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Dichter Nebel über dem Flughafen von Rønne. Am späten Abend landet eine kleine Privatmaschine, rollt aus und stoppt am Ende der Landebahn. Doch die Türen bleiben verschlossen, niemand reagiert auf die Funksprüche des Towers. Denn – wie die Flughafensicherheit wenig später feststellen muss – alle drei Insassen sind tot, Opfer eines raffinierten Mordanschlags.
Lennart Ipsen von der Bornholmer Kriminalpolizei steht zusammen mit seinen beiden Mitarbeiterinnen vor einem absoluten Rätsel: Was verband die drei Reisenden? Was genau hat sich in dem Flugzeug abgespielt? Und wer hat den Frieden auf der beschaulichen dänischen Urlaubsinsel auf so brutale Art und Weise gestört?
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Seitenzahl: 458
Veröffentlichungsjahr: 2024
Der Bornholmer Winter war kalt und grau – umso mehr freut sich Lennart Ipsen auf den gerade beginnenden Frühling. Seinen ersten auf der hyggeligen dänischen Urlaubsinsel. Nach einer persönlichen Krise hatte er dort als Leiter der kleinen Insel-Kripo angeheuert und fühlt sich inzwischen schon fast wie zu Hause. Vor allem seit eine neue Beziehung für zarte Frühlingsgefühle sorgt.
Doch mit denen ist es erst mal vorbei, als Lennart mit einem geheimnisvollen Dreifachmord auf dem Flughafen der Insel konfrontiert wird. Zusammen mit seinen beiden Kolleginnen stürzt er sich in die Ermittlungen. Und stößt schon bald an seine Grenzen. Denn der Fall ist mehr als kompliziert – und jedes der drei Opfer hat eine ganz besondere Geschichte …
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Michael Kobr
Ein Bornholm-Krimi
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Originalausgabe April 2024
Copyright © 2024 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg
Covermotiv: © picture alliance / Bildarchiv Monheim |Rainer Kiedrowski, GES/Oliver Hurst | Oliver Hurst, Ritzau Scanpix | Claus Fisker
Th · Herstellung: ast
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-30511-6V002
www.goldmann-verlag.de
»OY-ICNO from Tower Rønne.«
»OY-ICNO, go ahead, Torben!«
»Willkommen zurück in Rønne, Mikal, schöne Landung, trotz des Nebels. Cleared to taxi to Hangar 2, own discretion.«
»Danke dir, Torben. Cleared to Hangar 2, own discretion. Gute Nacht!«
Torben Mikkelsen nickte zufrieden. Die kleine private Propellermaschine seines Fluglotsenkollegen, der auch selbst leidenschaftlich gern flog, war trotz des Nebels, der heute über dem Lufthavn Rønne hing, wie erwartet sicher gelandet.
Torben nahm einen großen Schluck Kaffee, dann sah er auf die Digitaluhr, die über einer der riesigen Glasscheiben des Towers hing: vierzig Minuten vor zehn. Er hatte an diesem Abend noch zwei Maschinen auf dem Zettel, nicht viel los also. Eine weitere Privatmaschine, die aus Schweden kam, und noch den letzten von insgesamt sechs Linienfliegern aus Kopenhagen, mittels derer Bornholm täglich eng an die dänische Hauptstadt angebunden war. Danach hatte er nur noch Bereitschaftsdienst und musste gegebenenfalls erreichbar sein, falls eine Maschine außerplanmäßig landete. Was allerdings in den sieben Jahren, in denen er inzwischen hier in der Luftaufsicht des einzigen Verkehrs- und Militärflughafens der Insel arbeitete, so gut wie nie vorgekommen war.
Dennoch würde heute womöglich kein ganz entspannter Abend werden, denn die Wetterprognose verhieß ständig wechselnde und damit schwierige Verhältnisse: Der dichte Nebel über Rønne sollte schon bald von heftigen Sturmböen abgelöst werden, die die Landung der beiden noch ausstehenden Maschinen deutlich erschweren konnten. Lästig, aber an sich war solches Wetter gar nicht ungewöhnlich für Ende April. Erst in den nächsten Wochen würde sich wieder dauerhaft jene stabile Hochdrucklage zeigen, für die Bornholm berühmt und wegen der die Insel bei Touristen so beliebt war.
Torben fröstelte und nahm einen weiteren Schluck aus seiner Tasse.
Die Maschine aus Kopenhagen war spät dran heute, denn die Wetterkapriolen hatten Torben veranlasst, die Landebahn für eine knappe Stunde zu schließen. Bei derart heftigen Böen, wie es sie am frühen Abend gegeben hatte, konnte niemand mehr für die Stabilität eines Flugzeugs garantieren. Mit einem Auge hatte er die gesamte Zeit über seine Monitore im Blick und lauschte nebenbei dem Funkgerät.
Er erschrak ein wenig, als er hörte, wie hinter ihm die Tür aufging. Er wandte sich um und erkannte die Silhouette von Lars Hansen, dem Chef der Flughafenfeuerwehr, mit dem Torben schon seit seiner Schulzeit eng befreundet war.
»Hey, Captain!«, grüßte Lars. »Ganz schöne Suppe heute, was?« Er deutete aus dem Fenster auf das spärlich beleuchtete Rollfeld.
Torben hob eine Hand zum Gruß und nickte. »Stimmt, Commander. Dabei war vorher noch heftiger Wind. Na ja, so ist es eben auf unserer vielgerühmten Sonneninsel manchmal. Und du so? Dienst heute Abend?«
»Du sagst es. Wär’s okay, wenn ich nachher ein, zwei Fahrten übers Vorfeld mache? Ich muss das Biest schließlich mal wieder bewegen.«
Torben lachte. Biest war Lars’ Spitzname für seinen größten, modernsten und schnellsten Löschzug. »Klar, sowieso nicht mehr viel los heute«, erklärte er.
»Es gab Verzögerungen, hab ich gehört?«
»Ja, vorher die wechselnden Winde, jetzt der Nebel, und später wird’s dann voraussichtlich noch mal stürmisch. Höchste Zeit, dass der Sommer zurückkommt. Kaffee?«
»Immer«, antwortete Lars nickend, ging zur Maschine und goss sich eine große Tasse ein. »Danke, Captain.«
Sie schwatzten noch ein bisschen, aber zehn Minuten später war Torben wieder allein – und hochkonzentriert. Die vorgemerkte Privatmaschine war nicht mehr weit entfernt, und der Nebel hing nach wie vor zäh über der Landebahn. Aber immerhin gerade noch über dem vertretbaren Minimum eines ILSCAT I Approach, also eines regulären Instrumenten-Landeanflugs, konstatierte Torben. Auf dem Monitor verfolgte er den kleinen Punkt mit der Flugzeugkennung darüber, beobachtete gebannt, wie er sich dem Flughafen näherte. Auch wenn er sich bei diesem Piloten keine allzu großen Sorgen zu machen brauchte. Henrik Forsberg war einer der erfahrensten Privatflieger auf der Insel, und seine Cessna Citation Mustang, ein kleiner, ziemlich wendiger zweistrahliger Jet, war mit allem ausgerüstet, was es für einen Instrumentenlandeanflug brauchte. Entsprechend routiniert lief auch der Funkverkehr mit dem Cockpit ab.
»Rønne Tower, guten Abend, Torben, hier ist Henrik Forsberg, OY-IDOC. 3000 feet, established ILS Runway 29, Information Bravo«, meldete der Pilot seine Landung bei Torben an.
»OY-IDOC, identified, continue approach, QNH 1005«, bestätigte der.
»Roger, OY-IDOC.«
Noch einmal checkte Torben seine Anzeigen und die Sicht- und Wetterdaten, dann erteilte er der Citation schließlich die Freigabe zur Landung und gab dem Piloten noch einmal die Sichtweiten auf der Landebahn durch: »OY-IDOC, cleared to land runway 29, wind 300/8, RVR 600 – 750 – 650.«
»Cleared to land runway 29, OY-IDOC«, wiederholte Henrik Forsberg aus seinem Cockpit zur Bestätigung.
Torben nahm sein Fernglas, blickte aus dem Fenster und glaubte, trotz der schlechten Sicht bereits die Lichter des kleinen Jets wahrnehmen zu können. Und tatsächlich: In diesem Moment brach die Citation durch den Nebel, der Pilot zog die Nase des Fliegers hoch, und einen Wimpernschlag später setzte das Fahrwerk sanft auf dem Rollfeld auf, um dann blinkend an der Glasfront des Towers vorbeizurollen. Torben legte das Fernglas weg und drückte erneut die Funktaste.
»OY-IDOC, welcome to Rønne, saubere Landung, Henrik. Leave runway via B, taxi own discretion to parking position 2.«
Torben wartete auf die Bestätigung aus dem Cockpit, doch das Funkgerät blieb stumm.
»OY-IDOC, welcome to Rønne, leave runway via B, taxi own discretion to parking position 2«, wiederholte er stattdessen seinen Funkspruch aus dem Tower. Wieder keine Reaktion.
