Navy SEALS - Entlarvt - Stephanie Tyler - E-Book

Navy SEALS - Entlarvt E-Book

Stephanie Tyler

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Beschreibung

Navy SEAL Nick Devane arbeitet als Undercover-Agent an einem riskanten Auftrag, als er der attraktiven Journalistin Kaylee begegnet. Diese ist auf der Suche nach ihrem vermissten Ex-Mann und stolpert dabei über streng geheime Informationen, die auf eine weitreichende politische Verschwörung hinweisen. Über Nacht gerät ihr Leben in große Gefahr. Für Nick und Kaylee beginnt eine gefährliche Reise ins Herz Afrikas. Dabei stellen beide schon bald fest, dass sie tiefere Gefühle füreinander hegen. Können sie ihren Verfolgern entkommen und die Drahtzieher der Verschwörung entlarven?

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Seitenzahl: 489

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Inhalt

Titel

Widmung

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Danksagung

Impressum

 

STEPHANIE TYLER

ENTLARVT

Roman

Ins Deutsche übertragen von Juliane Korelski

Für Zoo und Lily,

auf immer

1

»Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.«

– Friedrich Nietzsche

Der Wagen war nicht schnell genug. Hundertvierzig Stundenkilometer – den meisten Männern hätte das genügt, aber Nick Devane war nicht wie die meisten Männer, und wenn es nach ihm ging, würde er das auch nie sein.

Ein Beben durchlief den mitternachtsschwarzen Porsche Turbo, als er gleich darauf mit hundertachtzig Sachen und auf zwei Reifen in die Kurve des Highways schleuderte. Nicks Atem kam jetzt in kurzen Stößen, sein Herz hämmerte in der Brust, er schloss die Finger fest um das Lenkrad. Der Rausch durchlief ihn wie ein Fieber, bis er nichts mehr dachte, bis die Gefahr seine Seele vibrieren ließ und ihn über jede vielleicht noch vorhandene Hemmschwelle hinaustrieb.

Manche Leute sagten, er sei immer noch der wilde Bursche von früher. Geschaffen für Geschwindigkeit und für Schwierigkeiten. Seine Sucht nach Adrenalin war unstillbar, hatte in seiner Jugend explosionsartig zugenommen und ihren Höhepunkt gefunden, als er Mitglied der Navy SEALs wurde.

Das war ein Job, den er so lange zu behalten gedachte, bis man ihn rauswarf. Ein Job, dessen Anforderungen genau zu ihm passten.

Das Auto einer Richterin kurzzuschließen und eine Spritztour damit zu unternehmen, war vor zehn Jahren vielleicht nicht seine schlaueste Idee gewesen; heute allerdings wusste Nick, dass er genau das Richtige getan hatte. Weil er dadurch die entscheidende Weiche für seine Zukunft gestellt hatte.

Siebzehn, großspurig und sorglos bis dorthinaus hatte er den geliehenen Porsche Carrera auf dem dunklen Highway entlang der Staatsgrenze zwischen Virginia und Maryland ans Limit getrieben, bis das Getriebe geächzt und das Fahrgestell gezittert hatte und er überzeugt gewesen war, dass der Wagen entweder gleich explodieren oder von der Straße abheben würde. Das eine wäre ihm in jenem Moment so egal gewesen wie das andere. Für den verstoßenen Teenager aus reichem Haus, der Nick damals gewesen war, wäre der Tod wahrscheinlich der einfachste Ausweg gewesen.

Aber das hätte die Sache für den Mann, den er nicht mehr Vater zu nennen bereit war, noch leichter gemacht, und jenes für ihn typische Leck-mich-am-Arsch-Gefühl, mit dem Nick schon zur Welt gekommen war und das er sich immer noch für Respektspersonen vorbehielt, war zu tief in ihm verwurzelt gewesen, um irgendetwas dafür aufzugeben. Am allerwenigsten das Leben.

In jener Nacht hatte er das Tempo verlangsamt, den Motor abgestellt und das schnittige silberne Baby die lange Auffahrt hinaufrollen lassen. Er wollte es dorthin zurückstellen, wo die Richterin es geparkt hatte, gewissermaßen schweißnass wie ein hart gerittenes Pferd, aber unversehrt – wenn man von dem fast leeren Tank einmal absah.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass »Euer Ehren« Kelly Cromwell dort bereits stehen würde, als habe sie alle Zeit und Geduld der Welt. Was, wie er später herausfinden sollte, auch tatsächlich der Fall war.

»Endstation«, hatte er vor sich hingemurmelt, war aus dem Auto gestiegen und auf sie zugeschlendert. Er lief nicht weg.

Nicht mehr.

Vor die Wahl zwischen Gefängnis und Militär gestellt, hatte er eine kluge Entscheidung getroffen.

Der schwarze Porsche heute Nacht war sein eigener, aber es wartete wieder jemand auf ihn, als er den Parkplatz des Diners erreichte und den Wagen in die letzte freie Lücke manövrierte.

Nein, innerlich hatte er sich nicht verändert. Aber äußerlich war die sorgsam kaschierte Vergangenheit seine Fassade, ein fest gewebtes Geheimnis, und er achtete darauf, dass es nicht zerfaserte.

Genau deshalb musste er sich mit Kaylee Smith treffen und tun, was er vor sechs Jahren seinem Lebensretter versprochen hatte.

Bringen Sie sich nicht in Schwierigkeiten, hatte sein Commanding Officer ihn am heutigen Abend noch gewarnt. Zu spät, hätte Nick beinah gesagt, die flapsige Bemerkung dann aber doch lieber für sich behalten.

Eine brutale dreimonatige Mission in Übersee und die Verwundungen innerhalb des Teams – bestehend aus einer Schussverletzung, zwei Rippenbrüchen und einer gebrochenen Nase, von denen ihn jedoch keine persönlich betraf – hatten eine Woche Aufenthalt in der amerikanischen Heimat zur Folge gehabt. Und das Zeitfenster von vierundzwanzig Stunden, das man ihnen zur freien Verfügung eingeräumt hatte, schrie geradezu danach, einen draufzumachen.

Nick hatte damit gerechnet, dass es heute Abend Schwierigkeiten geben würde – allerdings hatte er nicht erwartet, dass die Schwierigkeiten ihm praktisch nachlaufen würden.

Als sein CO ihm die Verantwortung für das Benehmen des Teams übertrug, hatte sich seine Begeisterung zwar deutlich gelegt, dies hatte aber an seiner Meinung nichts geändert, dass Trinken, Tanzen und die lautestmögliche Musik immer noch die beste Wahl für diesen Abend waren. Er wollte ins »Underground«, ein Lokal, das von ranghöheren Offizieren kaum besucht wurde und in dem er halbwegs hoffen durfte, dass niemand in eine Schlägerei geraten würde. Aber mit dem größten Teil des Teams im Schlepptau, darunter auch seine beiden Adoptivbrüder, standen die Chancen, realistisch betrachtet, eher gegen ihn.

Schwierigkeiten kommen stets im Dreierpack, pflegte Kenny Waldron, der einzige Mann, den Nick heute Dad nannte, zu sagen, wann immer Nick, Jake und Chris am selben Ort zusammen waren.

Nicks Pläne hatten sich geändert, als Max, ein Captain vom Marine-Nachrichtendienst, sich mit einer dringenden Mitteilung gemeldet hatte.

Hey, Devane, da hat jemand deinen Namen ausgeschnüffelt. Was zum Teufel hat das zu bedeuten?

Max war der Mann, der die Teams nach Hause brachte – sämtliche SEALs standen verdammt tief in seiner Schuld, und aus irgendeinem Grund war Max auch auf trockenem und eigentlich sicherem Boden immer derjenige, der andere herauspaukte.

Mit Nicks Einverständnis kontaktierte Max den Mann im Verteidigungsministerium, der in seiner elektronischen Personalakte herumgestöbert hatte, machte ihm die Hölle heiß und lieferte Nick den Namen und die Telefonnummer der Frau, die hinter ihm her war.

Kaylee Smith.

Nick wusste nicht, wer das war.

Aber sie weiß, wer du bist. Finde heraus, woher sie dich kennt, und mach der Sache ein Ende, waren Max’ letzte Worte gewesen.

Inzwischen wusste Nick, woher sie ihn kannte. Und er war im Begriff, der Sache ein Ende zu machen.

Kaylee Smith war frühzeitig in das Diner gekommen, um zu Abend zu essen und an zwei der Reportagen zu basteln, deren Abgabetermine bevorstanden – in der einen ging es um ein Waffenlager, das man in einem Frauenhaus entdeckt hatte, in der anderen um ihre gemeinsame Tour mit einer Undercover-Polizistin. Die Recherchen dafür waren aufregend gewesen – sie zu schreiben, war es weniger, aber wenn sie in der richtigen Stimmung war, konnte sie sich durchaus in das Gefühl der jeweiligen Situationen zurückversetzen.

