Nebelhorn-Echos - Danny Ramadan - E-Book

Nebelhorn-Echos E-Book

Danny Ramadan

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Beschreibung

Eine zärtliche und tragische Liebesgeschichte zweier junger syrischer Männer über den Kampf mit Konventionen, ein Leben im Krieg und auf der Flucht und die Schwierigkeiten, die Schrecken der Vergangenheit zu überwinden, um glücklich und selbstbestimmt leben zu können. »Nebelhorn-Echos« ist ein literarisch exzellenter und aufwühlender Roman über eine queere und daher aussichtslose Liebe in Syrien. Er zeigt eindrucksvoll das Leben zwischen gesellschaftlichen Normen und der eigenen Selbstbestimmung – mit weitreichenden Konsequenzen für die beiden Liebenden. Eine bereichernde Leseerfahrung entsteht auch durch die Erzählung aus zwei Perspektiven – Damaskus und Vancouver. Danny Ramadan ist ein preisgekrönter syrischkanadischer Autor, Redner, Geschichtenerzähler und LGBTQIA+-Geflüchtetenaktivist. Für seinen Debütroman »Die Wäscheleinen-Schaukel« erhielt er zahlreiche Nominierungen und Preise.» »Nebelhorn-Echos sprüht vor Energie. Es brennt hell [...] Dieser Roman ist eine zärtliche und leidenschaftliche Liebesgeschichte für ein Land, für ein Volk und für all jene, die sich weigern, still und leise im Land der Vergessenen zu verschwinden.« Maaza Mengiste Mit Wassim zusammen zu sein war gewesen, wie ein Feuer in den Händen zu halten. Auch mein Herz war entbrannt, und nach der Zeit mit ihm wehte es davon wie Staub. Ein Käfig aus Metall nahm seine Stelle ein.« aus Nebelhorn-Echos

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Für jene, die den Weg übers Meer nahmen, und jene, die das Meer sich nahm.

Inhalt

2003

2014

2017

Danksagung

O Seereisender, ich bin hier, um Abschied zu nehmen Ich belade den Wind mit meiner Liebe und sende ihn dir nach.

Doch ich fürchte die Stürme und Gezeiten Stattdessen wird meine Seele mit dir reisen: um dich ans Ziel und zurückzubringen.

Amil Mubarak, libanesischer Lyriker

2003

Kinder sollten von den Schrecken des Krieges nichts wissen, doch Hussam war nun alt genug. Anfangs hielten ihn seine Eltern von den Nachrichten fern, während durch ganz Damaskus Geschichten aus dem benachbarten Irak schwirrten: Geschichten von Massengräbern und abgeschossenen Flugzeugen, von berghohen Gebäuden, die zu Staub zerfielen, von amerikanischen Invasoren mit blondem Haar und blauen Augen. In den Cafés lief kein Musikfernsehen mehr, sondern ein endloser Strom von Nachrichtensendungen. In der Schule wurde der Sportunterricht durch militärische Grundausbildung ersetzt; Hussam und seine Mitschüler lernten eine Schusswaffe zu laden und eine funktionsfähige Gasmaske selbst zu bauen. Wohlhabende Nachbarn verkauften hastig ihre Häuser und beschafften sich Flugtickets übers Mittelmeer.

Als seine Mutter seine Hilfe brauchte, um einen Notvorrat an Dosenfrüchten und eingelegtem Gemüse zusammenzustellen, setzte sie sich mit Hussam hin und erzählte ihm vom Krieg.

»Jeder Vorstoß der Amerikaner hat einen Gegenangriff der Iraker zur Folge«, sagte sie: »Es wird keinen Sieger geben.«

Er wiederholte, was er in der Schule gelernt hatte: »Jede Aktion erzeugt eine gleich starke und gegenläufige Reaktion.«

Der Krieg begann Hussam zu faszinieren. Nach dem Unterricht spielte er nicht mehr mit den Freunden auf der Straße Fußball, sondern rannte nach Hause. Er löste den Gürtel seiner Schuluniform, während er die Treppen hochstieg, und warf seine staubigen Schuhe im Eingang der Zweizimmerwohnung ab.

»Im Haus wird nicht herumgerannt«, ermahnte ihn die Mutter.

Hussam wich ihr aus und huschte ins Wohnzimmer, wo er die Lautstärke des alten Fernsehapparats aufdrehte. Er zappte sich durch die drei syrischen Kanäle, auf der Suche nach Neuigkeiten zur amerikanischen Invasion, mit dem gleichen Enthusiasmus, mit dem er früher nach Trickfilmen gesucht hatte. Begeistert von den Kampfjets, den Panzern und den Reden schnauzbärtiger Militärführer, ahmte er die Soldaten nach, wie sie beim Marschieren die Knie hochrissen und vor der Flagge mit Streifen und Sternen salutierten. Er schulterte den hölzernen Besenstiel und stampfte wie ein Wachtposten, bereit zum Sprung in den Flur, um seine Waffe auf einen fliehenden Feind zu richten.

In seinen fünfzehn Lebensjahren war Hussam kein einziges Mal im Irak gewesen. Er kannte das Land bloß aus dem Geschichtsunterricht, wusste, dass es das Herz eines längst untergegangenen islamischen Großreichs war. Sein Vater schwelgte in Erinnerungen an die vergangene Herrlichkeit des Islams, die, wie er sagte, von ruchlosen Angriffen des ungläubigen Westens gegen den einzigen und wahren Allah und sein treues Volk zerschlagen worden sei.

Seit Kurzem hatte Hussam einen irakischen Mitschüler. Ein Flüchtling, so hieß es. Ein schwarzhaariger, aufbrausender Teenager mit sonnengebräunter Haut, der Arabisch mit seltsamem Akzent sprach.

»Habt ihr von dem Iraker gehört, der mit seiner Flinte einen Apache-Hubschrauber abgeschossen hat?«

Hussam saß mit drei Freunden um einen quadratischen Plastiktisch; jeder von ihnen hielt dreizehn Spielkarten vor die Brust gepresst und warf argwöhnische Blicke um sich, so, wie sie es aus den Schwarz-Weiß-Westernfilmen auf geliehenen VHS-Kassetten gelernt hatten. Seine Mutter stellte ein Tablett auf den Tisch, mit schwarzem, honigsüßem Tee und reichlich Ma’amoul. Den Tee goss sie in goldumrandete Gläser. Es war ein Nachmittag Ende Mai, und in den Straßen von Damaskus heulte der Schamal-Wind, peitschte Staub und Sand auf und zwang die Bäume zu respektvollen Verbeugungen.

Wenn Hussams Vater wüsste, dass sie Karten spielten, wäre er außer sich vor Wut. Nur noch ein Monat bis zur Prüfungsphase, sie hatten sich aufs Lernen zu konzentrieren.

»Vor allem der Sohn von Omar und seiner ersten Frau«, sagte sein Vater, und er meinte Wassim, konnte sich aber die Namen von Hussams Freunden fast nie merken. Seine Mutter war nachsichtiger mit seinen Hobbys, sie erlaubte ihm ab und zu die Kartenrunde und warnte ihn rechtzeitig, wenn der Vater nach Hause kam.

»Er soll ihn mit einer einzigen Kugel abgeschossen haben«, sagte Wassim und zog eine Karte.

