10,99 €
Durch Rustgate zieht sich ein Riss. Vor vielen Jahren brach inmitten der Stadt die Erde auf und heraus schwärmten magische Wesen. Der Riss wurde zugeschüttet – die Wesen blieben. Obwohl erbittert Jagd auf sie gemacht wird. Als eines Tages aus einem Ei ein geheimnisvolles und einzigartiges Wesen schlüpft, ändert sich das Leben des Waisenmädchens Nelly für immer. Camou ist halb Fledermaus, halb Chamäleon, ein Hauch von Drache. Wild und verspielt und unfassbar verfressen. Er wächst rasend schnell und Nelly, die beim legendären Sternenzirkus Unterschlupf gefunden hat, soll ihn zur Unterhaltung der feinen Gesellschaft dressieren. Camou aber sehnt sich nach Freiheit. Ein scheinbar unmöglicher Wunsch. Denn in Rustgate schweben freie magische Tierwesen in ständiger Gefahr … Fesselndes Abenteuer über eine starke Underdog-Heldin und ihr verspieltes und zugleich mächtiges Fabelwesen – wunderbar emotional erzählt von Bestseller-Autorin Kira Gembri. All das vor dem Hintergrund eines historisch-fantastischen England, das von Magiern, Feen undeinzigartigen Tierwesen bevölkertist!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 320
Veröffentlichungsjahr: 2025
Bisher von Kira Gembri im Arena Verlag erschienen:
Wovon du träumst
Wenn du dich traust
Die Schule der Wunderdinge:
Hokus Pokus Kerzenständer (Band 1)
Simsala Schirm (Band 2)
Zicke Zacke Zaubertasche (Band 3)
Schnick Schnack Schlüssel (Band 4)
Kira Gembri wurde 1990 in Wien geboren. Sie hat drei jüngere Geschwister, denen sie täglich vorlas, und einen älteren Bruder, dem sie heimlich Bücher aus dem Regal stibitzte. Später machte sie ihren Master in Vergleichender Literaturwissenschaft, absolvierte nebenbei eine pädagogische Ausbildung und fragte sich, was sie einmal werden sollte: Literaturprofessorin? Oder doch lieber Kindergruppenbetreuerin? Aber tief in ihrem Inneren wusste sie es längst … Heute hat sie eine Tochter und einen Sohn und schreibt Bücher für Kinder und Jugendliche. Viel vorgelesen wird also immer noch – nur das Bücher-Stibitzen hat sie inzwischen aufgegeben.
Ein Verlag in der Westermann Gruppe
1. Auflage 2025
© 2025 Arena Verlag GmbH
Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg
Alle Rechte vorbehalten.
Der Verlag behält sich eine Nutzung des Werkes für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
Text: Kira Gembri
Cover und Innenillustrationen: Tobias Goldschalt
Lektorat: Eva Hierteis
Umschlaggestaltung und -typografie: Johannes Wiebel
E-Book ISBN 978-3-401-81120-8
Besuche uns auf:
www.arena-verlag.de
@arena_verlag
@arena_verlag_kids
1 Ein verhängnisvoller Biss
2 Plötzlich Zofe
3 Regeln und Röcke
4 Der Schandfleck von Rustgate
5 Im Sternenzirkus
6 Grayson Gravespell
7 Gespräch im Dunkeln
8 Auf und davon
9 Ein missglückter Plan
10 Die letzte Hoffnung
11 Die Beißerbande
12 Hüterin der Chimären
13 Der Hass einer Fee
14 Am seidenen Faden
15 Zerbrochen
16 Eine unmögliche Aufgabe
17 Das Wesen erwacht
18 Camou überall
19 Riesenhunger
20 Ein schwieriger Schüler
21 Ein richtiges Ungeheuer
22 Zusammen im Käfig
23 Die letzte Chance
24 Gefesselt
25 Nächtliche Stille
26 Die hässliche Wahrheit
27 Mit letzter Kraft
28 Auf der Flucht
29 Ein neues Leben
30 Regengraue Schwingen
31 Hoch über der Stadt
32 Eine gewagte Mission
33 Ein ehrlicher Schurke
34 Winterburn House
35 Rollentausch
36 In der Schlangengrube
37 Magie auf Bestellung
38 Spione im Anflug
39 Ertappt
40 Ins Morgenlicht
Wie jeden Morgen erwachte ich mit dem Gefühl, als hätte mich ein Fuhrwerk überrollt. Stöhnend reckte ich mich auf der verbeulten Strohmatratze, dann schwang ich die Füße aus dem Bett. Auf Zehenspitzen huschte ich zum Fenster der Dachkammer und blickte hinaus.
Trotz meiner schmerzenden Glieder liebte ich die Morgendämmerung. Rustgate wirkte im ersten Sonnenlicht beinahe friedlich. Die Fabrikschlote hatten gerade erst damit begonnen, finstere Wolken auszuspucken, sodass ich den zartrosa Himmel erkennen konnte. Es roch bereits nach Qualm, aber auch ein bisschen nach Frühling.
»Vielen Dank fürs Wecken«, sagte ich zu den Tauben, die sich auf dem Fenstersims zusammendrängten.
Ist das alles?, schienen sie mich mit ihrem Gurren zu fragen, bis ich lachend ein paar Krümel verstreute. Seit ich vor drei Monaten bei den Cunninghams eingezogen war, vergaß ich niemals, etwas von meinem Abendbrot für die Tauben aufzubewahren. Zum Dank platzierten sie ein paar Kleckse auf dem Fenstersims, ehe sie sich in die Lüfte schwangen. Mit zusammengekniffenen Augen schaute ich ihnen nach und hoffte wie immer, dass sie sich von der Stadtmauer fernhalten würden. Und von den zwölf Türmen, die wie mahnende Finger in den Himmel ragten. Es konnte leicht passieren, dass ein Wächter aus purer Langeweile auf sie schoss, obwohl er eigentlich ganz andere Wesen im Blick behalten sollte! Doch die Tauben waren schlau. Sie wussten, dass sie nicht wirklich frei waren, auch wenn sie sich in diesem Moment so fühlen mochten – genau wie ich.