Doch heute Abend gelang ihr das nicht. Sie hatte nichts gegessen, trank die dritte Tasse Kaffee und spielte nervös mit ihrem Stift, während sie durch das Fenster auf den Parkplatz hinausschaute, wo Nick Devane hoffentlich bald vorfahren würde. Sie wollte ihn sehen, bevor er sie sah, um sich ein Bild davon zu machen, mit wem sie es zu tun hatte. Würde sie ihn auf Anhieb erkennen? Bisher kannte sie schließlich nur seine Stimme.

»Mit wem spreche ich?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung war ein raues Knurren gewesen, das sie im ersten Moment erschreckt hatte.

»Mit wem spreche ich denn?«, fragte sie zurück, obwohl sie ziemlich genau wusste, mit wem sie sprach. Das flaue Gefühl in ihrem Magen nahm zu. Ihre Suche nach Nick Devane hatte im System so etwas wie einen Alarm ausgelöst, als sie einen Freund im Verteidigungsministerium nach seiner Geburtsurkunde suchen ließ. Fündig war ihr Freund nicht geworden.

Laut der Informationen, die Kaylee besaß, war Devane ein Mann für Sondereinsätze. Ein Navy SEAL. Aber diese Informationen waren sechs Jahre alt; inzwischen konnte er entlassen worden sein. Ein Mann mit seinem Werdegang könnte jetzt zum Beispiel für die CIA oder das FBI arbeiten.

Wie auch immer, er war jedenfalls ein Mann, der nicht gefunden werden wollte.

Ihre Frage beantwortete er nicht direkt. »Sie haben nach mir gesucht. Ich will wissen, warum.«

»Ihr Name … steht auf Aarons Liste«, sagte sie leise. Am anderen Ende herrschte Schweigen, so lange, dass sie einen prüfenden Blick auf das Display ihres Telefons warf, um sich zu überzeugen, dass die Verbindung nicht abgebrochen war. Ihr Handy hatte »Nummer unbekannt« angezeigt, als der Anruf einging. Nicht zurückverfolgbar.

»Sie möchten sich mit mir treffen«, sagte er schließlich.

»Ich möchte mich mit Ihnen treffen«, bestätigte sie. »Um über Aaron zu reden.«

»City Diner, Maple Street. Heute Abend, dreiundzwanzighundert.«

Eine militärische Zeitangabe. Er war also noch dabei. »Ich werde dort sein. Wollen Sie denn nicht wissen, wie ich heiße … oder woran Sie mich erkennen?«, fragte sie, bevor er auflegen konnte.

»Das wird kein Problem sein.«

Nick wusste offenbar nicht, dass alles, was mit Aaron zu tun hatte, ein Problem war – ein großes, das ihre Karriere bedrohte, ihre Vergangenheit … ihr Leben.

Nick hatte nicht nur ihre Telefonnummer gekannt – er hatte gewusst, in welchem Staat sie lebte. Und er kam zu ihr.

»Noch etwas Kaffee, Schätzchen?« Die Bedienung wartete nicht auf eine Antwort und füllte Kaylees Tasse einfach nach. Als sie davonging, bemerkte Kaylee, dass während dieser kurzen Unterbrechung ein schwarzer Porsche auf den Parkplatz gefahren war, und nun stand der bestaussehende Kerl, den sie je gesehen hatte, wie eine Backsteinmauer direkt vor ihr.

Sie hatte Aarons ganze Liste abtelefoniert, Mann für Mann. Jeder von ihnen hatte sich bereitwillig mit ihr getroffen. Jeder von ihnen hatte ihr gesagt, dass Aaron am Leben gewesen war, als ihre Wege sich trennten, dass ihr Exmann ihm das Leben gerettet hatte und dass Aaron sich geweigert hatte, Fragen danach zu beantworten, ob er zum amerikanischen Militär gehöre.

Nick war der Letzte auf Aarons Liste gewesen, aber wirklich nur der Reihenfolge nach. Hätte Kaylee einen Artikel über ihn schreiben müssen, hätte sie den ersten Absatz schon im Kopf gehabt:

Ein Krieger durch und durch. Hochgewachsen, breite Schultern, ein aristokratisches Gesicht – gut aussehend … Nick Devane sollte seine Brötchen eigentlich als Model für Herrenbekleidung verdienen, anstatt mit Waffen bepackt in der Welt herumzurennen.

Aber sie wusste es besser. Hinter der Fassade des ruhigen, coolen und gefassten Mannes, der da vor ihr stand, loderte ein Feuer, das er nicht endgültig beherrschen konnte. Diese innere Hitze, die ihn dazu trieb, immer noch einen draufzusetzen, noch eine Spur härter zu sein, höher zu fliegen und immer wieder sein Leben aufs Spiel zu setzen, einfach nur deshalb, weil er es brauchte.

Das war etwas, das Kaylee sowohl verstand als auch hasste. Und in diesem Moment, da Nick vor ihr stand, war sie überzeugt, dass sie auch ihn hasste.

Dafür, dass er auf Aarons Liste stand. Dafür, dass er Teil jenes Militärs war, das ihr so viel genommen hatte. Dafür, dass er ihre Welt binnen Sekunden auf den Kopf stellte.

Nick war also der letzte Mann auf der Liste. Der Letzte, der Aaron lebend gesehen hatte.

Und vielleicht derjenige, der wusste, wie er gestorben war.

»Sie müssen Nick sein.« Ihre Stimme klang zum Glück ruhiger, als sie befürchtet hatte. Er nickte nur.

Auch die Männer, die Kaylee in den vergangenen Tagen getroffen hatte, waren es gewohnt, sich kurz und direkt zu äußern. Aber Nick war noch einmal ein ganz anderes Kaliber. Er war regelrecht wortkarg. Kein zugeknöpfter Typ, der sie Ma’am nannte und ihr sein aufrichtiges Beileid wegen ihres Verlusts ausdrückte.

Und doch zweifelte sie aus irgendeinem Grund nicht daran, dass jedes Wort aus seinem Mund aufrichtig sein würde.

»Danke, dass Sie bereit waren, sich mit mir zu treffen. Bitte, nehmen Sie doch Platz.« Kaylee deutete auf die andere Seite des Nischentischs, an den sie sich gesetzt hatte, weil sie von hier aus den Eingang und den Parkplatz im Blick hatte. Außerdem konnte sie hier mit dem Rücken zur Wand sitzen – die erste Kampfregel in der Welt, wie Aaron sie sah.

»Nicht hier«, war alles, was Nick sagte, bevor er sich umdrehte und hinausging.

Kaylee blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Rasch warf sie ein paar Geldscheine auf den Tisch, um ihre Rechnung zu begleichen. Nick holte sie erst ein, als er die Straße schon halb hinaufgegangen war.

Er drehte sich nicht nach ihr um, nahm einfach an, dass sie ihm folgen würde, wo er auch hinging.

Und damit hatte er recht.

Ja, er erwies sich in der Tat als der Arroganteste aus dem ganzen Haufen.

»Aaron war Ihr Mann«, sagte er, als er schließlich vor einem Durchlass zwischen zwei Gebäuden stehen blieb, und zwar an der Ecke, wo die Straßenlaterne ausgefallen war. Dann sah er sie an und korrigierte sich: »Ihr Exmann.«

Um von Nick Antworten zu erhalten, würde sie ihm Antworten geben müssen. »Ja. Er war mein Exmann, schon lange bevor er gestorben ist.«

»Sie waren jung.«

»Zu jung«, pflichtete Kaylee ihm bei. »Gerade mal achtzehn, als wir geheiratet haben.« Aaron war für sie ein Ausweg gewesen. Sie hatte nicht gewusst, dass sie sich damit nur noch mehr einhandelte von dem, wovor sie davonlief, nachdem ihre Mutter sie sitzen gelassen hatte mit einer Großmutter, die ihre Enkelin weder bei sich haben wollte noch liebte.

Heute war Kaylees Leben ganz anders. Sie war zu einer kalten, unbarmherzigen Reporterin geworden, die verdeckt recherchierte und sowohl respektiert als auch gefürchtet war. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, das war ihr Motto.

Sie schaltete ihre Gefühle selbst dann aus, wenn es um Aaron ging. Ihre erste Liebe. Ihr erstes Ein und Alles. Aber die meisten dieser Gefühle pendelten ohnehin nur zwischen Nostalgie und Hass.

»Ich bin ihm in Afrika begegnet«, sagte Nick. Seine raue Stimme glitt Kaylee wie ein Streicheln über den Rücken. So war es auch schon während ihres Telefonats am Nachmittag gewesen. Aber in der direkten Begegnung fühlte es sich noch viel besser an.

»Ich weiß. Im Kongo«, erwiderte sie. Wenn es ihn überraschte, dass sie das wusste, dann ließ er es sich nicht anmerken. Das hatte sie auch nicht erwartet, aber gerade, als sie sich fragte, ob es irgendetwas geben mochte, das seine Schale knacken konnte, schluckte er hart und rieb sich mit zwei Fingern über die Kehle, während er in den Nachthimmel hinaufblickte, als durchlebe er noch einmal jene Zeit in Afrika.

»Aaron hat mir das Leben gerettet.«

»Die Liste mit Namen von Männern, die er mir hinterlassen hat … er sagte, er hätte allen das Leben gerettet. Nur Ihnen nicht.«

Nick sah sie mit erhobenen Brauen und abwartend an. Nur scheinbar geduldig, denn tatsächlich ging seine Ungeduld wie in Wellen von ihm aus.

