Neshka - Sarah Sander - E-Book

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Sarah Sander

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Beschreibung

Ein augenscheinlich langweiliger Verstoß gegen das Familiengesetz Zirkulums führt Bell auf die Spur einer Gruppe Schmuggler. Bei seinen Nachforschungen findet Bell zwei Leichen und den Hinweis auf eine Gefahr von außerhalb der Stadt. Eine Gefahr, die nicht existieren darf. Als nacheinander Bells einziger noch lebender Zeuge und der Neffe seines Chefs verschwinden, muss er seinen Stolz überwinden und zusammen mit einer Gruppe von Helfern die Außenwelt betreten, um die beiden Kinder zu retten.

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Ähnliche


Neshka

Zirkulum 2

 

Roman

Sarah Sander

 

Independently published

Impressum

 

Text und Verlag

 

Sarah Sander

Gräbenstraße 6

65604 Elz

[email protected]

 

Erstauflage, August 2022

Alle Rechte beim Autor

 

Copyright © 2024

by S. Sander (Autor)

 

 

© Covergestaltung 2022 Jenny Zalfen

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

 

Donnerstag, 14. Juni: Ein neuer Fall

Freitag, 15. Juni: Familie Kalinin

Samstag, 16. Juni: Erast

Sonntag, 17. Juni: Bill Hillary

Montag, 18. Juni: Verlassener Bahnhof

Dienstag, 19. Juni: Das Phantom

Mittwoch, 20. Juni: Stromausfall

Donnerstag, 21. Juni: Sonnenwende

Freitag, 22. Juni: Abschlussbericht

Donnerstag, 14. Juni: Ein neuer Fall

Nichts an die­sem Mor­gen hat­te Ed­ward Gre­go­ry Bell auf die Ka­ta­stro­phe vor­be­rei­tet, die ihn im Pau­sen­raum der Si­cher­heit er­war­te­te. Er hat­te Ja­cke und Müt­ze sei­ner Uni­form in sei­nem Bü­ro zu­rück­ge­las­sen und be­trat den Raum mit auf­ge­krem­pel­ten Är­meln. Selbst so früh am Mor­gen war es schon zu heiß, um die aus­ge­schal­te­te Kli­ma­an­la­ge zu recht­fer­ti­gen. Der Raum war warm, sti­ckig und roch nach ei­nem schlecht zu­be­rei­te­ten Früh­stück. Konn­ten sei­ne Kol­le­gen nicht zu­hau­se es­sen, wie nor­ma­le Men­schen?

Bell grüß­te knapp Alex­an­der Ro­ma­now, einen jün­ge­ren Si­cher­heits­in­spek­tor aus der Ab­tei­lung für Cy­ber­ver­bre­chen, der an ei­nem der bei­den klei­nen Ti­sche saß. Oh­ne ein Wort mit zu wech­seln, wand­te er sich der Kaf­fee­ma­schi­ne auf der An­rich­te ne­ben dem klei­nen Herd zu.

»Ich an Ih­rer Stel­le wür­de die Fin­ger von dem Ding las­sen, Agent Bell.«

»Wie­so?« Er sah sich um.

Der jun­ge Kol­le­ge am Tisch stand auf und hielt ihm ei­ne halb­vol­le Tas­se tee­ri­gen Kaf­fees ins Ge­sicht. Der sau­re Ge­ruch über­deck­te selbst den Ge­stank von an­ge­brann­tem Shrimp-Pro­tein. »Das Ding hat heu­te Mor­gen den Geist auf­ge­ge­ben.«

»Ist die Tech­nik in­for­miert?«

»Noch nicht. Ich war­te so­wie­so auf Mis­ter Reynolds, woll­te ihn dann dar­auf auf­merk­sam ma­chen.«

»Mh«, mach­te Bell. Er wand­te sich von Ro­ma­now ab. Wenn er kei­nen Kaf­fee ha­ben konn­te, muss­te er sich mit ei­nem Müs­li­rie­gel aus dem Au­to­ma­ten ne­ben der Tür be­gnü­gen. Er hat­te die Wahl zwi­schen Shrimp und Ap­fel, Shrimp und Ap­fel oder Shrimp und Ap­fel. Stell­te die Fir­ma nur ei­ne Sor­te her oder hat­te Mil­ler einen Son­der­ra­batt für die­se ei­ne Sor­te er­hal­ten? Er soll­te bes­ser ei­ne oder zwei Stun­den ab­war­ten und dann au­ßer­halb der Zen­tra­le et­was Rich­ti­ges es­sen. Wenn er oh­ne Kaf­fee und oh­ne Fall bis da­hin durch­hielt. »Wann wird Hu­go hier sein?«