Er hatte noch nie einen Kampfhelikopter gesehen, bloß die Hubschrauber, aus denen an staatlichen Feiertagen bunte Zettel über den Dächern des Viertels abgeworfen wurden, um das Volk daran zu erinnern, dass der neu gewählte syrische Präsident ein Mann des Fortschritts sei, der die irakischen Brüder in ihrem gerechten Krieg gegen das imperialistische Amerika unterstützte. Wenn das geschah, eilte Wassim hoch aufs Dach und überprüfte seine Taubenkäfige; nicht dass einer der Vögel nach den scharfkantigen Zetteln pickte. Dreiunddreißig Tauben hatte er geerbt, von seinem Onkel, der anderthalb Jahre zuvor jung gestorben war, an einer unbekannten Krankheit. Im vorigen Sommer hatte Wassim aus altem Draht und billigem Holz kleine Verschläge gebaut und sie auf dem Dach seines Elternhauses installiert. Mit schwarzem Filzstift hatte er seinen Namen auf die Federn an der Innenseite der Flügel jeder Taube geschrieben und ihnen Bänder um die Füße gebunden, ehe er sie in den offenen Himmel entließ. Nachdem sie ein paar Stunden lang zwischen den Wolken herumgeflattert und durch das Labyrinth des alten Stadtviertels gesegelt waren, kehrten die Vögel auf Wassims Zeichen hin zurück: ein scharfer Pfiff und ein Wedeln mit einer Flagge, die er aus einem alten T-Shirt gemacht hatte. Er stupste sie wieder in die Käfige, dabei zählte und überprüfte er sie, jedes Mal von Neuem überrascht, dass sie noch vollzählig waren. Er schob die Riegel vor und hängte sich die Schlüssel um den Hals.

Wassim knallte eine Karte auf den Tisch, neue Runde. Und er plapperte nach, was er im Fernsehen gehört hatte: »Der Iraker verwendete seine alte Flinte, um das fliegende Monster vom Himmel zu holen. Das Gewehr war ein Erbstück von seinem Großvater, der damit in den 1920ern britische Invasoren getötet hatte.«

Wassims Stimme veränderte sich, sie wurde spröder und tiefer als zu den Zeiten, in denen er und Hussam spitze Schreie ausstießen, während sie in ihrem Viertel Mazzeh herumrannten und Räuber und Soldat spielten.

Er hielt sich die Karten vors Gesicht, doch Hussam konnte seine Augen sehen – sie waren blau, anders als alle Augen, die er vorher gekannt hatte. Sie bildeten einen starken Kontrast zu seinem gebräunten Gesicht und krönten eine hohe Nase. Auf seiner Oberlippe stand ein Flaum, noch nicht ganz schwarz, von ähnlicher Farbe wie die weichen Haare, die Hussam auf Wassims Körper bemerkt hatte, als sie zum letzten Mal schwimmen waren. Sie bedeckten seine Unterarme, umrundeten seine Brustmuskeln und führten zu seinem Bauchnabel wie ein abwärts weisender Pfeil. Seine helle Haut sah aus, als würde sie sich heiß anfühlen.

Hussam hingegen schlug sich mit Akne herum und versuchte sie mit all den alten Hausmittelchen zu bekämpfen, die seine kundige Mutter ihm angedeihen ließ. Vor einigen Wochen, an seinem fünfzehnten Geburtstag, hatte sie Zimttee in einem Topf mit Honig aufgekocht, so lange, bis nur ein goldfarbener Schlick übrig blieb. Diese heiße Masse hatte sie ihrem Sohn ins Gesicht gekleistert, der dabei vor Schmerz kreischte, hatte ihn dann festgehalten und gepustet, bis der Schlick abgekühlt war.

»Nun werden alle Mädchen im Viertel nach dir gurren.«

Sie fächelte vor seinem Gesicht herum, dann pellte sie die Mixtur ab. Er stöhnte.

»Dein Vater will mit dir sprechen«, sagte sie, als sie mit der Behandlung fertig war. Sie gab ihm ein feuchtes Handtuch für sein brennendes Gesicht und schickte ihn dann ins Elternschlafzimmer.

Diesen Raum durfte er nur selten betreten. Er war warm, die Häkelarbeiten der Mutter fügten den Bettbezügen und anderen Stoffen ihre Farben und Muster hinzu. Fotos unter dem Glas ihres Waschtischs dokumentierten Hussams Kindheit, dazu ein schwarz-weißes Hochzeitsfoto, auf dem sie verängstigt aussah, und ein recht neues Bild vom Vater, wie er am Strand in Lattakia Argileh-Tabak rauchte. Sein Vater saß auf der Bettkante und klopfte zweimal auf die blaue Überdecke, als Einladung an Hussam, sich neben ihn zu setzen.

»Luqman der Weise war hochgeschätzt unter dem Volk Allahs.«

Der Vater nahm den Koran zur Hand, der auf seinem Nachttisch lag.

»Und er gab sein Wissen an seinen Sohn weiter, in zehn Geboten, die nicht missachtet werden dürfen.«

Hussam legte seine Schläfe an die Brust seines Vaters.

»O mein Sohn, setze Allah keine Götter zur Seite«, rezitierte sein Vater aus dem heiligen Buch, seine Stimme tief und rhythmisch: »Und Wir haben dem Menschen aufgetragen, seine Eltern gut zu behandeln. Sei Mir und deinen Eltern dankbar. Zu Mir ist die Heimkehr.«

Hussam hörte die Worte schon aus der Lunge geatmet, ehe der Mund sie aussprach.

»O mein Sohn, wäre es auch nur das Gewicht eines Senfkornes und wäre es in einem Felsen oder in den Himmeln oder in der Erde, Allah würde es gewiss hervorbringen. Wahrlich, Allah ist gnädig, kundig.«

Hussam roch das Bartöl und das Miswak-Holz, mit dem der Vater sich die Zähne putzte.

»Und schreite nicht ausgelassen auf Erden; denn Allah liebt keine eingebildeten Prahler.«

»Baba«, begann Hussam.

»Sohn, es ist Zeit, dass du aufhörst, mich Baba zu nennen wie ein Kind. Du kannst mich Abu Hussam nennen. Ich bin dein Vater und du bist mein Sohn, aber du bist nun ein Mann und wir sind zwei Brüder.«

Hussam stiegen die Tränen in die Augen, doch sein Vater mahnte rasch: »Männer weinen nicht, mein Sohn.«

»Ja, Abu Hussam«, schniefte Hussam.

Er schrak aus seinen Gedanken auf, als Wassim eine Siegerkarte auf den Tisch knallte.

»Hier, ihr seid alle geliefert.«

Die anderen Jungen protestierten, einer von ihnen stand auf und warf wütend sein Blatt ab.

»Wie Schafe hast du uns abgeschlachtet!«

Hussam spielte immer mit Wassim zusammen; sie kommunizierten über Blinzeln und unmerkliche Fingergesten. Mit Leichtigkeit las der eine die Körpersprache des anderen. Zwischen zwei Schulaufgaben oder in den Pausen spielten sie gegen andere Teams und gewannen jedes Turnier, sodass sie schon an der ganzen Schule bekannt waren.

