohol, und immer wieder kam es zu heftigen, auch tätlichen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern. Während vieler Nächte lag Lara zitternd vor Angst in ihrem Bett, wenn sie aus dem Elternschlafzimmer das Schimpfen des Vaters und das Weinen der Mutter hörte.

In solchen Momenten nahm sie Zuflucht zu Fantasien, in denen sie sich vorstellte, eine mächtige Herrscherin zu sein, in deren Reich es keinen Streit und keine Auseinandersetzungen gab, sondern alle Menschen freundlich und rücksichtsvoll miteinander umgingen. In diesem Inselstaat mit traumhaften Südseestränden war Lara die allseits bewunderte und hoch verehrte Königin von einzigartiger Schönheit, gesegnet mit unermesslichem Reichtum, den sie von ihren Eltern, die ihr in tiefer Liebe zugetan waren, geerbt hatte. Je größer die realen Probleme der Eltern waren, desto verzweifelter klammerte sich Lara an diese Fantasien, die ihr wenigstens ein bisschen Trost vermittelten.

Nachdem sie die Pflichtschuljahre mehr schlecht als recht abgeschlossen hatte, war der Eintritt in den Beruf mit großen Schwierigkeiten verbunden. Lara hatte drei Lehren – als Friseurin, als Verkäuferin und als Kosmetikerin – begonnen, sie alle aber jeweils nach wenigen Wochen wieder abgebrochen. Die Begründung war immer wieder die gleiche gewesen: Sie lasse sich von den Vorgesetzten nicht »wie der letzte Dreck« behandeln, »und das noch zu einem Gehalt, das zu wenig zum Leben und zum Sterben zu viel« sei.

In dieser Ansicht wurde Lara von ihrer Mutter voll unterstützt. »Du hast völlig recht«, meinte sie, »wenn du dich nicht wie ein Dienstmädchen behandeln lässt. Dein Vater ist zwar ein totaler Versager. Seine Eltern aber waren wohlhabende, gebildete Leute, und auch ich stamme aus gutem Hause. Es ist recht, dass du dir deines Wertes bewusst bist.«

Die Ausbilderinnen, aber auch die Kolleginnen waren an allen drei Lehrstellen über Laras Arroganz und Ansprüchlichkeit empört gewesen. Eine Auszubildende im Friseursalon hatte es so formuliert: »Sie ist einfach eine eingebildete Kuh, die sich zu allem zu fein ist und wie eine Prinzessin behandelt werden möchte.«

Lara gab sich zwar den Anschein, als ob die Probleme am Arbeitsplatz sie in keiner Weise berührten. Dabei betonte sie den Eltern gegenüber immer wieder, wie froh sie sei, sich nicht auf diesen »Saftladen« eingelassen zu haben. Im Grunde aber war sie über sich selbst enttäuscht und schämte sich, die Ausbildungen nicht durchgehalten zu haben. In solchen Momenten waren ihr die Tagträume, in denen sie sich als reich und mächtig fantasierte, wiederum ein wirksamer Trost.

So malte sie sich in diesen Jahren in ihren Fantasien aus, sie würde einen großen Friseursalon führen, in dem sich die Berühmtheiten aus Showbusiness, Wirtschaft und Politik ihre Frisuren kreieren ließen. Sie alle wollten von niemand anderem als von Lara persönlich beraten und frisiert werden. Und wenn die Topmodels mit den neusten Kreationen der internationalen Modehäuser auftraten, raunten sich die Zuschauerinnen neidvoll zu, auch diese Models seien Kundinnen von Lara.

Je erfolgloser Lara in ihren Versuchen, beruflich Fuß zu fassen, war, desto weiter und großartiger baute sie ihre Fantasien aus. Im Allgemeinen hielt sie diese Fantasien geheim. Nur selten erwähnte sie der Mutter gegenüber etwas davon, dann aber in Form von Plänen, die sie in Zukunft realisieren wolle. Da die Mutter sich ebenfalls vielfach in eine Fantasiewelt zurückzog und gegenüber der Tochter sehr wenig kritisch war, relativierte sie Laras letztlich völlig unrealistischen Pläne nicht. Sie bestärkte sie vielmehr noch darin, indem sie der Tochter vermittelte, sie sei zu »etwas Besonderem« berufen. Ihr werde schon noch der »große Durchbruch« gelingen. »Die Welt wird noch staunen, zu was du fähig bist!«, pflegte sie in solchen Diskussionen zu sagen.