Als die Tauben am Horizont verschwunden waren, riss ich mich vom Anblick des Himmels los. Der Tag hatte begonnen, jetzt durfte ich keine Zeit mehr verlieren. Begleitet vom Geklapper der Fuhrwerke, schlüpfte ich in mein graues Uniformkleid und band eine frische Schürze um. Auf der Haube prangte ein Fleck, und ich versuchte hektisch, ihn wegzuwischen. Blütenweißer Stoff war nicht sonderlich praktisch, wenn man eimerweise Kohlen schleppen musste …
Aber ein fernes Dröhnen ließ mich dieses Problem schnell vergessen. Das konnte nur die Entstäubungspumpe sein. Mr Cunningham besaß mehrere Fabriken und liebte es, auch sein Wohnhaus mit Wunderwerken der Technik auszustatten. Den Entstäuber wünschte er aber insgeheim sicher zum Teufel. Niemand konnte weiterschlafen, wenn diese Höllenmaschine durch die Flure geschoben wurde! Und das bedeutete leider auch, dass niemandem meine Verspätung entgehen würde.
In fliegender Hast stopfte ich ein paar lose Haarsträhnen unter die Haube und eilte nach unten. Das Dröhnen erstarb, als ich das Erdgeschoss erreicht hatte. Dort stand Mrs Briggs, die Haushälterin, mit puterrotem Gesicht neben der Entstäubungspumpe. Sie war als einzige Dienstbotin kräftig genug, um den zentnerschweren Apparat in sämtliche Stockwerke zu hieven.
Sehr kräftig waren auch ihre Kopfnüsse. Das wusste ich aus Erfahrung.
»Schön, dass du dich endlich blicken lässt, Nelly!«, keifte Mrs Briggs, nachdem ich in sicherer Entfernung stehen geblieben war. »Sollen die Herrschaften ihren Morgen frierend beginnen, weil du nicht rechtzeitig die Kamine anzünden kannst?«
Ohne meine Antwort abzuwarten, drückte sie einen Hebel hinunter und fuchtelte mit dem aufheulenden Schlauch in meine Richtung. Es sah aus, als wollte sie mich zur Strafe einsaugen wie ein Häufchen Asche. Während sie wieder in einer Dampfwolke verschwand, machte ich schleunigst, dass ich weiterkam. Nicht nur die Kamine mussten angefeuert werden, sondern auch der gewaltige Herd in der Küche. Und dann wurde es höchste Zeit, heißes Wasser in die Zimmer der Herrschaften zu bringen, damit Mr Cunningham und seine Tochter Lavinia sich waschen konnten.
Zu spät stellte ich fest, dass ich vergessen hatte, einen Lappen mitzunehmen. Jetzt konnte ich meine Hände nicht schützen, und der Griff des schweren Eimers grub sich besonders tief in meine Haut. Aber zum Umkehren blieb keine Zeit. Mit zusammengebissenen Zähnen hastete ich hin und her und spürte gerade, wie sich die erste Blase des Tages bildete – da ertönten gellende Schreie. Vor Schreck ließ ich den Eimer fallen, und Kohlestaub wirbelte durch den Flur.
Ohne mich darum zu kümmern, rannte ich los. Das Geschrei konnte nur von Mr Cunninghams Tochter stammen, und es klang, als hätte sich ein Axtmörder in ihr Schlafzimmer verirrt! Ich riss die Tür auf und starrte zu dem prunkvollen Himmelbett, das in der Mitte des Raumes stand. Dort kauerte, noch in ihrem Nachtgewand, Miss Lavinia Cunningham.
Mein Unterkiefer klappte herunter. Normalerweise fiel es mir schwer zu glauben, dass Lavinia erst achtzehn war, also nur vier Jahre älter als ich. Auch sie hatte ohne Mutter aufwachsen müssen, aber da endeten unsere Gemeinsamkeiten bereits. Lavinia war nicht nur die Dame des Hauses, sondern obendrein wunderschön, was sie meisterhaft zu betonen verstand. Sie kleidete sich stets nach der neuesten Mode und wurde von ihrer Zofe Flora jeden Tag stundenlang zurechtgemacht. Darum hätte ich sie nun fast nicht erkannt! Vor Aufregung hatte sie knallrote Flecken im Gesicht, und ihre goldenen Haare hingen wirr um ihre Schultern. »Nimm sie weg!«, quietschte sie. »Um Himmels willen, worauf wartest du denn?«
Flora bemühte sich verzweifelt, diesem Befehl Folge zu leisten. Sie war wie eine blasse Kopie von Lavinia: ebenfalls zierlich, blond und blauäugig, und nun wirkte sie auch genauso aufgelöst. »Ich versuche es ja, Miss«, keuchte sie, während sie mit ausgestreckten Armen durchs Zimmer sprang.
Zu meiner Verblüffung entpuppten sich die beiden Eindringlinge als ausgesprochen winzig und … axtlos. Sie hatten rundliche graue Körper, spitze Schnauzen und Flügel. Wie eine Mischung aus Ratten und Tauben flatterten sie um den Kronleuchter.
»Chimären in meinem Zimmer, ich fasse es nicht!« Angewidert zog Lavinia sich die Bettdecke bis ans Kinn. »Man muss doch Ausschau halten, ehe man ein Fenster öffnet, du törichtes Ding!«
»Ich bin untröstlich, Miss. Aber die beiden kamen wie aus dem …« Floras Beteuerungen endeten in einem Schrei. Wimmernd sank sie auf den Fußboden und hielt sich den Zeigefinger. »Eine hat mich gebissen! Oh, wie das brennt!«
Hilfe suchend wandte Lavinia den Blick zur Tür. »Du da!«, fauchte sie mich an. »Steh nicht so nutzlos herum! Wenn diese Viecher nicht sofort verschwinden, könnt Flora und du beide eure Sachen packen!«
Als die Zofe in Tränen ausbrach, überlegte ich nicht länger. Ich riss mir die Schürze herunter, stürmte ins Zimmer und sprang auf die gepolsterte Bank, die am Fußende des Bettes stand. Von dort aus fing ich die Chimären mit meiner Schürze wie mit einem Schmetterlingsnetz. Ich zog sie zu mir herunter und wickelte sie in den weißen Stoff – allerdings nicht schnell genug. Eine der beiden hatte mich noch mit ihren winzigen Zähnchen am Handgelenk erwischt. Ein kurzer Schmerz fuhr mir bis zum Ellenbogen, dann hatte ich die zwei unter Kontrolle. Sie zappelten zwar und stießen ärgerliche Pfiffe aus, konnten sich aber nicht befreien.
Lavinia brauchte einen Moment, um sich von ihrer Verblüffung zu erholen. »Schön, also … hinaus mit ihnen!«, rief sie hinter der Bettdecke hervor. »Flora, du schließt das Fenster!«
Immer noch stöhnend, quälte sich die Zofe vom Boden hoch. Kaum hatte ich meine Schürze samt Inhalt nach draußen geworfen, knallte sie das Fenster zu. Durch die Scheibe beobachteten wir, wie die Chimären sich freistrampelten und im goldenen Morgenlicht davonflogen.
