Navy SEALS - Verdächtig - Stephanie Tyler - E-Book

Navy SEALS - Verdächtig E-Book

Stephanie Tyler

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Beschreibung

Navy SEAL Chris Waldron ist schon öfter aus brenzligen Situationen entkommen. Doch als er einen entführten Botschafter und dessen Frau retten soll, geht einiges schief und ein FBI-Agent verliert sein Leben. Chris wird für den Tod des Mannes verantwortlich gemacht. Und die Ermittlungen gegen ihn leitet ausgerechnet seine Ex-Geliebte, die attraktive Jamie Michaels. Schon bald kochen die Gefühle zwischen den beiden wieder hoch. Doch durch ihre Nachforschungen gerät Jamie ins Fadenkreuz eines unbekannten Feindes.

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Seitenzahl: 478

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Inhalt

Titel

Widmung

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Danksagungen

Impressum

STEPHANIE TYLER

NAVY SEALS

VERDÄCHTIG

Roman

Ins Deutsche übertragen vonTimothy Stahl

Auch diesmal für Zoo und Lily –

und für Gus,

meinen wunderbaren Schreibgefährten.

1

So I may be tainted in my truth

When I claim I’m bullet-proof

But every half-assed assault

Has been a death by default

– Abby Ahmad, »Tri-Me«

Chief Petty Officer Chris Waldron wusste, dass er furchtbar aussehen musste, aber in seinem Inneren sah es noch viel schlimmer aus.

Er wusste nicht, wie lange er schon so dagelegen hatte, am Bett festgeschnallt und den Blick zur vergipsten Decke gerichtet. Von den Medikamenten war er wie in einen Nebel eingehüllt, während sein Körper heilte und sein Geist wie betäubt war.

Sein Bewusstsein kam und ging – in erster Linie, weil die Ärzte ihn immer wieder weckten, was ihm allmählich wirklich verdammt auf den Keks ging.

Er war seit acht Jahren ein SEAL, lange genug, um zu wissen, dass es einem im Grunde nicht viel nützte, sich zu beklagen. Aber in seinem Kopf … Mann, da tobte vielleicht ein Gewitter. Oder auch zwei.

Irgendjemand hatte ihm die Stöpsel seines iPods in die Ohren gesteckt, und bis die Batterie leer geworden war, hatte er halbwegs zufrieden AC/DCs Back in Black-Album als Dauerschleife gehört.

Seine eigene Stimme weckte ihn, als er lautstark den Refrain von CCRs »Green River« mitsang. Die Krankenschwester starrte ihn an, als sei er verrückt, und normalerweise hätte er jetzt einen Spruch gebracht wie: Hey, Süße, sei ein bisschen verrückt mit mir, du brauchst dich bloß zu mir zu legen.

Aber heute nicht. Denn obwohl sie hübsch war und freundliche Augen hatte, spürte er tief in sich, dass sein Geist möglicherweise sehr viel langsamer heilen würde als sein Körper, wenn er nicht endlich anfing, sich mit dem auseinanderzusetzen, was geschehen war. Sex war nicht die Lösung für dieses Problem.

Trotzdem konnte die Schwester den Blick nicht von seinen Augen wenden, was an deren unterschiedlicher Farbe lag. Er war solche Blicke gewöhnt und hatte darüber die Nadel vergessen, die sie eigentlich in seinen Infusionsschlauch stecken sollte.

Er war zwar langsamer als sonst, aber immer noch verdammt schnell. Die Schwester rief nach dem Doktor, aber es war schon zu spät. Chris hatte sich den Katheter aus dem Arm gerissen und hielt den Infusionsständer wie eine Waffe, nachdem man ihm seine richtigen abgenommen hatte.

»Mein Junge, es ist alles in Ordnung … Sie befinden sich auf der Krankenstation eines Militärstützpunktes in Dschibuti. Die Schwester wollte Ihnen Ihre Schmerzmittel geben, aber wir können gern zuerst darüber reden.« Der Arzt sprach langsam, während Chris ihn anstarrte und ihm glauben wollte, während sein Körper jedoch noch immer wie auf Autopilot lief. In einer Art Kampf-oder-Flucht-Reaktion hielt seine Hand den Infusionsständer umklammert, und da eine Flucht nicht zur Debatte stand, würde er eben jedem, der sich ihm näherte, den verdammten Ständer überbraten.

»Chris, hören Sie auf mich, Mann … Legen Sie das Ding weg, bevor Sie jemanden damit verletzen.«

Er erkannte die Stimme seines Commanding Officers, träge und zäh wie Sirup. Das hieß, Officer Saint war anscheinend so müde, wie Chris sich selbst fühlte.

»Keine Medikamente mehr«, sagte Chris zu dem Arzt, ohne seine Behelfswaffe loszulassen.

Der Doktor warf Saint einen Blick zu. Der CO sagte: »Wenn er Medikamente braucht, wird er danach fragen.« Der Doc gab nach, wies auf Chris’ Arm, der stark blutete, und Chris ließ widerstrebend den Metallständer los.

»Tut mir leid, Ma’am«, entschuldigte er sich bei der Schwester, als sie ihm den Arm verband.

»Sie haben eine tolle Stimme, Chief«, sagte sie lächelnd. Saint verdrehte die Augen, denn für gewöhnlich reichte eine solche Bemerkung, um Chris ein Ein-Mann-Konzert veranstalten zu lassen. Aber obgleich er die Musik im Kopf noch hörte, sagte er diesmal nur: »Danke.«

Als er mit Saint allein war, blieb Chris zunächst auf der Bettkante sitzen und versuchte, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Er blickte auf seine nackten Füße hinab und verspürte plötzlich den Drang, sich das Krankenhaushemd vom Leib zu reißen. Was er prompt auch tat. Er warf es zu Boden und fragte: »Wie lange bin ich schon hier?«

»Seit vierundzwanzig Stunden. Sie haben es aus eigener Kraft bis in den Hubschrauber geschafft.«

Daran erinnerte er sich nur bruchstückhaft. Die einzelnen Eindrücke waren zwar da, verschwammen aber an den Rändern und verschmolzen zu einem größeren, sich langsam bewegenden Bild, als versuche er, etwas unter Wasser zu fokussieren.

Cam. Das Gesicht seines Teamkameraden war das Letzte, woran er sich erinnerte, bevor er sich der Sicherheit der Bewusstlosigkeit ergeben hatte. »Wo ist Cam?«

»Bereits in Deutschland. Er hat Sie hier noch besucht, bevor er aufgebrochen ist.«

»Daran erinnere ich mich. Dachte, es sei eine Halluzination gewesen.«

»Sie werden selbst um 0500 nach Deutschland gebracht. Dort wird man Sie durchchecken, bevor es nach Hause geht.«

Chris verschaffte sich einen Überblick über die zahlreichen Prellungen und Quetschungen seines Körpers – ein paar Nähte hier und da, aber nichts Größeres. Sein Kopf allerdings war eine andere Sache. Unter der nachlassenden Wirkung der Betäubungsmittel verspürte er ein unleugbares, schmerzhaftes Pochen. »Gehirnerschütterung?«

Saint nickte. »Keine Brüche. Sie sind ziemlich angeschlagen, aber es hätte Sie verdammt viel schlimmer erwischen können. Man hat Sie hierbehalten, um ein paar Tests durchzuführen.«

Chris schloss für einen Moment die Augen und sprach ein kurzes Dankesgebet zu seiner Mutter, die sicher ihre schützende Hand über ihn gehalten hatte. »Wissen Jake und Nick Bescheid?«

»Ich hatte alle Mühe, ihnen auszureden, auf der Stelle herzukommen. Sie rufen zu jeder vollen Stunde an. Ihrem Vater wollten sie nichts sagen, aber …«

»Er weiß es.« Sein Dad wusste immer, wenn etwas schiefging. Es war so gut wie unmöglich, vor einem Vater, der das zweite Gesicht hatte, etwas geheim zu halten. Seine Brüder mussten es auf konventionellerem Wege erfahren haben und drehten zweifellos am Rad. Was er ebenso getan hätte, wäre einer von ihnen an seiner Stelle gewesen.

»Sind Sie wach genug, um mir ein paar Fragen zu beantworten?«, fragte Saint.

Es war eigentlich keine Frage, denn Saint hatte sich bereits einen Stuhl herangezogen. Der Geduldsfaden seines Vorgesetzten war bemerkenswert strapazierfähig, aber Chris konnte erkennen, dass er gerade dünner wurde.

Der Gedanke an das bevorstehende Gespräch begeisterte ihn gar nicht, er dachte an Jake und Nick und wünschte, seine Brüder wären jetzt bei ihm. Er fragte sich, ob er das Gespräch durchhalten würde, ohne sich übergeben zu müssen.