»Fünf Mi­nu­ten oder so. Ähm, kann ich Sie um Rat bei et­was fra­gen, Agent Bell?«

»Si­cher.« Bell setz­te sich ne­ben Ro­ma­now an den Tisch. Der Lin­ole­um­be­zug war warm und kleb­te un­an­ge­nehm an sei­nen Un­ter­ar­men. »Worum geht es?«

»Di­rek­tor Mil­ler hat mir heu­te Mor­gen einen Fall zu­kom­men las­sen. Ei­ne Fa­mi­lie in Ring Sie­ben wird of­fen­bar von ih­rem Haus­halts­ro­bo­ter ge­fan­gen ge­hal­ten. Glau­ben Sie, dass es Nach­wir­kun­gen von der Cu­sto-Sa­che sind?«

»Ich weiß nicht ge­nug, um es aus­zu­schlie­ßen.« Bell zuck­te mit den Schul­tern. Wenn es Nach­we­hen des An­dro­iden­kom­plotts wa­ren, warum hat­te Mil­ler dann nicht ihn dar­auf an­ge­setzt? Wenn er dar­über nach­dach­te, warum hat­te Mil­ler einen In­spek­tor dar­auf an­ge­setzt und kei­nen Agen­ten? »Aber ich kann es mir nicht vor­stel­len, wenn ich ehr­lich bin. Das Sys­tem wur­de kom­plett be­rei­nigt. Mehr­mals. Wenn der Ro­bo­ter nicht ein hal­b­es Jahr vor sich hin­ge­ros­tet ist und dann wie­der ein­ge­schal­tet wur­de, soll­te er auch kei­nen Feh­ler­co­de mehr be­sit­zen. Wie kommt es, dass Sie an ei­nem Fall in Ring Sie­ben ar­bei­ten?«

»Oh, ich bin nicht völ­lig si­cher. Aber es scheint, als hät­te das Sys­tem mei­nen Sta­tus dem mei­ner Frau an­ge­gli­chen. We­ni­ger Pa­pier­kram für den Si­cher­heits­ge­ne­ral.«

Bells Au­gen­lid zuck­te. Er konn­te nicht sa­gen, was ihn an die­ser Aus­sa­ge mehr auf­reg­te: Ro­ma­now, der bei­läu­fig zu­gab fast zehn Jah­re vor dem Ablauf sei­ner Jung­ge­sel­len­zeit ge­hei­ra­tet zu ha­ben, oder Mil­ler, der nicht ein­mal mehr Ar­beits­sta­tus ver­ge­ben woll­te.

Ro­ma­now un­ter­brach sei­ne Ge­dan­ken. »Wenn ich mit dem Ro­bo­ter zu tun ha­be, wie soll ich vor­ge­hen? Sie ha­ben das schon­mal ge­macht, nicht wahr?«

»Ja. Nein. Ei­gent­lich nicht. Das war ei­ne völ­lig an­de­re Si­tua­ti­on. An­dro­iden ha­ben kei­ne Schal­ter, mit de­nen man sie aus­stel­len kann. Aber ich bin si­cher, Hu­go hat ein paar gu­te Tipps für Sie. Und ich wür­de es be­grü­ßen, wenn Sie mich auf dem Lau­fen­den hal­ten könn­ten. Nur, falls ich un­recht ha­ben soll­te.« Bell stand auf. Auf Hu­go oder einen der an­de­ren Tech­ni­ker zu war­ten, hat­te we­nig Sinn. Die Kaf­fee­ma­schi­ne wür­de nicht auf wun­der­sa­me Wei­se wie­der funk­tio­nie­ren, nur weil je­mand den Raum be­trat.

Ro­ma­now wink­te ihm hin­ter­her. »Ich wer­de an Sie den­ken. Ehren Sie Cu­sto!«

Bell stapf­te in sein neu­es Bü­ro auf dem Agen­ten­gang in der obers­ten Eta­ge zu­rück. Hat­te Ro­ma­now den Wink nicht ver­stan­den oder woll­te er nicht? Das war kein Fall für einen zu früh ver­hei­ra­te­ten Grün­schna­bel vom un­te­ren Au­ßen­dienst. Nur, weil es ein­mal mit Glück und Durch­hal­te­ver­mö­gen funk­tio­niert hat­te. Er seufz­te tief, ehe er sei­nen Ho­lo-Com­pu­ter star­te­te. Der Raum war rie­sig und für ho­lo­gra­fi­sche Dar­stel­lun­gen viel zu hell.