»Na bitte. Warum nicht gleich so?« Lavinias Stimme ließ Flora und mich herumfahren. Plötzlich saß die Dame des Hauses kerzengerade im Bett und glättete mit zierlichen Bewegungen ihre Haare. »Unglaublich, was für einen Tumult ihr veranstaltet habt. Wie zwei aufgescheuchte Hühner! Du, Mädchen«, sie deutete auf mich, »wirst jetzt einen Lappen holen, um die Bank zu reinigen. Und, Flora, du bringst mir eine Tasse Tee für meine Nerven, ehe du mir beim Ankleiden hilfst. Gleich nach dem Frühstück muss ich dem Stadtrat schreiben, dass diese Biester überhandnehmen. Es werden von Jahr zu Jahr mehr, das können wir nicht dulden. Der Ruf von Rustgate darf keinesfalls noch schlechter werden!«
»Jawohl, Miss.« Flora knickste und drängte mich aus dem Zimmer.
»Tut es sehr weh?«, fragte ich leise, nachdem sie die Tür geschlossen hatte. Ihr Zeigefinger war bereits angeschwollen und leuchtete dunkelrot.
Flora verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Vergiss nicht, was man dir aufgetragen hat«, erwiderte sie kühl. Dann marschierte sie den Flur hinunter, und ich begriff, dass wir nicht mehr über diesen Zwischenfall sprechen würden. Chimären im Schlafzimmer waren noch viel schlimmer als Kakerlaken in der Vorratskammer. Kein Wunder, dass Flora ihren Fehler totschweigen wollte! Auch ich ging zurück an die Arbeit, als wäre nichts geschehen. Am Handgelenk spürte ich nur ein leichtes Pochen, das schnell wieder verschwand. Alles fühlte sich genauso an wie sonst – auch die Kopfnuss von Mrs Briggs, als sie mich ohne Schürze erwischte.
Wie hätte ich ahnen können, dass sich mein Leben schon bald für immer verändern würde?
Kurz vor der Teestunde polierte ich zusammen mit dem Butler das Silberbesteck. Diese Arbeit mochte ich ganz gern, immerhin konnte man dabei sitzen. Allerdings durfte ich mir unter Mr Ingrams strengem Blick keinen Fehler erlauben. Gerade hatte er angefangen, mich mal wieder zu kritisieren, als ihn ein schrilles Geräusch unterbrach. Mit einem Ruck wandte er sich zur Klingeltafel über dem Dienstbotentisch. Dort hingen mehrere nummerierte Glocken, verbunden mit Seilzügen, die aus den Zimmern der oberen Stockwerke herabführten.
»Der Ruf kommt aus Miss Cunninghams Boudoir«, meldete Mr Ingram. »Wo steckt denn Flora? Oder Mrs Briggs?« Hektisch schaute er sich um, dann riss er mir einen Silberlöffel aus der Hand. »Worauf wartest du noch? Hinauf mit dir!«
»Ich soll Flora vertreten, Sir?«
»Du kommst einer Zofe jedenfalls näher als ich«, meinte er, und beim Anblick seines grauen Backenbarts musste ich ihm recht geben. Trotzdem war meine Kehle wie zugeschnürt, als ich kurz darauf vor Lavinias Boudoir stand. Es befand sich direkt neben ihrem Schlafzimmer: ein kleiner, gemütlich eingerichteter Raum, den Lavinia zum Lesen, Briefeschreiben und Entspannen nutzte.
Zaghaft streckte ich den Kopf hinein und wisperte: »Sie haben gerufen, Miss?«
Lavinia saß auf einem cremefarbenen Sofa mit geschwungener Lehne. Sie trug ein zartblaues Nachmittagskleid, und ihre Locken waren perfekt geformt. Man hätte meinen können, sie gehörte zur Einrichtung – wie eine edle Porzellanpuppe. Nur ihre gereizte Miene störte das Bild. »Dich habe ich ganz gewiss nicht gerufen«, entgegnete sie. »Flora soll endlich meinen Brief an den Stadtrat abholen!«
»Ich fürchte, sie kann nicht, Miss. Wahrscheinlich ist sie von dem Biss heute Morgen krank geworden …«
»Du meine Güte«, stöhnte Lavinia. »Und deshalb will sie den ganzen Tag nicht arbeiten? Wegen so einer kleinen Unpässlichkeit? Du siehst jedenfalls völlig gesund aus!«
»Das bin ich auch. Vermutlich hat die Chimäre meine Haut nur mit den Zähnen geritzt, ohne ihr Gift abzusondern.« Ich schielte auf mein Handgelenk, doch die kleine Wunde war kaum noch zu erkennen. »Bei so etwas hatte ich bisher immer Glück«, plapperte ich nervös weiter. »Ich meine, wenn ich geflügelte Chimären fortscheuchen musste. Oder diese anderen, die aussehen wie schuppige Katzen …«
Lavinia verzog das Gesicht, und ich biss mir auf die Unterlippe. Natürlich wollte sie nichts darüber hören, wie oft ich schon mit magischem Ungeziefer zu tun gehabt hatte. »Weißt du, wie man Post verschickt?«, fragte sie und hielt mir eine versiegelte Papierrolle entgegen.
»Ich … denke schon. Mrs Briggs hat es mir einmal gezeigt.«
»Dann erledige das rasch und berichte mir danach, ob alles funktioniert hat! Oder soll meine Beschwerde erst um Mitternacht beim Stadtrat eintrudeln?«
Also nahm ich ihr die Rolle aus der Hand, machte einen Knicks und eilte ins Untergeschoss. Obwohl der Postraum direkt neben dem Kohlenkeller lag, war ich erst dreimal zum Putzen dort gewesen. Ehrfürchtig näherte ich mich dem glänzenden Apparat, der an einer der Wände angebracht war. Mrs Briggs hatte mir erklärt, dass ein unterirdisches Röhrensystem alle wichtigen Gebäude der Stadt miteinander verband. Auf diese Weise konnte man Briefe in metallenen Kapseln zu Häusern schicken, die meilenweit entfernt waren. Offenbar herrschte in den Rohren ein starker Sog, aber so ganz hatte ich das nicht verstanden. Ich wusste nur eins: Die Postkapseln sausten mit atemberaubender Geschwindigkeit an ihr Ziel. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn so eine Kapsel sich unterwegs öffnete oder im Rohr stecken blieb! Unwillkürlich klemmte ich die Zungenspitze zwischen die Zähne, während ich mich an jeden von Mrs Briggs’ Handgriffen zu erinnern versuchte. Als die Kapsel schließlich mit einem Zischen verschwand, seufzte ich vor Erleichterung.