Es kam nicht alle Tage vor, dass man einem Menschen erzählen musste, wie sein bester Freund gestorben war. Das Band zwischen den Mitgliedern ihres Teams war stark, daran gab es keinen Zweifel angesichts all dessen, was sie zusammen durchgemacht hatten. Dies war nun der erste Riss in diesem Band. »Ja, ich bin wach genug.«

»Was ist das Letzte, woran Sie sich im Zusammenhang mit Mark erinnern? Was hat er zu Ihnen gesagt?« Saint sah ihn mit festem Blick an, suchte nach einer Antwort, noch bevor Chris zu sprechen begann.

»Er hat mir gesagt, dass er reingehen würde, trotz Josiahs Befehl. Er hat gesagt, ich solle zurückbleiben. Ich habe versucht, es ihm auszureden, aber er hat sich auf seinen höheren Dienstgrad berufen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er reinging. Alles andere habe ich noch vor Augen … ich weiß nur noch, dass Marks Hand auf meiner Schulter lag, und dann …«

Und dann hatte sich Josiah mit ihnen gestritten. Er war der FBI-Agent in der Joint Task Force, dem gemischten Kampfverband, und zugleich der Leiter der Operation. Josiah war wütend über Marks eigenmächtigen Vorstoß, obwohl Josiah den Befehl gegeben hatte, sich zurückzuhalten. Chris und Cam bestanden darauf, in die Botschaft vorzudringen – die bereits unter schwerem Beschuss stand –, aber sie lagen auf der Suche nach den Geiseln mindestens fünfzehn Minuten hinter Mark zurück. Drinnen herrschte Chaos. Sie hörten beide, wie Mark am Ende des Ganges schrie, konnten aber nicht so weit vorstoßen, ohne den Botschafter in noch größere Gefahr zu bringen.

»Wir haben entschieden, den Botschafter und seine Frau herauszuholen und dann zurückzugehen, um Mark zu helfen«, sagte Chris. »Alles geschah gleichzeitig, und wir hatten nur einen Sekundenbruchteil Zeit, um unsere Entscheidung zu treffen.«

»Stellen Sie Ihre Entscheidung nicht infrage.«

Chris nickte und schluckte schwer. »Ich hatte das Gebäude gerade verlassen, Cam war vielleicht sechs oder sieben Meter vor mir, der Botschafter, seine Frau und ihre Kinder dicht hinter ihm. Ich habe ihnen den Rücken gedeckt.«

»Waren Sie allein?«

Chris überlegte angestrengt. »Nein, Josiah war bei mir.«

Chris und Josiah gaben den anderen Rückendeckung, und Chris war gerade im Begriff, umzukehren und nach Mark zu sehen, als eine Explosion das Gebäude erschütterte. Chris wurde weggeschleudert und wachte vielleicht eine halbe Stunde später wieder mit einem Klingeln im Ohr auf. Dann hielt er nach Josiah und nach Mark Ausschau.

»Und dann haben sie ihn umgebracht«, sagte Saint mit leiser, vor Wut gepresster Stimme. »Die Rebellen haben Mark getötet und von dort weggebracht, um eine amerikanische Trophäe zu haben, anstatt ihn bei der Explosion umkommen zu lassen. Es sind bereits Meldungen im Umlauf, dass die Rebellen einen Navy SEAL umgebracht haben, nachdem sie ihm geheime Informationen über Anti-Terror-Maßnahmen entlocken konnten.«

»Mark hätte solche Informationen auf keinen Fall verraten.« Die Rebellensoldaten mochten ihn auf die denkbar unmenschlichste Weise getötet haben, aber ihn vorher zu brechen, das hätten sie nie geschafft. Dessen war Chris sich sicher.

»Seine Leiche wurde noch nicht gefunden.« Saint sprach immer noch leise, den Blick starr auf die weiße Wand des Krankenzimmers gerichtet. Er klang beinahe fassungslos, als könnte er einfach nicht glauben, dass all das wirklich passiert war. Seine olivgrüne Uniform war frisch, sein blondes Haar noch feucht, als habe er gerade geduscht, doch unter seinen normalerweise strahlend blauen Augen lagen dunkle Ringe, und sein Mund bildete einen dünnen, grimmigen Strich.

Saint und Mark hatten sich im BUD/S, im »Basic Underwater Demolition/SEAL Training« kennengelernt. Sie hatten in Coronado gedient und waren dann nach Virginia gekommen, um die Führung von Team zwölf zu übernehmen.

Mark in diesem Land zurücklassen zu müssen bereitete Chris solche Bauchschmerzen, dass kein Medikament der Welt dagegen geholfen hätte. Keine Leiche. Das hieß, man konnte keinen Schlussstrich ziehen. Es war ein Zeichen von Versagen. »Es tut mir leid, Saint.«

»Verschonen Sie mich mit diesem Es-tut-mir-leid-Scheiß, Chris. Mark ist bei der Sache gestorben, die er mit Herzblut getan hat. Sie haben alles versucht, was Sie konnten, also sparen Sie sich Ihre Schuldgefühle. Er hätte Sie dafür umgelegt.« Saints Worte waren mehr als nur sarkastisch, aber sie waren auch mehr als nur wahr, und trotzdem wusste Chris, dass es lange dauern würde, bis er über diese Sache hinwegkommen würde.

»Wird man weiter nach ihm suchen?«

»Wenn man das nicht tut, werde ich es selbst tun. Das habe ich dem Admiral schon gesagt.« Saint stand auf und blickte für eine Sekunde mit verbittertem Blick auf das kleine, offene Fenster, ehe er wieder sachlich wurde. »Sie sollten sich etwas anziehen. Draußen ist jemand vom FBI, dem Sie die Sache ausführlicher darlegen müssen.«

FBI. Jamie.

Er brauchte Saint nicht zu fragen, ob sie es war, die ihn befragen würde, weil er sie nämlich schon draußen auf dem Gang spüren konnte, vielleicht schon direkt vor der Tür.

Chris ertappte sich dabei, wie er die Fingerspitzen seiner linken Hand leicht aneinanderrieb.

»Ja, sie ist es«, sagte Saint, der diese gedankenverlorene Geste als Hinweis darauf zu deuten wusste, dass Chris über etwas Wichtiges nachdachte.

Solange er zurückdenken konnte, war er schon immer anders gewesen, hatte sich von allen anderen außer seiner Mom und seinem Dad unterschieden, weil er … Dinge wusste.

Im Laufe der Jahre hatte er sich einzureden versucht, lediglich über einen schärferen, ausgeprägteren Instinkt zu verfügen und nur etwas zurechtgeschliffen zu haben, das andere kaum benutzten. Seine Brüder nannten es Psycho-Cajun-Quatsch, obwohl sie genau wie Chris selbst wussten, dass mehr dahintersteckte. Mehr, als er sich jetzt vorstellen wollte. Und so drückte er seine Hand nun flach auf das Laken, als Saint ihn fragte: »Bereit?«

Wie lange Jamie wohl schon da war?, überlegte Chris. Ob sie Cam befragt hatte, bevor er abgereist war? Ihn selbst hatte sie bis jetzt jedenfalls noch nicht besucht – er hätte schon tot sein müssen, um sich daran nicht mehr zu erinnern. »Sie können sie reinlassen.«

Die Joint Task Force, zu der Chris auf dieser Mission gehört hatte, bestand aus ihm und Mark sowie Josiah Miller, einem Vermittler des FBI bei Geiselnahmen, einem Force Recon Marine namens Rocco Martin, der auf Sprachen spezialisiert war, und einem Delta-Soldaten namens Cameron Moore, der genau über die Kidnapper Bescheid wusste und sich in der Gegend auskannte.

Es war eine relativ unkomplizierte Mission: Befreiung der vier entführten UN-Blauhelme sowie des amerikanischen Botschafters, seiner Frau, einer bekannten Filmschauspielerin, die als Friedensbotschafterin in vielen vom Krieg heimgesuchten Ländern tätig war, und ihrer beiden Adoptivkinder. Afrika war ihr jüngstes Projekt; deswegen auch die Riesenpublicity, als sie und der Botschafter im Sudan eingetroffen waren.

In einem Land wie diesem war das nicht von Vorteil.

Heute waren der Botschafter und seine Familie in Sicherheit, die UN-Blauhelme hingerichtet worden und bis auf Chris und Cam alle Mitglieder der Joint Task Force gestorben.

Chris zog widerwillig eine Jogginghose über, die Saint ihm mitgebracht hatte. Die Schmerzen machten sich inzwischen stärker bemerkbar. Aber Schmerz war gut – es tat gut, nach der tagelangen Taubheit wieder etwas zu spüren. Die brennend heiße Trauer war so frisch, als hätte die Zeit stillgestanden, während er bewusstlos gewesen war.

Nichts würde je wieder so sein wie zuvor, schon gar nicht, als Special Agent Jamie Michaels sein Krankenzimmer betrat. Ihr Auftreten war selbstsicher – selbstsicherer, als es nötig gewesen wäre –, als versuche sie ihr Zögern, ihn wiederzusehen, dahinter zu verbergen.