»Er sagte, Sie seien auch ohne seine Hilfe klargekommen«, fuhr sie fort. »Ist das wahr?«

»Sie erwarten von mir eine hundertprozentig korrekte Beurteilung von etwas, das sechs Jahre her ist?«, fragte er mit angespannter Stimme. »Verdammt, ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.«

Er schob die Hände in die Hosentasche. Seine Lederjacke klaffte auf, und Kaylee rechnete fast damit, ein Pistolenhalfter zu sehen.

»Ich versuchte, ihn zu überreden, mit mir zum Hubschrauber zurückzukehren«, erzählte Nick. »Er wollte nicht. Er sagte, für ihn gebe es keinen Weg zurück. Und dann gab er mir das – bat mich, es seinem Mädchen zu geben, wenn sie zu mir käme.«

Kaylee spürte, wie ihr heiße Tränen in die Augen schossen, als Nick eine Hand aus der Tasche zog und ihr ein abgewetztes rundes Abzeichen reichte, ein grob gesticktes schwarzes Symbol auf grauem Grund.

»Das haben Sie die ganze Zeit über aufbewahrt?«, fragte sie.

»Ich halte immer Wort.«

Das war viel mehr, als sie über Aaron sagen konnte. »Als Sie ihn das letzte Mal gesehen haben … wie … wie ging es ihm da?«

»Er war okay. Ich war derjenige, der angeschossen worden war.«

»Er war ein guter Ranger.« Sie brachte es nicht fertig, Mann zu sagen, auch wenn man beim Militär meinte, die beiden Worte seien Synonyme. Sie wusste es besser.

»Das glaube ich Ihnen.« Er nickte knapp.

»Wie sah er aus?«

»Ich weiß nicht, wie er vorher ausgesehen hat. Ich habe keine Vergleichsmöglichkeit.«

Kaylee holte ein Bild aus ihrer Tasche, das Aaron mit ernster Miene zeigte, in voller Uniform, die Rangerausbildung gerade abgeschlossen. An dem Tag, als es aufgenommen worden war – in genau jenem Moment –, hatte Kaylee gewusst, dass es für sie beide der Anfang vom Ende war.

Nick nahm das Foto und betrachtete es. »Das ist er. Seine Haare waren länger. Er hatte einen Bart, und er machte den Eindruck, als sei er durch die Hölle gegangen.«

Sie lehnten sich beide nebeneinander gegen die Mauer des Ziegelbaus, während die Worte Kaylee wie von selbst über die Lippen flossen.

»Ich habe ihn kennengelernt, als wir beide fünfzehn waren. Nach unserer Hochzeit habe ich ihn kaum noch gesehen – erst ging er auf die Ranger School, dann zog er los, um die Welt zu retten. Allen voran«, zitierte sie den Leitspruch der Rangers in sarkastischem Ton.

Nicks Stimme klang völlig nüchtern. »Die Frau eines Soldaten hat es nicht leicht.«

»Das Militär hätte mich mit sechsundzwanzig ohnehin zur Witwe gemacht.« Vor vier Jahren hatte sie von der Armee die Nachricht von Aarons Tod erhalten, dazu seine persönlichen Sachen, darunter den Schlüssel für ein Bankschließfach, in dem sie die Namensliste und Aarons letzte Worte gefunden hatte:

Es tut mir leid.

Ihrer Meinung nach war das nicht annähernd genug.

»Wie lange hatten Sie meinen Namen schon?«, fragte Nick.

»Ich habe das Bankschließfach erst vor zwei Wochen geöffnet. Ich wusste nicht, dass diese Liste darin war.« Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern, aber sie hatte das Gefühl, sie herauszuschreien.

»Und dann haben Sie Ihre Freunde im Verteidigungsministerium bis ans Ende der Welt hinter mir herschnüffeln lassen.«

Sie hob den Kopf, um zu ihm aufzusehen. »Warum sind Sie so schwer zu finden?«

Er überging ihre Frage und stellte eine eigene: »Warum haben Sie mit dem Öffnen dieses Schließfachs vier Jahre gewartet? Was ist vor zwei Wochen passiert?«

Würde er ihr glauben? Sie glaubte es ja selbst kaum, aber inzwischen war sie zu weit gekommen, um noch aufzugeben. »Vor zwei Wochen hat mich ein Toter angerufen.«

2

Wenn Nick gekommen war, um der Sache ein Ende zu machen, dann musste er sich eingestehen, dass er sich wie ein verdammter Stümper anstellte. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie ihn seine Brüder anmachen würden, wenn sie wüssten, wo er war und was er tat. Zum Glück war es ihm gelungen, sich durch die Hintertür der Bar zu verdrücken, als die beiden zu sehr abgelenkt waren, um es zu merken.

Sie würden es noch früh genug mitbekommen.

»Moment mal … Sie glauben, Aaron hat Sie angerufen? Der tote Aaron?«, fragte er Kaylee.

»Ja. Vielleicht. Und Sie können ruhig aufhören, mit mir zu reden, als sei ich übergeschnappt.«

Er taxierte sie kurz. Der Vorteil lag auf seiner Seite. Er war es gewohnt, im Dunkeln zu arbeiten, auch ohne Nachtsichtgerät. Sie wähnte sich verborgen und ahnte nicht, wie viel ihre Körpersprache und ihr Mienenspiel preisgaben.

Gerade jetzt zog sie ihre Unterlippe leicht zwischen die Zähne – das hatte sie in den zehn Minuten, seit er sie kannte, schon mehrmals getan. Und es machte Nick jedes Mal ganz verrückt.

Sie sagte die gottverdammte Wahrheit, daran gab es keinen Zweifel. Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und fragte sich, warum er nicht die Notbremse zog und zur Fluchtluke rannte.

»Was hat er gesagt?«, hörte er sich wider besseres Wissen fragen.

»Er sagte: Alles Gute zum Geburtstag, Kaylee. Die Verbindung war sehr schlecht. Ich wollte wissen, wo er ist, aber er antwortete nicht. Und dann sagte er: Es tut mir leid, KK.« Sie hielt inne. »Er war der Einzige, der mich KK nannte. Und immer nur, wenn wir unter uns waren.«

»Das Ganze ist ein Irrtum. Irgendjemand spielt Ihnen da einen Streich, einen ziemlich grausamen Streich.«

»Ich habe keine Leiche gesehen, Nick. Ich bin auch nicht zur Beisetzung gegangen. Ich weiß nicht einmal, ob es eine gab.«

»Was genau hat man Ihnen gesagt, als man Sie seitens der Armee benachrichtigt hat?«

»Es hieß, er sei im Einsatz gefallen«, antwortete sie. »Das Problem war nur, dass die Namensliste, die er mir hinterlassen hat, mit Datumsangaben versehen war … und diese Angaben beginnen ein Jahr nach seinem angeblichen Todestag.«

Kaylee mochte durchaus nicht gewusst haben, dass Aaron desertiert war – aber wie konnte die Armee es nicht gewusst haben? »Aaron hatte sich unerlaubt von der Truppe entfernt, als er mich gerettet hat.«

Kaylee schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, das hätte Aaron nie getan. Das Militär war sein Leben. Er war mit Leib und Seele Ranger. Er hat diesen Job mehr geliebt als irgendetwas sonst.«

»Auch mehr als Sie?«

»Ja, auch mehr als mich. Um ehrlich zu sein, habe ich auch nicht allzu sehr versucht, etwas daran zu ändern.«

In dieser Hinsicht hätte Kaylees Aussehen für Aaron eigentlich Grund genug sein sollen. Sie war langbeinig, sexy, hatte dunkles kastanienbraunes Haar, lang und gelockt und irgendwie wild, so wie die ganze Frau. Schon auf den ersten Blick waren Nick ihre schwarze Lederhose und das alte AC/DC-T-Shirt aufgefallen, und ja, Kaylee Smith mochte durchaus das Gefährlichste sein, worauf er je außerhalb einer Mission gestoßen war. Teils Engel, teils Wildkatze, und verdammt, es passte ihm gar nicht, als ihm bewusst wurde, dass ihm eine Nacht mit ihr nicht reichen würde. Nicht einmal annähernd.

Sie bedeutete Ärger.

»Ich weiß, was in jener Nacht auf Ihrer Mission passiert ist«, erklärte sie ihm. »Aaron hat nicht nur Ihren Namen notiert. Er hat einen Bericht darüber geschrieben.«

Verdammt, das war nicht gut. Was hatte Aaron sich dabei gedacht, ein Einsatzprotokoll zu schreiben?

Diese Sache hatte sich von einem Gefallen, den Nick einem Toten erwies, zu etwas völlig anderem entwickelt. »Warum bin ich dann hier, wenn Sie die Geschichte schon kennen?«

»Weil ich Ihre Seite hören möchte. Ich will die Lücken füllen, ich will wissen, was Aaron wirklich für Sie getan hat. Bitte.«

Ob Aaron nun desertiert war oder nicht, einer Witwe konnte er diese Bitte einfach nicht abschlagen. Er würde ihr die Geschichte erzählen, ohne ihr die ganze Geschichte zu erzählen.