Auf dem Rückweg zu Lavinia huschte ein Lächeln über mein Gesicht. Bestimmt würde sie mit mir zufrieden sein … Doch meine gute Laune verflog, als ich vor der Tür des Boudoirs mit Mrs Briggs zusammentraf. Sie trug ein Tablett, auf dem ein Päckchen lag, und hatte gerade angeklopft.
»Was suchst du denn hier?«, zischelte sie.
Bevor ich antworten konnte, schallte Lavinias »Herein« durch die Tür. Etwas unschlüssig folgte ich Mrs Briggs, die augenblicklich mit einer wortreichen Entschuldigung begann: »Miss, es tut mir schrecklich leid, dass die Dienerschaft Ihnen heute so viel Geduld abverlangt. Eben war der Doktor bei Ihrer Zofe und meinte, sie müsse noch tagelang das Bett hüten. Ihr verhexter Arm glüht wie eine Laterne …«
»Genug von diesen unappetitlichen Geschichten!«, unterbrach Lavinia sie scharf.
»Sehr wohl, Miss. Außerdem wurde dieses Päckchen für Sie abgegeben. Es stammt von dem jungen Mr Everett Winterburn.« Mrs Briggs sprach den Namen sehr langsam und deutlich aus. Sie schien zu hoffen, dass der Klang Lavinia aufheitern würde, doch diese wedelte nur achtlos mit der Hand.
»Legen Sie es zu den anderen«, sagte sie, und ich sah erst jetzt, dass sich auf ihrer Kommode bereits mehrere Pakete stapelten. Dann drehte sie den Kopf, und ihr Blick bohrte sich regelrecht in mich hinein.
Schlagartig fühlte ich mich ins Waisenhaus zurückversetzt, wo wir manchmal auf genau dieselbe Art von kinderlosen Damen begutachtet worden waren. Bei solchen Gelegenheiten hatte ich stets gelächelt und versucht, so liebenswert auszusehen wie möglich. Trotzdem war die Wahl immer auf die süßen, blond gelockten Mädchen gefallen, die an gemalte Engel erinnerten. Ich selbst war nicht weich oder zierlich, sondern drahtig, und meine kastanienbraunen Haare widersetzten sich jedem Kamm. Je älter ich wurde, desto geringer wurden meine Chancen … bis sich das Blatt eines Tages wendete.
Manche Damen kamen nicht, um sich niedliche Töchter auszusuchen, sondern kräftige Dienstmädchen. »Du«, hatte Mrs Briggs energisch gesagt, die im Auftrag von Mr Cunningham bei uns erschienen war, »du siehst aus, als könntest du ordentlich anpacken.« Das war meine Fahrkarte in ein neues Leben gewesen – auch wenn dieses Leben nur wenig mit meinen früheren Träumen zu tun hatte.
In fast demselben Tonfall sagte Lavinia nun über meinen Kopf hinweg: »Die hier, als Ersatz für Flora heute Abend. Was denken Sie?«
»Die kleine Nelly, Miss?«, antwortete Mrs Briggs erstaunt. »Ich weiß nicht recht. Bitte bedenken Sie, dass sie beinahe frisch aus dem Waisenhaus kommt.« Nun schauten sie mich beide an, als wäre ich ein Insekt unter dem Vergrößerungsglas.
»Tja, ihre Hände haben eindeutig noch nie Rosenwasser gesehen.«
»Und diese Haare, Miss …«
»Wie ein Reisigbesen, ich weiß. Aber sie ist besser als nichts!«
»Äh, ja. Das finde ich auch«, stammelte ich, weil ich das Gefühl hatte, endlich etwas sagen zu müssen.
»Zumindest hat sie sich heute Morgen recht geschickt angestellt. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als es zu versuchen.« Lavinia erhob sich mit einer fließenden Bewegung vom Sofa, trat auf mich zu und verkündete: »Du wirst später mit mir und einer guten Freundin zu einer Veranstaltung fahren, um mich an Floras Stelle zu bedienen!«
Ungläubig riss ich die Augen auf. »Aber … sollte das nicht lieber Mrs Briggs übernehmen?«
»Damit alle Welt denkt, ich hätte noch eine Gouvernante?« Lavinia warf den Kopf in den Nacken. »Ausgeschlossen! Meine Zofe sollte höchstens so alt sein wie ich und einigermaßen lieblich aussehen.«
Mrs Briggs lachte gekünstelt. »Nellys Lieblichkeit muss wohl erst freigelegt werden«, meinte sie, »doch ich denke, bis zum Abend werde ich eine Verbesserung erzielen können. Im Übrigen werden sich die Menschen dort hoffentlich auf etwas anderes konzentrieren.«
»Wohin gehen wir denn?«, fragte ich und verletzte damit eine der wichtigsten Anstandsregeln: Sprich nur, wenn du dazu aufgefordert wirst. Seltsamerweise kassierte ich keinen Tadel. Im Gegenteil: Noch nie hatte ich Lavinia Cunningham so lächeln gesehen wie jetzt.
»In den Sternenzirkus, kleine Nelly«, sagte sie, und ihre Worte jagten ein Kribbeln von meinem Nacken bis in meine Kniekehlen.
Mrs Briggs nahm mich in die Mangel wie einen alten Putzlappen, den sie in ein Ballkleid verwandeln wollte. Zuerst wurde ich von Kopf bis Fuß mit kaltem Wasser und Essig abgeschrubbt. Ich hatte mich für ausreichend sauber gehalten, doch Mrs Briggs schien zu hoffen, dass sich unter meiner Haut eine weiße, seidenweiche Schicht verbarg, die sie mit großem Kraftaufwand freilegen könnte. Der einzige Erfolg war, dass ich mich anschließend fühlte – und vermutlich auch so aussah – wie ein gekochter Hummer.