Er konnte es ihr nicht verübeln, denn er hatte sie vor zwei Monaten im Kongo einfach stehen lassen und sich seither nicht mehr bei ihr gemeldet. Der Fairness halber musste man hinzufügen, dass auch sie ihm nicht gerade die Tür eingerannt hatte.

»Sie kennen ja Agent Michaels«, sagte Saint, der das Unbehagen, das auf einmal im Raum hing, sehr wohl wahrnahm und seinen Stuhl deshalb näher zum Bett hinschob, um Chris beizustehen.

»Wie geht es Ihnen, Chief Petty Officer Waldron?« Sie war vollkommen sachlich, sprach ihn förmlich an. Allerdings lag etwas Sanftes in ihrem Ton, das nur Chris kannte. Dieselbe Sanftheit hatte in ihrer Stimme geklungen, als ihr nackter Körper sich gegen den seinen gedrückt hatte.

»Bringen wir es hinter uns.« Er legte sich wieder ins Bett und zog das Laken auf seine nackte Brust, eher zum Schutz als aus Schamgefühl, und aus Respekt vor ihrem Job.

Immer und immer wieder darüber reden zu müssen, war schwer genug. Aber auch noch seine eigene Verletzlichkeit vor Jamie bloßlegen zu müssen, ließ seine männlichen Urinstinkte förmlich aufschreien.

Das ist nicht Jamie! Das ist Special Agent Michaels, die da vor dir steht.

Er rieb sich die Wange, die er sich geprellt hatte, als die Botschaft vor ihm explodierte und er mit dem Gesicht nach unten auf den Boden stürzte. Er erinnerte sich, wie er auf dem Weg zum Hubschrauber seine gebrochene Nase richtete.

Jamie blieb stehen, näher am Fenster als bei ihm. Auf der Fensterbank lag ihr Notizblock, in der Hand hielt sie einen Stift und ihr Blick ruhte auf ihm. »Können Sie bestätigen, dass Ihr Team nicht in der Lage war, die vier Angehörigen der UN-Friedenstruppen zu retten?«

Chris’ Finger krallten sich fest in die Laken. »Glaubst du, dass du hier wärst, wenn die Mission gut verlaufen wäre?«

»Werden Sie meine Frage beantworten?«

»Treib jetzt bloß keine Spielchen mit mir! Wenn du mir keine richtigen Fragen stellen willst, dann verschwinde.«

»Ich versuche, Ihnen die Sache zu erleichtern, Chief Petty Officer.«

»Oh, vielen Dank, Agent Michaels. Wie ich das zu schätzen weiß.« Seine Stimme klang kehlig, und Saint warf ihm einen warnenden Blick zu. Aber Chris ignorierte ihn. Seine Aufmerksamkeit galt allein Jamie.

Sie reagierte nicht, zuckte mit keiner Wimper. Er wollte ein Zeichen von ihr, aber sie trug ihr Pokerface zur Schau.

Es war langsam an der Zeit, dass auch er seines aufsetzte. Wenigstens Mark Kendall war er es schuldig, ruhig und gefasst zu bleiben.

Marks eigene Worte kamen ihm jetzt in den Sinn, und zwar eine Rede, die dieser vor den neuen BUD/S-Rekruten gehalten hatte.

Mark war zuvor schon zweimal gefangen genommen worden und entkommen. Seine eigenen Erfahrungen hatte er als Beispiel verwendet, um den Rekruten einzuhämmern, in welchen Situationen sie in Gefahr schwebten: Eine Gefangennahme erfolgt dann, wenn man am wenigsten damit rechnet. Manchmal liegt es daran, dass man kurz in seiner Konzentration nachlässt, und manchmal daran, dass man sich im falschen Moment eine Blöße gibt. Im wahren Leben macht man sich immer wieder angreifbar. Das ist normal, das passiert. Im Kampf sollte es einem nie passieren.

Fragte man Mark, ob er daran glaubte, neun Leben zu haben, antwortete er stets: So viel Glück hat niemand.

»Ich lass den Quatsch mit den Titeln und Rängen und nenne jeden bei seinem Vornamen. Ich weiß, das gefällt Ihnen nicht …«

»Ich kann damit leben«, unterbrach sie ihn. Wenigstens konzentrierte sie sich auf ihn und nicht auf Saint. Ein Fortschritt.

Er unterdrückte den Drang, seinen Kopf in die Hände sinken zu lassen und sich die Schläfen zu reiben. »Sie wissen, dass die Mission die Rettung einer Gruppe von UN-Blauhelmen zum Ziel hatte, die außerhalb von Khartoum auf dem Weg zur britischen Botschaft entführt wurden. Sie begleiteten den amerikanischen Botschafter und seine Frau, die auf dem Weg zu einem Treffen mit der sudanesischen Regierung waren, weil sie ein Kind aus dem Land adoptieren wollten.«

»Und sie hatten ihre Kinder bei sich«, ergänzte sie.

»Ja.« Einen amerikanischen Botschafter zu verlieren wäre traurig genug gewesen – einen international gefeierten Filmstar mit ihren beiden kleinen Kindern zu verlieren würde das weltweite Augenmerk sowohl auf die Entführung lenken als auch auf das Unvermögen der Vereinigten Staaten, ihre eigenen Leute zu schützen. Es würde Nachahmer auf den Plan rufen und einen Zusammenbruch der Verhandlungen zur Folge haben, und das in einer Zeit, in der das Heimatschutzministerium auf eine engere Kooperation mit der sudanesischen Regierung angewiesen war. »Diese Reise war von Anfang an ein Albtraum. Viel zu viel Publicity und viel zu wenig Schutzmaßnahmen. Sie haben nicht einmal einen Leibwächter zur Botschaft mitgenommen. Es sollte ein Zeichen ihres Vertrauens sein.«

»Ich nehme an, sie waren der Ansicht, die Publicity sei Schutz genug«, meinte Jamie. »Das und die Blauhelme.«

Dazu sagte er nichts. Er kam immer noch nicht darüber hinweg, was der Botschafter angerichtet hatte, indem er seine Familie dermaßen ungeschützt ließ.

Jamie fuhr fort: »Soweit ich gelesen habe, waren Ihre Anweisungen sehr spezifisch. Man hat Ihnen eine genaue Uhrzeit und den Ort genannt, wo Sie sich mit den Rebellensoldaten treffen und den Austausch vornehmen sollten.«

Nur hätte es keinen wirklichen Austausch gegeben. Auf dieses Spiel ließen sich die USA nicht ein. Der »Austausch« hätte darin bestehen sollen, die Rebellen zu überraschen und auszuschalten. Nichts Neues für Chris und sein Team. Neu war nur die Zusammenarbeit mit der Joint Task Force. Aber die Männer waren allesamt mehr als nur qualifiziert genug, um die Mission theoretisch erfolgreich durchzuziehen.

»Wir waren schon Stunden vor der vereinbarten Zeit am Treffpunkt«, erklärte er. »Wir waren um 0200 vor Ort und legten uns auf die Lauer, aber irgendetwas stimmte nicht.« Mehr noch, sie hatten alle sofort das Gefühl, dass etwas faul war.

Das war das Problem mit verdeckten Missionen: Sie waren so geheim, dass es manchmal schwierig, wenn nicht sogar unmöglich war, Hilfe an den jeweiligen Ort zu holen.

»Aber Sie haben sich nicht zurückgezogen, niemanden über Funk benachrichtigt und um Aufklärung ersucht, oder?«, fragte sie.

»Nein. Wir haben als Gruppe entschieden weiterzumachen. Wir hatten den Schutz der Nacht auf unserer Seite.«

»Und haben Sie nicht befürchtet, mit Ihrem vorzeitigen Eintreffen das Leben der Blauhelme aufs Spiel zu setzen?«

Er zwang sich zu einem nüchternen Tonfall. »Diese Männer waren schon lange tot. Wahrscheinlich seit der Nacht, in der sie entführt wurden.«

Die Hütte aus Lehm und Ziegeln, wo der Austausch stattfinden sollte, war noch warm von der Hitze des Tages. Und der Gestank des Todes war überwältigend, sobald sie die Tür öffneten. Auch ohne die Augen zu schließen, konnte Chris noch immer die blutleeren Gesichter der vier Männer sehen, die man dort gehängt hatte. Er brauchte ein paar schrecklich lange Sekunden, um den Blick endlich abwenden zu können.

Jamie hielt kurz inne, als das Knattern gedämpfter Schüsse aus Schnellfeuerwaffen von draußen widerhallte – ein fast ständiges, beinah vertrautes Geräusch in diesem Teil der Welt. »Der Botschafter und seine Frau waren nicht unter den Toten?«

»Nein. Sonst war niemand dort. Ich habe die Gegend selbst zusammen mit Cam abgesucht. Mark, Rocco und Josiah holten die Toten herunter und bereiteten ihren Transport zur Landezone am Strand vor.«

Doch in dem Moment erschütterte der Mörserbeschuss die wackelige Hütte, die an einem Berghang gebaut worden war. Die Männer flohen und suchten nach Deckung.