El­sas hy­per­sym­me­tri­sches Ge­sicht ver­blass­te selbst im schwa­chen Licht, das an den Hoch­häu­sern des Rin­ges vor­bei auf sei­nen Schreib­tisch si­cker­te. »Gu­ten Mor­gen, Agent Bell. Wie kann ich Ih­nen heu­te hel­fen?«

Bell press­te die Lip­pen zu­sam­men. »Gab es in der Nacht ir­gend­wel­che Vor­fäl­le, die mei­ne Auf­merk­sam­keit er­for­dern?«

»Ne­ga­tiv. Mir liegt kein Auf­trag für Sie vor.«

»Dan­ke, El­sa. Ist Mil­ler schon im Haus?«

El­sas oh­ne­hin schon blas­ses Ho­lo­gramm ver­schwand nun völ­lig, nur ein lei­ses Sur­ren ver­riet, dass der Com­pu­ter noch ar­bei­te­te. Es ver­gin­gen ei­ni­ge Se­kun­den, ehe sie wie­der sicht­bar wur­de. »Di­rek­tor Mil­ler ist vor ei­ner hal­b­en Stun­de an­ge­kom­men. Soll ich ihm ei­ne Nach­richt zu­kom­men las­sen?«

»Gib ihm Be­scheid, dass ich mit ihm re­den möch­te. Ich bin schon auf dem Weg.«

»Ja­wohl.«

Bell stand von sei­nem le­der­nen Dreh­stuhl auf. Er warf einen kur­z­en Blick aus dem Fens­ter auf den drit­ten Ring Zir­ku­lums. Mitt­ler­wei­le war es spät ge­nug, dass Men­schen und Ro­bo­ter hek­tisch über die Geh­we­ge wa­ber­ten. Ei­ni­ge Mo­tor­rä­der und gan­ze zwei Au­tos kro­chen durch die Stra­ßen. Die Stadt wirk­te von hier oben so all­täg­lich und fried­lich, dass Bell für einen Mo­ment am Nut­zen sei­ner ei­ge­nen Po­si­ti­on zwei­fel­te, ehe der Ge­dan­ke an Ro­ma­nows Fall zu­rück­kam. Wa­rum bei al­len Schalt­krei­sen Cu­stos aus­ge­rech­net Ro­ma­now? Er wand­te sich von der Fens­ter­front ab, zog die Uni­formja­cke an, klemm­te sich die Müt­ze un­ter den Arm und ver­ließ das Bü­ro.

Er schritt den Flur ent­lang bis zu Mil­lers Tür am hin­te­ren En­de. Sein Blick fiel auf das al­ber­ne Mes­sing­schild mit dem Na­men des Si­cher­heits­ge­ne­rals. Ir­gend­wann wür­de es sein al­ber­nes Mes­sing­schild sein, und dann wür­de er es ge­gen et­was Bes­se­res als bil­li­ges Mes­sing aus­tau­schen las­sen. Aber zu­erst be­nö­tig­te er ver­nünf­ti­ge Fäl­le, die er be­ar­bei­ten konn­te. Oder über­haupt ir­gend­wel­che. Er press­te sei­ne Hand auf den Ab­drucks­can­ner ne­ben der Tür, die kurz dar­auf auf­sprang. Er trat in den rie­si­gen Raum, wel­cher bis auf den über­großen Schreib­tisch und einen klei­nen Bü­ro-Golf­kurs am Fens­ter leer war.

Mil­ler stand ne­ben dem Schreib­tisch und re­de­te lei­se mit ei­nem blon­den Tee­na­ger, der ei­ne zu große, schwar­ze Si­cher­heits­uni­form trug. Die Tür schloss sich sur­rend hin­ter Bell und sein Chef sah auf. Ein brei­tes Lä­cheln husch­te über des­sen vier­e­cki­ges Ge­sicht. Er nick­te in Rich­tung des Jun­gen. »Ah, Sie sind schon da, Bell. Das trifft sich gut. Ich woll­te Ih­nen je­man­den vor­stel­len. Und ich ha­be ei­ne Auf­ga­be für Sie.«

»Ha­ben Sie?« Bell schluck­te. Schü­ler in der Si­cher­heit be­deu­te­ten nichts Gu­tes. Schon gar nicht in den Wo­chen vor den Som­mer­fe­ri­en. Und das die­ser Jun­ge so dicht bei Mil­ler stand, erst recht nicht. Trotz­dem spann­te er sich und sa­lu­tier­te. »Worum geht es?«