Zur Krönung bestand die Haushälterin darauf, meine wunden Hände mit Zitronen abzureiben. »Eine Zumutung«, grummelte sie vor sich hin, als würden meine Schwielen sie persönlich beleidigen. »Absolut unsäglich!«
Anschließend steckte sie mich in ein altes Korsett von Lavinia, das sie erbarmungslos fest zuschnürte. In meinem eigenen Korsett konnte ich mich ohne Probleme bücken und unsägliche Arbeiten mit meinen Händen verrichten, doch nun bekam ich kaum noch Luft. Dazu gesellten sich ein dunkelgrünes Kleid und mehrere Unterröcke, die mir alle ein gutes Stück zu lang waren. Aber zum Kürzen blieb keine Zeit. Ich würde aufpassen müssen, dass ich nicht stolperte … und gleichzeitig durfte ich mir keine Regung in Lavinias Gesicht entgehen lassen.
»Eine Zofe erkennt die Bedürfnisse ihrer Herrin, noch ehe diese sie selbst bemerkt«, erklärte Mrs Briggs, während sie mich mit einer Bürste bearbeitete. Ich biss die Zähne zusammen und hoffte, dass sie mir nur die Haare abreißen würde, nicht auch gleich meinen Kopf. »Spanne Miss Cunninghams Schirm auf, bevor der erste Tropfen sie benetzt. Reiche ihr ein Taschentuch oder ihren Fächer, ohne dass sie danach fragen muss. Du bist dafür verantwortlich, ihre Frisur und Kleidung in makellosem Zustand zu halten. Und natürlich …«, Mrs Briggs senkte die Stimme, »… erfordert ein besonderer Ort wie der Sternenzirkus besondere Aufmerksamkeit.«
»Wegen des Sägemehls und der lauten Musik, Ma’am?«, erkundigte ich mich vorsichtig. Ich wusste über den Sternenzirkus nur das, was die anderen Dienstboten munkelten. Außerdem hatte ich hin und wieder grellbunte Plakate entdeckt, wenn ich mit den anderen Waisenmädchen spazieren gegangen war. Doch leider hatten uns die Aufseherinnen jedes Mal weitergescheucht, ehe ich Einzelheiten erkennen konnte.
»Unter anderem«, sagte Mrs Briggs gedehnt. »Aber denk auch an Miss Cunninghams seelische Unversehrtheit! Sobald sie errötet oder erbleicht, musst du ihr augenblicklich anbieten, sie hinauszubegleiten. Im Zirkus werden Dinge gezeigt, die eine junge Dame zutiefst erschüttern könnten: halsbrecherische Kunststücke, wilde exotische Tiere … und angeblich sogar Chimären.«
Ich runzelte die Stirn. »Meinen Sie solche wie die, von denen Flora gebissen wurde?«
»Wenn es nur das wäre!« Energisch begann Mrs Briggs, meine Haare zu einem perfekten Dutt hochzustecken, der vermutlich nicht lange halten würde. »Nein, Nelly, auch größere. Menschenartige. Der Sternenzirkus rühmt sich damit, der einzige Ort auf der Welt zu sein, an dem man echte Magier und Feenwesen bestaunen kann!«
Eine Haarnadel bohrte sich in meine Kopfhaut, aber ich spürte es kaum. Verwirrt dachte ich über Mrs Briggs’ Worte nach. Menschenartige Chimären waren in Rustgate längst nicht so außergewöhnlich wie exotische Tiere. Tatsächlich wünschten sich die meisten Leute, dass es viel weniger von ihnen gäbe! Wenn die Köchin mich zum Einkaufen mitnahm, wechselte sie immer die Straßenseite, sobald wir einer verdächtigen Person begegneten: zum Beispiel jemandem, der trotz schlechten Wetters eine Sonnenbrille trug, oder einer zierlichen Gestalt mit einem auffallend weiten Cape. Magieraugen und Feenflügel schienen etwas Unanständiges zu sein, das man verstecken musste. Warum gingen die Menschen dann freiwillig an einen Ort, wo Chimären in eine hell erleuchtete Manege traten?
Gerne hätte ich bei Mrs Briggs nachgehakt, doch ihre zusammengepressten Lippen hielten mich davon ab. Nach kurzem Überlegen konnte ich mir meine Frage auch selbst beantworten: Chimären waren spannend, weil sie nicht in unseren Alltag passten. Auch Hyänen und Paviane wollte niemand beim Einkaufen treffen. Aber jeder würde fasziniert dabei zusehen, wenn sie durch einen brennenden Reifen sprangen.
»Weiß der Himmel, was eine junge Dame überhaupt im Zirkus verloren hat«, brummelte die Haushälterin vor sich hin. »Wäre ihre Mutter noch am Leben, würde sie so etwas bestimmt nicht erlauben! Doch Mr Cunningham ist ja viel zu beschäftigt, um …« Mrs Briggs stockte und schaute dann so strafend auf mich herunter, als hätte ich beinahe unseren Herrn kritisiert. »So, du bist fertig«, sagte sie streng. »Besser wird es nicht. Behalte um Gottes willen die Handschuhe an, wenn du niemanden zu Tode erschrecken möchtest!«
Nur wenige Minuten später klingelte es am Haupteingang. Wir hasteten los und kamen gerade rechtzeitig zur Tür, als sie von Mr Ingram geöffnet wurde. Draußen stand eine elegant gekleidete Dame in Lavinias Alter. Nur ihre demütige Haltung verriet, dass auch sie eine Zofe war. »Miss Davenport wartet in der Droschke auf Miss Cunningham«, meldete sie mit einem Knicks. »Sie bat mich auszurichten, dass bereits eine gewisse Eile …«
»Wie bitte?!«
Erschrocken blickte die Zofe an uns vorbei zu Lavinia, die wutschnaubend die Treppe herunterkam. Ihr cremefarbenes Kleid hatte einen so ausladenden Rock, dass ich bei seinem Anblick an einen riesigen Lampenschirm denken musste.
Trotzdem schaffte es Lavinia, sich an uns vorbei durch die Tür zu drängen. »Hortensia!«, rief sie in Richtung der Droschke. »Was soll denn dieses altertümliche Gefährt?«
Der Wagenschlag wurde geöffnet, und Hortensia Davenport lehnte sich heraus. Im Licht der Gaslaternen wirkten ihre Wangen ebenso rosa wie ihr Kleid, das unter dem hellblauen Umhang hervorblitzte. »Ich habe es versucht«, erklärte sie verlegen, »aber mein Vater meinte, eine Droschke wäre immer noch das geschmackvollste aller Transportmittel.«
»Unsinn! Auf keinen Fall werde ich mich von zwei Gäulen an den schillerndsten Ort von Rustgate bringen lassen«, verkündete Lavinia und gab dem Butler einen Wink. »Rasch, besorgen Sie uns eine Kesselkutsche!«
»A-aber Miss«, stotterte Mr Ingram, »ich weiß nicht, ob das möglich sein wird. Kesselkutschen sind meistens schon am Vorabend ausgebucht …«
»Wenn das so ist, sollten Sie nicht noch mehr Zeit verlieren!« Mit hocherhobenem Kopf wandte Lavinia sich um und marschierte in den Salon.