Torben runzelte die Stirn.
»OY-IDOC, how do you read?«, erkundigte er sich schließlich mit dem Standardfunkspruch, ob man ihm im Cockpit hören konnte. Stimmte etwas mit dem Funkgerät der Cessna nicht?
Keine Antwort. »Fuck«, entfuhr es Torben. Was war denn nur los heute? An seinem Funk lag es bestimmt nicht, das wäre wirklich das erste Mal gewesen.
»OY-IDOC, how do you read? Confirm taxi clearance! Henrik, bitte read-back!«, bat er nun eindringlich und bemühte sich dabei, besonders laut und deutlich zu sprechen. Nichts.
»Mann, jetzt antworte endlich!«, zischte er bei sich, ohne die Taste am Funkgerät zu drücken. Riss nun auch beim sonst so akribischen Henrik Forsberg die Unsitte ein, nach erfolgter Landung dem Funkverkehr keine Beachtung mehr zu schenken? Seufzend erhob sich Torben und sah noch einmal durch das Fernglas. Die Citation war inzwischen am Ende der Landebahn angekommen und stand mit blinkenden Strobelights, den zuckenden Leuchten an den Tragflächen, unbewegt da. Forsberg hatte die Mustang sogar bereits ein Stück nach rechts gezogen, um schließlich endgültig in Richtung der Hangars abzubiegen. Sicher, er kannte den Weg und sah auch, dass nichts los war heute Abend. Aber streng genommen brauchte es für dieses Manöver noch einmal eine Freigabe von Torben. Der Funkverkehr musste nun mal unbedingt gehalten werden, bis die endgültige Parkposition erreicht war.
»Was macht er denn da bloß?«, murmelte Torben und zog die Brauen zusammen. Völlig still stand das Flugzeug da. Noch einmal versuchte er es mit einem Funkspruch.
»OY-IDOC, Henrik, do you need assistance? Read back!!«, schrie er nun beinahe über Funk.
Vergebens.
Irgendwie kam ihm das alles allmählich komisch vor. Da war doch was faul. Mit verständnislosem Kopfschütteln langte er nach dem Telefonhörer und drückte eine der Schnellwahltasten. Lars Hansen hob bereits nach dem ersten Klingeln ab.
»Captain? Was gibt’s?«
»Du musst sofort raus zu Forsbergs Citation«, erklärte Torben in ernstem Ton. »Sie steht am Ende der Bahn, und niemand meldet sich. Irgendwas stimmt da nicht.«
»Siehst du Feuer?«
»Nein, von hier aus sind weder Feuer noch Rauch zu erkennen.«
»Alles klar, bin schon unterwegs. Wann kommt die nächste Maschine rein?«
»Der letzte Linienflieger aus Kopenhagen sollte in gut vierzig Minuten hier sein. Ist also noch Zeit, bis dahin gehört das Rollfeld dir.«
»Roger. Over and out.«
***
Lars Hansen liebte sein Biest, dieses kraftstrotzende Ungetüm von Lkw. Und war mächtig stolz darauf. Der Motor leistete über 700 PS, es fuhr über 120 Stundenkilometer schnell und fasste über 12 000 Liter Löschmittel. Ein solch sündhaft teures Löschfahrzeug der neuesten Generation, das war für einen Flughafen dieser Größe wohl einmalig. Aber die königliche dänische Luftwaffe, die den Flughafen ebenfalls als Basis nutzte, hatte Lars’ Antrag auf den Kauf ohne Nachfrage stattgegeben.
Er öffnete das riesige, elektrische Tor des Fahrzeughangars, schwang sich ins Führerhaus, startete den Motor und schaltete Blaulicht und Sirene an. Wenn es schon mal einen echten Einsatz gab, dann würde er auch das volle Programm fahren.
Er drückte die Taste für den Funk. »Lars für Torben.«
»Torben hört?«
»Kann ich raus?«
»Ja, Lars, alles frei, du kannst raus.«
Das riesige Gefährt schoss über das Rollfeld direkt auf die Start- und Landebahn zu. Lars wusste, dass es einen ohrenbetäubenden Lärm machte – im Inneren jedoch war es erstaunlich ruhig, die Kabine war bestens isoliert. Er schaltete die komplette Batterie an Scheinwerfern ein, die den Bereich vor dem Fahrzeug mit einem Schlag taghell erleuchtete. Dann raste er mit über hundert Sachen auf die kleine, unbewegt dastehende Privatmaschine zu, deren Lichter noch immer friedlich blinkten.
»Torben, noch immer kein Funkverkehr mit der Citation?«, fragte er, kurz bevor er ankam.
»Kein Sterbenswort von Forsberg.«
»Bin jetzt da und versuche zu klären, was los ist.«
»Okay«, hörte er Torben aus dem Funkgerät. Lars konnte die Anspannung in der Stimme seines Freundes deutlich hören.
Er stellte das Fahrzeug ab und stieg aus, ließ die Scheinwerfer jedoch brennen. Nichts deutete von hier draußen auf einen Notfall an Bord hin, geschweige denn auf ein Feuer. Beide Triebwerke liefen noch in Idle, also im Leerlauf. Vielleicht diskutierten die Insassen nur, wohin sie noch auf ein Feierabendbier gehen wollten? Er beschloss, das kleine Flugzeug erst einmal zu Fuß zu umrunden. Doch die Cockpitfenster waren zu weit oben, um hindurchsehen zu können. Instinktiv zog Lars den Kopf ein, um nicht in den Abgasstrahl oder den Sog der Triebwerke zu geraten, auch wenn er eigentlich wusste, dass ihm dieses Manöver im Zweifelsfall wenig bringen würde. Zudem waren die Jetturbinen bei diesem Modell ziemlich hoch oben am Heck und nicht wie bei Verkehrsflugzeugen unter den Tragflächen angebracht. Dann schlug er ein paarmal von außen gegen die Kabine. Als auch daraufhin jegliche Reaktion ausblieb, holte er die kleine Aufstellleiter aus dem Lkw, platzierte sie unter der Kabinentür und meldete sich per Handfunkgerät bei Torben.
»Tatsächlich alles sehr mysteriös, Captain. Die Triebwerke laufen sogar noch in Idle. Ich gehe jetzt mal rein und sehe mich um.«
Er klopfte vorsorglich noch einmal gegen die Kabinentür und zog schließlich vorsichtig am Hebel für die Notöffnung, um damit die Kabinentür zu entriegeln. Zum Glück verfügte die Citation Mustang nicht über automatische Notrutschen wie die großen Jets, denn die wären ihm jetzt mit Wucht entgegengekommen. Eine heftige Böe ließ die Tür ruckartig aufschwingen. Der Nebel über Rønne war mit einem Schlag einem beachtlichen Sturm gewichen.
Lars warf einen forschenden Blick nach drinnen. Was genau war da bloß los? Im Inneren des kleinen Fliegers herrschte gespenstische Ruhe, die Kabine war nur spärlich von den Cockpitinstrumenten erhellt. Und in deren fahlem Schein sah Lars die leblosen Gesichter der drei Insassen.
»Torben, wir haben ein Problem«, sprach er ins Funkgerät. »Ein ganz gewaltiges.« Dann wurde ihm von einer Sekunde auf die andere schwarz vor Augen.
Lennart Ipsen war froh, endlich in der kleinen Propellermaschine zu sitzen, die ihn und eine Handvoll weiterer Passagiere aus der dänischen Hauptstadt Kopenhagen zurück nach Bornholm bringen würde. Es handelte sich um den letzten Flieger dieses Tages, entsprechend still war es in der engen Kabine. Und das, obwohl der Flug bislang nicht gerade ruhig verlaufen und das Flugzeug immer wieder von Turbulenzen durchgeschüttelt worden war. Doch Lennarts Mitinsassen wirkten allesamt müde. Jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen, und niemand ließ sich von den Luftlöchern nachhaltig aus der Ruhe bringen. Und wenn doch, wollte er oder sie es sich nicht anmerken lassen. Wer mit einer dieser Maschinen flog, tat das gewöhnlich nicht zum ersten Mal.
Auch Lennart döste mit offenen Augen vor sich hin, lauschte dem monotonen Malmen der beiden Propellertriebwerke, das ihn wie immer auf eine schwer zu beschreibende Art beruhigte. Er ließ die letzten beiden Tage Revue passieren. Eine nicht sonderlich spannende Fortbildung hatte er hinter sich, jenes Führungskräfteseminar, das ihm die Personalabteilung der Reichspolizei als Pflichtprogramm auferlegt hatte. Weil er seit einem guten halben Jahr Leiter des »polizeilichen Ermittlungsdienstes für personengefährdende Kriminalität« im Polizeiposten der Bornholmer Inselhauptstadt Rønne war – und damit eben auch Vorgesetzter von zwei Mitarbeiterinnen. Dabei hatte er in seinen früheren Stellungen bereits deutlich mehr Leute unter sich gehabt, wenn auch nie als Chef einer Abteilung. Doch Vorschrift war nun mal Vorschrift, auch in Dänemark.