Es gibt Dinge wie falsche Wahrheiten und ehrliche Lügen, hätte sein Dad gesagt.

Er wandte sich von ihr ab und schlenderte langsam auf einen kleinen Spielplatz hinter den Mietshäusern zu, eine Rasenfläche, in deren Mitte ein Schaukelgerüst stand. Dort legte er sich hin, flach auf den Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, schaute zum Nachthimmel hinauf und fragte sich, warum zum Teufel diese Sache ausgerechnet heute Nacht über ihn hereinbrach, nach all der Zeit.

Er schloss die Augen und beschwor seine Erinnerungen an jene Nacht herauf.

Vor sechs Jahren war er Petty Officer Third-Class Devane gewesen, einundzwanzig Jahre alt und auf seiner ersten Mission mit seinem ursprünglichen SEAL-Team. Und Angehörige der militanten Miliz, die auszukundschaften man sie in die Demokratische Republik Kongo geschickt hatte, versuchten, ihn umzubringen.

Er hatte dem Tod schon vorher ins Auge gesehen, vor allem, als er noch jünger gewesen war und niemand damit gerechnet hatte, dass er seinen ersten, zweiten und dann dritten Geburtstag überleben würde. Er selbst hatte nicht geglaubt, dass er je den Tag seiner Volljährigkeit erreichen würde.

Aber dort, dicht hinter einer Reihe pastellfarbener Häuser mit Blechdächern in einer kleinen Stadt etwas außerhalb von Kisangani, war er mit fliegenden Fahnen untergegangen, und er entsann sich gut, wie sehr ihn das angekotzt hatte.

»Diese Mission sollte in weniger als sechs Stunden vonstattengehen«, sagte er schließlich – mehr zu sich selbst als zu Kaylee. Im Dunkeln rein und vor Tagesanbruch wieder raus.

»Der amerikanische Heli traf um 2200 in der DRK ein, ganz in der Nähe von Kisangani«, sagte Kaylee. Sie zitierte aus dem Gedächtnis, nicht vom Blatt.

Sie hatte sich neben Nick ins Gras gelegt, obwohl die Luft kühl und der Boden noch kälter war. Wie auch er blickte sie zum Himmel empor, während sie sprach.

Nick hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, nicht zurückzuschauen, immer nur nach vorn, und keinen Fehler zweimal zu machen. Kaylee sah das anscheinend anders.

Das bist du Aaron schuldig, sagte er sich, weil er verstand, wie es war, nicht gefunden werden zu wollen, während ihm die andere Hälfte seines Gehirns sagte, dass er über sein Versprechen hinaus niemandem auch nur einen Scheißdreck schuldig war. Und dieses Versprechen hatte er gehalten, indem er Aarons Mädchen das Abzeichen gegeben hatte.

Es gefiel ihm nicht, Kaylee auch nur in Gedanken Aarons Mädchen zu nennen.

»Sechs Mann sind über der Landezone ausgestiegen«, fuhr sie fort. »Sofort hat Feindfeuer eingesetzt und die Gruppe gezwungen, sich zu trennen. Richtig?«

Er nickte. Sechs SEALs seines Teams stiegen unterhalb ihres eigentlichen Ziels aus, um eine potenzielle neue Terrorzelle auszukundschaften, die Gelder und Ressourcen der militanten Miliz nutzte. Eine streng geheime Mission von höchster Priorität.

Der Helikopter war am Lauf des Lualaba entlang in Richtung Isangi geflogen, eine kleine Stadt außerhalb von Kisangani, die ihr letztendliches Ziel war. Zehn Meilen davon entfernt setzte er das Team an einem abgeschiedenen Teil des Flusses ab, fern dem nächsten Checkpoint und den Städten, abgesehen von ein paar kleineren Dörfern.

Sobald sich mit Wolf der letzte Mann zum Boden abgeseilt und der Hubschrauber abgedreht hatte, war das Team unter feindlichen Beschuss geraten.

Von überallher schienen Schatten sie zu umzingeln, ihr Heulen hallte durch den Dschungel und löste eine Kette von Ereignissen aus, die sich im Nu überschlugen. Ein Hinterhalt höllischen Ausmaßes.

Die Miliz wollte ein weiteres Exempel an amerikanischen Soldaten statuieren, und je elitärer die waren, desto besser.

Nick erinnerte sich, dass Wolf über Funk eine schnelle Eingreiftruppe anforderte und Brice, Jerry und Tim sich nach Osten absetzten, um hinter den Feind zu gelangen.

Nick war Joe und Wolf nach Westen gefolgt und gab ihnen Rückendeckung, während über ihre Köpfe die Schüsse der Schnellfeuergewehre hinwegratterten.

Getrennt marschieren, vereint zuschlagen, hatte Wolf gesagt.

»Mann Nummer sechs wurde von Artilleriefeuer in die Brust getroffen, nachdem er zwei Mitglieder der Miliz getötet und eine Granate abgefeuert hatte, um den Feind zurückzudrängen.« Kaylees Worte hallten in Nicks Ohren, und er hörte das harte Krachen der Schüsse von damals wieder – jener Kugeln, die seine Schulter durchschlagen und ihn kurz außer Gefecht gesetzt hatten.

Joe war bereits zu Boden gegangen – ein Treffer in den Oberschenkel, der ihn fluchen ließ, aber nicht daran hinderte weiterzuschießen, was das Magazin hergab, während Wolf ihn in Sicherheit geschleppt und Nick alles daran gesetzt hatte, ihnen etwas Zeit zu verschaffen.

»Mann Nummer sechs wurde von seinem Team getrennt.«

Als die Kugeln Nick trafen, war er zurückgeschleudert worden und hatte das Bewusstsein verloren. Als er aufwachte, sah er Sterne, hatte aber noch Gefühl in den Fingern und Zehen und hätte sie bewegen können, wusste aber auch, dass es einen Grund geben musste, weshalb er sich nicht bewegte. Obgleich neuerliches Maschinengewehrfeuer immer näher kam.

Kämpf oder flieh, diese Devise war fest in ihm verwurzelt, seit er laufen konnte – und davon würde er auch jetzt nicht lassen, jedenfalls nicht ohne einen verdammt guten Grund.

Langsam hob er den Kopf vom staubigen Boden, eine geringfügige Bewegung nur, die ihm trotzdem puren Schmerz durch den Schädel jagte und ihn fast wieder hätte ohnmächtig werden lassen. Als er den Kopf zurücksinken ließ, hatte er seine Antwort.

Der verdammt gute Grund war ein loser Draht, der an einer Antipersonenmine befestigt war und auf den er gestürzt war, als er die Besinnung verloren hatte. Wäre der Draht straff gespannt gewesen, hätte er nicht die geringste Chance gehabt. Die Mine befand sich keine 25 Meter von ihm entfernt, und sie war scharf, tödlich – und der Draht hatte sich in seiner Ausrüstung verheddert.

Damit war aus ›Kämpf oder flieh!‹ jetzt ›Lieg still oder stirb!‹ geworden.

So eine gottverdammte Riesenscheiße.

Sein Funkgerät war längst hinüber – zerbrochen, als er zu Boden geknallt war. Er konnte jetzt nur noch auf sich selbst zählen.

Er atmete flach, aufgrund seiner Verletzungen eher notgedrungen als beabsichtigt. Die Wunden befanden sich mehr auf Schulter- als auf Brusthöhe – zumindest redete er sich das ein, sicher konnte er sich dessen nicht sein. Aber die Tatsache, dass er bei Bewusstsein war und atmete, war ja schon mal ein gutes Zeichen.

Er schloss die Augen und horchte in die Stille ringsum, lauschte nach irgendeinem noch so winzigen verräterischen Geräusch.

Das ist der beste Adrenalinrausch, den ihr legal kriegen könnt, hatte sein alter CO in der Ausbildung getönt.

Ja, das war ein echter Adrenalinrausch. Inklusive Schwindelgefühl und trockenem Mund, und vor Nicks innerem Auge spulte sich sein Leben noch einmal im Zeitraffertempo ab. Sein Körper war zu angeschlagen, um noch groß Schmerzen zu spüren – seine dafür zuständigen Nervenenden waren so gut wie zerstört, so sehr, dass es ihn schon ziemlich hart hätte erwischen müssen, um ihm körperliche Schmerzen zuzufügen.

Es hatte ihn ziemlich hart erwischt.

Vorsichtig fasste er mit seiner rechten Hand in eine seiner Taschen und tastete nach seinem Ka-Bar-Messer. Als er es fest in der Faust hielt, durchtrennte er den losen Draht auf der rechten Seite. Das Ganze dauerte wahrscheinlich keine fünf Sekunden, aber er hatte das Gefühl, dazu durch Öl schwimmen zu müssen.

Dann wechselte er das Messer in die linke Hand und wollte den Draht dort ebenfalls durchschneiden, als er merkte, dass von hinten jemand auf ihn zugekommen war – jemand, der sich so lautlos bewegen konnte, wie er es auch selbst gelernt hatte, und das war der Grund, weshalb alle seine Sinne Alarm schlugen.