Auch an diesem Morgen, vor Unterrichtsbeginn, wollten sie Karten spielen, doch der irakische Junge hatte Fotos mitgebracht, die er unter der Matratze seines Vaters gefunden hatte. Nur einen kleinen Kreis von Freunden weihte er ein, was für einen Schatz er im Rucksack trug, versteckt zwischen den Seiten seines Biologiebuchs. Hussam und Wassim traten mit den anderen in einen leeren Klassenraum und beobachteten gespannt, wie der irakische Junge den Reißverschluss seiner Tasche aufzog.

Er holte drei Fotos hervor, eins nach dem anderen. Bei jedem der Bilder entfuhr den Jungen ein Keuchen. Der Iraker reichte das erste an Hussam weiter. Es war von der Größe einer Handfläche und aus einer Zeitschrift ausgeschnitten. Das dünne Papier zeigte eine nackte blonde Frau auf allen vieren. Sie verbarg strategisch ihre Brustwarzen, hielt den Rücken leicht durchgedrückt und reckte im Hintergrund ihren Arsch in die Bildmitte. Hussam betrachtete das Foto genau, umringt von den anderen Jungen, und übergab es Wassim, der es sofort weiterreichte. Als Nächstes kam eine Brünette auf einem Küchentisch, die ihre Brüste mit den Händen bedeckte und deren Beine auf den Schultern eines nackten Mannes lagen. Hussam verweilte bei diesem Anblick. Der Mann hatte ein Sixpack, ein Tribal-Tattoo auf dem Bizeps und einen hungrigen Blick, der aus dem Bild herauszudringen schien, als würde er Hussam anstarren und die Frau gar nicht beachten. Hussam hinterließ einen schwitzigen Fingerabdruck auf seiner Taille.

»Alter …«, flüsterte einer der Jungs.

Wieder gab Hussam das Bild an Wassim weiter, und der hielt es in den hohlen Händen wie kostbares Trinkwasser, hob es nah vor sein Gesicht und kniff die Augen zusammen. Auf dem letzten Foto war ein Paar zu sehen, das nackt auf seidiger Bettwäsche schlief. Sie hielten einander liebevoll umarmt, wobei ein Blick auf die Brüste der Frau und zwischen ihre Beine möglich war, während der Körper des Mannes fast ganz verdeckt blieb. Die Lippen des Mannes waren halb geöffnet, in einem ewigen Seufzer, bereit, geküsst zu werden.

»Schau dir diese Titten an«, sagte einer der Jungs hinter Hussams Ohr.

Der Mann sah friedlich aus, die Arme nach der Geliebten ausgestreckt, sein Haar wallte über das Kopfkissen. Die Hand der Frau ruhte auf seiner Brust und ihre Lippen berührten sein Ohr, ihre Silhouette war geschwungen wie eine Geige. Wassim hielt das Foto so vorsichtig, als hätte er Angst, es könnte in seinen Händen schmelzen.

Hussams Mutter erschien in der Tür.

»Ich glaube, es ist Zeit, die Karten wegzupacken«, sagte sie.

Schnell sammelten die Jungs die Karten und den Zettel, auf dem sie die Ergebnisse notierten, ein, und Hussam verbarg sie in dem Schubkasten mit seinen persönlichen Dingen, den er in einer Ecke seines Ausziehbetts im Wohnzimmer aufbewahrte. Als sein Vater durch die Tür trat, schienen die vier Jungen mitten bei ihren Mathehausaufgaben zu sein.

Hussam drückte einen Kuss auf den Handrücken seines Vaters und legte ihn sich kurz an die Stirn. Er roch nach schmelzendem Eisen, war verschmiert und schmutzig vom langen Tag in der Schmiede. Mit einem geflüsterten »Allah segnet dich« zog der Vater seine Hand weg.

»Mein Vater erwartet Sie und Ihre Familie diesen Freitag«, sagte Wassim ehrfürchtig zu Hussams Vater. Dieser nickte.

Hussam hatte keine Lust auf diesen Familienbesuch gegenüber, bei Wassim zu Hause. Zwar war er fast jeden Tag dort – um die Tauben zu beobachten, eine Runde Mortal Kombat 3 auf der Nintendo 64 in Wassims Zimmer zu spielen oder Limonade zu trinken und teure Schokolade zu essen, die ihnen die neue, junge Frau von Wassims Vater servierte. Doch freitags mussten die Jungen artig mit den Erwachsenen am Tisch sitzen, hatten sich zu benehmen und durften das öde Geplauder nicht unterbrechen.

Am Freitag saß Hussam im Esszimmer von Wassims Familie. Er schob einen Finger unter den Hemdkragen, der ihm den Hals einschnürte. Eine Vase mit einem komplizierten Blumenarrangement stand auf dem großen Marmortisch; die Wände waren bedeckt von Koranzitaten, auf edle Stoffe gedruckt. Üppige Gardinen vor dem Fenster steigerten den Eindruck von Wärme.

Hussams Familie hatte kein Zimmer, eigens um Gäste zu empfangen, bei ihnen musste das Wohnzimmer herhalten, wo das Sofa zugleich Hussams Bett war und der Tisch sowohl für die Mahlzeiten als auch für seine Schularbeiten genutzt wurde.

»Meint ihr, sie werden im Irak einmarschieren«, fragte Hussams Vater die anderen Erwachsenen.

Einige Zeit zuvor hatte er seinen Sohn angewiesen, den Blickkontakt mit Wassims Vater zu vermeiden.

»Respekt ist die einzige Münze, mit der wir zahlen können«, hatte er erklärt: »Sprich ihn mit gedämpfter Stimme an und nenne ihn Onkel Abu Wassim.«

Onkel Abu Wassim verschaffte Hussams Vater viele Arbeitsaufträge, er besaß mehrere Läden auf den Märkten von Al-Hariqa und Al-Khajah, wo er Stoffe und Leder verkaufte. Sein eigenes Zuhause hatte er mit Möbeln von den Märkten an der Schnellstraße nach Homs aufgewertet, bekannt für ihre filigranen Holzarbeiten und ihre weichen Polster. Er hatte sogar diese fremdländischen Sitztoiletten installiert, anstelle der alten arabischen Modelle, über die man sich hocken musste. Er war der Erste in der Nachbarschaft, der eine Satellitenschüssel gekauft hatte, und er konnte damit über sechzig Fernsehkanäle aus den Nachbarländern empfangen.

Seit dem Tod seiner ersten Ehefrau hatte Onkel Abu Wassim drei weitere gehabt. Mit der derzeitigen war er seit etwa fünf Jahren verheiratet, was der üblichen Dauer seiner Ehen entsprach. Er pflegte sich dann scheiden zu lassen, nicht ohne den Ex-Frauen genug Geld für ein bequemes Leben zu überlassen. Für die Frau, die ihm half, sein einziges Kind – Wassim – großzuziehen, kaufte er sogar ein Haus in der noblen Gegend um den Al-Schuhada-Platz.