Wirklich Neues hatte er bei der Schulung natürlich nicht erfahren, aber das hatte er auch nicht ernsthaft erwartet. Anfangs hatte er sich immerhin darüber gefreut, mal wieder von der Insel in die Hauptstadt zu kommen, Freunde zu treffen, vor allem die Ex-Kollegen aus der Abteilung der Reichspolizei, in der er früher als Mordermittler gearbeitet hatte. Nach zwei Tagen und Nächten im Gewusel der Großstadt allerdings hatte es ihm schon wieder gereicht.
Länger als geplant hatte er am Kopenhagener Flughafen gesessen, weil sich das Wetter über Bornholm heute mal wieder kapriziös gab: Dichter Nebel hatte die Landung selbst für die Linienmaschine unmöglich gemacht, weshalb die erst eine Stunde nach dem planmäßigen Start abgehoben hatte. Lennart hatte allmählich genug von diesem wechselhaften Wetter, vor allem nach diesem ungewöhnlich nassen und grauen Winter, der hinter ihm lag. Aber bald schon würde es Sommer werden, und die Sonneninsel, auf der er sich niedergelassen hatte, ihrem Namen hoffentlich wieder gerecht werden. Darauf freute er sich jetzt schon, denn seine Stimmung ging regelmäßig nach unten, je länger die dunkle Jahreszeit mit dem immer gleichen Einheitsgrau des Himmels andauerte.
Zum Glück hing das diesmal wirklich nur mit der Jahreszeit zusammen, ganz anders als bei dem grässlichen grauen Strudel, der ihn vor einiger Zeit in sich eingesaugt und um ein Haar nicht mehr losgelassen hatte. Jene existenzielle Krise, die ihn schließlich unwiderruflich weg aus seinem alten Leben hierher nach Bornholm geführt hatte. Und auch wenn selbst da nicht immer die Sonne schien, hatte sein Umzug die letzten dunklen Wolken aus seiner Seele verjagt. Er fühlte sich rundum wohl: in seinem kleinen dottergelben Häuschen an der malerischen Küste zwischen Svaneke und Gudhjem und in seinem verwunschenen Paradiesgarten samt den Bienenvölkern, um die er sich auf Geheiß seines Vermieters zu kümmern hatte. In seiner neuen Aufgabe als Chef zweier Mitarbeiterinnen, die unterschiedlicher kaum sein konnten und die er nicht nur schätzte, sondern inzwischen sogar zu seinen Freunden zählte. In seinem beschaulichen Alltag zwischen Wäschewaschen, Hörbuchhören und Fernsehen, zwischen viel zu wenig Joggen und der lästigen Gartenarbeit. Und auch in seinem Privatleben, in dem es sogar inzwischen wieder jemanden gab, der sein Herz bei jedem Treffen ein wenig schneller schlagen ließ.
Nur dass er seine beiden Töchter Ida und Magda nur noch selten sah, hätte er gern geändert, doch mit der Scheidung war auch die Trennung von den Kindern nicht zu verhindern gewesen. Letztlich hatte er sogar noch Glück, dass sie nun mit ihrer Mutter, Lennarts Ex-Frau Andrea, auf Rügen lebten. Denn die tägliche Fähre von Sassnitz nach Bornholm sorgte dafür, dass Lennart und die Mädchen sich zumindest ab und zu besuchen konnten. Vor drei Wochen war er selbst auf die deutsche Nachbarinsel gefahren, um mit Magda deren sechzehnten Geburtstag zu feiern. Das gemeinsame Familienessen mit Andrea und ihren furchtbar komplizierten Eltern war sogar zum ersten Mal seit Lennarts Scheidung einigermaßen friedlich verlaufen.
Er griff nach seinem Mobiltelefon, fummelte sich die kabellosen Kopfhörer in die Ohren und stellte die Playlist Bornholm Hygge ein, eine sich ständig erweiternde Sammlung von Songs, bei denen er relaxen und die Seele baumeln lassen konnte. If you could read my mind von Gordon Lightfoot war der erste Song, der vom Zufallsgenerator ausgesucht worden war. Lennart schloss die Augen, froh darüber, dass es ihm so gut ging.
Wieder kehrten seine Gedanken zu den vergangenen zwei Tagen in Kopenhagen zurück. Sie waren wie eine Reise in sein früheres Leben gewesen: die Zentrale der Reichspolizei, die Freunde von früher, die fast alle noch ihre alten Jobs hatten, auch wenn sie inzwischen ein Stück auf der Karriereleiter nach oben geklettert waren. Er hatte bei Peer und Amelie geschlafen, Ex-Kollegen aus der gemeinsamen Zeit beim Morddezernat. Amelie war inzwischen Chefin dieser Abteilung, während Peer einer Gruppe vorstand, deren Aufgabe in der Abwehr von Terroranschlägen und der Prävention von internationaler organisierter Kriminalität bestand. Die beiden bewohnten ein schickes Loft in einem der hypermodernen Apartmenthäuser zwischen der neuen Oper und dem Nytorget. Ihr Gästezimmer bot einen atemberaubenden Blick auf das historische Hafenbecken, die gute Stube der Stadt. Lange hatte er in der Nacht noch vor dem bodentiefen Fenster gesessen und das Panorama genossen: die Aussicht auf eine der faszinierendsten, innovativsten und zugleich lebenswertesten Großstädte, die er kannte. Aber auch wenn er den Abend genossen hatte, an dem er mit alten Freunden durch schicke neue Bars gezogen war: Keine zehn Pferde würden ihn auf Dauer dorthin zurückbringen. Schon jetzt, nach zwei Tagen, hatte er große Sehnsucht nach Bornholm.
Heftige Windböen zerrten nun an den Tragflächen der Propellermaschine und ließen sie immer wieder bedrohlich wackeln. Lennart blickte aus dem kleinen Flugzeugfenster auf die Lichter des Städtchens Rønne. Und bemerkte, dass am Boden, noch weit unter ihnen, Blaulichter zuckten. Er kniff die Augen zusammen. Vielleicht ein Verkehrsunfall? Sie mussten sich bereits ganz in der Nähe des Flughafens befinden. Warum zogen sie überhaupt noch eine Schleife darüber?
Als hätte der Pilot seine Frage mitbekommen, meldete der sich prompt über den knackenden Lautsprecher: »Liebe Fluggäste, wir befinden uns bereits im Luftraum über Bornholm und können bald mit dem Landeanflug beginnen. Auch wenn der wegen des Windes etwas rauer ausfallen könnte, werden wir völlig gefahrlos landen. Lehnen Sie sich also entspannt zurück. Cabin Crew: Prepare for landing.«
Lennart runzelte die Stirn und löste seinen Blick vom Blaulicht unten am Boden. Auch wenn die Durchsage aus dem Cockpit allem Anschein nach dazu gedacht war, die Passagiere zu beruhigen – auf ihn hatte sie die exakt gegenteilige Wirkung. Die Aussicht auf eine holprige Landung in heftigen Böen machte ihn nervös. Er stemmte die Füße gegen den Boden, drehte die Musik auf dem Handy ein wenig lauter, um sich abzulenken, und umklammerte beide Armlehnen so heftig, dass seine Fingerknöchel weiß wurden.
»Fuck!«, zischte er. Er spürte die Beunruhigung nun in jeder Faser seines Körpers. Und das, obwohl er seine Flugangst schon seit zwanzig Jahren überwunden geglaubt hatte. Sie durfte keinesfalls zurückkommen, das Fliegen war hier auf der Insel geradezu lebensnotwendig. Schweiß bildete sich unter seinen Achseln. Er versuchte, sich abzulenken, lauschte der Musik. Ironic, von Alanis Morisette, ein Lied, mit dem ihn eine Art Hassliebe verband. Manchmal mochte er es, manchmal verabscheute er den melancholischen Klang und das unterschwellige Pathos. Er lauschte eine Weile den Liedzeilen, dann riss er sich die Ohrhörer geradezu panisch heraus und steckte sie hektisch in die Hosentasche: Es ging in dem Lied schließlich unter anderem um einen Flugzeugabsturz! Auch wenn er nicht an Orakel und Vorahnungen glaubte, auf derartige Texte konnte er im Moment gut verzichten. Wenn er tatsächlich lebend in Rønne ankommen sollte, würde er diesen Song ein für alle Mal von der Playlist nehmen.