»Rocco war sofort tot«, sagte Chris dumpf. »Bei dem Feuergefecht wurde unsere Funkverbindung unterbrochen. Als wir mit den Toten am Strand ankamen, erhielten wir die Information, dass der Botschafter und seine Frau in der sudanesischen Botschaft festgehalten würden, die von Darfur-Rebellen umzingelt sei.«

»Wurden Sie verwundet?«, stellte Jamie eine Zwischenfrage.

»Die meisten meiner Verletzungen habe ich mir bei der Explosion zugezogen.«

Als sie kurz vor Sonnenaufgang an der Botschaft eintrafen, war dort der Teufel los. Es drohte die Gefahr eines Aufruhrs, und Chris und sein restliches Team hatten an der rückwärtigen Seite abgewartet und sich einen Eindruck von der Lage verschafft.

Überall war Blut vergossen worden, Opfer lagen verstreut umher – Männer, Frauen und Kinder, wahllos ermordet.

Aber es gab auch Anzeichen von Leben. Anzeichen, die keiner von ihnen sehen oder hören wollte. Nämlich so viele Rebellensoldaten, dass ihre Vier-Mann-Gruppe nicht mit dieser Überzahl fertigwerden konnte.

Natürlich war ihnen das egal, denn jeder Einzelne war mehr als willens, sich der Situation zu stellen, trotz ihrer Verletzungen, die sie bei dem Gefecht zuvor erlitten hatten.

Doch Josiah war dagegen. »Wir greifen nicht an. Das wäre Selbstmord.«

In dem Moment widersprach Mark nicht, dafür aber Cam, und das mit schmerzverzerrtem Gesicht.

Sieben Stunden später, als Cam und Chris den Botschafter und seine Frau zum Helikopter begleiteten, war dieser Schmerz immer noch zu sehen gewesen, als hätte er sich für alle Zeit in den Zügen des Mannes eingeprägt.

Es waren die Schreie, die ihnen unter die Haut gingen und die wahrscheinlich für Mark der Grund waren, entgegen Josiahs Befehl in das Gebäude einzudringen. Chris glaubte immer, er könne sich in seiner eigenen inneren Welt verbarrikadieren, so wie er es im Training oft tat, wenn es ihm zu sehr an die Nieren ging. Aber nichts hatte ihn auf die herzzerreißenden Schreie der Frau des Botschafters vorbereiten können.

»Mark Kendall hat also einen direkten Befehl von Josiah missachtet.«

»Mark hat sich geopfert, damit wir den Botschafter und seine Familie da rausholen konnten«, gab Chris zurück.

»Waren alle mit seiner Entscheidung einverstanden?«

»Ich war der Einzige, dem er sie mitteilte, bis Josiah merkte, dass er verschwunden war. Zu dem Zeitpunkt stimmten wir drei ab. Josiah war immer noch der Ansicht, wir sollten nicht reingehen, aber Cam und ich waren anderer Meinung. Darüber war Josiah nicht erfreut. Er wollte, dass wir blieben, wo wir waren, und weigerte sich, mit Cam und mir in die Botschaft vorzudringen. Doch als ich zum Hintereingang herauskam, stand Josiah dort. Er hatte auf mich gewartet und war bereit, mir Feuerschutz zu geben.«

»Wie ist die Situation dann von der Rettung über die Explosion bis hin zu dem, was danach geschah, eskaliert?«

Was danach geschah … So harmlos konnte man es natürlich auch ausdrücken. Das klang, als hätte er es sich bequem gemacht und Tee getrunken, nachdem die ganze Botschaft in die Luft flog, anstatt mit dem Gesicht im Dreck wieder zu sich zu kommen, mit hämmerndem Kopf und klingelnden Ohren.

Auch jetzt konnte er noch das Feuer riechen, die Folgen der Explosion, als wären sie in seine Sinne eingebrannt. »Ich habe gesehen, wie die Rebellensoldaten Marks Leiche aus der Botschaft getragen haben. Danach erinnere ich mich nur an die Explosion des Gebäudes. Als ich zu mir kam, lag die Botschaft größtenteils in Trümmern. Ich konnte keinen meiner Kameraden finden. Ich bin um die Überreste des Gebäudes herumgegangen und habe nach irgendwelchen Anzeichen von Leben gesucht. Auch dabei habe ich kein Mitglied meines Teams gefunden und beschlossen, zur Landezone zurückzukehren, um Verstärkung zu holen.«

»Wer war beim Hubschrauber, als Sie hinkamen?«

»Cam.«

»Dann hat er also die anderen zurückgelassen.«

Sekundenlang musterte er sie kühl und fragte sich, ob es ihm gelingen würde, ihr eine Regung abzuringen.

Nichts. Scheiße. »Sein Job bestand darin, den Botschafter, seine Frau und seine Kinder in Sicherheit zu bringen. Das war sein Auftrag … sein Befehl von Josiah.«

»Und was ist das Letzte, woran Sie sich hinsichtlich Josiah erinnern? Wie lautete sein letzter Befehl an Sie?«

»Einen Moment war er noch neben mir und im nächsten war er spurlos verschwunden.« Chris hörte selbst, wie seine Stimme ein wenig brach, und schob es auf die schwindelerregende Mischung aus Erschöpfung, Schmerzen und Trauer.

»Welchen Befehl haben Sie zuletzt von Josiah erhalten?«, beharrte sie.

Er schoss praktisch aus dem Bett hoch, was sie zusammenzucken ließ. »Er hat mir nichts befohlen, Jamie. Zu dem Zeitpunkt hat es keine Befehle mehr gegeben.«

»Ich glaube, das war’s für heute.« Saint stand auf und machte Anstalten, Jamie hinauszubegleiten, ob sie nun gehen wollte oder nicht.

Das gefiel Chris zwar nicht, aber Jamie hatte keine Einwände.

»Ja, für heute war’s das. Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Chief Petty Officer Waldron«, sagte sie in knappem Ton und verließ den Raum. Saint folgte ihr.

Chris vergrub das Gesicht im Kissen und murmelte: »Nenn mich Chris. Verdammt noch mal, Jamie, nenn mich doch einfach Chris.«

Jamie hatte Chris seit zwei Monaten nicht mehr gesehen. Zwei Monate, vier Tage, und wenn sie sich anstrengte, hätte sie wahrscheinlich auch noch die Stunden und Minuten zusammengebracht.

Erbärmlich. Vollkommen, absolut erbärmlich.

Es war nicht so, dass sie ausschließlich an ihn dachte. Nein, sie gab sich alle Mühe, zu vergessen, was es für ein Gefühl war, als sein Körper sich gegen den ihren gedrückt hatte, in dem abgestürzten Flugzeug in Afrika.

Als er sie dann in Kisangani mitten auf einer unbefestigten Straße stehen ließ und sagte: Mit Gespenstern kann ich nicht konkurrieren, Jamie …

Und doch, so wie er aussah – und wie er sie jetzt ansah … an diesem Tag war er es, der Gespenster sah.

Sie musste sich zusammenreißen, um nicht zu ihm ins Krankenhausbett zu kriechen und ihn in die Arme zu nehmen.

Schwach. Sie war schwach und dumm. Chris konnte es nicht erwarten, dass sie das Zimmer verließ, das war mehr als nur offensichtlich.

Er hatte gut ausgesehen: müde, stark mitgenommen, aber gut. Und er lebte.

»Agent Michaels.« Captain St. James trat von hinten auf sie zu. Chris’ Vorgesetzter sah zwar gut aus, aber einen glücklichen Eindruck machte er nicht.

»Ich muss noch einmal mit Waldron sprechen«, sagte sie.

»Ihn verhören, meinen Sie.«

»Ich bedaure den Tod Ihres Kameraden, aber das FBI hat bei dieser Mission ebenfalls einen Mann verloren. Ich nehme doch an, dass Sie möglichst alles erfahren wollen, was da draußen passiert ist.«

St. James’ Miene wurde hart. »Ich weiß alles, was ich wissen muss. Und Sie werden ihn heute nicht mehr befragen – und Sie werden auch nicht ohne mich mit ihm sprechen.«

»Auf die Idee käme ich nicht im Traum, Captain.«

Er nickte knapp und entfernte sich den Flur hinunter, fort von Chris’ Zimmer und fort von ihr. Seine Haltung war steif. Sie könnte wetten, dass er sich vorher so locker wie Chris bewegte. Sie verstand, was in ihm vorging.

Sie hatte Josiah nicht gekannt, aber darauf kam es nicht an. Er gehörte zu ihrer Truppe. Das Credo »Keiner wird zurückgelassen« galt nicht nur für das Militär.

Ihr Magen verkrampfte sich, wie er es in den vergangenen paar Tagen immer wieder machte, seit sie von der fehlgeschlagenen Mission wusste. Drei Tage dauerte es, bis sie Gewissheit hatte, dass es Überlebende der Joint Task Force gab, und noch einmal einen Tag, bis sie erfuhr, dass Chris zu den Glücklichen zählte.