Die beiden Väter waren seit ihrer Kindheit befreundet. Und während Onkel Abu Wassim ein Vermögen machte, indem er das Handelsgeschäft seiner Familie ausbaute, wollte Hussams Vater auf eigenen Füßen stehen, nachdem seine sunnitischen Eltern seine Bitten abgeschmettert hatten, eine alawitische Frau heiraten zu dürfen, die er auf einer Reise in die Küstenstadt Tartus kennengelernt hatte. Die Liebesgeschichte überdauerte die elterliche Ablehnung, und Hussams Vater verließ die Familie, um mit seiner Frau zusammenleben zu können. Alle zwei Wochen kaufte er ihr Blumen, und donnerstags bereitete sie ihm seinen Lieblingsnachtisch zu, ein wunderbar cremiges Blancmanger, mit Orangenschalen verziert. Sie sorgte dafür, dass Hussam am Donnerstagabend immer draußen spielte oder Wassim besuchte, sodass sie und ihr Ehemann die Wohnung für sich allein hatten.

»Seit Wochen wurde Saddam nicht mehr gesehen«, sagte Onkel Abu Wassim. »Er ist in seinen eigenen Kerkern verschwunden.«

Hussam vermied den Blickkontakt. Die beiden Ehefrauen verzogen sich in eine Ecke und tauschten wispernd den neuesten Tratsch aus, ehe sie in die Küche gingen, um das Essen herzurichten. Zum ersten Mal waren sie sich begegnet, als Abu Wassim seine neue Braut in einem weißen Mercedes voller Blumengebinde heimführte und sie den Gästen und Nachbarn präsentierte. Als sie durch das Haustor schritten, hob Abu Wassim sie hoch, sodass sie den Teig, den ihre Mutter am Abend zuvor angerührt hatte, an den Torbogen klatschen konnte.

»Wenn der Teig kleben bleibt«, sagte Hussams Mutter, »wird die Ehe halten.«

Am Abend der Hochzeit, als sie beim Zähneputzen aus dem Badezimmerfenster blickte, entfuhr ihr ein Keuchen. Der Teig war zu Boden gefallen. Hussams Mutter schlang ein weißes Tuch um ihren Kopf, eilte hinaus und stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Teig wieder dahin zu drücken, wo er seine Spur am Torbogen hinterlassen hatte. Niemand sah sie dabei, wie sie diese Ehe rettete, außer ihrem Sohn. Am nächsten Morgen trat sie nach dem Aufwachen gleich wieder ans Fenster, um sich zu überzeugen, dass der Teig noch an seinem Platz war.

Seit jenem Tag hatte Hussams Mutter die junge Frau unter ihre Fittiche genommen. Sie war eine neunzehnjährige Schönheit aus einem Dorf in der Nähe, die keine Ahnung vom Leben in der Stadt hatte. Weder wusste sie, wie man auf dem Suk Al-Sitat verführerische Wäsche kaufte, um den Ehemann bei Laune zu halten, noch konnte sie perfekt gewürzte Yalanji kochen. Hussams Mutter brachte ihr bei, beim Einkaufen die Preise herunterzuhandeln, die besten Angebote zu entdecken und sich die Früchte und Gemüse jeder Saison einzuprägen, um die entsprechenden Festessen zubereiten zu können. Auch half sie ihr bei den Vorkehrungen für ihr Leben nach der Ehe und gab ihr den Rat, sich zum Geburtstag und Hochzeitstag immer Schmuck zu wünschen, denn sie befürchtete, dass die Scheidung von vornherein eingeplant war.

Der ruhelose Hussam unterbrach die Männer im Gespräch: »Können wir hoch aufs Dach?«

In der Küche schnalzte die junge Frau mit der Zunge und ermahnte sie, nicht mit den Tauben zu spielen. Hussams Mutter erlöste die Jungen von dem peinlichen Moment, indem sie ein Tablett mit Kaffee für die Erwachsenen hereintrug.

»Kaffee vor dem Essen?«, fragte sie fröhlich. »Ich lese euch dann aus dem Satz die Zukunft.«

Über dieses Angebot freuten sich alle, und die beiden Jungen schlüpften aus dem Zimmer und sprangen die Treppen hoch zum Dach.

»Glaubst du, wir können von hier aus den Krieg sehen?«, fragte Hussam.

Er stand mit Wassim an der Dachkante und blickte in den Himmel, wo die Tauben flogen.

»Bist du dumm?«, sagte Wassim: »Der ist viel zu weit weg.«

Hussam meinte, die Explosionen der Luftschläge – oder jedenfalls die Rauchsäulen – könnten groß genug sein, um sie von hinter der Grenze zu sehen.

Wassim spähte zum Horizont. »Vielleicht«, schlug er vor, »wenn wir auf die Käfige steigen und von dort auf den Fahrstuhlschacht.«

Sie untersuchten die Taubenkäfige, die zwischen der Dachumrandung und dem Gehäuse des Fahrstuhlmotors standen. Wie ein kompakter Würfel ruhte der Schacht auf dem Dach. Sie kamen überein, dass sie, um hinaufzugelangen, auf die Ecke der Dachmauer steigen und sich dabei an einer Eisenstange an der Seite des Motorgehäuses festhalten mussten, um sich gegen einen tödlichen Sturz abzusichern, sieben Stockwerke tief. Von dort wäre es ein Leichtes, sich auf das kleine Dach des Schachts hochzuziehen und einen besseren Blick auf die Stadt zu haben, vielleicht auch auf die Landschaft ringsum.

»Machen wir’s«, sagte Wassim, und ein paar Augenblicke später zog er Hussam hinauf auf das Schachtdach. Die Jungen standen nebeneinander und blickten über die Stadt.

»Wie kommen wir wieder runter?«, fragte Hussam. Eine heftige Windbö fuhr ihm durch die Kleider. Stark genug, um sie beide wie Papierdrachen in den Himmel zu heben, so fühlte es sich an. Er griff nach Wassims Hand und hielt sie fest.

»Ich möchte runter.«

»Sei keine Memme.«

Wassim drückte seine Hand und sagte ihm, er solle nicht hinunterschauen. Sie suchten den Horizont nach Rauchwolken ab, nach trudelnden Hubschraubern oder rotblauen Raketen. Bald gaben sie es auf und setzten sich auf das Schachtdach, ließen die Füße vom Rand baumeln.

Die Innenstadt breitete vor ihnen die Arme aus. Das Herz von Damaskus, die Umayyaden-Moschee mit ihren raffinierten Mosaiken, glitzerte in der Sonne. Um die Moschee drängten sich niedrige Gebäude und alte Wohnhäuser, ragten über Gassen, die so eng waren, dass nur Fahrräder und schmale Fuhrwerke hindurchpassten. Den nächsten Ring bildeten höhere Häuser, errichtet von Osmanen und Franzosen zur Zeit der jeweiligen Besatzung. Diese wiederum waren eingekreist von Quadern aus Beton und Stahl im sowjetischen Stil sowie, schließlich, den Hochhäusern an den Stadträndern. Damaskus war eine Stadt in Kräuselwellen, die ihre Geschichte auf ihre Bewohner zurückwarf. Jede Epoche hatte ihren Platz in der Topografie.

Hussam sah auf seine Hand, mit Wassims Hand verflochten. Er blickte dem Freund in die Augen, ihr Blau schimmerte wie ein stiller See. Und wie ein prächtiger Anker saß Wassims Nase in seinem Gesicht, sie erinnerte Hussam an die Statuen, die er im Nationalmuseum für historische Kunst gesehen hatte.