Dies bestärkte Lara wiederum in der Überzeugung, dass ihre Zukunftsvorstellungen durchaus realistisch seien. War ihr anfangs mitunter, irgendwo tief im Innern, noch klar gewesen, dass es sich bei den grandiosen Zukunftsentwürfen um Hoffnungen handelte, die sich so kaum verwirklichen ließen, so war sie mit der Zeit mehr und mehr davon überzeugt, dass sie tatsächlich etwas Außergewöhnliches zu leisten vermochte und es zu großer Berühmtheit bringen werde.

Zugleich führten die mitunter stundenlangen Tagträume aber auch dazu, dass Lara sich immer weiter von den Alltagsproblemen und deren Lösung zurückzog. Die Fantasien traten zunehmend an die Stelle der Realität. Einerseits war Lara von ihrer Außergewöhnlichkeit überzeugt, andererseits aber mied sie jegliche Berührung mit der Realität, in der sie hätte beweisen müssen, dass sie fähig und bereit wäre, sich beruflich zu engagieren.

Außerdem schaute Lara im Fernsehen geradezu süchtig Seifenopern an. Je unrealistischer und rührseliger, desto lieber waren sie ihr. Sie schwelgte in den diversen Serien, in denen reiche, schöne, junge Frauen im Luxus lebten, traumhafte Reisen durch die Welt machten und von den ebenso reichen Männern verehrt und begehrt wurden. Beim Schauen solcher Filme fantasierte sich Lara in die Rolle dieser Frauen und erlebte sich in der Identifikation mit den Protagonistinnen als eine von ihnen.

So lebte Lara im Verlauf der Zeit praktisch permanent in einer Fantasiewelt und mied mehr und mehr jegliche Berührung mit der sozialen Realität, die immer schwieriger und unbefriedigender wurde. Je weniger sie in der realen Welt Erfolge zu verzeichnen hatte, desto weiter zog sie sich in ihre Fantasiewelt zurück. So geriet Lara immer tiefer in den Teufelskreis von sozialen Miss­erfolgen, Rückzug in die Fantasiewelt und daraus entstehenden neuen sozialen Misserfolgen.

Unter dem Druck des Arbeitsamts nahm Lara Köster schließlich zwar eine berufliche Tätigkeit an. Da sie keine Ausbildung absolviert hatte, musste sie sich jedoch mit einer Hilfstätigkeit in einem Supermarkt zufriedengeben. Dies empfand sie als neuerliche schwere Kränkung und reagierte darauf mit einem verstärkten Rückzug in die Fantasiewelt.

Über die Jahre hatten auch Laras soziale Kontakte stark abgenommen. Sie hatte zwar nie wirklich Anschluss an ihre Kolleginnen und Kollegen gefunden, war aber während der Schulzeit doch wenigstens ab und zu noch mit einigen von ihnen in der Freizeit zusammen gewesen. Als sie im Supermarkt zu arbeiten begann, waren ihre Kontakte aber auf ein Minimum zusammengeschmolzen.

Lara hatte lediglich eine »gute« Freundin. Aber auch mit ihr verabredete sie sich nur selten, da sie praktisch ihre gesamte Freizeit mit dem Anschauen von Seifenopern, dem Lesen von Liebesromanen, in denen es um Adlige und ihre Beziehungen ging, und mit Tagträumen von einem großartigen Leben in Reichtum verbrachte.

Die Freundin hatte ihrerseits kein großes Interesse an häufigen Treffen mit Lara, da sie die völlig unrealistischen Geschichten von dem, was Lara beruflich und finanziell erreichen wollte, nicht mehr anhören mochte. Andererseits tat ihr Lara aber auch leid, weil sie sozial so isoliert war und sich immer weiter in ihre Fantasiewelt verrannte.

»Nun komm doch endlich mal auf den Boden der Tatsachen und schau der Realität ins Auge«, seufzte die Freundin eines Abends, nachdem Lara ihr lange und detailreich erzählt hatte, dass sie sehr bald eine wesentlich besser bezahlte Stelle in einer bekannten Boutique erhalten und mit dem dort verdienten Geld eine eigene Boutique eröffnen werde. »Das sind doch Hirngespinste, Lara«, fuhr die Freundin fort. »Ich verstehe ja, dass deine Situation elend ist und dich sehr belastet. Du machst es aber nur noch schlimmer, wenn du dir weiterhin Sand in die Augen streust und Illusionen nachhängst, die nie Realität werden können.«

Empört sprang Lara auf, rannte zur Garderobe, nahm ihren Mantel und verließ grußlos die Wohnung der Freundin. Obwohl die Freundin noch am gleichen Abend mehrere SMS an Lara schrieb und sich für ihre wenig taktvolle Äußerung entschuldigte, ließ Lara nichts mehr von sich hören. Auch auf wiederholte Versuche der Freundin in den nächsten Tagen, Lara telefonisch zu erreichen, reagierte diese nicht. Damit war auch die letzte noch bestehende private soziale Beziehung abgebrochen.