Es kam nicht einmal darauf an, ob es sich um Freund oder Feind handelte, nicht wenn es ihm nicht gelang, das andere Ende dieses losen Drahtes zu durchtrennen. Der Draht war so angebracht, dass er eine geschlossene Schleife bildete – wenn er ihn nicht auf beiden Seiten durchtrennte, blieb die Mine scharf.

»Mann Nummer sechs war verwundet und wurde auf einem losen Draht liegend gefunden, der mit einer scharfen Mine verbunden war.« Kaylees Worte waren sanft, linderten die Härte seiner Erinnerungen. Nick wurde die Brust eng, so wie in jener Nacht – aus Angst, aus Schmerz und aus dem Verlangen heraus, von dort zu verschwinden und zwar lebend und so unversehrt wie möglich.

»Da kam Aaron aus dem Gebüsch, um mir zu helfen«, erzählte er ihr.

»Nicht bewegen«, sagte der Kerl mit einem kleinen Lächeln, und Nick schloss die Augen und unterdrückte den Drang zu fluchen. Doch als der Mann den Draht auf der anderen Seite kappte und »Alles klar!« sagte, wünschte Nick, er hätte ihm die Hand schütteln können.

Stattdessen machte er sich daran, auf die Mine zuzukriechen.

»Hey, Mann, was tust du da?«, fragte der Kerl und legte ihm eine Hand auf den Arm.

»Es wäre mir recht, wenn du mich die Mine ganz entschärfen lassen würdest«, presste Nick hervor.

»Mir wär’s recht, wenn ich erst mal dafür sorgen dürfte, dass du mir hier nicht verblutest.«

»Auch keine schlechte Idee. Wer zum Teufel bist du eigentlich?«, fragte Nick, während der Mann rasch seine Verletzungen untersuchte, ihm sagte, dass er zwei Austrittswunden habe, und dann einen festen Druckverband anlegte.

»Ich bin Aaron. Aaron Smith. Ihr seid in einen Hinterhalt geraten«, antwortete er endlich auf Nicks Frage.

Aaron trug tarnfarbene Dschungel-Kampfkleidung, aber das tat jeder an diesem gottverlassenen Ort. Man konnte die Guten nicht von den Bösen unterscheiden, weil das nichts mit der Farbe zu tun hatte. »Ich habe gesehen, wie es passiert ist«, erklärte Aaron.

»Weil du es geplant hast?«

Aaron lachte kurz auf, während er in einer schwarzen Tasche zu wühlen begann, die Nick als die eines Sanitäters erkannte und aus der sein Retter schließlich eine Spritze holte. »Das war nicht ich. Aber irgendjemand wusste, dass ihr hier landen würdet.«

Nick hob eine Hand zum Zeichen, dass er die Injektion nicht wollte. »Ich bin allergisch.«

»Gegen was?«

»Gegen so ziemlich alles, was du in deiner Tasche hast.« Nick schloss die Augen. Der Mann seufzte.

»Also Zähne zusammenbeißen und durch, ja?«

»Hab keine andere Wahl.«

»Du wirst’s überleben«, erklärte Aaron, und als Nick die Augen öffnete, wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass er es wirklich überleben würde. Es würde nur wehtun.

Schmerz ist nichts als Schwäche, die der Körper ausscheidet, Devane. Das hast du doch immer gewusst.

»Mann Nummer sechs stand aus eigener Kraft auf und versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Unterwegs sammelte er einen verwundeten Teamkameraden ein«, fuhr Kaylee fort.

Das klang so viel besser, als es tatsächlich gewesen war. Nicht nach all dem Rauch und Blut, die jene Nacht erfüllt hatten, und nicht nach dem furchtbaren Gefühl, verdammt zu sein.

Nick griff nach Joes Funkgerät. Es hatte seinen Teamgefährten übel erwischt. Er hatte so viel Blut verloren, dass er alle paar Minuten die Besinnung verlor, und Nick wollte ihn nicht aufwecken, bis es an der Zeit war, wirklich die Beine in die Hand zu nehmen.

»Was hast du vor?«, fragte Aaron.

»Ich muss einen Funkspruch absetzen.«

Aaron legte eine Hand auf seine. »So sind sie auf euch aufmerksam geworden. Sie wussten, dass Amerikaner unterwegs waren, und brauchten nur eure Frequenz abzuhören.«

»Unser Informant hat uns verraten und verkauft«, murmelte Nick.

»Jetzt kann uns nur noch Scheißzauberei helfen«, gab Joe brummig zurück, und damit hatte er verdammt recht.

»Ich möchte Ihre Narben von damals sehen«, sagte Kaylee.

»Das hört sich aber nicht nach offizieller Berichtssprache an«, erwiderte Nick, streifte jedoch gehorsam seine Jacke ab und fing an, sein Hemd aufzuknöpfen.

Kaylee beugte sich zu ihm herüber, und ihr Haar streifte über seine nackte Brust, als sie die beiden fast genau nebeneinander liegenden Narben in Augenschein nahm. Am Ende hatte er sich eine Infektion eingefangen, einen verschleppten Pneumothorax, der sich erst spät gezeigt hatte, und eine Lungenprellung, aber er hatte Glück gehabt. Er hatte sich schnell erholt und war schon nach zwei Monaten wieder bei seinem Team gewesen.

»Hat das sehr wehgetan?«, fragte Kaylee leise. Sie berührte ihn, und er versuchte, nicht zusammenzuzucken. Aber ihre Berührung war fest, nicht zärtlich, und das half ihm ein wenig.

»Nicht sehr.« Darauf war es in der Situation damals nicht angekommen. Es war nur wichtig gewesen, von dort zu verschwinden.

»Du musst die alternative Nachschubroute nehmen, wenn du hier rauswillst«, sagte Aaron, als wieder Schüsse fielen. »Und du musst dich beeilen. Du verlierst Blut, ganz egal, wie fest ich deine Wunde verbunden habe.«

»Du bist ein Söldner«, sagte Nick, während Aaron die Sanitätssachen in die Tasche zurückpackte und seine AK-47 nachlud.

»Ich bin niemand. Ich bin fahnenflüchtig«, erwiderte Aaron.

»Seit wann?«

»So lange schon, dass es keinen Weg zurück gibt.« Aaron lächelte, aber das Lächeln erreichte seine Augen nicht. »Ich habe alles verloren, auch mein Mädchen.«

»Herrgott, Mann, es ist nie zu spät.« Und zum ersten Mal im Leben glaubte Nick das sogar.

Er lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Felsen und munitionierte weiter auf. Joe war wieder ohnmächtig geworden, von seinen drei anderen Teamkameraden gab es keine Spur. »Vielleicht kann ich dir helfen. Dass du mir den Arsch gerettet hast, würde dir vor Gericht eine Menge Punkte einbringen, wenn du mit uns zurückkämst.«

»Wie heißt du?«, unterbrach Aaron ihn. »Ich habe eine Liste mit den Namen der Männer, denen ich geholfen habe. Ich weiß, dass sie mich nicht mehr liebt, aber sie soll wissen, dass ich versucht habe rauszukommen.«

»Rauszukommen? Woraus?«

»Deinen Namen, Mann. Mehr will ich nicht, nur deinen Namen.«

Nick zog einen Stift aus der Tasche und schrieb seinen Namen auf die Hand des Typen, weil … verdammt, wenigstens das war er ihm schuldig.

Aaron griff in seine Tasche und drückte Nick ein abgewetztes Abzeichen in die Hand. »Gib ihr das.«

»Wem? Deinem Mädchen?«

»Sie ist nicht mehr mein Mädchen. Aber … ja. Wenn sie dich anruft, gibst du ihr das. Mehr brauchst du nicht zu tun.«

Mehr brauchst du nicht zu tun …

»Der Heli näherte sich der Kampfzone um 2400.«

Nick hatte sich umgedreht, um Aaron aufzufordern, in den Hubschrauber zu steigen, damit er aus diesem gottverlassenen Land verschwinden und sich den Konsequenzen, die auf ihn warteten, stellen konnte.

Aber Aaron war längst weg gewesen – und was der Mann zurückgelassen hatte, ließ Nick immer noch das Blut in den Adern gefrieren, so heftig, dass er Kaylee gegenüber nichts davon sagen würde, wenn Aaron es nicht selbst erwähnt hatte. Damals hatte Nick einen Moment lang die Faust um das Abzeichen geballt, bevor er es einsteckte; dann hatte er sich Joe über die Schultern gewuchtet und war zum Hubschrauber und in Sicherheit gerannt.

»Heli-Start mit allen sechs Männern um 2404«, beendete Kaylee den Bericht.

Aber es war nicht zu Ende, nicht so, wie Nick gedacht hatte, dass es zu Ende sein würde, wenn dieser Tag schließlich kam. Der Kreis schloss sich nicht, es wurde kein Schlussstrich gezogen – es stellten sich nur weitere Fragen. Und Kaylees Hand lag immer noch auf seiner Brust. Ihre Handfläche bedeckte die alten Narben, die in den Jahren weiß geworden waren und leicht hervortraten. Er hatte nicht nur diese beiden Narben, aber die anderen nahm er kaum wahr.