Es gefiel ihr absolut nicht, wie es sie berührte, dass Chris verletzt war. Es versetzte sie zurück in den Zustand, in dem sie sich voriges Jahr befand, als sie angeschossen und Mike getötet worden war. Als sie ihren Partner und den Mann, der die Liebe ihres Lebens sein sollte, in ein und derselben Sekunde verlor.

Als sie Chris kennenlernte, trauerte sie bereits seit einer gefühlten Ewigkeit. Ihr Körper schmerzte an Stellen, die vorher nie wehgetan hatten, als hätte Mikes Tod eine Leere in ihr geöffnet, von der sie bis dahin nicht einmal gewusst hatte, dass es sie überhaupt gab.

Chris hatte im Nu auf ihre Bedürfnisse reagiert, er hatte sie als Frau betrachtet, nicht als tugendhafte, pflichtbewusste FBI-Agentin. Das gefiel ihr. Er war nicht respektlos, nein, er verstand einfach, was ihr Job mit sich brachte. Er wusste, wie hart es war, so weit zu kommen, was sie erreicht hatte.

Er verstand es so gut, dass er ihr dabei helfen konnte, die Arbeit und alle Sorgen hinter sich zu lassen, wenn auch nur für eine kurze Zeit.

Unten drunter sind wir alle nur Männer und Frauen, sagte er in jener Nacht zu ihr, als sie nackt, Körper an Körper, in der abgestürzten Cessna lagen und darauf warteten, dass der Regen aufhörte. Zuvor war es eine Erfahrung auf Leben und Tod gewesen, gefolgt von intensivem Sex. Nein, sie konnte es nicht auf die Gefahr schieben, dass es dazu gekommen war. Sie hatte sich vom ersten Moment an wie unter Strom stehend von ihm angezogen gefühlt.

Die Anziehungskraft bestand immer noch, unter der Anspannung und dem schwach verhüllten Hass auf die Aufgabe, die sie erfüllen musste.

Aber das würde nicht zum Problem werden. Sachlichkeit war ihre Stärke. Sie ließ sich stets von Logik und Vernunft leiten, während Sophie, ihre ältere Schwester, die Impulsive war.

Im Beruf erwiesen sich ihre Charaktereigenschaften nie als Belastung, ebenso wenig wie in ihrer Beziehung zu Mike. In letzter Zeit fühlte sie sich allerdings, als wäre sie selbst eingesperrt. Plötzlich gab es da Grenzen, die ausgedehnt werden wollten, und sie wusste nicht, ob es an Sophies oder Chris Waldrons Einfluss lag, aber irgendetwas hatte sich in ihr verändert. Jetzt musste sie nur noch herausfinden, ob es eine Veränderung zum Besseren war.

Gott, dieses vergangene Lebensjahr war das längste von allen – und wahrscheinlich das schwerste, seit ihre Eltern ums Leben kamen. Zuerst verlor sie Mike, dann kehrte Sophie nicht mit ihr nach Hause zurück, als Jamie nach Afrika aufbrach und sie rettete – zwei verschiedene Arten von Verlust, aber der Schmerz blieb der gleiche.

Jamie riskierte ihr eigenes Leben und ihre Karriere, um ihre Schwester zu retten. Und dann sagte Sophie ihr nur, dass sie weder Hilfe brauchte noch wollte.

Sophie war irgendwo dort draußen und lebte. Jamie konnte nicht sicher sein, ob das FBI ihr jemals wieder ganz vertrauen würde, nachdem sie bei der Aufdeckung jener Gruppe von Regierungssöldnern involviert war, die ihr die Schwester genommen hatte.

Fürs Erste war Jamie wieder im Dienst. Aber es hing ihr eine stete Nervosität an. Sie hatte das Gefühl, ihre Privatsphäre, die ihr immer viel bedeutet hatte, würde unentwegt gestört.

Chris war dabei gewesen, als sie in Afrika nach Sophie suchte. Sie kam nicht umhin, ihm von dem Zeugenschutzprogramm zu erzählen, in dem sie und ihre Schwester seit ihrer Kindheit lange Zeit gewesen waren. Die näheren Umstände behielt sie jedoch für sich, und er bedrängte sie nie mit weiteren Fragen danach.

Es gefiel ihr nicht, dass jemand, gegen den sie ermittelte, diesen Teil ihrer Vergangenheit kannte. Zudem hatte er Seiten an ihr erlebt, deren Existenz ihr vorher selbst nicht bewusst gewesen waren. Und doch spürte Jamie, dass sie ihm diese Informationen anvertrauen konnte.

Er tat das Richtige, als er sich von ihr trennte und sie stehen ließ. Sie war damals nicht bereit für ihn. Nun war sie es, aber jetzt lag er angeschlagen in einem Krankenhausbett, und sie wusste ihn nicht zu deuten.

Wieder starrte sie auf die geschlossene Tür, dann stieß sie sie kraftvoll auf, ohne anzuklopfen. Wenn sie an Chris dachte, dann fühlte sie sich von einer Dringlichkeit erfüllt und getrieben, die sie gleichermaßen ängstigte wie faszinierte.

Er war nicht mehr da, das Bett leer. Die Laken waren zerwühlt, und im Raum lag ein schwacher Geruch von Zypressen. Sie liebte seinen Geruch und musste sich gegen den albernen Drang wehren, ihre Nase in sein Kissen zu stecken.

Jamie wollte ihren Job nicht vermasseln, aber genau das konnte passieren, jetzt, da sie in Chris’ Zimmer stand.

Im Bad lief Wasser. Natürlich hatte er das Krankenhaus nicht einfach verlassen. Sie wandte sich leise zum Gehen, als hinter ihr Chris’ Stimme erklang.

»Wie geht’s PJ?«, fragte er. Sie erstarrte, die Hand bereits auf dem Türknauf, überrascht von der Intimität der Frage.

Sie drehte sich zu ihm um. Jetzt sah er sich selbst wieder ähnlicher, ein Meter siebenundneunzig großspurige Überheblichkeit, dazu seine zweifarbigen Augen und das breite Grinsen. Halb Cajun, ein Teil Zigeuner und wer weiß, was sich sonst noch in ihm verband und ihn zum bodenständigsten Mann machte, dem sie je im Leben begegnet war – und auch zum rätselhaftesten.

Wasser rann ihm über den Körper – schlank, gebräunt, muskulös –, und so stand er da, tropfte den Boden voll und dachte gar nicht daran, nach einem Handtuch zu greifen.

»Meine Schwester heißt Sophie und nicht PJ. Und ich habe keine Ahnung. Sie hat sich noch nicht wieder bei mir gemeldet.«

»Ich bin sicher, sie macht sich auch um dich Sorgen.«

»Ja, das habe ich mein ganzes Leben lang gehört. Es scheint niemandem in den Sinn zu kommen, dass ich durchaus in der Lage bin, alleine klarzukommen.«

Es war ein Fehler gewesen, noch einmal in dieses Zimmer zu kommen. Darum drehte sie sich um, ging hinaus und schloss die Tür, damit diese wie ein Schutzschild zwischen ihnen stand. Trotzdem musste sie sich für einen Moment an der Wand abstützen, um sich wieder in den Griff zu bekommen.

Sie war tief in Gedanken versunken und merkte nicht, dass Chris die Tür öffnete und sie musterte, während er sich krampfhaft am Türrahmen festhielt. Er hatte Schmerzen – körperliche und emotionale, aber wahrscheinlich war es einerlei. Im Augenblick litt er auf jede nur denkbare Weise.

»Wärst du auch dann hergekommen, um mich zu besuchen, wenn man dir diesen Fall nicht übertragen hätte?«, fragte er.

Sag Nein. Er hat dich stehen lassen. »Ich weiß es nicht.« Die Worte platzten aus ihr heraus, bevor sie es verhindern konnte.

Da lächelte er. Es war nur ein kleines Lächeln, aber es hob doch leicht seine Mundwinkel an. »Dann läufst du also wieder vor mir davon?«

»Ich bin letztes Mal nicht davongelaufen.«

»Mag sein, dass ich es war, der das Weite gesucht hat, aber du bist vor unserer Beziehung davongelaufen. Täusch dich da mal nicht, Jamie«, sagte er zu ihr, bevor er ins Zimmer zurückging und die Tür wieder hinter sich schloss.

In der nächsten Sekunde fiel der Strom aus.

Ihrem ersten Impuls folgend wollte Jamie nach einem Fluchtweg suchen, denn darauf war sie trainiert. Aber in diesem Moment ging Chris’ Tür wieder auf.

»Bleib von der Treppe weg.« Seine Stimme klang ruhig, als er sie sanft am Arm fasste und in sein Zimmer zog. Sie wehrte sich nicht und ließ ihn die Tür zumachen.