Wie ich in Kapitel 1 schon ausgeführt habe, neigen Menschen mit einer narzisstischen Störung mitunter in extremem Maße dazu, bedrückende Lebensumstände, persönliche Misserfolge und Enttäuschungen durch eine Flucht in die Fantasiewelt zu kompensieren. Dabei sehen sie sich – in krassem Gegensatz zur Realität – als die Erfolgreichen und allseits Bewunderten an, während alle anderen Menschen als missgünstig, bösartig und als Versager bezeichnet werden. Es sind Menschen, die Millon16 als »kompensatorische Narzissten« beschreibt (vgl. Kapitel 1), die von sich selbst unrealistische, grandiose Vorstellungen entwickeln, denen jedoch massive Selbstwertzweifel und Schamgefühle zugrunde liegen.

Oft besteht die Neigung zum Rückzug in die Fantasien bereits von Kindheit an. Wie bei Lara Köster stellt die Flucht in eine »bessere« Welt einen Schutz vor der Konfrontation mit der bedrückenden, unerträglich erscheinenden Realität dar. Insofern ist es für Lara, wie für andere Menschen mit einer narzisstischen Störung, in Kindheit und Jugend eine große Hilfe, wenn sie zu grandiosen Fantasien Zuflucht nehmen.

Im Grunde muss ein solches Verhalten auch nicht unbedingt Ausdruck einer psychischen Störung sein. Die Schutzfunktion, die die grandiosen Fantasien für Lara erfüllen, ist offensichtlich: Die triste Realität der Familie mit Alkoholexzessen des Vaters und seiner Gewalttätigkeit gegenüber der Mutter, die Angst, die Lara bei den Streitereien der Eltern erlebt hat, ihr Gefühl der Verlassenheit, ihre geringen schulischen Erfolge, dies alles wäre ihr unerträglich gewesen, wenn sie sich nicht in ihre Fantasien hätte zurückziehen können.

Doch gerade weil diese Strategie so wirksam ist, liegt in ihr ein großes Problem:

Bei der geringsten Schwierigkeit im Leben sofort die Fantasie zu Hilfe zu holen, wird für einen solchen Menschen über die Jahre hin zu einer Selbstverständlichkeit, zu einem Automatismus, der schließlich einrastet, sobald eine unangenehme Situation entsteht. Je unangenehmer die Realität ist und je weniger soziale Erfolge ein Mensch mit einer narzisstischen Störung erlebt, desto stärker ist der »Griff« nach den Fantasien.

Es ist ähnlich wie beim übermäßigen Genuss von Alkohol. In Situationen von extremer Anspannung und von Konflikten mit anderen Menschen ist Alkohol ein schnell wirkendes Mittel, um sich zu beruhigen. Aus dem regelmäßigen Konsum entsteht aber genau hier das Problem: Der Griff zum Alkohol wird zur Selbstverständlichkeit, und die betreffende Person ist schließlich nicht mehr in der Lage, einen Konflikt ohne Alkohol zu lösen. Hinzu kommen die schwerwiegenden negativen Folgen des Alkohols auf Körper und Psyche.

Ganz ähnlich ist es mit der Flucht in die Fantasiewelt. Auch diese Strategie kann zu einer Droge werden, ohne die der betreffende Mensch schließlich nicht mehr auskommt. Dadurch wird der Griff zum Tagtraum immer selbstverständlicher und die Widerstandskraft einer Person wie Lara Köster immer weiter geschwächt. An diesem Punkt wird die – an sich konstruktive – Strategie, sich mit Hilfe von Fantasien vor einer überwältigenden negativen Realität zu schützen, zu einem Problem und Ausdruck der narzisstischen Störung.

Besonders verhängnisvoll ist es, wenn diese Neigung noch von den Eltern unterstützt wird. Im Fall von Frau Köster bedient sich die Mutter der gleichen Strategie und ist, wie dargestellt, der Ansicht, es sei gut, dass die Tochter als »fantasievolles« Kind dem Negativen dieser Welt etwas Positives entgegensetze. Es ist indes ein verhängnisvoller Irrtum, die Flucht in die Fantasie, wie wir sie bei Menschen mit einer narzisstischen Störung finden, einer produktiven Fantasietätigkeit gleichzusetzen. Gewiss stellt die Fähigkeit, Fantasien zu entwickeln, welche die unerträgliche Realität »abfedern«, eine gewisse Begabung dar. Doch zeigt das Beispiel von Lara Köster, dass es auf die Dauer zu einem geradezu süchtigen Verhalten werden kann, das immer weiter von der Realität wegführt.