Mil­ler wink­te ab. »Sie kön­nen die­ses Ge­ha­be wohl nie fal­len las­sen, was? Ist auch egal.« Er deu­te­te auf den Tee­na­ger an sei­ner Sei­te. »Das ist Vik­tor Le­nin, der Sohn mei­ner Schwes­ter. Er möch­te sich im Rah­men sei­nes ers­ten Be­rufs­prak­ti­kums die Ar­beit der Si­cher­heit an­se­hen.«

Bells mus­ter­te Vik­tor. Ein Schü­ler. Nicht ein­mal ein Ober­schü­ler. Ein Jun­ge, von dem Cu­sto noch nicht wuss­te, in wel­chen Sta­tus er ihn ste­cken soll­te. Er press­te die Lip­pen zu­sam­men, sein Ge­sicht ver­stei­ner­te. Er streck­te dem Jun­gen die Hand ent­ge­gen, me­cha­nisch, wie ein ros­ti­ger Ro­bo­ter. »Freut mich, Sie ken­nen­zu­ler­nen, Mis­ter Le­nin. Mein Na­me lau­tet Ed­ward Gre­go­ry Bell, Agent der Si­cher­heit.«

Vik­tor nahm Bells Hand. Er strahl­te über das gan­ze Ge­sicht, sein Hän­de­druck war fest und ehr­lich. Kein gu­tes Zei­chen. »Freut mich eben­so. Es ist ei­ne Eh­re, vom Hel­den Zir­ku­lums ler­nen zu dür­fen!«

Bell sah den Jun­gen ei­sig an. Er drück­te sei­ne Hand für ei­ni­ge Se­kun­den, dann ließ er sie los und sah sei­nen Chef wie­der an. Er zö­ger­te einen win­zi­gen Mo­ment, ehe er sich ent­schloss, Mil­ler nicht auf Vik­tor an­zu­spre­chen. Hof­fent­lich blieb der Jun­ge nicht all­zu lan­ge. »Ich möch­te nur sehr un­gern so di­rekt sein, Mis­ter Mil­ler, aber ich bin aus per­sön­li­chen Grün­den her­ge­kom­men. Es geht um Ro­ma­nows Fall.«

»Ro­ma­nows Fall? Ah, ja, den Ro­bo­ter, nicht wahr?«

»Wa­rum ha­ben Sie ihn mit der Sa­che be­auf­tragt?«

»Ich hat­te an Sie ge­dacht, Agent Bell.« Mil­ler kehr­te hin­ter sei­nen Schreib­tisch zu­rück. »Aber es ist wich­ti­ger, dass sich ein er­fah­re­ner Mit­ar­bei­ter um mei­nen Nef­fen küm­mert. Und die­ser Fall scheint mir zu ge­fähr­lich zu sein, um einen Prak­ti­kan­ten dar­aus ler­nen zu las­sen.«

Bells Kie­fer ver­krampf­te sich, um Mil­lers Ent­schei­dung, ihm einen Prak­ti­kan­ten an die Sei­te zu ge­ben, nicht in Fra­ge zu stel­len. Der Jun­ge ge­hör­te in die Bü­ros, nicht in den Au­ßen­dienst. Er setz­te vier- oder fünf­mal da­zu an, et­was zu sa­gen, und gab es wie­der auf. Al­les, was ihm durch den Kopf ging, war un­pas­send.

Mil­ler schi­en sich nicht wei­ter dar­an zu stö­ren. Er griff in ei­ne Schub­la­de sei­nes Schreib­tischs und zog ein Blatt Pa­pier her­vor. Ei­nen al­ter­tüm­li­chen, hand­ge­schrie­be­nen Zet­tel. »Ich ha­be ei­ne an­de­re Auf­ga­be für Sie. Ich bin si­cher, sie wer­den Sie gut er­fül­len.«

»Ich wer­de sie nicht ent­täu­schen«, press­te Bell durch die Zäh­ne. Er nahm den Zet­tel ent­ge­gen, schenk­te ihm al­ler­dings kei­ne Auf­merk­sam­keit. »Worum ge­nau geht es?«

»Wir ha­ben ei­ne an­ony­me An­zei­ge er­hal­ten; ein Dok­tor Ru­dolf Ka­li­nin aus Ring Sie­ben soll einen Jun­gen ad­op­tiert ha­ben. Al­ler­dings wis­sen wir nicht, aus wel­chem Wai­sen­haus. Oder wann ge­nau das pas­siert sein soll. Ich will, dass Sie der Sa­che nach­ge­hen.«

Bell run­zel­te die Stirn. Ei­ne Ad­op­ti­on klang nach ei­ner Men­ge Pa­pier­kram und nicht die Spur nach Au­ßen­ein­satz. Nicht das Feld ei­nes Agen­ten. Genau ge­nom­men nicht ein­mal das Feld der Si­cher­heit. »Und wo liegt das Pro­blem?«