Während das Flugzeug immer wieder von Böen geschüttelt wurde, hörte er, wie das Fahrwerk ausgefahren wurde. Nur noch wenige Minuten, dann würde alles vorbei sein. So oder so. Sein Blick traf den der Flugbegleiterin, die gerade schräg gegenüber auf einem Klappsitz Platz genommen hatte. Sofort lächelte ihm die Mittfünfzigerin im blauen Kostüm der Fluggesellschaft beruhigend zu. Sie hatte bestimmt die Panik in seinen Augen aufflackern sehen. Lennart kam sich albern vor und wandte den Blick erneut aus dem Fenster. Die Lichter des Flughafens kamen immer näher, bald würden sie aufsetzen. Vielleicht noch zwanzig Meter, zehn. Er bereitete sich innerlich auf ein heftiges Rumpeln vor, doch das blieb aus. Stattdessen schwoll das Dröhnen der Motoren ohrenbetäubend an, und das Flugzeug begann wieder steil in die Luft zu steigen. Mit dem typischen dumpfen Klacken wurde das Fahrwerk wieder eingezogen. Die Beschleunigung drückte Lennart in den Sitz, die Maschine zog unentwegt weiter nach oben und vibrierte immer heftiger. Lennart schloss die Augen, versuchte, sich einfach auf seine Atmung zu konzentrieren. Das hatte ihm schon oft in stressigen Situationen geholfen. Einige Atemzüge später meldete sich der Pilot und erklärte, man habe die Landung aufgrund technischer Probleme abbrechen müssen, es gäbe allerdings keinen Grund zur Sorge und er bereite bereits ein erneutes Landemanöver vor.
Technische Probleme? Worum drehte es sich denn? Warum sagte man ihnen denn nicht genau, was los war? Hatten die Passagiere darauf nicht ein Recht? Er würde einfach die Flugbegleiterin um mehr Informationen bitten. Auch die anderen Reisenden schienen besorgt, das Schweigen in der Kabine war inzwischen einem aufgeregten Murmeln gewichen.
Doch die Stewardess trug noch immer ihr ostentativ zur Schau gestelltes Postkartenlächeln, und Lennart beschloss, fürs Erste doch lieber noch stillzuhalten. Durchs Fenster sah er, dass sie sich bereits wieder der Landebahn näherten, diesmal jedoch aus der entgegengesetzten Richtung. Wieder war der Wind, der an dem Flugzeug zerrte, deutlich zu spüren. Lennart seufzte und krallte die Fingernägel aufs Neue in den Sitz. Draußen am Fenster flog nun das zuckende Blaulicht vorbei, so schnell allerdings, dass er nichts erkennen konnte. Irgendetwas musste direkt am Flughafen passiert sein. Egal. Nun würden sie gleich landen. Wie immer bei diesem Manöver biss er die Zähne zusammen und schloss die Augen.
Als er sie wieder öffnete, rollte die Maschine bereits aus. Alles war gut gegangen. Gott sei Dank! Durchs Fenster sah er, dass sie schon am Ende der Landebahn angekommen waren und eben abbogen. Sein Blick fiel auf einen kleinen Privatjet, an dem mit einer massiven Stange ein Flughafenschlepper befestigt war. Davor stand unter voller Beleuchtung ein großes Feuerwehrfahrzeug, neben ihm ein grauer Kleinbus mit einem magnetischen Blaulicht auf dem Dach. Lennart konnte es kaum glauben. An der offenen Schiebetür lehnten seine Kolleginnen Britta und Tao. Was zum Teufel hatten sie hier zu suchen? Und warum trugen sie beide FFP2-Masken?
***
»Chef, was machst du denn hier? Ich dachte, du bist in Kopenhagen und genießt das Nachtleben der Großstadt«, begrüßte ihn eine halbe Stunde später eine überraschte Britta Blomdal.
»Jetzt fang bitte nicht wieder mit deiner Chef-Marotte an, ich dachte eigentlich, das hätte ich dir inzwischen abgewöhnt«, brummte er und winkte noch einmal dankend dem Fahrer des gelb-schwarzen Follow-Me-Kleinbusses, der ihn vom Terminal aus hierher ans Ende der Landebahn gebracht hatte. Noch immer blies ein heftiger Wind und zerzauste ihm die Haare. »Ich wünsche euch übrigens auch einen wunderschönen guten Abend!« Er horchte seinen Worten nach und fand, dass er missmutiger geklungen hatte als gewollt.
»Guten Abend, Lennart«, beeilte sich Tao Nguyen zu antworten. Sie klang etwas eingeschüchtert. Ihren Gesichtsausdruck konnte Lennart jedoch nicht erkennen, da sie wie auch Britta noch immer eine Maske trug.
»Sorry, Lennart, du hast natürlich völlig recht, ich hab ja noch nicht mal Hallo gesagt. Also dann: Hallo!« Britta zwinkerte ihm zu, klopfte ihm auf die Schulter, und Lennart rang sich zu einem Lächeln durch. Das allerdings gleich wieder verschwand, als seine Kollegin nachschob: »Sag mal, warum bist du denn so schrecklich verschwitzt? Bist du krank? Oder hast du dich im Flugzeug mal wieder unnötig aufgeregt, weil du seltsame Geräusche gehört hast?«
Lennart schüttelte energisch den Kopf. Das kurzzeitige und hoffentlich nur vorübergehende Aufflackern seiner Flugangst ging schließlich niemanden etwas an – seine beiden Kolleginnen schon gleich gar nicht. »Nein, alles okay.«
»Und warum bist du dann schon da?«, beharrte Britta.
»Die Fortbildung war am späten Nachmittag zu Ende, und ich bin mit der letzten Maschine zurückgekommen«, erklärte Lennart seufzend. »Komme ich ungelegen?«
»Aber nein …«
»Jedenfalls habe ich euch schon vom Flugzeug aus hier stehen sehen. Was ist denn passiert?«
»Das wüssten wir auch gern«, murmelte Britta und zog vage die Schultern hoch.
»Aha. Geht’s vielleicht auch etwas präziser? Und weshalb tragt ihr eigentlich Masken? Habt ihr da drin eine neue Corona-Variante entdeckt?« Er deutete auf den kleinen Privatjet, an dessen Heck noch immer ein rotes Licht blinkte. »Bitte nicht!«
Das nahm Tao zum Anlass, eine noch verpackte FFP2-Maske aus ihrer Jackentasche zu ziehen.
»Du solltest auch eine aufsetzen, sicher ist sicher«, mahnte sie in ernstem Ton. »Wie Britta ja schon sagte, wissen wir noch nicht, was genau da vor sich gegangen ist. Wir wurden jedenfalls vom diensthabenden Fluglotsen, Torben Mikkelsen, alarmiert. Die Maschine hier ist ganz normal gelandet, Instrumentenlandung wegen Nebels. Normaler Funkverkehr, alles Standard. Bis gleich nach dem Aufsetzen die Sprechverbindung abgebrochen und das Flugzeug ausgerollt ist. Mikkelsen hat dann seinen Kollegen von der Feuerwehr alarmiert, und der ist dann rein. Und hat alle drei Insassen tot aufgefunden.«
»Was?«, entfuhr es Lennart, wobei sich seine Stimme überschlug. »Woran sind sie denn gestorben?«
»Das ist noch fraglich.«
»Habt ihr die Gerichtsmedizinerin nicht alarmiert, diese Doktor …«
»Eklund«, schaltete sich nun Britta wieder ein. »Doch. Sie war auch hier, ist aber schon zurück im Labor, um möglichst schnell etwas zur Todesursache sagen zu können.«
»Hat sie denn einen Verdacht?«
Britta und Tao nickten.
»Und der wäre?«, drängte Lennart.
»Im Flugzeug rieche es nach Bittermandeln, meinte sie.«
»Blausäure?«, entfuhr es Lennart. Er war schockiert. Ein Giftanschlag? Sollten sie es wirklich damit zu tun haben, wäre das ein Fall von enormer Tragweite.
»Zunächst nur ein Verdacht, aber nicht ganz unwahrscheinlich.«
»Eine der giftigsten Substanzen überhaupt, oder?«, murmelte Lennart.
»Definitiv«, bestätigte Tao.
»Und wo ist dieser Feuerwehrmann jetzt?«, hakte Lennart ein und blickte sich um.
»In der Klinik. Mit schweren Vergiftungserscheinungen.«
»Fuck!« Lennart schüttelte den Kopf. »Das heißt, die da drin sind alle vergiftet worden? Mit Blausäuregas? Nachdem sie vorher noch völlig problemlos gelandet sind?«
Die beiden Polizistinnen zuckten die Schultern. »Sieht momentan danach aus«, bestätigte Tao.
»Kann ich mal kurz reinschauen?« Lennart deutete auf den Jet. Er musste sich jetzt unbedingt selbst ein Bild machen.
»Nein, auf keinen Fall! Nicht, bis wir wissen, was es mit dieser Giftsache auf sich hat«, erwiderte Britta.
Lennart winkte ab. »Aber ich hab doch das Ding hier!« Er zog sich die Maske über Mund und Nase.
»Die ist nur für draußen, hat Doktor Eklund gemeint. Zur Sicherheit. Aber ins Flugzeuginnere dürfen wir auf keinen Fall. Viel zu großes Risiko.«
»Das heißt, ihr zwei habt noch gar nicht reingesehen?«
Die beiden Frauen warfen sich einen schnellen Blick zu. »Doch, schon. Aber nur ganz kurz, von außen«, sagte Tao kleinlaut, und Britta ergänzte: »Mit angehaltenem Atem.«
Trotz des Ernstes der Lage musste Lennart grinsen. »Und, geht’s euch noch gut?«, wollte er wissen.