Nur diese beiden spürte Nick jeden Tag. Sie waren Erinnerungen, Mahnungen, genau wie die Narbe an seiner Kehle, die immer noch kribbelte, wann immer er spürte, dass eine Gefahr auf ihn lauerte.

Auch Kaylees warme Hand auf seiner Haut erinnerte ihn an etwas – daran, dass er heute Nacht eigentlich unterwegs sein und nach etwas anderem suchen sollte, nach einem Ventil, um Dampf abzulassen. Nach einer schönen Frau, die nicht in seinen alten Problemen wühlte … und keine eigenen mitbrachte.

Er setzte sich abrupt auf, und ihre Hand glitt von seiner Brust. »Aaron war desertiert, Kaylee. Das hat er mir selbst gesagt. Ich weiß also nicht, warum die Armee behauptet, er sei im Einsatz gefallen.«

Kaylee runzelte die Stirn und rieb sich die Hände, während er über die alte Narbe des Luftröhrenschnitts an seinem Hals strich und im Stillen das Kribbeln verfluchte, das gerade begonnen hatte.

»Ich bekomme immer noch seine Rente«, sagte sie.

»Was wollen Sie eigentlich wissen? Was wollen Sie von mir?« Nick stemmte sich hoch. Sie folgte rasch seinem Beispiel und stand dann auch schon vor ihm. Ganz nah. Zu nah. Normalerweise wäre er einen Schritt zurückgetreten, um sich seinen persönlichen Raum zu schaffen.

Diesmal tat er es nicht. Er fühlte immer noch, wo ihre Hand auf seiner Brust gelegen hatte.

»Ich will wissen, warum die Armee ihn als tot führt – und das schon zwei Jahre, bevor er Sie gerettet hat. Ich will wissen, warum er desertiert ist. Ich will Sie anheuern, damit Sie mir helfen, das alles herauszufinden.«

»Ich bin nicht käuflich.«

»Ich kann Sie gut bezahlen.«

»Ich brauche Ihr Geld nicht. Ich bin kein Söldner, ich bin Soldat. Man zeigt mir, wo ich hingehen und was ich tun soll, und ich gehe hin und tue es. Ende der Geschichte.«

»Die Armee will mir nicht helfen. Das Verteidigungsministerium auch nicht.«

»Und ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe meinen Teil der Abmachung eingehalten. Ich habe getan, was ich Aaron versprochen habe.«

»Sie müssten gar nichts tun. Sie könnten mich einfach nur dort hinführen, wo Sie Aaron zuletzt gesehen haben …«

»Das ist geheim.«

»… und aufpassen, dass mir nichts zustößt …«

»Ich bin kein freiberuflicher Leibwächter. Wenn ich jemanden beschütze, dann ist das ein Personenschutz-Sonderauftrag und ein Befehl. Und zwar ein offizieller.« Okay, das stimmte nicht ganz – er hatte an vielen schwarzen und grauen Operationen teilgenommen, Einsätze, die das Militär nicht absegnete; erst im vorigen Jahr hatte er in Afrika sogar mit einer Söldnertruppe zusammengearbeitet. Aber das würde er dieser Frau bestimmt nicht auf die Nase binden. Diese Dinge gab er ja nicht einmal seinen Brüdern gegenüber offen zu.

»Angenommen, ich würde zu Ihren Vorgesetzten gehen und ihnen sagen, dass ich weiß, wo dieser Einsatz stattgefunden hat. Mit exakten Koordinaten. Was wäre dann?«

Nick lief ein Schauer über den Rücken, als ihre Hand sich im übertragenen Sinn um seine Eier schloss und zudrückte.

Mach der Sache ein Ende, Devane. »Haben Sie mich deshalb herbestellt? Um mich zu erpressen?«

»Wenn es sein muss. Ich will wissen, wie er gestorben ist. Wo er gestorben ist. Und Sie sind der Schlüssel dazu.«

»Ich bin nicht der einzige Mann, den Aaron gerettet hat. Das haben Sie selbst gesagt. Versuchen Sie Ihr Glück bei einem der anderen. Ich bin Aaron nichts mehr schuldig. Für mich war’s das.«

»Sie sind also nur hergekommen, um mir dieses Abzeichen in die Hand zu drücken, den Kopf zu tätscheln und mich wieder fortzuschicken? Sie haben getan, worum Aaron Sie gebeten hat, und jetzt ist Ihr Gewissen wieder rein?«

»Mein Gewissen war noch nie rein, Kaylee. Und das wird es auch nie sein, also machen Sie sich darüber keine Sorgen.«

»Ich muss mehr in Erfahrung bringen – über das, was in jener Nacht geschehen ist«, sagte sie. »Sie waren möglicherweise der Letzte, der ihn lebend gesehen hat.«

»Haben Sie nicht gesagt, er sei noch am Leben?«

»Der Anrufer hörte sich genau wie Aaron an. Er wusste, dass ich Geburtstag hatte.«

»Das kann jeder herausfinden, der einen Computer hat und nicht ganz dumm ist«, meinte Nick.

»Nur Sie könnte niemand finden.«

»Das sollten Sie nicht vergessen.«

»Aber jetzt sind Sie hier, oder nicht?« Sie gab sich ziemlich unerschrocken, aber wenn es hart auf hart kam, würde sie sicher den Schwanz einziehen, daran zweifelte Nick nicht.

Er beugte sich vor. »Sie haben nichts in der Hand, Mädchen. Wenn Sie mit den großen Jungs spielen wollen, müssen Sie noch ordentlich aufholen.«

Ihr weiches Lachen klang ihm noch lange in den Ohren, nachdem er sie auf dem Spielplatz stehen gelassen hatte.

3

Kaylee wartete noch einen Augenblick lang, nachdem Nick in der Bar auf der anderen Straßenseite verschwunden war, dann ging sie zurück in Richtung des Diners.

Sie hatte sich gefragt, was das für ein Mann sein mochte, der diese Art von Hölle regelmäßig überlebte, und sie hatte gedacht, sie wüsste es. Aber jetzt war ihr klar, dass sie nicht das Geringste gewusst hatte.

Während des ganzen Gesprächs hatte es sie in den Fingern gejuckt, einen Stift zu zücken und sich Notizen zu machen. Doch ihr kleines Aufnahmegerät hatte auch gereicht.

Lächelnd schaltete Kaylee den Mini-Rekorder ab. In ihrer Welt konnte sie mit den großen Jungs spielen. Ob das auch in Afrika so sein würde, blieb abzuwarten.

Im Moment stand ihr der Sinn nach etwas ganz anderem.

Der Porsche – Nicks Porsche, ein 911 Turbo, der über vier Jahre alt, aber immer noch erstklassig in Schuss war – stand im hinteren Teil des Parkplatzes, nicht weit von ihrem eigenen Auto entfernt, wo er nicht gleich ins Auge fiel. Nick hatte den Wagen rückwärts eingeparkt, und das allein ließ Kaylee einen Blick in die Runde werfen, der in ihrem Kopf nur allzu vertraute Alarmglocken schrillen ließ.

Was bildest du dir denn ein? Du kannst ihm nicht sein Auto klauen.

Ich will doch nur mal fahren, erwiderte die jugendliche Kriminelle in ihr. Oh ja, das war ein schönes Auto. Und es war weder abgeschlossen, noch verfügte es über eine Alarmanlage. Die Versuchung durchflutete Kaylee wie eine schwere, heiße Woge, und irgendwie wusste sie, dass damit alles besser würde.

Sie trug nach wie vor Aarons Allzweck-Leatherman-Tool mit sich herum – in erster Linie aus sentimentalen Gründen, aber jetzt erwies sich diese Angewohnheit als äußerst praktisch. Sie schlenderte unauffällig zum Heck des Wagens, ging in die Hocke und schaute sich um.

Das Werkzeug hatte sie, jetzt brauchte sie noch Drähte. Das Glück war in Gestalt eines Geländewagens, der neben Nicks Porsche parkte, auf ihrer Seite. Immer noch geduckt, löste sie einen der Scheinwerfer vom Überrollbügel und entnahm ihm die nötigen Drähte.

Wieder hinter Nicks Wagen, stemmte sie das Schloss auf, um an den Motor zu gelangen, ganz vorsichtig, um den Lack dieser Schönheit nicht zu zerkratzen.

Alles Weitere war ein Kinderspiel. Die Anweisungen, die Aaron ihr vor all den Jahren eingetrichtert hatte, liefen wie ein Film in Kaylees Kopf ab. Ihre Hände bewegten sich fieberhaft und flink, als wären sie von eigenem Leben erfüllt. Führe einen Draht vom Plus-Pol der Batterie zur Zündspule, dann überbrückst du mit dem Schraubenzieher die Minus- und die Pluszuleitung an der Spule.

Der Motor sprang sofort an und verfiel in ein leises Schnurren. Kaylee lächelte. Keine neunzig Sekunden später saß sie im Wagen. Bei Weitem nicht ihre Bestzeit, aber sie war ja auch nicht darauf vorbereitet gewesen, hatte nicht damit gerechnet, dieses Bedürfnis gerade heute Abend wieder einmal zu verspüren.