Zum Glück half Mrs Briggs mir dabei, Hortensia Davenport und deren Zofe hereinzubitten, ihnen die Umhänge abzunehmen und Erfrischungen zu servieren. Währenddessen jagte Mr Ingram einen jungen Lakaien in die Dunkelheit hinaus. Der arme Kerl sollte nach einer verfügbaren Kesselkutsche suchen, und ihm zuliebe hoffte ich, dass er Erfolg haben würde. Doch als nach einer Weile tatsächlich ein mechanisches Zischen und Fauchen durch die offenen Fenster hereinschallte, zog sich mein Magen ein bisschen zusammen. Noch nie war ich mit solch einem Automaten gefahren, und das vertraute Geklapper von Pferdehufen wäre mir lieber gewesen.
»Na endlich«, jammerte Hortensia, während wir nach draußen eilten. »Nun verpassen wir bestimmt den Anfang der Vorstellung!«
»Das ist nicht gesagt. Jedenfalls nicht, wenn meine Zofe mir ein wenig behilflich ist!« Lavinia funkelte mich an, und ich gab mein Bestes, ihre Röcke in den Wagen zu schieben. Die Kesselkutsche erinnerte in ihrer Form an eine Dampflokomotive, und wir mussten uns alle im Führerhaus zusammendrängen.
Stirnrunzelnd beobachtete uns der Chauffeur über die Schulter hinweg, bis auch Hortensias Zofe und ich auf den ledernen Sitzbänken Platz genommen hatten. »Wo soll’s hingehen?«, fragte er dann ohne jede Förmlichkeit.
»Zum Sternenzirkus.« Lavinia blickte auf eine Uhr, die zwischen den Messingrohren im Dach der Kutsche angebracht war. »Und dafür bleiben uns weniger als zwanzig Minuten!«
»Unmöglich«, erwiderte der Chauffeur sofort. »Es sei denn, wir nehmen eine Abkürzung über den Riss.«
Mehrere Sekunden lang blieb es totenstill. Hortensias Wangen verloren ihre Farbe, und Mrs Briggs, die noch vor der offenen Tür der Kutsche stand, schüttelte entsetzt den Kopf. »Miss Cunningham, das können Sie nicht machen. Ihr Vater würde das auf keinen Fall gutheißen, das wissen Sie genau!«
»Ich weiß, dass ich kein kleines Mädchen mehr bin«, entgegnete Lavinia, »und Sie sind nicht meine Aufpasserin.« Lautstark schloss sie die Kutschentür, dann schaute sie den Chauffeur herausfordernd an. »Fahren Sie, na los!«
»Wie die junge Dame befielt«, sagte er, und ich bildete mir ein, leichten Spott in seiner Stimme zu hören. Zischend stieg eine Dampfwolke empor, als er einen Hebel betätigte. Die Kutsche erwachte zum Leben, und unter Mrs Briggs’ fassungslosem Starren rollten wir in die Nacht hinaus.
Den Riss gab es schon seit fünfzehn Jahren. Fast alles, was ich darüber wusste, hatte ich von Miss Morton gelernt – einer ehemaligen Gouvernante, die im Waisenhaus als Lehrerin angestellt war. Finanziert wurde sie, wie so vieles im Heim, von reichen Wohltäterinnen. Diese Damen kamen alle paar Wochen zu Besuch, marschierten in ihren schicken Mänteln durch sämtliche Räume und sprachen lautstark darüber, dass sie das Leben der »bemitleidenswerten kleinen Geschöpfe« unbedingt verbessern müssten. Manchmal hatte ich dann die anderen Mädchen flüstern gehört, dass sie lieber besseres Essen oder wärmere Kleidung wollten, anstatt stundenlang in einem unbeheizten Klassenzimmer zu sitzen. Auch ich hatte die endlosen Übungen im Schönschreiben innerlich verflucht. Wer würde sich später schon dafür interessieren, ob meine Buchstaben hübsch aussahen? Doch als Miss Morton eines Tages mit dem Geschichtsunterricht begonnen hatte, war die ganze Klasse wie gebannt gewesen. Zum ersten Mal sollten wir etwas über die Zeit vor unserer Geburt erfahren. Eine Zeit, in der Rustgate angeblich zu den schönsten und wohlhabendsten Städten Großbritanniens gehört hatte – wenn nicht sogar der ganzen Welt.
»Glaubt mir«, hatte Miss Morton mit belegter Stimme gesagt, »damals erfüllte es mich mit Stolz, hier zu leben. Einflussreiche Unternehmer hatten den technischen Fortschritt in unserer Heimat erstaunlich schnell vorangetrieben. Schon bald nannte man Rustgate halb im Scherz, halb bewundernd die strebsame Schwester Londons. Mitglieder des Königshauses kamen regelmäßig hierher, um unsere Errungenschaften zu bestaunen. Auch Ihre Majestät, Queen Victoria, erwies uns häufig die Ehre und sorgte dafür, dass es uns an nichts fehlte. Bis sich das vor fünfzehn Jahren änderte …«
Schlagartig hatte sich das hagere Gesicht der Lehrerin verdüstert, und im Klassenzimmer war es mucksmäuschenstill geworden. Entsetzt, aber auch fasziniert hatten wir alle der Geschichte von dem schrecklichen Beben gelauscht, das Rustgate erschüttert hatte. Unzählige Häuser waren dabei eingestürzt und hatten ihre Bewohner unter sich begraben. Dann, am Höhepunkt der Katastrophe, war sogar der Erdboden aufgebrochen. Seitdem zog sich ein Riss quer durch mehrere Stadtviertel. Er war so breit wie fünf Droschken nebeneinander, und ein Fußmarsch von einem Ende zum anderen dauerte fast drei Stunden.