»Schon, warum?«, fragte Britta mit zusammengezogenen Brauen.
»Seht ihr?«, versetzte Lennart schulterzuckend und ging ohne weiteren Kommentar auf das Flugzeug zu.
»Lennart, jetzt sei doch bitte vernünftig«, hörte er Britta noch rufen. »Doktor Eklund hat überall Proben genommen und danach den Tatort offiziell gesperrt. Sie gibt uns gleich Bescheid, wenn sie die ersten Analyseergebnisse hat. Von der Eingangstür aus sieht man eh fast nichts, das kannst du dir sparen. Geh doch inzwischen lieber nach Hause, schlaf dich aus, und morgen sehen wir weiter.« Lennart drehte sich um, sah ihr in die Augen und schüttelte den Kopf. Dann trat er mit dem gebotenen Respekt an den Rumpf des Flugzeugs, dessen Einstiegstür weit offen stand. Vorsichtig stieg er auf die ausgeklappten Trittstufen, um von dort aus ins Innere zu spähen. Britta hatte recht, aus diesem Winkel war kaum etwas zu erkennen. Ob er sich einfach über Doktor Eklunds Rat hinwegsetzen und nach drinnen gehen sollte, um mit angehaltenem Atem kurz um die Ecke zu spähen? Wobei: Wenn es den Feuerwehrmann gleich so erwischt hatte, dass man ihn ins Krankenhaus gebracht hatte, war das vielleicht keine allzu gute Idee.
Egal. Er musste da jetzt rein, beschloss er. Zumal er gar nichts von jenem Geruch nach Bittermandeln merkte, den Doktor Eklund erwähnt hatte. Für ihn Indiz genug, dass sich ein etwaiges Gift bereits weitgehend verflüchtigt haben dürfte. Er atmete noch einmal tief ein und hielt die Luft an. Dann betrat er die Kabine.
Was er sah, wirkte wie die Szenerie eines dystopischen Thrillers: Im schwachen Schein der Lampen an den Notausstiegen und im Licht, das vom Feuerwehr-Lkw her durch die Fenster fiel, blickte er in die leblosen Gesichter dreier Männer verschiedenen Alters. Zwei – ein jüngerer, den Lennart auf Anfang dreißig schätzte, und ein grauhaariger Endfünfziger – saßen hinten im kleinen Passagierbereich auf zwei ledernen Einzelsitzen, der Pilot war in seinem Sessel vorn im Cockpit zusammengesunken. Auch er sah so aus, als hätte er die fünfzig bereits überschritten. Bevor er sich noch weiter umsehen konnte, merkte Lennart, wie ihm allmählich die Luft ausging. Auch unter Wasser hatte er noch nie besonders lange den Atem anhalten können. Also hastete er zurück zur Kabinentür und eilte die kleinen Stufen hinunter. Draußen riss er sich die Maske von der Nase und atmete gierig ein.
Mit tadelndem Gesichtsausdruck empfing ihn Britta am Einsatzbus. So hatte auch seine Mutter immer geschaut, wenn sie herausgefunden hatte, dass er mal wieder irgendetwas Waghalsiges mit seinen Freunden unternommen hatte. Um dann stets hinzuzufügen: »Musste das wirklich wieder sein, Lennart? Du wirst dir noch mal das Genick brechen!«
»Musste das jetzt wirklich sein, Lennart?«
Er nickte und hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen. »Ja. Ich wollte mir einfach selbst ein Bild machen. So bin ich eben«, sagte er und verbiss sich, ein »Mama« hinterherzuschieben. Stattdessen blickte er Britta mit warmem Lächeln an. In den Monaten, die er nun bereits hier auf der Insel war, war sie ihm derart ans Herz gewachsen, wie das bislang noch bei keinem Kollegen und keiner Kollegin je der Fall gewesen war. Streng genommen war diese Frau, die fast zehn Jahre älter war als er, schon nach ein paar Wochen viel mehr für ihn gewesen als nur eine Arbeitskollegin.
Er musterte sie nachdenklich. Ihre langen grau-blonden Haare wurden von den starken Böen zerzaust, dagegen konnte auch das Batiktuch, das sie sich um den Kopf gebunden hatte, nichts ausrichten. Über einer Jeans trug sie ein Kleid, das sie vielleicht selbst geschneidert, ganz sicher aber selbst bedruckt hatte. Denn im Nebenerwerb war Lennarts Kollegin Künstlerin. Sie veredelte Textilien mit selbstentworfenen maritimen Motiven und verkaufte sie anschließend im eigenen Atelier. Heute hatte sie sich für ein Modell mit türkisgrünen Heringen und Kraken darauf entschieden. Ergänzt wurde das ungewöhnliche Ensemble durch grellroten Ohrschmuck, der im Wind baumelte: Glaserdbeeren fast in Originalgröße. Vergangenen Advent hatte Britta auf einmal damit angefangen, immer saisonal passende Ohrringe zu tragen, die wahrscheinlich ihr Mann Mats für sie herstellte. Der war nämlich nicht nur Architekt, sondern auch Glaskünstler mit eigener Werkstatt auf dem herrlichen alten Gehöft mitten in der Altstadt von Gudhjem, das ihnen gemeinsam gehörte. Und im Moment war eben Erdbeerzeit. Lennart war gespannt, ob Mats seiner Britta in ein paar Wochen, wenn es überall auf der Insel Erbsen und neue Kartoffeln geben würde, womöglich Gemüseohrringe anfertigen würde.
»Hoffentlich bekommen wir bald Bescheid von Doktor Eklund, was die drei da drin und auch den Feuerwehrmann vergiftet hat«, riss Tao ihn aus seinen Gedanken. »Wir stehen ja so furchtbar untätig herum.«
Lennart nickte. Wenn sich herausstellen sollte, dass diese Männer tatsächlich mit einem der giftigsten Gase überhaupt getötet worden waren, dann hatten sie es sicher nicht mit einem Gelegenheitsverbrecher zu tun. Das sah weit mehr nach dem Werk eines Geheimdienstes oder sogar einer internationalen Verbrecherbande aus. Und das würde bedeuten, dass über kurz oder lang Experten aus Kopenhagen oder seine ehemaligen Kollegen von Interpol die Ermittlungen übernehmen würden.
»Wissen wir denn schon, wer das da drin ist?«, fragte er.
»Der Pilot heißt Henrik Forsberg, ihm gehört auch die Maschine. Der Lotse hat ja mit ihm gefunkt wegen der Landung, er ist also quasi schon identifiziert. Die anderen beiden … na ja, also ich hab ja nur ganz kurz reingeschaut, aber wenn mich nicht alles täuscht, ist der ältere der beiden Bjarne Møller.«
»Du kennst ihn?«, wollte Lennart wissen.
Britta wiegte den Kopf. »Nur flüchtig. Er betreibt einen Teeladen in Rønne und veranstaltet zudem so Kulturevents. Aber ich bin mir wie gesagt nicht zu hundert Prozent sicher, ob er es auch wirklich ist.«
»Und der Dritte?«
Britta zuckte die Achseln. »Sein Gesicht kommt mir auch bekannt vor, aber ich weiß nicht mehr, woher. Ich grüble schon die ganze Zeit darüber nach, komme aber nicht drauf. Noch nicht.«
»Verstehe. Und dieser Forsberg …«
»Ist Hotelier und Investor«, vermeldete Tao nun eifrig. »Unter anderem gehört ihm eines der größten Badehotels auf der Insel. Das Liljanskron. Was heißt Badehotel, er hat es inzwischen in ein ultranobles Resort verwandelt. Forsberg ist vierundfünfzig Jahre alt und gebürtiger Schwede. Verheiratet mit Bente Forsberg, zwei Kinder, ein Sohn und eine Tochter. Zudem Golfer und Mitglied im Club der Philanthropisten Bornholm.«
Lennart sah sie stirnrunzelnd an. »Er war Briefmarkensammler?«
Tao lachte. »Nein, das sind die Philatelisten«, erklärte sie. »Aber du kennst doch den Service-Club der Philanthropisten, oder?«
Lennart stand auf dem Schlauch. »Den was?«
»Service-Club. Leute, vorwiegend Männer, gesellschaftlich arriviert, die sich regelmäßig treffen und unter anderem karitativ tätig sind. Wie die Lions, die Rotarier oder die Kiwanisten.«
»Diese typischen Netzwerk-Vereinigungen alter weißer Männer eben«, brachte es Britta auf den Punkt und schien zu einer weiteren Bemerkung anzusetzen. Aber Lennart, der im Moment keine Lust auf eine Diskussion über die Aufnahmekriterien, die Sinnhaftigkeit oder die wahren Motive solcher Vereine hatte, fiel ihr ins Wort.