Der Motor grollte. Sie strich mit den Händen über das glatte Armaturenbrett, streichelte den schwarzen Lederüberzug des Lenkrads und atmete den Duft tief ein, den Duft nach Auto und Mann, und fühlte, wie das Adrenalin durch ihr Blut raste, genau wie damals, als sie fünfzehn gewesen war und ihr Geschick beim Klauen heißer Schlitten sie selbst zur gefragten heißen Ware gemacht hatte.

Sie streifte die fingerlosen Rennhandschuhe über, die Nick auf dem Beifahrersitz liegen gelassen hatte.

Als sie den Gang einlegte und mit dem Gas spielte, fühlte sie einen Ruck genau zwischen den Beinen, eine unerwartete Ladung aus Motorkraft und Auspuffwirkung, die ihr verriet, dass Nick seine Prinzessin mit Fächerkrümmern auffrisiert hatte, damit sie wie ein Rennwagen lief.

Kaylee fuhr zur hinteren Ausfahrt des Parkplatzes hinaus, an ihrem eigenen Auto vorbei, und nahm den kürzesten Weg zum nächsten Highway, wo sie dem Porsche richtig die Sporen geben konnte, wo sie davonlaufen konnte vor Nick, vor Aaron. Vor allem.

Im echten Leben schien alles mit unaufhaltsamer Macht über sie hereinzubrechen, aber hier, in diesem Auto, auf diesem Highway, da war sie nichts weiter als ein fünfzehnjähriges Mädchen, das nur sich selbst verantwortlich war.

Du solltest Nick Devane alles erzählen.

Aber es lag nicht in ihrem Naturell, diese Art von Informationen mit anderen zu teilen – dank ihres elementaren Misstrauens gegenüber Obrigkeiten, Behörden und dem System im Allgemeinen. Schon als Kind hatte sie gelernt, dass man Geheimnisse am besten für sich behielt.

Warum hast du denn nicht die Polizei angerufen, Schätzchen? Wann hast du deine Mami zuletzt gesehen? Sag’s uns, und dann helfen wir dir …

Sie hasste Aaron dafür, dass er ihr all das eingebrockt hatte. Sie wollte nicht, dass ihr die Vergangenheit wieder ins Gesicht sprang wegen eines Anrufs und eines Bankschließfachs. Sie schleppte sie ohnehin schon mit sich herum wie einen Klotz am Bein, den sie einfach nicht loswurde.

Als Reporterin wusste Kaylee, dass man sich eine gute Story am ehesten damit versaute, dass man zu viele Leute einweihte. Hier war es im Grunde dasselbe. Nein, wenn Nick ihr nicht helfen wollte, würde sie sich der Sache eben allein annehmen.

Die Hälfte der geraden Highwaystrecke lag noch vor ihr, als der Motor zu stottern begann – natürlich hatte Nick eine Anti-Diebstahl-Benzinabschaltung installiert. Und natürlich hatte er sie versteckt angebracht, andernfalls wäre sie ihr aufgefallen, als sie den Motor gestartet hatte.

Sie ließ den Wagen sanft am Straßenrand ausrollen. Den Nachhauseweg konnte sie jetzt nur zu Fuß antreten. Dank des Tempos dieser Schönheit hatte sie in der kurzen Zeit mindestens zwanzig Meilen zurückgelegt. Als sie den Kopf nach hinten sinken ließ, die Hände noch immer in Nicks Rennhandschuhen am Lenkrad, wurde die Fahrertür schwungvoll geöffnet.

Da stand Nick und blickte auf sie herab, und nein, das konnte kein gutes Zeichen sein.

Sie saß tief in der Tinte, aber sie hatte gelernt, dass es in derlei Situationen am besten war, die Ruhe zu bewahren.

Nick schien das genauso zu halten.

»Sie stecken wirklich voller Überraschungen, was?«, fragte er, lehnte sich mit einem Arm gegen die offene Tür und reichte ihr die andere Hand, um ihr aus dem Wagen zu helfen.

Ihr eigenes Auto stand hinter dem Porsche. Nick schwor offenbar auf die Devise »Auge um Auge …«.

Kaylee versuchte, sich an ihm vorbeizuschieben, fand sich aber noch im selben Augenblick gegen die Seite des Wagens gedrängt, und Nicks Arme verwehrten ihr den Weg nach links und rechts.

Tief in sich spürte sie immer noch das Vibrieren des Porsches. Sie spürte auch die Hitze, die von Nick ausging, eine Mischung aus Wut und Verlangen, doch sie hob trotzig das Kinn und wollte weder dem einen noch dem anderen Gefühl nachgeben. Ohne Erfolg.

Als Nick das Wort ergriff, beugte er sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: »Erst versuchen Sie, mich zu erpressen, und dann klauen Sie mir mein Auto.«

Den ersten Vorwurf überging Kaylee. »Ich habe mir Ihr Auto nur geborgt. Ich hatte vor, es zurückzubringen.«

»Woher soll ich wissen, dass das stimmt?«

»Hätte ich es stehlen wollen, dann hätte ich die Kabel unter dem Lenkrad herausgerissen.«

»Sie wissen nicht, mit wem Sie sich anlegen, Kaylee.«

»Dann verraten Sie’s mir.«

Er strich mit dem Daumen über ihre Unterlippe, ehe er weitersprach. Sie unterdrückte den Impuls, dasselbe bei ihm zu tun. »Aaron war ein Deserteur. Er hat im Dschungel für den Meistbietenden gearbeitet. Er war ein Söldner. Sie werden die Informationen, hinter denen Sie her sind, niemals finden. Der Kongo ist ein gefährlicher Ort.«

»Und Sie sind genauso gefährlich, wie?«, gab Kaylee zurück.

»Darauf können Sie sich verlassen.«

»Sie machen mir keine Angst«, sagte sie.

»Weil ich es gar nicht versuche.«

Trotzdem beschleunigte sich ihr Atem, ihr Bauch spannte sich, und ihre Kehle wurde trocken. Aber diese Reaktion wurde nicht durch Angst ausgelöst. »Ich bin mit jemandem zusammen«, hörte sie sich sagen, als Nick ihr noch näher kam und seine Hand zur Wölbung ihres Pos hinabglitt. »Wir sind so gut wie verlobt.«

»Was zum Teufel tun Sie dann hier bei mir?« Das tiefe Knurren, das fast wie ein Schnurren klang, erwischte sie zwischen zwei Atemzügen und ließ ihr hörbar die Luft im Hals stocken.

»Er weiß nichts über mich.«

»Er weiß nicht, dass Sie Autos klauen?«

»Er weiß nicht mal, wie er mich zum Orgasmus bringen kann.«

Nicks Mundwinkel zuckte, aber er lächelte nicht, nicht ganz, während sich sein anderer Arm um ihre Hüfte schlang und sie zu sich zog, und lieber Gott, die Hitze durchraste sie wie ein Fieber, das sie nicht kontrollieren konnte. »Weiß denn überhaupt irgendjemand, wie man dich zum Orgasmus bringt?«

»Nein«, wisperte sie.

»Sei dir da mal nicht so sicher«, meinte er schroff, dann ließ er sie los. »Geh nach Hause, Kaylee. Vergiss, dass du mir jemals begegnet bist.«

Vergiss, dass du mir jemals begegnet bist.

So wie ihr Körper auf ihn reagiert hatte, wusste sie, dass das völlig unmöglich war.

»Kaylee, warum tust du dir das an?« Carl Van Patterson, seit fast einem Jahr ihr Freund, stand in der Tür und sah ihr zu, wie sie in der Kassette mit Aarons persönlicher Habe wühlte, eine halbe Stunde nachdem Nicks Wagen auf dem Highway aus ihrem Blickfeld verschwunden war.

»Tut mir leid. Ich weiß, dass dir das nicht gefällt.« Sie drückte rasch den Deckel auf die verschließbare Kassette, in die sie das Band mit Nicks Geschichte gelegt hatte. Das Abzeichen, das er ihr gegeben hatte, steckte sie in die Tasche ihrer Shorts.

»Es gefällt mir nicht, dass du nicht darüber wegkommst.«

»Es war eine komplizierte Beziehung«, sagte Kaylee und schob die Kassette ins obere Regal des Schranks – aus den Augen, aus Carls Sinn. Hoffentlich. Ihr ging das Ganze nie aus dem Sinn. »Das weißt du doch. Wir waren viel mehr als nur Mann und Frau.«

»Ich weiß nur, dass du wieder mal ein Abendessen mit meinem Vater und unseren Geschäftspartnern versäumt hast«, erinnerte Carl sie, und ja, Scheiße, sie hatte es vergessen. Vielleicht war es aber auch ein Fall von selektiver Erinnerung, die immer dann einzusetzen schien, wenn sie Carl zu irgendwelchen Verabredungen begleiten sollte.

»Entschuldige. Ich musste arbeiten.«

»Dieser verdammte Job wieder.«

»Dieser verdammte Job ist einer der Gründe, weshalb du dich überhaupt für mich interessiert hast. Oder hast du das vergessen?«

Carl war reich, ein Anwalt und der Sohn eines noch bekannteren Anwalts – der möglicherweise bald ein Kongressabgeordneter sein würde, wenn die Umfragen nicht trogen. Carl fuhr selbst auf der Überholspur in diese politische Welt, aber jetzt fürchtete er, ihr Beruf als Reporterin könnte zu Reibereien und Interessenskonflikten führen.