Wassim gab seine Hand frei und legte Hussam den Arm um die Schulter. Seine Fingerspitzen streiften Hussams Brustwarze. Es war eine Bewegung, die sie in romantischen Hollywoodkomödien gesehen hatten. Die sich Verliebenden saßen dabei üblicherweise im Kino; der junge Mann tat so, als ob er gähnen würde, und ließ den Arm auf der Schulter der Frau nieder. So wie in diesen Filmen legte Hussam seinerseits den Kopf an Wassims Schulter und schmiegte sich an ihn. Er spürte, wie Wassim ihn fester umarmte, spürte seine heißen Finger auf der Haut.

In den vergangenen Monaten war Wassim oft schweißgebadet aus Träumen erwacht, in denen er und Hussam sich küssten. Die Träume schmolzen weg wie die Schneeflocken, die in Damaskus einmal jährlich fielen und zu schwach waren, um die grüne Stadt weiß zu machen, doch der Phantomkuss blieb auf seinen Lippen.

Ein Schauer lief ihm über den Rücken, und er blickte zu Hussam hinab. Für einen Moment sahen sie sich tief in die Augen und brachten kein Wort hervor.

Hussam fasste das als ein Zeichen auf. Er beugte sich vor und küsste den Freund auf die Lippen. Wassims Füße zuckten, als durchführen ihn Stromstöße. Er stieß Hussam weg und klang, als würde er um Luft ringen. Sie tauschten ängstliche Blicke aus, unfähig, einen Laut von sich zu geben. Hussam errötete und wandte sich ab.

Wassim nahm noch einen tiefen Atemzug, als wollte er mit dem Kopf unter Wasser gehen, dann war er zurück. Seine Lippen streiften Hussams Mund so sanft, als würde er sich zum Trinken über eine Oase beugen.

Sie küssten sich lange. Tausendmal musste die Sonne unter- und wieder aufgegangen sein; der Mond, ein funkelnder Bogen, lächelte ihnen zu. Wassim vergrub die Hände in Hussams Haar, dann ließ er wieder davon ab, ließ sie aufwärts und abwärts über seinen Rücken gleiten und sie schließlich auf seinen Hüften ruhen. Hussams Füße zitterten. Seine Arme hingen herab, als würde er sich Wassims neuer Heftigkeit ergeben.

Dann hörten sie ihre Namen.

Hussams Vater stand bei den Taubenkäfigen und blickte herauf. Seine Augen waren aufgerissen, sein Gesicht so rot, als müsste es bersten. Er streckte sich, um sie bei den Beinen zu fassen, doch Hussam und Wassim zogen schnell ihre Füße hoch.

»Ich werde euch beide töten!«, schrie er. Er deutete auf den Boden und verlangte, dass sie herunterkämen.

»Baba, es ist nicht, was du …«

»Kommt runter, ihr zwei Stück Scheiße! Ich werde euch die Schädel spalten!«

Hussam keuchte, als sein Vater begann, fluchend zu ihnen hochzusteigen. Wassim wich zurück, und Hussam schürfte sich am scharfen Kies des Dachs die Handflächen auf.

Sein Vater erklomm das Fahrstuhlgehäuse und war fast oben, als er mit dem Fuß abrutschte. Er landete auf den Taubenkäfigen, die unter seinem Gewicht ächzten. Weiterhin Flüche murmelnd, machte er sich erneut an den Aufstieg und zog sich mit beiden Armen auf das kleine Schachtdach empor.

Nun war er so nah, dass der Sohn das Eisen an seinen Fingern roch und die Adern auf seiner Stirn pulsieren sah. Seinen ausgebrochenen Zahn. Die silberne Uhr um sein haariges Handgelenk, ein Geschenk zum Vatertag.

Hussam und Wassim blieb dieser Moment im Gedächtnis eingebrannt. Jedes Zucken ihrer Muskeln, jeder Feuerstoß in ihren Köpfen. Für immer würden sie sich erinnern, wessen Fuß Hussams Vater trat, an das Geräusch von Wassims Sohle im Gesicht des Mannes. Es war kein starker Tritt, er hätte ihn nicht verletzt, aber er ließ ihn den Halt verlieren. Hussam griff rasch nach der Hand, der er eben noch ausgewichen war, doch er bekam kaum seine Fingerspitzen zu fassen, als der Vater von der Eisenstange abrutschte und das Gleichgewicht verlor. Mit einem Röcheln brach er in die Taubenkäfige, deren berstende Dächer die verängstigten Insassinnen freisetzten. Sein Körper rollte auf die Dachmauer, von den flatternden Tauben umringt, und für einen Moment lag er dort still, als wäre er unentschieden, auf welche Seite er fallen sollte. Wie in Zeitlupe glitt er an der Seite des Gebäudes hinab.

»Baba!«

Sie hörten den dumpfen Aufprall. Hussam schwang sich über die Kante des Schachtdachs.

»Nicht springen!«, brüllte Wassim, aber Hussam ließ los und fiel in die zerstörten Käfige. Ein fingerlanger Nagel durchstieß seine Schuhsohle und bohrte sich in seinen Fuß, doch er spürte ihn nicht. Er rannte die Treppen hinab, schrie den Namen seines Vaters, hinterließ eine Blutspur.

»Hussam!«

Er hörte nicht hin, nahm drei, vier Stufen auf einmal. Sein keuchender Atem hallte von den Wänden wider und erfüllte das Treppenhaus.

»Was habe ich getan? Was habe ich getan?«, wiederholte er flüsternd bei jedem Sprung, bis er im Erdgeschoss ankam und zur Glastür des Gebäudes sprintete. Hinter ihm öffnete sich die Fahrstuhltür, und Wassim erschien, schweißgebadet.

»Hussam, warte!«

Er setzte ihm nach, und zu zweit rannten sie in das Gedränge der Männer, die sich schon vor dem Haus versammelt hatten und alle Namen Allahs murmelten. Hussam wand sich zwischen ihnen hindurch, stieß sie beiseite und brüllte unverständliche Worte.

»Schau dir das nicht an, Kind!«

Ein Mann versuchte ihm die Hand vor die Augen zu halten. Hussam schlug sie weg und schrie nach seinem Vater. Er hörte seinen Namen und den seines Vaters, ausgesprochen von Nachbarn, die kürzlich noch eine Tasse Zucker bei ihnen geliehen, oder von Ladenbesitzern, bei denen sie einen Karton Eier gekauft hatten.

Der Körper seines Vaters lag am Boden, ein grellweißer Knochen ragte unter dem Knie hervor, ein Arm war hinter dem Rücken verdreht, aus einem Spalt im Gesicht sickerte ein Blutstrom hervor.

»Kind, er ist tot«, sagte ein Mann hinter Hussam.

Er begann die Koranverse zu rezitieren, die der Vater ihm vorgelesen hatte, und Tränen rannen ihm über die Lippen.

»Wahrlich, hätte die Sünde auch nur das Gewicht eines Senfkornes und wäre sie in einem Felsen oder in den Himmeln oder in der Erde, Allah würde sie gewiss hervorbringen.«

»Ja, Sohn. Sprich zu ihm aus dem Koran«, sagte ein Mann: »So wird seine Seele ruhen.«

Hussam kniete nun, die Hände voller Blut, und versuchte den zerschmetterten Schädel seines Vaters wieder zusammenzufügen. Er hielt das Kinn mit dem rot verschmierten Bart des Vaters in den Händen und drückte es zurück in sein Gesicht.