»Ich habe schon verstanden, bin ja kein Idiot. Aber woher weißt du das denn alles, Tao? Kennst du diesen Forsberg näher?«
Tao lächelte ihn an.
»Ich nicht. Aber unser treuer und diskreter Mitarbeiter, Kommissar Google. Und das waren nur seine ersten oberflächlichen Ergebnisse.«
Lennart grinste und nickte Tao zu. Er wusste sehr zu schätzen, dass die junge Kollegin – deren Eltern aus Vietnam stammten, die selbst aber auf der Insel geboren worden war –, sich bestens mit Computern und jeglicher neuer Technik auskannte. Zudem verstanden sich die akkurate, korrekte und eher sachliche Tao und die emotionale, manchmal impulsive Britta, die mehr als fünfundzwanzig Jahre älter war als sie, bestens. Mehr noch, sie ergänzten sich perfekt, wenn es um die Arbeit ging: Während Tao nämlich lieber im Büro blieb und am Rechner recherchierte, ja sogar freiwillig und mit Hingabe Berichte schrieb und andere Bürotätigkeiten ausführte, zog es Britta mehr in den Außendienst. Privat waren sie beide sowieso unschlagbar: loyal, humorvoll und ziemlich geduldig mit Neu-Insulanern, die sich erst nach und nach in ihre Rolle als Kripo-Chef einfanden.
»Da kommt die Spurensicherung!«, verkündete Britta und deutete auf den schweren grauen Volvo-Kombi, der jetzt, begleitet vom gelb blinkenden Follow-me-Bus, auf sie zukam.
Lennart seufzte. Anders als zu seinen beiden direkten Mitarbeiterinnen hatte er zum Leiter des technischen Erkennungsdienstes bislang kein allzu herzliches Verhältnis entwickelt, was aber vielleicht auch daran lag, dass Lennart bislang noch nicht allzu oft mit ihm zu tun gehabt hatte. Noch nicht mal den Namen des Mittfünfzigers konnte er sich merken. Heute bot sich ihm immerhin die Gelegenheit, in die Offensive zu gehen und einen Neuanfang zu machen. Dem Mann einfach völlig unvoreingenommen und offen zu begegnen.
»Sagt mal, wie heißt der jetzt noch mal?«
Die beiden Frauen sahen ihn stirnrunzelnd an.
»Na, er!«, antwortete Lennart und deutete vage auf die beiden Fahrzeuge, die eben vor ihnen anhielten.
»Der Flughafenangestellte? Im karierten Bus?«, mutmaßte Britta. Lennart schüttelte den Kopf.
»Unsinn, ich meine natürlich den … na, du weißt schon, unseren Oberspurensicherer.«
Britta setzte eben zu ihrer Antwort an, als ihr eine besonders heftige Windböe das Batiktuch vom Kopf riss. Reflexartig stürzte sie hinterher, um es wieder einzufangen. Lennarts fragender Blick ging zu Tao, doch da öffnete der Leiter der Abteilung für kriminaltechnische Ermittlungen bereits die Fahrertür des Kombis.
Er nickte ihnen im Aussteigen zu. »Abend, Kollegen. Hoffe, der Tatort ist noch nicht durch irgendwelche unbeholfenen Erste-Hilfe-Maßnahmen oder Ihre eigene Neugier kontaminiert.«
Lennart atmete tief durch. Mister Unbekannt machte es einem wirklich nicht leicht, ihn zu mögen. Dabei war er mit den Spurensicherern damals in Kopenhagen immer bestens ausgekommen und hatte die in so vielen Filmen und Büchern behauptete Feindschaft zwischen den beiden Abteilungen bislang für reines Klischee gehalten. Sein Gegenüber jedoch belehrte ihn gerade eines Besseren.
Auf der Beifahrerseite stieg Anne Geedesen aus, eine Kollegin, die nebenbei noch bei der Verkehrspolizei eingesetzt war. Es gab schlicht und ergreifend nicht genügend schwere Verbrechen auf der Insel, um zwei volle Spurensicherer-Stellen in Rønne rechtfertigen zu können, und so nahm sich der Kollege meist einfach jemanden mit, der gerade Dienst hatte. Die Polizistin winkte ihnen freundlich zu, ihr Vorgesetzter hingegen stapfte wortlos und mit sauertöpfischem Gesicht um den Wagen herum und machte sich am Kofferraum zu schaffen.
»Gerade noch zu fassen bekommen!«, rief Britta keuchend, als sie wieder zu ihnen zurückkam, und winkte mit dem Batiktuch.
»Sagt mal, wenn wir nicht reindürfen, dann darf das der Kollege ja sicher auch nicht, oder?«, raunte Lennart Britta und Tao zu. Die beiden nickten.
»Okay, wer sagt’s ihm?«, flüsterte er, auch wenn er sich die Antwort schon denken konnte.
»Das ist Chefsache, würde ich sagen«, versetzte Britta leise.
Lennart seufzte und ging auf den Volvo zu. »Guten Abend. Tut mir leid, das Flugzeug ist noch nicht freigegeben. Möglicherweise ist es mit irgendeinem Gift kontaminiert. Doktor Eklund klärt das gerade im Labor ab. Bis dahin müssen wir alle stillhalten.«
Während Anne Geedesen mit einem verständnisvollen Kopfnicken reagierte, verengten sich die Augen ihres Kollegen zu Schlitzen. »Ich denke, ich kenne mich mit Giften gut genug aus, vielleicht sogar besser als Sie oder unsere Teilzeit-Gerichtsmedizinerin Eklund. Wir haben selbstredend die entsprechende Schutzkleidung dabei. Was genau sollte uns also davon abhalten, unsere Arbeit zu tun, Kollege?«
»Ich habe es doch gerade zu erklären versucht: Doktor Eklunds Anordnung«, beharrte Lennart. »Zudem wurde der Ersthelfer in die Klinik gebracht, mit klaren Vergiftungsanzeichen. Reicht Ihnen das nicht?«
»Doktor Eklund ist keine Mitarbeiterin der Reichspolizei, ihre Anordnungen haben somit für mich nur den Charakter von Empfehlungen«, blaffte der andere zurück, während er sich in einen weißen Schutzanzug zwängte.
Lennart konnte einfach nicht nachvollziehen, warum sich der Typ so aggressiv verhielt. Was hatte der nur für ein Problem? Egal, in der Sache würde Lennart heute hart bleiben. »Gut, dann spreche ich als Mitglied der Reichspolizei Doktor Eklunds Anordnung eben hiermit noch einmal selbst aus: Das Flugzeug wird nicht betreten, bis uns die Analyseergebnisse der Rechtsmedizin vorliegen«, sagte er, den Blick fest auf sein Gegenüber gerichtet. Während Anne Geedesen ihren weißen Overall bereits wieder in einer Alukiste verstaute, verhärteten sich die Gesichtszüge ihres Kollegen noch ein bisschen mehr.
»Ach ja? Wenn ich richtig informiert bin, bekleiden wir denselben Dienstgrad, Kollege Ipsen. Es ist also nicht an Ihnen, mir Befehle zu erteilen«, schnaubte er.
Lennart holte tief Luft, bevor er sagte: »Da haben Sie recht, aber ich als der Leiter der Ermittlung bin gegenüber Kollegen desselben dienstlichen Ranges weisungsbefugt«, erklärte er bestimmt. Schließlich war er nach Jahren in der Polizeiverwaltung versiert genug im Dienstrecht, um darüber Bescheid zu wissen. Wahrscheinlich wäre ihm der Spurensicherer jetzt am liebsten an die Gurgel gegangen, so wie der ihn anfunkelte. Lennart sah, wie seine Kiefermuskeln zu zucken begannen.
»Alles klar, Ipsen. Für dieses Mal haben Sie gewonnen!«, zischte er, warf seiner Kollegin einen prüfenden Blick zu und riss sich den Schutzanzug wieder herunter.
Das hämische »Na also, geht doch«, das Lennart auf der Zunge lag, verkniff er sich um des lieben Friedens willen. Trotzdem würde sich die Zusammenarbeit mit der Spurensicherung von nun an wohl noch schwieriger gestalten. Aber mit diesem Mann war definitiv nicht gut Kirschen essen. Lennart wandte sich zum Gehen.
»Eher konfrontativ, euer Gespräch, oder?«, konstatierte Tao, als er wieder zurückkam.
Lennart zuckte die Achseln. Was hätte er denn machen sollen? Auf der Sachebene hatte er nur so entscheiden können. Wenn er deswegen nun seinen ersten offiziellen Gegner auf der Insel hatte, konnte er das auch nicht ändern. Und das alles, wo er ihm doch heute eigentlich mit einer Charmeoffensive hatte begegnen wollen – die dann durch Brittas wegfliegendes Kopftuch verhindert worden war.
»Wie heißt der jetzt eigentlich?«, fragte er.
»Povlsen. Henning Povlsen«, antwortete Britta.
Lennart nickte. Den Namen würde er sich endlich merken müssen. Schließlich konnte es nie schaden, seine Feinde zu kennen.