Dann werde ich eben nicht über politische Themen schreiben, hatte Kaylee ihm immer wieder vorgeschlagen.

Er hatte schon versucht, sie zu warnen, behutsam jedenfalls, dass sie ihren Job als Reporterin würde aufgeben müssen, wenn sie heirateten, und sie hatte ihm gesagt, dass sie weder vorhatte, irgendjemanden zu heiraten, noch ihren Beruf an den Nagel zu hängen.

Bis jetzt hatte er ihr nicht geglaubt.

Bis jetzt hatte sie ihm noch kein einziges Mal gesagt, dass sie über seinen Heiratsantrag auch nur nachdenken würde. »Du weißt, dass meine Vergangenheit herauskommen wird, Carl. Vor allem wenn du dich entscheidest, für ein politisches Amt zu kandidieren.«

»Ich habe dir gesagt, dass wir das vertuschen können.«

»Ich habe nicht die Absicht, irgendetwas zu vertuschen.« Kaylee unterdrückte den Wunsch, ihm zu erzählen, wie sie sich Nicks Auto ausgeliehen hatte, weil sie keine Lust auf eine weitere Standpauke hatte. Sie hatte Lust, allein zu sein und sich die Aufzeichnung ihres Gesprächs mit Nick anzuhören.

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Carl in ihrer Wohnung auf sie warten würde.

»Manchmal klingt es gerade so, als wärst du stolz auf das, was du früher gemacht hast«, fuhr er fort, und über sein Gesicht huschte jener frustrierte Ausdruck, der sich immer dann zeigte, wenn dieses Thema aufs Tapet kam.

Sie blickte Carl ins Gesicht und fragte sich, wie sie sich mit jemandem hatte einlassen können, der sich erst von ihrer wilden Seite angezogen gefühlt und dieser Wildheit später einen Dämpfer hatte aufsetzen wollen. »Ich schäme mich nicht für meine Herkunft«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was du für ein Problem damit hast. Früher hat es dich scharfgemacht, dass ich vorbestraft bin.«

»Deine Akte ist geschlossen, Kaylee. Du bist noch nach Jugendstrafrecht verurteilt worden und warst keine abgebrühte Verbrecherin.« Carl schüttelte den Kopf. »Solche Akten werden aus einem bestimmten Grund geschlossen. Damit man sein Leben wieder aufnehmen kann, damit einen die Vergangenheit nicht irgendwann einholt.«

»Tja, dazu ist es ja wohl zu spät.« Mit dem Rücken zu Carl tastete sie nach dem abgewetzten Abzeichen, das Nick ihr gegeben hatte, das Abzeichen, das Aaron, den ausgefransten Rändern nach zu urteilen, von seiner Kleidung abgerissen hatte.

Die Benachrichtigung, dass ihr Exmann sie in seinem Testament immer noch als Alleinerbin genannt hatte, war beinah ebenso schockierend gewesen wie der Telefonanruf. Hinzu kam noch die immense Geldsumme, die Aaron hinterlassen zu haben schien, wenn man dem Sparbuch, das er in das Bankschließfach gelegt hatte, glauben durfte.

Darüber nachzudenken, wie ein Mensch, der in Heimen aufgewachsen und dann direkt zur Armee gegangen war, zu so viel Geld gekommen sein konnte, das mit ziemlicher Sicherheit nicht rechtmäßig verdient war, machte Kaylee ganz schwindlig.

Sie würde das Geld nicht anrühren, wünschte, sie könnte es einfach vergessen und Aaron gleich dazu, so wie er sie vergessen und alles gevögelt hatte, was sich bewegte, noch während sie zusammen gewesen waren.

Bastard.

Davon hatte sie Nick nichts erzählt, weil manche Dinge einfach zu persönlich waren. Diese Treuebrüche taten ihr heute noch weh, auch wenn sie in den Jahren ihrer Ehe durchaus eigene Fantasien gehabt und mit anderen Männern geflirtet hatte. In jenen Jahren, in denen Aaron fort gewesen war und seine Liebe ausschließlich dem Militär geschenkt hatte.

Die Tatsache, dass er sie betrogen hatte, bedrückte sie allerdings sehr viel weniger als die Tatsache, dass er als ihr bester Freund ihr Vertrauen missbraucht hatte. Aufs Übelste.

»Ich werde meine Vergangenheit nicht verhehlen, Carl. Ich werde nicht verhehlen, wer ich bin.« Kaylee schlug die Schranktür zu und drehte sich zu ihm um.

Natürlich ging sie ihrem Job verdeckter nach, als sie es sich eigentlich wünschte – sie war eine Enthüllungsjournalistin, sie ging skrupellos zu Werke, erledigte die Drecksarbeit, die es nötig machte, dass weder ihr Name noch ihr Bild in der Zeitung erschienen. Darum schrieb sie ihre Artikel als K. Darcy, und die meisten Leser nahmen an, sie sei ein Mann.

»Ich habe keine Lust mehr auf diesen Streit«, erklärte Carl im selben Ton, in dem er hätte sagen können, dass er nicht mehr vorhabe, in ihrer Wohnung zu übernachten, oder dass er nicht verstand, warum sie nicht heiraten wolle. Er schob sich an ihr vorbei und steuerte ihr Schlafzimmer an, sie ging in die andere Richtung.

Manchmal, wenn die Nacht am tiefsten war, wenn sie sich am einsamsten fühlte, dann schlang Kaylee sich eine Decke um den Leib und öffnete die Tür zum Balkon. Und dann stand sie allein da draußen und blickte auf die Stadt, die sich unter ihr ausbreitete, und fragte sich, ob es dort irgendwo jemanden für sie gab.

Ihr Körper sehnte sich nach ihm, nach diesem Mann, von dem sie träumte, seit ihr Interesse an Jungs erwacht war.

Aaron war stets eher ein bester Freund als geliebter Mann gewesen. Und in den stillen Winkeln ihres Seins sehnte Kaylee sich nach dem Mann, der ihren Körper zum Leben erwecken würde.

Carl war dieser Mann nicht. Und bis heute, bis Nick Devanes Stimme bei ihr mehr bewirkt hatte als die Hand irgendeines Mannes jemals zuvor, hatte sie geglaubt, auf etwas Unerreichbares zu warten.

Bis heute, bis sie wusste, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Sie konnte immer noch den Ledergeruch in ihrem Haar wahrnehmen, sie spürte immer noch den Griff von Nicks Hand, mit der er ihr aus dem Auto half, als hätte sie mit seiner Erlaubnis nur mal eben eine Runde gedreht.

In seinen Augen hatte sie den vertrauten Funken eines Menschen gesehen, der selbst schon mit dem Gesetz aneinandergeraten war.

In Gedanken konnte sie sich mit ihm sehen, ineinander verschlungene Arme und Beine auf dem winzigen Rücksitz, und sie überlegte, ob sie die erste Frau da hinten gewesen wäre, und kam dann zu dem Schluss, dass sie darüber nicht nachdenken wollte.

Was ist, wenn ich nicht vergessen will, dass ich dir jemals begegnet bin?

Sie zog die Decke fester um sich, als sie in der kühlen Frühlingsluft fröstelte. Hatte sie etwa einen Anflug von Frühlingsgefühlen? Würde sie die Ruhelosigkeit, die ihren Körper erfasste, noch lange ignorieren können?

Es gab nur eines, das dem Aufruhr in ihr die Spitze nehmen konnte. Und das war nicht etwa eine Berührung von eigener Hand.

Ihre Begegnung mit Nick hatte nicht so verlaufen sollen – sie hatte sich Informationen über Aaron von ihm versprochen, hatte Licht in das Dunkel um den Tod ihres Exmanns und das Geld, das er ihr hinterlassen hatte, zu bringen gehofft. Sie hatte ihre Vergangenheit hinter sich lassen und nur noch an ihre Zukunft denken wollen.

Eine Zukunft, in der sie – wenn Carl Van Patterson eine Rolle darin spielte – nie mehr als Journalistin arbeiten würde.

»Kaylee, kommst du ins Bett?« Carls Stimme wehte auf den kleinen Balkon heraus. Und Kaylee sah auf das Abzeichen in ihrer Hand, dachte an Nick anstatt an Aaron und wusste nicht, wie sie Carl sagen sollte, dass sie nie wieder zu ihm ins Bett kommen würde.

4

Was ist, wenn ich nicht vergessen will, dass ich dir jemals begegnet bin?

Nick war schon fast in seinen Porsche eingestiegen, als er hörte, wie Kaylee ihm diese Worte nachrief, und die explosive Energie, die plötzlich durch seinen Körper pulsierte, hätte um ein Haar die Oberhand gewonnen.

Der Autodiebstahl hatte ihn ihren Erpressungsversuch für den Moment vergessen lassen, hatte ihn angemacht, und er war drauf und dran gewesen, sie sofort zu nehmen, auf der Haube des Porsches oder wo immer sie ihn haben wollte.

Und sie hatte



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