»Niemand hätte sich das Tor zur Hölle so vorgestellt«, hatte Miss Morton mit Grabesstimme geraunt, »aber genau das war es. Denn aus diesem gewaltigen Riss strömten die Chimären. Man hat sie nach einem Mischwesen aus der griechischen Mythologie benannt: ein Ungeheuer, das vorne an einen Löwen, in der Mitte an eine Ziege und hinten an eine Schlange erinnert. Auch die Eindringlinge aus dem Riss besitzen Merkmale verschiedener Tiere. Nichts an ihnen passt zusammen, und sie selbst passen denkbar schlecht in unsere Welt! Also hat man sie vernichtet.« An dieser Stelle war ein Ausdruck grimmiger Genugtuung über das Gesicht der Lehrerin geflackert. »Die größten und gefährlichsten wurden zuerst erledigt. Dann wollte man sich den kleineren widmen, doch die waren längst im Gewirr der Straßen untergetaucht und vermehrten sich dort wie Tauben oder Ratten. Alle Bewohner von Rustgate wurden aufgefordert, sich an der Bekämpfung dieser Schädlinge zu beteiligen. Es gibt sogar Preise für die erfolgreichsten Chimärenjäger. Trotzdem wagen sich nur wenige an sie heran. Mit ihren Bissen oder Kratzern lösen sie heftige Beschwerden aus, gegen die noch kein Heilmittel gefunden wurde. Sie sind nämlich nicht bloß giftig, sondern magisch! Aber das ist noch nicht einmal das Schlimmste.«
Miss Morton hatte eine dramatische Pause eingelegt, doch mir war klar gewesen, worauf sie hinauswollte. Während unserer kurzen Spaziergänge – in perfekten Zweierreihen und streng bewacht von den Aufseherinnen – hatte ich bereits geheimnisvollere Wesen zu Gesicht bekommen als solche kleinen Schädlinge: Männer und Frauen mit Flügeln oder derart hell leuchtenden Augen, dass man sie sogar hinter getönten Brillengläsern erkennen konnte …
Und da war Miss Morton endlich zum Kern ihrer Erzählung gelangt. »Wie sich herausstellte, hatte man einige große Chimären übersehen: Menschenartige, die sich auf den ersten Blick kaum von anständigen Bürgern unterscheiden lassen. Doch sie sind ebenso bedrohlich und störend wie alle anderen magischen Kreaturen – und auch sie haben dazu beigetragen, dass Rustgate mittlerweile zum Schandfleck Englands verkommen ist!«
»Warum schickt man sie denn nicht zurück?«, hatte ein Mädchen gedankenverloren gefragt. »Ich meine, in das Land hinter dem Riss …«
Ein scharfes Klatschen hatte sie unterbrochen. Miss Morton hatte mit dem Rohrstock auf ihr Pult geschlagen und gekeift: »Benutze deinen Kopf, Elizabeth! Als man die Menschenartigen entdeckte, war der Riss bereits verschlossen, und es wäre viel zu gefährlich gewesen, ihn wieder zu öffnen. Gleich nach dem Beben hatte man alles dafür getan, um ihn lückenlos zuzuschütten. Außerdem wurden entlang der Bruchlinie die zwölf Türme errichtet, die Tag und Nacht von bewaffneten Männern besetzt sind. So können sich keine Chimären heimlich am Riss zu schaffen machen. Und mit unserer bewachten Stadtmauer stellen wir sicher, dass sich die Plage nicht weiter ausbreitet. In den benachbarten Städten und Dörfern möchte man dieses Problem natürlich nicht mit uns teilen!«
Die letzten Worte hatten äußerst verbittert geklungen. Miss Morton hielt es eindeutig für eine Zumutung, in Rustgate leben zu müssen. Eine Sache hatte sie uns allerdings verschwiegen, und ich erfuhr erst viel später aus den Gesprächen der anderen Dienstboten davon: Der Riss war auch nach fünfzehn Jahren noch nicht unter Kontrolle. Vermutlich war das der wahre Grund für den Bau der Wachtürme. Fast täglich gab es Berichte über Erdrutsche und leichte Beben, und die notdürftigen Holzbrücken in den ärmeren Stadtvierteln brachen immer wieder ein. Kein Wunder, dass die meisten Menschen sich vom Riss so gut wie möglich fernhielten. Sie nahmen lieber große Umwege in Kauf, als ihn zu überqueren … Doch wir fuhren nun geradewegs darauf zu. Hätte Miss Morton das gewusst, wäre ihr vor Schreck bestimmt der Rohrstock aus der Hand gefallen!
Reglos saß ich in der Kesselkutsche und starrte auf die Metallbrücke direkt vor uns. Sie schimmerte in dem breiten Lichtstreifen, der vom nächsten Wachturm herabfiel. Die Quelle dieses gleißenden Lichts befand sich hoch oben im Turm, knapp unter einer riesigen Vier aus Messing. Wahrscheinlich wurde sie von mehreren Glaslinsen verstärkt, so wie ein Sonnenstrahl von einer Lupe. Der Zweck der Turmlampe war eindeutig: Jede Bewegung am Riss musste von den Wächtern gesehen werden. Dabei half ihnen nicht nur das Licht, sondern auch die mechanische Aussichtsplattform, mit der sie am Turm auf- und abwärtsfahren konnten. Im Moment stand die Plattform zwar still, doch ich zweifelte nicht daran, dass die bewaffneten Männer uns längst im Visier hatten. Kein Fuhrwerk konnte den Riss überqueren, ohne dass sie es merkten.
Unwillkürlich hielt ich den Atem an, als die Kesselkutsche auf die Brücke rollte. »Das hier ist ein ganz raffiniertes Ding«, behauptete der Chauffeur, während Hortensia immer bleicher wurde. »Gefertigt aus beweglichen Metallschienen. Wenn der Riss sich ausdehnt oder zusammenzieht, passt sie sich automatisch an. Es besteht also keine Gefahr, sich den Hals zu brechen wie die armen Teufel auf den Holzbrücken!«
»Sind Sie da ganz sicher?«, fragte Lavinia mit etwas höherer Stimme als sonst.
Der Chauffeur wandte sich halb zu uns um. »Ich würde wohl kaum mein Leben riskieren, nur damit vier junge Damen rechtzeitig in den Zirkus kommen«, sagte er trocken. Normalerweise hätte ihm diese Frechheit einen scharfen Tadel eingebracht, doch Lavinia presste nur die Lippen zusammen. Sie sah aus, als kämpfte sie gegen Übelkeit. Bestimmt hätte Mrs Briggs mir in diesem Moment irgendeine Anweisung gegeben, aber welche? Lavinia ein parfümiertes Taschentuch zu reichen? Oder ein Pfefferminzbonbon? Ich entschied, dass frische Luft nicht verkehrt sein konnte, und öffnete das Fenster über meinem Sitzplatz. Der Gestank nach Maschinenöl und verbrennenden Kohlen flutete herein, aber die abendliche Kühle würde Lavinia hoffentlich guttun. Gerade wollte ich mich wieder zurücklehnen – da hörten wir es.