Wassim legte ihm die Hand auf die Schulter. Im ersten Moment schien Hussam es nicht zu bemerken, sein Blick war starr auf das zerbrochene Glas der silbernen Armbanduhr gerichtet. Dann hob er den Kopf und sah Wassim in die Augen.

»Fass mich nicht an!«

Doch Wassim nahm seine Hand nicht weg.

»Hussam«, flüsterte er.

»Fass mich nicht an, sage ich.«

Die Männer ringsum, die Koranverse aufsagten, erhoben ihre Stimmen, in der Ferne war die Sirene eines Krankenwagens zu hören.

»Hussam, wir müssen zusammenhalten.« Wassim zog ihn hoch. »Es war ein Unfall.«

»Fick dich!«, schrie Hussam, doch Wassim schlang die Arme um ihn. Die Männer schoben sie beiseite, um Platz für die Sanitäter zu machen. Hussam versuchte sich aus der Umarmung zu lösen, aber Wassim hielt ihn nur noch fester.

»Niemand weiß, was passiert ist, Hussam. Niemand weiß, was wir vorher getan haben.«

Hussams Schultern spannten sich an, sein Rücken versteifte sich.

»Ich kümmere mich um dich, ich kümmere mich um das hier«, flüsterte Wassim.

In den umstehenden Häusern waren Fenster geöffnet worden, darin erschienen zuerst die Gesichter von Männern, dann die von Frauen, die sich den Hidschab festzogen. Aus Wassims Penthouse blickten seine Eltern und Hussams Mutter herab. Die Frauen heulten, und Wassims Vater schrie vor Entsetzen. Hussam, immer noch in Wassims Armen, blickte hinauf, das Blut seines Vaters auf seinen Jeans und Socken. Alles, was er sehen konnte, waren Vögel, die fortflogen, ohne dass jemand sie zurückpfiff.

2014

Vancouver

Mein Vater steht in der Ecke des Clubs, wütend, dunkel, die harten Augen und spitzen Finger auf mich gerichtet. Wir starren einander an, während er unter den Lichtblitzen flackert wie ein kaputtes Neonschild. Nie verdeckt das Meer der hemdlosen tanzenden Körper sein Gesicht. Bei einem Aufblitzen lächelt mein Vater, beim nächsten ist sein Gesicht blutüberströmt. Ich habe dich nicht getötet, zische ich durch die zusammengebissenen Zähne, meine Worte verlieren sich unter den hämmernden Beats des DJs.

Ich wippe mit dem Kopf im Takt, meine Finger finden das kleine Päckchen in meiner Tasche. Ich wende den Blick von meinem Vater ab, hin zu den Gesichtern meiner tanzenden Freunde. Michael ist mit einem Zufälligen zugange, zieht ihn an sich und packt ihm an den Arsch. Er küsst ihn mit offenen Augen, deren Blau im Schwarzlicht durchsichtig scheint und dämonisch glüht. Unsere Blicke treffen sich, doch sein Lächeln wird von dem Zufälligen halb verdeckt. Ich schaue weg. Brian versucht ein Selfie mit uns allen zu machen. Er hasst es, mit der Frontkamera seines Telefons zu fotografieren – so grobkörnig und verschwommen –, also verwendet er die normale Kamera, tippt blindlings auf das Display, um dann das Telefon umzudrehen und das Ergebnis zu prüfen. Er sieht enttäuscht aus und will einen weiteren Versuch machen. Der DJ fuchtelt mit der Faust in der Luft, während er einmal mehr irgendwelche Silben, von einer unverständlichen Stimme gerufen, durch den Raum hallen lässt. Whoop, whoop, whoop. Der Beat setzt aus, und alle springen hoch. Als sie wieder aufkommen, bebt die Erde, und mein Vater erscheint von Neuem im Lichtstrahl. Zerschmettert, zerbrochen, sein Schienbein, das Muskeln, Haut und Kleidung durchstößt, auf mich gerichtet. Die Jungs tanzen um ihn herum wie Wölfe, die ihre Beute umkreisen. Ich erschaudere und umklammere das Tütchen in meiner Hosentasche, es ist nass und glitschig in meiner Faust.

Wieder sehe ich Wassims Fuß im Gesicht meines Vaters auf diesem verdammten Dach. Die Erinnerung zittert, als flösse mir elektrischer Strom durch die Augen. Die Musik ist gedämpft, die Singstimme kaum hörbar, die Gesichter um mich herum verschwimmen. Es sind jetzt meine Füße, die meinem Vater ins Gesicht treten. Meine Füße, die Wassim ins Gesicht treten. Seine Füße, die mich treten. Meine Füße. Seine Füße. Meine Füße. Seine Füße. Wir beide sind es. Whoop, whoop, whoop.

Mein Telefon vibriert in meiner Hosentasche. Ich beachte es nicht. Wieder vibriert es. Ich ziehe es heraus und sehe das blendende Skype-Blau und Ardas Namen unter einem Foto, das ich von ihm gemacht habe: breites Lächeln, weiße Zähne, der Kragen seiner Militäruniform aufgeknöpft, sodass sein Brusthaar zu sehen ist. »Kann grad nicht«, texte ich ihm, »ruf dich später an.« Er schickt mir ein Herz-Emoji. Ich blicke auf, und der Geist meines Vaters ist verschwunden. Diesmal wird er nicht zurückkehren, das weiß ich. Die Musik erfüllt die Luft. Beats, die meinen Puls beschleunigen, und Sounds, die mich erregen sollen. Computergeneriert. Für die Erzeugung dieses Songs wurden keine echten Musikinstrumente verwendet. Ich kichere über meinen eigenen Witz. Ich stoße mit jemandem zusammen. Bin hellwach. Mein nackter Oberkörper streift sein weiches Brusthaar. Ich zeige mein schiefes Lächeln. Winzige Pupillen, ruhelose Augen, amüsierter Gesichtsausdruck. Er ist high. Das Universum schickt Klangwellen zur Erde. Ich bin natürlich auch stoned. Das habe ich in den Nachrichten gesehen: Das Universum spricht zu uns, und für Millionen von Jahren waren wir nicht imstande, es zu hören. Whoop, whoop, whoop, was macht es für blöde Geräusche. Es hallt wider wie der Bass in diesem DJ-Set. Es hat zu uns gesprochen, und wir konnten es nicht hören, weil wir taub sind für sein Lied. Zwei schwarze Löcher, das habe ich in den Nachrichten gesehen, an zwei verschiedenen Enden des Universums stürzten vor Millionen Jahren ineinander und setzten die Energie von einer Million, einer Milliarde Sonnen frei, in den dunklen, schweigenden Raum um sie herum. Sie krachten zusammen wie zwei Eier in einer Schüssel, und die Wellen durchzitterten die ganze Galaxis. Sie verschmolzen zu einem endlosen Abgrund, verschlangen Planeten und Gesteinsklumpen. Der Klang des Todes wurde schwächer und leiser und spitzer, bis er die Erde erreichte. Wissenschaftler haben ihn aufgezeichnet, das habe ich in den Nachrichten gesehen, und sie sagen, er ist wie Whoop, whoop, whoop. So ein blödes Geräusch. Diese Wellen bleiben trotz der Jahre. Sie werden nicht verschwinden. Der Geist meines Vaters ist zurück, schimmert in der Ecke. Ich habe es nicht geschafft, ihn zu löschen. Ich bin für immer verflucht. Ich bin dem Tod geweiht. Ich habe dich gerächt, flüstere ich, doch er will nicht weichen. Noch eine Dröhnung, dann ist er weg. Noch eine Runde, noch eine verdammte rote Pille.