»Was ist los?«

»Stromausfall.«

»Danke, das habe ich auch schon gemerkt. Das Krankenhaus muss doch einen Generator haben.« Noch während sie sprach, ging das Licht flackernd an und gleich wieder aus, bis die Lampen schließlich schwach leuchteten, als liefen sie mit weniger Saft. »Na ja, besser als nichts.«

»Stimmt«, sagte Chris, und im selben Moment erbebte der Boden unter ihren Füßen, und das Fenster zerbarst im Mörserbeschuss.

Der Stützpunkt, der aus einigen Verwaltungsgebäuden, einer Truppenunterkunft und diesem zweistöckigen Krankenhaus bestand, erbebte in seinen Grundfesten. Chris vermutete, es brauchte dazu wahrscheinlich nicht viel. Das Angriffsfeuer versetzte seinen ohnehin noch hämmernden Kopf in noch heftigeren Aufruhr.

Aus den Lautsprechern plärrte eine Durchsage. »Die Patienten werden gebeten, in ihren Zimmern zu bleiben und sich nach Möglichkeit von den Fenstern fernzuhalten.«

»Komm ins Bad, da gibt es kein Fenster. Dort können wir warten, bis es vorbei ist«, sagte er, als das Fenster neben seinem Bett erst im Rahmen klirrte und dann zersprang. Glasscherben wirbelten durchs Zimmer.

Dann riss Jamie ihn in die Sicherheit des kleineren Raumes. Er verlor für eine Sekunde das Gleichgewicht, suchte an der Wand Halt und wäre fast auf Jamie gefallen. Die Schmerzmittel setzten ihm heftiger zu als die Schmerzen selbst, und das passte ihm gar nicht.

Sekunden später ging das Licht von Neuem aus.

»Alles okay, ich hab dich«, redete sie auf ihn ein, als sie ihn sanft zu Boden rutschen ließ. Doch sosehr es ihm auch gefiel, das zu hören, Hilflosigkeit war nicht sein Ding. Er riss sich von Jamie los, wobei ihm schmerzlich bewusst wurde, dass er sich eben noch nichts sehnlicher gewünscht hatte, als von ihr berührt zu werden. Er schob seine Irrationalität auf die Ereignisse der vergangenen Tage. Auf Trauer, Stress und Schmerz.

Sie rückte ihrerseits von ihm ab, und einen Moment lang saßen sie einfach nur im Dunkeln da, horchten auf das Grollen und Rumpeln draußen vor der Tür, bevor sie wieder das Wort ergriff.

»Also, wegen vorhin … ich habe nur meinen …«

»Du hast nur deinen Job getan. Ich weiß, wie das läuft, Jamie.« Er rieb sich die Stirn. Der Boden bebte weiter, die Vibrationen bohrten sich mit der Effektivität eines Presslufthammers bis in seinen Schädel hinauf. Er wollte die Augen schließen und alles aussperren, aber das würde ihm nicht gelingen. Sobald er die Augen zumachte, würde er alles vor sich sehen, die ganze Szene, wie sie sich vor vierundzwanzig Stunden abgespielt hatte. »Scheiße, ich will nicht hier sein.«

»Tut mir wirklich leid.« Jamie legte ihre Hand auf sein Knie, und er ließ es zu.

»Wie beim letzten Mal, als wir zusammen in Afrika waren?«

Sie rutschte im Finstern etwas näher an ihn heran. »Es tut mir leid, was dir und deinem Team zugestoßen ist. Was in Afrika passiert ist. Gott, ich habe mir solche Sorgen gemacht, als ich davon hörte …«

»Ich habe mir auch Sorgen um dich gemacht. Das war wohl für keinen von uns vorher typisch, wie?« In seinem Ton lag kein Vorwurf, nicht jetzt, als sie dicht neben ihm saß.

»Es ist zu deinem eigenen Besten, wenn du alle meine Fragen beantwortest, Chris. Je schneller ich diese Untersuchung abschließen kann, desto eher kannst du wieder arbeiten.«

Wieder arbeiten … Das stand ziemlich weit unten auf seiner Liste, unter der Trauer um Mark und dem Bedauern über die fehlgeschlagene Mission. »Ich hab dir alles gesagt, was ich weiß. Es war ein Riesenchaos. So ist es immer, ganz gleich, wie sehr man sich bemüht, die Situation unter Kontrolle zu halten.«

»Aber du bist darauf trainiert, auch im Chaos den Überblick zu behalten.«

»Wenn du mittendrin steckst, dann siehst du einen Scheißdreck.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Mensch, Jamie, auch wenn meine Fähigkeiten als Scharfschütze vielleicht einen anderen Eindruck erwecken.«

Eine Explosion ließ die Tür hinter ihm erzittern und rüttelte sein Gedächtnis auf. »Die Tür …«

»Ist schon gut.«

»Nein, nicht diese Tür. In jener Nacht versuchte ich in der Botschaft durch eine Tür zu kommen. Sie war abgesperrt.«

Er lehnte den Kopf gegen die Wand. »Was sich hinter dieser Tür befand, ließ das Gebäude in die Luft fliegen.«

»Bist du sicher?«

»Granatwerfer richten keinen solchen Schaden an.«

»Handgranaten?«

»Könnten ein altes, bestens gesichertes Gebäude aus Stein nicht plattmachen. Die Explosion hat eine Bombenschutzwand zum Einsturz gebracht. Nein, da war schon Sprengstoff in dem Gebäude … als hätten sie es so geplant. Sie wollten auch uns treffen.«

Weitere Detonationen erschütterten das Krankenhaus, sehr viel längere diesmal, und Jamie wäre fast gegen die Decke geflogen. Chris erging es kaum besser. Ihre Hand klammerte sich um seinen Bizeps.

Er legte seine Hand auf Jamies. »Alles okay?«

»Daran könnte ich mich nie gewöhnen«, keuchte sie.

»Mein Leben läuft schon lange nicht mehr wie ein Film im Schnelldurchlauf vor meinen Augen ab«, sagte er.

»Ich wünschte, ich könnte dasselbe von mir behaupten. Und komm mir jetzt nicht mit diesem Psychogefasel, Angst sei etwas Positives.«

»Ich habe nicht gesagt, ich hätte keine Angst.« Er zuckte zusammen, als ein weiterer Donnerschlag den Boden und die Wände erbeben und seine Zähne vibrieren ließ.

»Sie kommen näher.« Jamie spähte zur Tür hinaus, dann wandte sie sich wieder ihm zu. »Vielleicht sollten wir doch versuchen, nach unten zu kommen.«

»Vielleicht auch nicht.« Mit der Hand fuhr er ihr über die Wange. Sie hatte diese Berührung vermisst, merkte, wie ihr Kopf sich zu seinem hinneigte, und dann …

»Chris, was zum Teufel …?« Saint war zur Tür hereingeplatzt, eine Taschenlampe in der Hand, und Jamie schreckte abermals hoch.

»Toller Auftritt, Rambo«, grunzte Chris.

»Halten Sie die Klappe, Waldron. Agent Michaels, ich dachte, wir hätten eine Absprache getroffen.«

»Ich habe diesen Angriff nicht angezettelt, damit ich ihn weiter befragen kann.«

»Würde es euch etwas ausmachen, nicht über mich zu reden, als wäre ich nicht da?«, warf Chris ein. Er klang müde, selbst in seinen eigenen Ohren.

Kaum stand Jamie auf, vermisste er schon das Gefühl ihrer Nähe.

»Sie bleiben im Gebäude, bis der Beschuss vorbei und die Sicherheit des Stützpunktes wiederhergestellt ist«, befahl Saint. »Aber Sie bleiben ganz bestimmt nicht hier bei ihm. Am Ende des Korridors gibt es einen Schutzraum für Besucher.«

Chris wollte Einwände erheben, wusste jedoch, dass es sinnlos war. Darum zog er sich einfach nur hoch und sah gerade noch, wie die Tür zuschlug. Jamie war weg. Wieder einmal.

2

Als sie sechs Stunden später endlich das Krankenhaus verlassen durfte, wollte Jamie sich für den Rest des Abends in ihrem Hotel außerhalb des Militärstützpunkts verschanzen und alles daransetzen, Chris Waldron nur als einen Fall zu betrachten.

Aber natürlich war das unmöglich. Während sie in ihrer Tasche nach den mitgebrachten Schokoriegeln wühlte, wurde ihr klar, dass sie sich nicht länger etwas vormachen konnte. Trotzdem schrieb sie ihren Bericht fertig und schickte ihn per E-Mail an ihren Vorgesetzten. Sie hoffte, der Fall war damit abgeschlossen. Morgen früh würde sie zurück in die Staaten fliegen.

Ein Klopfen an der Tür, leise, aber bestimmt, ließ sie hochfahren. Sie linste durch den Spion, die Waffe in der Hand, wie sie es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, wenn sie beruflich alleine unterwegs war.

Draußen stand Chris. Er war von der Tür weggetreten, damit sie sein Gesicht sehen konnte, anstatt nur ein Stück des Tarnmusters seiner Kleidung.

Sie sicherte ihre Waffe und riss die Tür auf.