Ein leises Ächzen, gefolgt von einem Poltern.
Entsetzt klammerte Hortensia sich an ihre Zofe. »Bleiben Sie stehen!«, kreischte sie. »Der Riss bewegt sich!«
»Natürlich, Miss. Das hatte ich Ihnen doch gesagt«, erwiderte der Chauffeur, stoppte aber die Kutsche. Jetzt vernahmen wir es ganz deutlich: Kaum eine Wagenlänge von uns entfernt rutschte Geröll in die Tiefe. Ohne zu überlegen, kniete ich mich auf meinen Sitz und schob den Kopf aus dem Fenster. Die Brücke war so schmal, dass ich mühelos über das Geländer hinweg in den Abgrund blicken konnte. Ich bildete mir ein, zerbrochene Balken und Felsbrocken zu erkennen, und dazwischen … vielleicht … ein sanftes Glitzern. Bestimmt war es nur Regenwasser, das sich im Riss gesammelt hatte, aber ich konnte meine Augen nicht davon abwenden.
»Wie seltsam«, flüsterte ich, während mir modrige Luft entgegenwehte. »Es ist fast, als würde er atmen …«
Ein greller Schmerz durchfuhr meine Kopfhaut. Lavinia hatte meinen Dutt gepackt und riss mich nach hinten. »Wirst du wohl sitzen bleiben! Was sollen denn die Wächter über dein törichtes Benehmen denken?«
»Die fragen sich eher, warum wir hier eine Pause einlegen«, murmelte der Chauffeur. Er öffnete ebenfalls ein Fenster und hob beruhigend die Hand in Richtung des Turms. Ob die Wächter zurückwinkten, konnte ich nicht erkennen. Ich hatte noch Tränen in den Augen von dem Schmerz an meinen Haarwurzeln. Beschämt richtete ich den Blick auf meinen Schoß, während sich die Kesselkutsche schnaufend wieder in Bewegung setzte. Dies war meine erste Bewährungsprobe als Zofe gewesen, und ich hatte sie verpatzt. Wahrscheinlich konnte ich froh sein, dass Lavinia mich nicht gleich wieder nach Hause schickte!
Zur Sicherheit hielt ich den Kopf während der restlichen Fahrt gesenkt. Ich löste mich erst aus meiner Starre, als der Chauffeur verkündete: »Na bitte, gleich haben wir’s geschafft!«
Neugierig spähte ich nach draußen, doch der Anblick war nicht gerade glamourös. Wir befanden uns in einer einsamen Gegend inmitten von Lagerhallen, die zu dieser späten Stunde finster und verlassen dalagen. Nur ein einziges Gebäude war hell erleuchtet. Als wir näher kamen, sah ich Wimpel und Girlanden an der Fassade. Ein langer roter Teppich führte zum Eingangstor, über dem in goldenen Lettern stand: Willkommen – wo die Sterne tanzen und Magie erwacht.
Vor dem Eingang reihten sich Droschken und Kesselkutschen, aus denen elegant gekleidete Gäste stiegen. Auch unser Chauffeur lenkte den Wagen direkt neben den Teppich, und wir Zofen halfen unseren Herrinnen ins Freie. Kaum hatten wir festen Boden unter den Füßen, stürmte eine Dame mit hoch aufgetürmten tomatenroten Locken auf uns zu. »Miss Cunningham!«, jubelte sie. »Miss Davenport! Wie schön, Sie heute hier zu treffen!«
Verstohlen wandte Lavinia sich an ihre Freundin. »Auch das noch«, raunte sie, »die schreckliche Betsy Butterworth. Weiß der Himmel, wie die sich einen Baron als Ehemann angeln konnte …« Sie holte tief Luft, dann verzogen sich ihre Lippen zu einem strahlenden Lächeln. »Oh, das ist vielleicht eine Überraschung!«, sagte sie laut. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie sich für den Zirkus interessieren!«
Lady Butterworth kicherte vergnügt. »Meine Liebe, ich war sogar schon mehrere Male hier und kann Ihnen alles erklären! Nur schade, dass Sie es nicht schon viel früher zu einer Vorstellung geschafft haben. Der Sternenzirkus ist leider nicht mehr das, was er einmal war.«
Lavinias Kiefer zuckte, als sie die Zähne aufeinanderbiss. Sicher wollte sie nicht zugeben, dass sie bisher zu jung für solche Vergnügungen gewesen war. Außerdem schien es sie zu ärgern, wie mütterlich Lady Butterworth mit ihr sprach. Aber die Ehefrau eines Barons stieß man wohl besser nicht vor den Kopf. Also hängten Lavinia und Hortensia sich bei der rothaarigen Dame ein und stolzierten mit ihr vorneweg durch das Tor.
Es roch wie nichts anderes auf der Welt.
Natürlich kannte ich die teuren Essenzen, mit denen sich die feinen Damen und Herren zu parfümieren pflegten, und auch der Duft von Pferden und Sägespänen war mir vertraut. Aber darüber schwebte noch eine andere, süßere Note, bei der mir das Wasser im Mund zusammenlief.
»Eine Tüte gebrannte Mandeln, bitte!«, verlangte Lady Butterworth, die sich zu einem Verkaufsstand direkt neben dem Kassenhäuschen gewandt hatte. Sehnsüchtig betrachtete ich die Bonbons und gerösteten Nüsse, die kandierten Früchte und rot-weiß geringelten Zuckerstangen. Dann folgte ich Lavinias Blick zu den Sitzbänken, die stufenförmig zu einem Halbkreis angeordnet waren. Darüber spannte sich ein gigantischer dunkelblauer Schirm. Er war mit unzähligen Laternen behängt, und nun begriff ich, woher der Zirkus seinen Namen hatte: Auf den Bänken musste man das Gefühl bekommen, als säße man unter dem Sternenhimmel.
»Sieht hübsch aus, nicht wahr?«, trällerte Lady Butterworth. »Dabei war dieses Zelt ursprünglich nur als Notlösung ge- dacht. Wir befinden uns hier in einer ehemaligen Holzlagerhalle, und als der Zirkus einzog, war das Dach voller Löcher. Aber von diesen Widrigkeiten wollte sich der Direktor nicht aufhalten lassen. Osric Obscuro ist ein beeindruckender Mann, ihr werdet schon sehen!«