Der Junge streichelt meine Nackenhaare. »Wie heißt du?«

»Hussam!«

»Hischam?«

»Hussam!«

»Achmad?«

»Was?«

»Was?

»Nenn mich Sam.«

Er ist hübsch. Sein langes Haar wippt, wenn er zu dem Beat hüpft. Er ist jünger als ich, aber das ist okay, ich habe Lust auf einen Twink. Ich kann den Selbstbräuner riechen, der seiner Haut eine Farbe gibt, für die er sonst länger in der Sonne sitzen müsste, als er es wagen würde. Er hat zwei Ohrringe und möglicherweise ein Zungenpiercing. Die machen Spaß. Mit einem Finger fährt er durch mein Brusthaar hinab zu meinem Nabel und bis zu meinem Hosenbund. Ich bin erregt. Er hat eine lange Nase und braune Augen. Ist er Pinocchio? Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, und er lässt seine Hand unter den Gummizug meiner Shorts schlüpfen. Unsere Lippen berühren sich für einen Moment, aber ich will lieber zubeißen.

Er stößt mich zurück. »Oh, du bist ein Harter.«

Brian versucht immer noch, das bescheuerte Selfie zu machen. Ich runzele die Stirn. Ich will nicht, dass Ray mich auf diesem Foto sieht. Nicht schon wieder Streit, bitte. Ich blicke über Pinocchios Schulter zu Michael, und er nickt. Er greift sich Brians Telefon und löscht die Bilder.

»Justin«, flüstert mir Pinocchio neckisch ins Ohr. Hm? Was soll’s. Die Hälfte der schwulen Community in Vancouver sind Justins. Pinocchios Finger bahnen sich ihren Weg durch mein Schamhaar. Zufällig ertastet er das Innere meiner Hosentasche und zieht die Hand zurück. »Oh, sind das kleine Partyhelfer?«

Ich nicke und mache eine Kopfbewegung in Richtung des WC-Schilds.

»Ich habe einen Freund«, sagt er.

»Bring ihn mit.«

Er blinzelt und greift nach der Hand seines Kerls. Der ist größer, hat die Statur eines WWE-Wrestlers und kommt mit, ohne zu fragen. Bei meinem Anblick lässt er die Armmuskeln spielen. Ist das Imponiergehabe, wie bei einem Gorilla im Zoo? Er sieht aus wie ein Randy Orton mit behaarter Brust. Ich finde es komisch, mir Pinocchio und Randy Orton beim Sex vorzustellen. Nicht komisch im Sinn von lustig, sondern von seltsam.

Die Schlange vor dem Männerklo ist lang, also gehen wir ins Frauenklo. Warum es in einem schwulen Untergrundclub ein Frauenklo gibt, da bin ich überfragt. Wir torkeln durch die Tür, ein Mädchen mit Sonnenbrille erschrickt über uns, wir schieben uns an ihr vorbei, um uns in eine Kabine zu zwängen.

»Unverschämt!«, kreischt sie.

Ich ziehe das Tütchen aus der Tasche und verstreue das weiße Pulver auf dem Deckel des Toilettenkastens. Mit einer Dollarmünze schiebe ich es zu Lines zusammen.

»Ich mach nur oral.« Randy Ortons Stimme passt nicht zu seinem Körper, sie ist hell und quengelig.

»Ach, sag bloß?«, witzelt Pinocchio.

Randy Orton drückt seine Fingerkuppe in eine der Lines und reibt sich das Zeug aufs Zahnfleisch.

»He, pass auf!« Ich ziehe meine Linie, und sie brennt mir im Schädel, putzt mir die Nebenhöhlen durch.

»Ihr könntet wenigstens was abgeben«, sagt das Mädchen draußen.

»Hau ab, Bitch!«, schreit Pinocchio zurück.

»Typisch Tunten!« Beim Rausgehen knallt sie die Tür.

Pinocchio hält meine Hand und zieht sich seinen Anteil hoch. Er kichert und beugt sich vor, küsst sich meinen Hals und meine Brust hinab bis zu meinen Nippeln.

»Wo kommst du her?«, fragt Orton hinter mir.

»Syrien.«

»O Gott, bist du Aladin?«, nuschelt Pinocchio, während er sich hinkniet. Ich frage mich, ob ich ihm mit einem Pferdekuss die Nase brechen würde. Orton zieht mich an sich, und ich lehne mich an seine Brust. Sein Bart kitzelt mich im Nacken, ich mag das.

»Aladin ist eine Figur aus Tausendundeiner Nacht«, sage ich. »Also nein.«

Pinocchio blickt auf und feixt, während er durch den Stoff meiner Shorts meinen Schwanz betastet. Ich lasse den Kopf zurücksinken, auf die Schulter seines Kerls. Ich rieche das schwere Eau de Cologne, mit dem er sich geduscht haben muss. Die Decke des Raums ist schmutzig. Gelb umrandete Wasserflecken und ein Lüftungsgitter unter dickem, schmierigem Staub. Ein benutztes Kondom hängt da oben irgendwie fest. Pinocchio knöpft die Hose seines Kerls auf und zieht sein Ding hervor. Der Pimmel in meinem Kreuz fühlt sich gut an. Die Tür zur Frauentoilette wird immer wieder geöffnet und geschlossen, als suche jemand nach uns. Die Musik wird mit jedem Öffnen und Schließen laut und wieder leise. Whoop, whoop, whoop. Mein Hirn ist endlich leer. Pinocchio knöpft meine Shorts auf.

»Sam, bist du so weit?« Michaels Stimme von draußen.

Die Musik rauscht mir ins Bewusstsein. Ich bin außer Atem, knöpfe mir die Shorts wieder zu. Randy Orton sitzt auf der Klobrille, sein Atem ist flach. Sein Schwanz hängt ihm zwischen den feisten Schenkeln wie ein eingeschrumpfter Luftballon.

»Sekunde«, rufe ich.

Michael seufzt, und die Tür fällt wieder zu. Pinocchio wischt sich mit dem Handgelenk über den Mund und zwinkert. Ich würde ihm gerne eine scheuern. Ich schlüpfe aus der Kabine und stehe kurz vor dem fleckigen Spiegel, dann drehe ich das Wasser auf, fülle meine hohlen Hände und klatsche es mir ins Gesicht. Wie Gummi fühlt sich mein Gesicht an.

»Warum so eilig?« Pinocchio kommt von hinten und legt die Hände um meine Hüften. »Du kannst bei uns pennen.« Er drückt mir Küsse in den Nacken.