»Warum bist du nicht im Krankenhaus?«

»Weil ich dir nachlaufen muss.«

»Darum hat dich niemand gebeten.«

»Ich habe nur eine Stunde Zeit.«

»Das ist mir egal. Vor allem, wenn du dich über den Rat deines Arztes hinwegsetzt«, erwiderte sie, wohl wissend, dass keiner ihrer Einwände ihn zum Gehen bewegen würde.

Der Blick seiner Augen – eines blau, das andere grün, noch kräftiger betont durch die Prellungen rings herum – bohrte sich mit einer Intensität in sie, die sie bis ins Mark traf. »Was ist dir nicht egal, Jamie? Was es auch ist, ich möchte es sein. Ich möchte auf dir liegen … in dir sein. Es hat mir gefehlt, dich in mein Ohr stöhnen zu hören. Es hat mir gefehlt, in dir zu kommen.«

Ihr Mund klappte auf. Ohne zu überlegen, ohne nachdenken zu wollen, packte sie ihn vorne am Hemd, zog ihn zu sich und hob ihr Gesicht, um sich von ihm küssen zu lassen.

Er ächzte, wenigstens teilweise vor Schmerz, das war ihr klar. Aber er löste sich nicht von ihr, sondern hatte sie fast schon ausgezogen, bevor sie die Zimmertür schließen konnte.

Chris hätte es nichts ausgemacht, sich nackt auf dem Flur mit ihr zu wälzen. Er hätte es überall gemacht.

Die Tatsache, dass er es mit ihr tun wollte, verstärkte den wohligen Schmerz zwischen Jamies Beinen noch. Dann legte er seine Hand dorthin und streichelte sie rasch mit zwei Fingern, bis sie sich versteifte und stöhnend ihren Mund öffnete. Ihr Körper wurde von dem Orgasmus förmlich überrollt. Das heftige Kreisen des Wohlgefühls ließ ihr die Knie weich werden. Dennoch schob sie ihre Hüften nach vorne, seiner Hand entgegen, weil sie immer noch mehr wollte.

»So schnell, Jamie? Hast du die ganze Zeit auf mich gewartet? Hast du mich gewollt?« Seine Stimme schien langsam und sanft an ihrem Körper hinabzugleiten. Die Art und Weise, wie er mit ihr sprach, während sie nackt in seinen Armen lag, bescherte ihr fast so viel Wonne wie seine Hände, seine Zunge, seine kräftige Erektion, die gegen ihren Bauch drückte.

Ihr Schaudern gab ihm die Antwort, nach der er gesucht hatte. Er lachte leise, glucksend, während seine Finger sie unverändert streichelten. Ihre Nippel kribbelten, doch sie widerstand der Versuchung, selbst damit zu spielen.

Sie löste ihr Gesicht von seiner Schulter und merkte, wie sie immer noch dastanden. Sie klammerte sich an Chris fest, als ginge es um ihr Leben. Er drückte sich neben der Tür an die Wand.

»Das weißt du doch, sonst wärst du nicht hier«, flüsterte sie.

»Sei dir da mal nicht so sicher. Ich kann so oder so ziemlich überzeugend sein.« Er lehnte den Kopf nach hinten und schloss für einen Moment die Augen.

»Du hast noch Schmerzen.« Sie strich ihm leicht über die Wange. Ihre nackten Brüste versuchten sich Erleichterung zu verschaffen, indem sie über den Stoff seiner Kleidung rieben.

»Ein bisschen.«

»Dann lass mich machen«, murmelte sie. Er zog geräuschvoll die Luft ein und lächelte – oh, dieses Lächeln …

Seine Hände wanderten über ihre Brüste – endlich –, seine Finger spielten mit ihren harten Nippeln, während sie seinen Schwanz in ihrer Handfläche rieb.

»Mach schnell, Jamie«, sagte er plötzlich, und seine Hände packten ihre Hüften. Er zog sie wieder an sich. Seine Erektion strich über ihre feuchte Stelle, und ja, sie war mehr als nur willens, schnell zu machen.

Aber diesmal befanden sie sich nicht in einem abgestürzten Flugzeug in Afrika, fernab jeder Zivilisation, und ihre Gedanken waren klarer. Ein wenig. »Verhütung. Wir müssen …«

Er starrte sie an, den Kopf zur Seite gelegt. Dann schüttelte er ihn, wie um wach zu werden, und zog ein Kondom aus der Tasche, das er rasch überstreifte. »Diesmal habe ich daran gedacht.«

Jetzt war es an ihr, ihm zu sagen, er solle schnell machen. Sie schob ihm die Hose herunter, befreite ihn.

Trotz seiner Verletzungen drückte er sie mit dem Rücken fest gegen die Wand. Sie schlang die Beine um seine Hüften. Er drang mit einer quälend langsamen Bewegung in sie ein, und so verharrten sie einen Moment lang, beide sprachlos, die Blicke ineinander verschränkt.

Als er sich wieder bewegte, wurden ihre Augen groß und sie keuchte auf. Er stützte sich ab, die Hände flach gegen die Wand gestemmt, und bewegte seine Hüften zunehmend kräftiger und schneller.

»Das erste Mal seit Afrika?«, fragte er.

Sie nickte nur, weil sie wie von Sinnen war. Er presste sich in sie hinein, mit langen Stößen, die sie völlig ausfüllten. Er pochte in ihr.

»Mit uns … läuft es immer … darauf hinaus«, keuchte er. Sie spürte seinen warmen Atem an ihrem Ohr. »Ich würde mir … gerne mal … ein bisschen mehr Zeit lassen … Jamie.«

Sie kam als Erste, er gleich darauf. Chris hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, derweil sie ihn noch umklammert hielt und sich um nichts anderes kümmerte als das Gefühl, das er ihr bescherte.

Sie stöhnte, als er sich zurückzog, ließ die Beine nach unten gleiten, und als ihre Füße den Boden berührten, ließ sie ihn los.

Er blieb vor ihr stehen, seinen Kopf an die Wand gelehnt. Sein Atem ging schnell.

»Bist du okay?«

»Und wie«, stieß er hervor. Seine Hand lag warm auf ihrem Bauch, wie um sie in seiner Nähe zu halten. »Ich brauch nur einen Moment.«

Sie wollte ihm durchs Haar streichen, ließ es jedoch sein und hielt sich zurück wie schon vor ein paar Monaten. Diesmal allerdings aus ganz anderen Gründen. »Wegen vorhin …«

»Lass uns nicht wieder davon anfangen«, sagte er. Und sie ließ das Thema fallen. Zugegeben, das kostete sie größte Mühe, aber der Fall als solcher war ganz einfach. Auf tragische Weise unkompliziert, mit einem schrecklichen Preis behaftet. Herzzerreißend für ihn, und für sie offensichtlich abgeschlossen.

»Im Ernst, warum hat man dich herausgelassen? Ich wusste nicht, dass Krankenhäuser ihren Patienten Freigang erteilen.«

»Tja, das tun sie auch nicht.« Er hob die Schultern. »Sie wissen eigentlich gar nichts davon. Nein, das stimmt nicht ganz, zwei Leute wissen Bescheid. Ich muss vor Mitternacht zurück sein.«

»Das hättest du nicht tun sollen. Du bist verletzt.«

»Ich musste es tun«, erwiderte er schlicht. »Ich konnte einfach nicht mehr nur dasitzen und die Wände anglotzen. Ich hatte genug davon, alles noch einmal durchleben zu müssen, immer und immer wieder. So habe ich mir wenigstens eine Stunde Frieden verschafft.«

Er löste sich von ihr und zog sich an. Sie tat dasselbe, versuchte, ihre Bluse wieder zuzuknöpfen. Dabei stellte sie fest, dass die meisten Knöpfe abgerissen waren. Sie streifte stattdessen ein T-Shirt über und begleitete Chris zum Aufzug – aus Sorge um seine Gesundheit, wie sie sich einredete. Es hatte nichts mit seinen Fingern zu tun, die sich um ihre schlossen und die sie mit sich zogen. Wie zwei Teenager bei einem Date.

Sie und Mike hatten ihre Zuneigung nie öffentlich zur Schau gestellt. Nicht wegen beruflicher Bedenken, sondern weil es einfach nicht zu ihnen passte. Wenn Chris sie berührte, kam ihr das hingegen so natürlich vor wie zu atmen.

»Ich möchte dich wiedersehen, wenn wir zu Hause sind«, sagte er, als die Fahrstuhltür aufglitt.

»Ich weiß nicht, ob das mit uns mehr ist als nur Sex in Verbindung mit Gefahr.« Sie ließ seine Hand los. »Wenn ich bei dir bin, will ich unbekümmert sein, verwegen. Und ich glaube, das ist nicht gut für mich.«

Er nickte langsam. »Dir selbst kannst du ja vielleicht ganz gut was vorlügen, aber versuch nicht, auch mich zu belügen.« Er schaute sie weiterhin an, als er rückwärts in den Aufzug trat. »Eine zweite Chance sollte man sich nie entgehen lassen.«

Sie rührte sich nicht vom Fleck, bis die Tür sich ganz geschlossen hatte, und auch dann drehte sie sich nur widerstrebend um und ging allein zu ihrem Zimmer zurück.