»Sagt mal«, fuhr er an seine beiden Kolleginnen gerichtet fort, »sollen wir nicht gleich Kopenhagen informieren? Sieht aus, als könne unser Fall hier durchaus internationale Tragweite haben. Bevor hier Provinzler wie Povlsen noch irgendwas falsch machen …«
»Und Provinzlerinnen wie wir beide, meinst du?« Britta funkelte ihn an.
»Nein, euch meine ich nicht. Aber es handelt sich offensichtlich um einen Dreifachmord …«
»Kann auch schlicht ein Unfall sein«, gab Britta zu bedenken.
»Dann läge es allerdings im Zuständigkeitsbereich der nationalen Flugaufsicht«, merkte Tao an.
Lennart blieb beharrlich: »Ich will doch nur nicht, dass wir uns etwas aufhalsen, dem wir nicht gewachsen sind. So ein Giftgasmord …«
»Moment mal!«, protestierte Britta und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Du warst als Ermittler für Interpol weiß Gott wo. Wer sollte so etwas gewachsen sein, wenn nicht du?«
»Ich bin kein Geheimdienstexperte!«
»Wer sagt das denn mit dem Geheimdienst? So ein Unsinn!« Britta war sauer.
»Beruhige dich!«, mahnte Tao und legte ihr eine Hand auf den Arm.
Doch Britta schüttelte den Kopf. »Ist doch wahr! Ich hasse diese Haltung, dass man immer gleich bei allem sagt ›Dafür sind wir auf der Insel sowieso zu blöd, da brauchen wir jemandem vom Festland‹. Wir sind sehr wohl in der Lage, selbst gute Arbeit zu leisten.«
I see a red door and I want to …
Brittas Tirade wurde abrupt von ihrem Klingelton unterbrochen, Paint it Black von den Rolling Stones. Sie zog ihr Handy aus der Tasche. Da hatte Lennart bei seiner Kollegin wohl einen wunden Punkt getroffen. Trotzdem – er hatte keine Lust darauf, Ärger zu bekommen, weil er seine Kompetenzen überschritt, um es einer übertrieben lokalpatriotischen Kollegin recht zu machen.
»Ja, Britta Blomdal hier, Reichskriminalpolizei Rønne«, meldete sich diese und hielt die Hand schützend vors Mikrofon. Noch immer hatte der Wind nicht wirklich nachgelassen. »Wer ist dran? Torben Mikkelsen, alles klar. Wie bitte? Sie müssen lauter reden, ich … ja, das habe ich verstanden. Wer ist bei Ihnen aufgetaucht? Frau Forsberg?«
***
Lennart hatte sich von einer Angestellten das Besprechungszimmer des Flughafens aufsperren lassen. Der Raum wurde auf der einen Seite durch eine Glasfront von der recht überschaubaren Abflughalle abgegrenzt, gegenüber gab eine Glasfront den Blick nach vorn auf den spärlich beleuchteten Parkplatz frei. Mit den schlichten Deckenspots, den undefinierbaren immergrünen Zimmerpflanzen, dem langen Konferenztisch aus Resopal in der Mitte und dem grauen Nadelfilzboden hätte es sich auch um einen Vernehmungsraum in jeder mittelgroßen Polizeidienststelle handeln können. Nur die mit grasgrünem Leder bezogenen Designerstühle passten nicht so recht ins Bild: So viel Geld gab man nicht einmal im designverliebten Dänemark für die Einrichtung von staatlichen Behörden aus.
Lennart legte sein Handy auf den Tisch und wollte sich gerade in der Halle beim Selbstbedienungs-Café mit dem sprechenden Namen »Take-off« noch eine Tasse Automatenkaffee holen, da ging bereits die Tür auf, und eine Frau trat ein. Lennart schätze sie auf Anfang fünfzig. Sie trug eine Jeans und eine streng wirkende dunkelblaue Bluse, über der Schulter hing eine Louis-Vuitton-Tasche, eine braune »Carry All«. Lennart kannte das Modell, schließlich hatte er genau dieses Designerstück seiner Ex-Frau zum vierzigsten Geburtstag geschenkt. Zwar war die Tasche so sündhaft teuer gewesen, dass es ihm die Tränen in die Augen getrieben hatte, aber immerhin war es eines der wenigen Präsente gewesen, das Andrea regelmäßig verwendet hatte. Anders als zahllose Halstücher, Parfüms und Schmuckstücke, die alle in irgendwelchen Schränken verstaubt waren, weil er nie Andreas Geschmack getroffen hatte.
Die Frau kam mit besorgtem Gesicht auf ihn zu, man sah ihr die Anspannung deutlich an. Fahrig zupfte sie sich ihre Bluse zurecht, dann sagte sie unsicher: »Bente Forsberg. Sie sind von der Polizei, hat man mir gesagt. Was ist denn los mit meinem Mann?« Ihre Stimme zitterte.
Lennart grüßte mit einem Nicken zurück. »Mein Name ist Lennart Ipsen, Reichskriminalpolizei Rønne. Möchten Sie sich vielleicht kurz setzen, Frau Forsberg?« Er wies vage auf einen der Stühle. Ohne zu antworten, nahm die Frau Platz, Lennart setzte sich ihr gegenüber. Von Torben Mikkelsen wusste er, dass Frau Forsberg im Flughafen nachgefragt hatte, wo ihr Mann bleibe. Anscheinend hatte sie mitbekommen, dass seine Maschine bereits gelandet war, und sich dann gewundert, dass er nicht wie vereinbart zum Parkplatz gekommen war. Mikkelsen hatte sich zum Glück bedeckt gehalten und sie an die Polizisten verwiesen.
Lennart fand es gut, gleich mit ihr reden zu können. Anders als Britta hatte er selbst kein größeres Problem damit, den Angehörigen Verstorbener die traurige Nachricht zu überbringen. Von Anfang an hatte er es als Teil seines Berufes akzeptiert.
»Sagen Sie schon, was ist denn los?«
Kurz legte sich Lennart die Worte zurecht. In leisem Ton sagte er: »Wir müssen davon ausgehen, dass Ihr Mann nicht mehr am Leben ist.«
Bente Forsberg riss die Augen auf und starrte ihn fassungslos an, ihre Lippen bebten. »Sie … Henrik … ist – was?«
»Ihr Mann ist tot.«
»Tot? Das kann nicht sein, ich habe ihn gerade landen sehen, von der Straße aus, als ich hergefahren bin. Ich wollte ihn abholen. Alles wirkte problemlos, seine Citation rollte völlig normal aus.«
»Ja, die Landung ist tatsächlich normal vonstattengegangen, das hat uns der Fluglotse auch bestätigt.«
»Hatte er einen Herzinfarkt? Einen Schlaganfall?«
Seufzend schüttelte er den Kopf. »Nein, auch die beiden anderen Insassen des Jets sind nicht mehr am Leben.«
Die Frau riss die Augen auf. »Die … ich meine … welche anderen Insassen? Wer soll denn …?«
Lennart runzelte die Stirn. »Ist es denn so ungewöhnlich, dass noch andere Leute mit im Flugzeug waren?«
»Nein«, sagte sie mit flackerndem Blick. »Natürlich nicht. Er hatte öfter mal … jemanden … an Bord. Ich dachte nur …« Sie biss sich auf ihre Unterlippe. »Und sie sind jetzt alle drei … ich meine …«
Lennart nickte. Bente Forsberg fuhr unvermittelt von ihrem Stuhl hoch. »Das glaube ich einfach nicht. Die Maschine meines Mannes ist vor nicht mal einer Stunde völlig normal auf dem Flughafen gelandet. Sicher und routiniert. Und jetzt sollen alle tot sein? Drei Menschen?«, rief sie. »Was genau ist das hier? Ein gottverdammter Horrorfilm?«
»Bitte, Frau Forsberg, versuchen Sie, sich zu beruhigen.« Er horchte seinen Worten nach und musste sich eingestehen, dass sie banal und obendrein völlig utopisch klangen: Als könne eine Frau, die eben vom völlig überraschenden Tod ihres Ehemanns erfahren hatte, auf Kommando ihre Emotionen in den Griff bekommen.
Immerhin nahm sie nun wieder Platz. Lennart hörte, wie schwer sie atmete.
»Was ist passiert? Gab es denn irgendeinen technischen Defekt im Flugzeug? Abgase im Innenraum oder … ach, ich kenne mich mit solchen technischen Dingen einfach zu wenig aus.« Dann schien ihr auf einmal etwas einzufallen. Sie hob den Kopf und fragte forschend: »Warum denn eigentlich Kriminalpolizei, wenn es sich doch um einen Unfall handelt?«
Lennart holte tief Luft. »Um ehrlich zu sein, wissen wir noch nicht genau, was vorgefallen ist«, sagte er. »Aber unsere Ermittlungen sind in vollem Gang, wir warten gerade auf die Ergebnisse der Laboruntersuchungen. Wenn wir die haben, können wir sagen, welche Substanz dafür gesorgt hat, dass die Insassen …«
Bente Forsberg ließ ihn nicht ausreden. »Substanz? Irgendwas an Bord? Gefahrgut oder …«
Lennart horchte auf. »Hat Ihr Mann so etwas denn öfter transportiert?«, fragte er.