Ich blicke in den Spiegel und grinse. Genauso, wie ich es eingeübt habe. »Wollt ihr ein Dreieck, Boys?«

Er lächelt stumm zurück. Dann wendet er sich wieder zur Kabine, um nach Randy Orton zu schauen, und mein Grinsen zersplittert. Meine Nase schmilzt im immer noch laufenden Wasser, meine Augäpfel fallen aus ihren Höhlen und rollen im Abfluss umher, mein Haar rutscht mir den Rücken hinab. Der Geist meines Vaters erhebt sich in der Ecke des Raums, als hätte der angesammelte Dreck hinter der Tür seine Gestalt angenommen. Rot glühen seine Augen. Ich brauche noch einen Hit. Ich hole tief Luft, und mein Gesicht setzt sich wieder zusammen. Ich ziehe das Tütchen hervor, so gut wie kein Pulver mehr übrig.

»Sam …« Pinocchios Stimme aus der Kabine. Ist er je ein echter Junge gewesen? Ich gluckse. Mit einem Atemzug sauge ich mir den Rest Pulver rein.

»Sam, kannst du mir helfen? Ich glaube, er ist zu fertig.«

Nun nervt ihn also die Aussicht, dass er seinen Kerl nach Hause schleppen muss. Ich öffne die Tür und verlasse den Raum.

»Können wir los?« Michael hat seine Hand in den Shorts des Zufälligen. Brian sitzt auf einem der wenigen Stühle in der Ecke, den Kopf auf die Handflächen gestützt. Die Party tröpfelt aus. Michael sieht mich fragend an, ich setze mein einstudiertes Grinsen auf, und er lässt mich in Ruhe. Wir gehen zu Brian rüber, packen ihn unter den Achseln und bewegen uns in Richtung Garderobe, um unsere Sachen zu holen.

»Kommt der Random mit?«, frage ich Michael. Er wirft mir einen lüsternen Blick zu, während er den Arm um die Hüften des Zufälligen schlingt.

»Wo ist mein Telefon?«, lallt Brian.

Michael gibt ihm zwei leichte Schläge auf die Wange, damit er die Augen öffnet. Er hält ihm das Telefon hin, in seiner klobigen Schutzhülle. Brian nickt. Er windet sich aus unseren Armen und wankt alleine weiter. Hab ich mit Brian heute eine Line gezogen? Oder gestern? Ich weiß es nicht mehr. Ich ziehe mein T-Shirt über. Meine Jacke liegt im Auto. Michael wird fahren. Wir taumeln raus auf die Granville Street. Wundersamerweise regnet es nicht. Der Himmel ist noch dunkel, es ist März, die Sonne geht nicht vor sieben auf. Von der Meerenge weht ein steifer Wind. Mir ist nicht gut. Alle Straßenlichter sehe ich doppelt, die Ladenschilder verschwommen, der Boden unter meinen Füßen fühlt sich wie Wackelpudding an.

»Können wir ins Auto?«

Michael ist genervt. »Der Schlüssel, Mann. Den hast du.«

Ich durchsuche meine Taschen. Meine Schenkel sind schon eiskalt.

»Ich habe ihn nicht.« Ich klopfe auf meine beiden Hosentaschen, klopfe auf meine Brust, obwohl mein T-Shirt keine Tasche hat. Mein Hals fühlt sich an wie der von einem Vogel. Er ist so verspannt, er zwingt mein Gesicht, nach vorne zu zucken.

»Die Karre ist offen«, gluckst Brian. »Der Schlüssel ist noch in seiner Jacke, Kinder.«

»Du hattest zu viel, oder nicht?«, zischt Michael mir zu. Der Random auf dem Rücksitz schaut benommen aus dem Fenster.

»Hm?« Ich setze wieder mein Grinsen auf.

»Hör auf, so doof zu gucken. Du siehst aus wie ein pissender Hund.«

Ich entspanne langsam mein Gesicht. Michael mustert mich und seufzt: »Wir hatten das besprochen, Sam.«

»Ich bin okay.«

Alles ist gedoppelt, und alles fließt ineinander. Ich kann sehen, wie Michael fährt, aber vor ihm plätschert ein Silbergeschirr die Windschutzscheibe herab. Michaels Spiegelbild beugt sich durch das Wasser nach vorn, und er und sein Spiegelbild treffen zusammen – Lippe an Lippe, Stirn an Stirn.

»Niemand sagt, du sollst keinen Spaß haben, Babe.« Michael hält an einer Ampel und drückt meinen Schenkel. Die Wärme seiner Hand tut mir gut.

»Du bist sechsundzwanzig. Wir sind keine Kinder mehr. Aber pass ein bisschen besser auf dich auf. Wir brauchen keine zwei Wracks in diesem Freundeskreis.«

Brian schnarcht auf der Rückbank. Wir kichern.

Als wir die Davie Street hochfahren, schaltet Michael das Radio ein und erwischt das Ende eines Songs, den er mag. Er pfeift die Melodie mit und klopft mit den Fingern aufs Lenkrad.

»Es regnet«, sagt der Zufällige, als sehe er so was zum ersten Mal.

»Kannst du mich bitte einfach nach Hause fahren?«, seufze ich.

»Ray wird sauer auf dich sein«, warnt Michael.

»Pfff.«

Er setzt mich an der Ecke Davie/Bute ab. Der Random springt rasch auf den Vordersitz. Er sagt mir nicht Tschüs. Michael blickt mich mitfühlend an.

»Ich bringe dir das Auto morgen wieder«, sagt er.

Der kalte Regen schlägt mir für einen Moment ins Gesicht, dann hört er auf. Typisches Vancouver-Wetter. Ich überquere die Jim Deva Plaza. Ein Obdachloser schläft mit einem Hundewelpen im Arm in der sinnlosen Megafon-Statue, die sie da aufgestellt haben. Er hat das Gesicht meines Vaters. Der Welpe winselt. Whoop, whoop, whoop. Ich steige runter zum Strand. Der eisige Morgenwind ist gnadenlos, aber ich will jetzt lieber hier sein, als nach Hause zu gehen. Zumindest bis ich wieder einigermaßen beieinander bin. Ich überquere die Beach Avenue und wende mich nach rechts in Richtung des Inukshuk. Ich setze mich auf eine der Bänke dort und skype mit Arda.

»Hey, Fremder«, ruft er fröhlich.

»Geh mal vom Fenster weg. Du siehst wie ein Schatten aus.«

Er dreht sich um und zieht einen Vorhang zu. In der Türkei ist es vier Uhr nachmittags und die Sonne immer noch grell. Er steht stundenlang auf seinem Posten und bewacht das Flüchtlingslager in Gaziantep. Er wird pixelig, aber ich kann immer noch seine dunklen Augen sehen und sein dichtes schwarzes Haar.

»Ist dir nicht kalt?«, fragt er.

»Nee, bin dran gewöhnt«, lüge ich. »Warte kurz.«

Ich lege das Telefon auf der Bank ab und nehme eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug aus der Jacke.

»Hast du angefangen zu rauchen?«

»Dude, nein!« Ich halte die offene Packung vor die Kamera. »Das sind Joints.«

Er lacht hysterisch, als sei dies der beste Witz, den er je gehört hat. Sein Lachen steckt mich an. Ich klemme mir einen Joint zwischen die Lippen, entzünde ihn und nehme einen tiefen Zug.

»Du wirst also erwachsen und rauchst nur noch Gras«, witzelt er. »Vorbei die Tage, da wir uns um kleine braune Haschischbröckchen kloppten.«