Zweite Chancen. Davon hatten sich ihr im Lauf der Jahre mehr als genug geboten. Ob sie einer weiteren gegenüber aufgeschlossen war oder nicht, blieb abzuwarten.

Ihr Handy klingelte, als sie ihr Zimmer erreichte. Sie meldete sich. »Michaels.«

Es war Lou Carter, ihr Vorgesetzter. »Michaels, ich habe Ihren Bericht gelesen. Wir haben zwischenzeitlich weitere Informationen erhalten, die es erforderlich machen, den Fall noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Sie begleiten Chris Waldron auf seinem Flug zurück in die Staaten und sorgen dafür, dass er hier ankommt.«

»Was ist geschehen?«

»Gegen Waldron wird ermittelt, wie auch gegen Cameron Moore. Sie müssen die Aussagen der beiden noch einmal aufnehmen.«

»Worum geht es bei den Ermittlungen gegen sie?«

»Josiah Miller wurde vor der Explosion getötet, durch einen Schuss in den Kopf.«

»Und was haben Chris Waldron und Cameron Moore damit zu tun?«

»Laut Ihrem Bericht gab Josiah Miller den Befehl, niemand solle in die Botschaft zurückkehren. Mark widersetzte sich Josiahs Anweisung und ging trotzdem rein.«

»Daraufhin stimmten die drei übrigen Männer ab: Cam und Chris beschlossen, hineinzugehen, und Chris sagte, Josiah sei in der Botschaft schließlich zu ihnen gestoßen«, erklärte Jamie den Ablauf so, wie Chris ihn ihr geschildert hatte.

»Warum wurde Josiah Miller dann durch einen einzelnen Scharfschützenschuss genau zwischen die Augen getötet? Warum wurde seine Leiche nicht in der Nähe des Explosionsortes gefunden, und warum wies sie keine Spuren der Detonation auf, die ihn angeblich umbrachte?«

Jamie stockte der Atem. »Ich weiß es nicht, Sir.«

»Aber Sie werden es herausfinden. Und zwar so schnell wie möglich.«

Es gab zwei Dinge, mit denen Chris sich gut auskannte: sein Gewehr und der Körper einer Frau. Mit beiden konnte er Stunden zubringen, ihre Feinheiten studieren, ihre individuellen Kniffe und Besonderheiten … und ihre Mängel. Er wusste, wann beide Zicken machen würden, wann sie ihn entweder im Stich lassen oder ihm den Schuss seines Lebens ermöglichen würden. Gewehre und Frauen – er liebte sie beide, und das nicht zwingend in dieser Reihenfolge.

Das Kribbeln in seinen Fingerspitzen hatte in der Sekunde begonnen, als er Jamies nackte Haut berührte, als er seine Lippen auf den Puls an ihrem Hals drückte und mit der flachen Hand über ihren Bauch strich.

Verdammte Scheiße, Jamie war schwanger! Chris’ immer noch ziemlich umnebeltes Hirn brauchte Zeit, um diese Information zu verarbeiten. Derweil hatte er sich eine Mitfahrgelegenheit zurück zur Stützpunktklinik besorgt. Er wäre ja zu Fuß gegangen, weil er eigentlich frische Luft brauchte, aber Mitternacht und Afrika, das vertrug sich nicht besonders gut. Daran änderte auch die Waffe nichts, die er bei sich trug.

Das Baby war von ihm. Es musste von ihm sein. Jamie wusste es selbst noch nicht, da war er sich sicher. Er konnte nicht erklären, woher er es wusste, außer vielleicht, weil er von einer langen Reihe von Zigeunern und Hebammen abstammte. Weil er unter Frauen aufgewachsen war, die in den Wehen lagen, bis es für ihn die natürlichste Sache der Welt wurde. Er brachte früher so viele Babys vorzeitig auf die Welt, dass es zum Running Gag wurde, keine Frau ab dem achten Monat ihrer Schwangerschaft in seine Nähe zu lassen. Zusätzlich waren seine Mom und sein Dad echte Hellseher – als Beweis zählten die Schwindeleien, mit denen er und seine Brüder nie durchkamen. Daher musste Chris einfach immer recht haben, wenn es um solche Dinge ging.

Der Glanz war noch nicht ganz sichtbar, nein, sie wirkte müde, erschöpft. Wusste wahrscheinlich nicht, warum sie sich in letzter Zeit so beschissen fühlte.

In seinen Augen war sie allerdings immer noch verdammt schön. Stärke und Anmut in einem einzigen langen, schlanken Paket. Und in diesem Moment war es ihm völlig egal, dass sie gekommen war, um ihn zu verhören. Ihr Eingeständnis heute Nachmittag vor seiner Tür verriet ihm, was er wissen wollte. Und wie sie ihn auf dem Weg zum Fahrstuhl ihre Hand halten ließ, verriet ihm noch mehr.

Sich ins Krankenhaus zurückzuschleichen war kein Problem für ihn. Nachdem er sich ausgezogen und das dämliche Krankenhaushemd übergestreift hatte, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen, bedankte er sich bei dem Typen, der ihm die Waffe und die Tarnkleidung geliehen hatte.

Seine Tasche, die man aus dem Hubschrauber geholt hatte, enthielt nur dreckige Kleidung. Seine Waffen hatte Saint, der ihm in ein paar Stunden eine saubere Arbeitsuniform für die Reise bringen würde. Darum zog er die Krankenhauskleidung aus und einstweilen seine Jogginghose wieder an. Dann machte er sein Handy an, um seinen Bruder anzurufen.

Jake meldete sich nach dem ersten Klingeln. »Du bist okay?«

»Ja, ich bin okay.« Er hielt inne. Seine Kehle wurde eng. »Aber Mark …«

»Scheiße, Chris.« Jakes Stimme klang rau.

»Ja«, war alles, was er als Erwiderung hervorbrachte, und mehr brauchte er auch nicht zu sagen. Eine kleine Ewigkeit herrschte Stille an beiden Enden der Verbindung, als sie ihre Trauer miteinander teilten.

Jake ergriff schließlich als Erster das Wort. »Saint hat gesagt, das FBI sei bei dir vorbeigekommen.«

»Ich bin sicher, er hat mehr als nur das gesagt.«

»Ist sie immer noch so heiß?«

»Sie ist okay.« Chris lächelte vor sich hin, während er sich ins Kissen sinken ließ. Sein Fenster war noch nicht repariert worden, aber irgendjemand hatte die restlichen Glasscherben aus dem Rahmen entfernt. Die Geräusche der Soldaten, die Nachtwache hatten, wehten herein und vermittelten ihm ein Gefühl von Behaglichkeit, wie er es in einem Zivilkrankenhaus nicht verspürt hätte. Morgen würde er Jamie wiedersehen. Vielleicht konnte er nach ihrer Ankunft etwas mehr Zeit mit ihr verbringen und überlegen, wie es weitergehen sollte.

Christopher sprach nicht mit ihm. Es war das zweite Mal in siebenundzwanzig Jahren, dass sein Sohn das tat; es hatte Kenny beim ersten Mal schon tief verletzt, doch jetzt war es noch schlimmer.

Es war egal, dass er das innerliche Ringen seines Sohnes verstand, wahrscheinlich besser als Chris selbst. Aber er hasste es, hier in diesem Stadion in Texas sitzen zu müssen. Das Mobiltelefon hielt er fest in der Hand, damit er nur ja keinen Anruf verpasste, inmitten schmetternder Musik und Tausender Fans, die zum ersten Konzert der großen – und unübersehbar erfolgreichen – Comeback-Tour seiner Band gekommen waren.

Nick hatte angerufen und ihm versichert, dass Chris körperlich in Ordnung war. Auch Jake sagte es ihm, mehrfach sogar, obwohl keiner von beiden Chris bis jetzt selbst gesehen hatte. Und ihr »Es geht ihm gut« klang wie eine hohle Phrase in seinen Ohren, weil sie wussten, dass es Chris alles andere als gut ging. Genauso wenig wie ihnen selbst.

Seine Söhne mussten in der Vergangenheit immer wieder mit Verlusten fertigwerden und hatten dem Tod mehrfach ins Gesicht geschaut, doch an Mark Kendalls Tod, seinem Opfer, würden sie lange nagen.

»Fantastisches Comeback, Kenny.« Einer der Plattenproduzenten schlug ihm begeistert auf die Schulter, und er wäre vor Schreck fast aus der Haut gefahren. »Wir haben nicht damit gerechnet, dass Sie so lange am Leben sein, geschweige denn auf der Bühne stehen würden.«

Ja, Kenny hatte diese Band praktisch von den Toten auferweckt. Er begleitete sie durch Reha-Maßnahmen und Scheidungen und versteckte sie vor den Paparazzi, bis sie wieder bereit waren, sich der Öffentlichkeit zum Fraß vorzuwerfen.