»Nicht dass ich wüsste. Warum sollte er? Ich verstehe einfach nicht …« Sie hielt mit einem Mal inne und schluchzte laut auf.
Lennart beschloss, ihr ein wenig Zeit zu lassen. »Wir können gern auch später weiterreden, wenn Sie möchten.«
Die Frau schüttelte den Kopf und nestelte mit nervösen Fingern an ihrer Handtasche herum, die sie auf dem Stuhl neben sich gestellt hatte. Schließlich holte sie eine Schachtel Zigaretten samt Feuerzeug heraus. »Kann ich hier drin rauchen?«, fragte sie und sah sich fahrig um.
»Also eigentlich …« Lennart legte die Stirn in Falten. Im ganzen Flughafen herrschte striktes Rauchverbot, auf das mit riesigen Schildern und Aufklebern hingewiesen wurde. Er warf einen Blick zur Decke, an der gleich mehrere elektronische Rauchmelder rot blinkten. »Vielleicht wäre es besser, wenn Sie dafür kurz nach draußen gehen würden.«
Er stand auf, durchmaß den Raum, öffnete die Glastür und trat auf den Grünstreifen vor dem Flughafengebäude. Bente Forsberg folgte ihm. »Wollen Sie auch eine?«, bot sie an, was er mit einem entschiedenen Kopfschütteln ablehnte.
»Nein, danke!« Das Rauchen hatte er zusammen mit seinem alten Leben abgelegt, und auch wenn es seitdem die eine oder andere Situation gegeben hatte, in der er sich liebend gern eine angesteckt hätte: Er war aus seiner Sicht schon erstaunlich lang standhaft geblieben, hatte tatsächlich keinen einzigen Zug mehr gemacht. Das würde er auch heute nicht ändern. »Ich würde uns inzwischen etwas zu trinken besorgen. Was möchten Sie, Wasser? Kaffee?«
Bente Forsberg versuchte mit zitternden Fingern, ihre Zigarette anzuzünden, doch immer wieder blies der Wind die kleine Flamme aus. »Warten Sie, lassen Sie es mich versuchen«, bot Lennart schließlich an, ließ sich das Feuerzeug geben und hielt seine Hände schützend darum. Mit Erfolg.
»Wasser, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, bat die Frau nach einem tiefen ersten Zug, dessen Rauch sie geräuschvoll wieder aus ihrer Lunge geblasen hatte. »Kaffee macht mich nur noch nervöser.«
»Bin gleich wieder bei Ihnen«, sagte Lennart und ging durch das Besprechungszimmer in die Abflughalle. Während der normalen Betriebszeiten hatte auch die kleine Theke des SB-Cafés geöffnet, an der es warme Snacks und Getränke gab, doch jetzt, mitten in der Nacht, war die natürlich verwaist. Während er auf den Automaten mit den gekühlten Getränken zuging, zog er sein Handy aus der Tasche und wählte Brittas Nummer, um sie auf die Hypothese mit den Flugzeugabgasen hinzuweisen, von der Bente Forsberg gerade gesprochen hatte. Er selbst wäre nicht darauf gekommen, aber irgendwie klang das gar nicht so abwegig. Britta versprach ihm, gleich Doktor Eklund anzurufen, um mit ihr darüber zu sprechen. Vielleicht hatten sie sich das mit dem Bittermandelgeruch ja doch nur eingebildet.
Er steckte das Telefon weg, zog sich zwei Flaschen stilles Wasser und wechselte zum Kaffeeautomaten. Ihnen allen stünde noch eine lange Nacht bevor, und da sein bewegter Tag früh begonnen hatte, konnte ein Wachmacher nicht schaden, auch wenn es sich dabei nur um Automatenplörre handelte. Während die Maschine mit vernehmlichen Zischen und Knacken sein Getränk zubereitete, drehte er sich um und ließ den Blick durch die Halle wandern. Die Atmosphäre des Baus, der – wie die verwendeten Materialien vermuten ließen – wohl aus den Achtzigerjahren stammte, erinnerte ihn an die seiner Grundschulaula. Einige Wände waren aus unverputzten Klinkerziegeln errichtet worden, und das Naturholz der Deckenbalken, damals der letzte Schrei in öffentlichen Gebäuden, war über die Jahre honigbraun nachgedunkelt. Am Boden hatte man grau-schwarze Marmorfliesen verlegt, die bestimmt äußerst haltbar waren, aber ziemlich trist aussahen. Zwischen den grün angestrichenen Gitter-Wartebänken standen große Tröge mit wuchernden Zimmerpflanzen. Sogar die schlichten Wanduhren kannte er aus seiner Schule.
Anscheinend hatte man kürzlich einem lokalen Maler oder einer Malerin gestattet, Bilder aufzuhängen. Die meisten der Aquarelle und Ölbilder zeigten Bornholmer Motive: die Festung Hammershus, ein paar Rundkirchen und Räuchereien, dazu den berühmten Leuchtturm von Dueodde, zwei Hafenansichten von Gudhjem und das malerische Christiansø auf den Erbseninseln. Rechts vom Kaffeeautomaten, direkt neben dem veralgten Aquarium, in dem ein paar Zierfische traurig ihre Runden drehten, fand sich die kitschige Abbildung einer Glasbläserwerkstatt. Sein Blick fiel auf das Preisschild darunter. Er musste zweimal hinsehen: Der aufgerufene Betrag entsprach seinem halben Monatsgehalt. Allzu viele Kunstwerke würden hier bestimmt nicht verkauft werden.
Mit einem schrillen Pfeifen vermeldete der Automat, dass der Kaffee fertig war. Lennart klemmte sich die Wasserflaschen unter den Arm, schnappte sich den Pappbecher und betrat erneut den Konferenzraum. Bente Forsberg schloss gerade die Außentür. Ein leichter Zigarettengeruch lag in der Luft, den Lennart jedoch eher angenehm als störend fand. Beide nahmen wieder Platz, und Lennart schob Frau Forsberg eine der Wasserflaschen hin, wofür sich die Frau nickend bedankte. Die Zigarettenpause hatte sie anscheinend etwas beruhigt.
»Meinen Sie, ich könnte Ihnen schon jetzt ein paar Fragen zu Ihrem Mann stellen?«
Sie nickte kraftlos.
»Nur wenn es Sie nicht zu sehr belastet.«
Bente Forsberg winkte ab. »Falls es mir zu viel wird, sage ich Bescheid. Was genau möchten Sie denn wissen?«
»Er kam heute Abend mit seinem Flugzeug aus Kalmar in Schweden zurück und ist selbst gebürtiger Schwede, stimmt das?«
Sie nickte. »Das ist richtig. Er stammt direkt aus Kalmar. Aber wir leben schon seit Jahrzehnten hier zusammen auf der Insel.«
»Hat er seine Familie besucht?«
»Nein. Er war gestern Abend auf einem Klassentreffen und hatte heute tagsüber noch geschäftlich dort zu tun, soviel ich weiß.«
»Verstehe. Wann ist er denn abgeflogen?«
»Gestern gegen Mittag.«
»Wissen Sie, wer mit ihm unterwegs war? Der Flugzeuginnenraum ist bislang nicht freigegeben, weshalb wir die beiden Personen noch nicht identifizieren konnten.«
»Zwei Männer?«, fragte Bente Forsberg.
»Ja.«
Sie überlegte. »Hm, genau weiß ich das leider nicht. Bjarne Møller ist immer mal wieder nach Schweden mitgeflogen. Möglich, dass er auch diesmal dabei war.«
Britta hatte also eventuell richtiggelegen mit ihrer Vermutung, dass einer der beiden Passagiere Møller war. Hatte sie nicht gesagt, er sei Teehändler?
»Sind Møller und Ihr Mann Geschäftspartner?« Lennart blieb noch bewusst im Präsens, wenn er über den Toten sprach. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass es das für die Angehörigen zunächst ein wenig leichter machte.
»Nein. Sie waren nur flüchtige Bekannte.«
»Sie und Ihr Mann führen mehrere Hotels auf der Insel, oder?«
»Ja. Drei, um genau zu sein. Mein Mann ist aber vor allem als Investor im Tourismusbereich tätig. Er … war …«, sagte sie, machte eine Pause und wirkte, als horche sie ihren Worten nach. »Er war … wie unwirklich das klingt«, befand sie in sachlichem, fast analytischem Ton. »Und wie schrecklich«, seufzte sie.
Lennart ging nicht darauf ein, sondern fragte weiter: »Sie wohnen hier in Rønne?«
»Nein, in Allinge. Wir haben ein Haus direkt am Meer. Nicht allzu weit von unseren drei Betrieben. Einer davon ist das Hotel Svane