»Es han­delt sich um einen Ver­stoß ge­gen Pa­ra­graph 27, Fa­mi­li­en­ge­setz. Dok­tor Ka­li­nin ist Jung­ge­sel­le. Es ist kein ge­fähr­li­cher Fall. Genau das rich­ti­ge, um die Ar­beit mei­nem Nef­fen schmack­haft zu ma­chen, fin­den Sie nicht auch?«

»Oh«, mach­te Bell. Er nick­te re­si­gniert. Ein wun­der­ba­rer, ein­fa­cher Fall, ganz ein­deu­tig. Ide­al für einen An­fän­ger. Oder die Schreib­tisch­trot­tel vom ers­ten Stock. Was er­war­te­te er auch, wenn man ihm schon einen Prak­ti­kan­ten an die Sei­te gab. »Ich wer­de mich dar­um küm­mern. Ich bin si­cher, es ist ein gu­ter Fall, um Ihren Nef­fen in die Er­mitt­lungs­ar­beit ein­zu­füh­ren.«

»Nicht wahr? Ich wün­sche Ih­nen dann viel Er­folg da­mit. Und streng dich an, Vik­tor. Nicht, dass du un­se­rem gu­ten Agent Bell Är­ger machst!« Mil­ler nick­te sei­nem Nef­fen noch ein­mal lä­chelnd zu, dann stand er auf und wid­me­te sich sei­nem pri­va­ten Golf­platz.

Bell sah ihm hin­ter­her und schüt­tel­te den Kopf, ehe er sich Vik­tor zu­wand­te. Er gab sich Mü­he, be­geis­tert zu klin­gen, al­ler­dings konn­te er sich nicht ein­mal selbst da­mit an­lü­gen. »Gut, dann wol­len wir mal er­mit­teln, was? Zu­erst ein­mal müs­sen wir mehr über die­sen Dok­tor Ka­li­nin er­fah­ren, Mis­ter Le­nin.«

Der Jun­ge hör­te ihm auf­merk­sam zu und nick­te. »Oh, nen­nen Sie mich Vik­tor, Sir. Bit­te.«

»Wie du meinst.« Bell fal­te­te den Zet­tel aus­ein­an­der. Mil­lers No­ti­zen wa­ren spär­lich, aber nicht nutz­los. Die Adres­se von Ka­lin­ins Woh­nung und sein Ar­beits­platz. Al­les, was dar­über hin­aus­ging, muss­te Bell selbst her­aus­fin­den. Er seufz­te. »Sieht ganz so aus, als müss­ten wir ein paar Re­cher­chen über den gu­ten Dok­tor an­stel­len und ihn dann im Bot­kin be­su­chen. Po­li­zei­ar­beit wie im Fern­se­hen, was?«

Zu­rück in sei­nem Bü­ro deu­te­te Bell auf einen der bei­den Kon­fe­renz­ses­sel vor sei­nem Schreib­tisch. »Setz dich. Ich hof­fe, du magst Schreib­ar­beit und sinn­lo­se Te­le­fona­te.«

»Ha­ben Sie nicht ge­sagt, wir fah­ren zu die­sem Dok­tor ins Kran­ken­haus?«

»Ha­be ich.« Bell ließ sich auf sei­nen Schreib­tisch­stuhl fal­len, zog El­sas Ta­sta­tur zu sich her­an und such­te in den Un­ter­la­gen der Si­cher­heit nach ei­ner Stadt­kar­te. »Aber mit dem Dok­tor re­den ist der letz­te Schritt. Wenn wir das Kind zu­rück zum Wai­sen­haus brin­gen.«

»Und was sind die an­de­ren Schrit­te?«

»Lang­wei­lig.« Bell such­te auf der Kar­te nach dem Stand­ort des Bot­kin-Kran­ken­hau­ses und dann dem des nächs­ten Wai­sen­hau­ses. Er mach­te sich ei­ne ei­li­ge No­tiz auf dem Zet­tel, den er von Mil­ler er­hal­ten hat­te, ehe er die Hand über den Tisch zu Vik­tor aus­streck­te. »Gibt mir dei­ne ID. Ich muss dir den Zu­gang zu El­sa ein­rich­ten. Da­mit du we­nigs­tens nütz­lich sein kannst.«

Er schob die Kar­te in ein Le­se­ge­rät und na­vi­gier­te durch die ver­schie­de­nen Frei­ga­be­menüs. Zu­gang zu El­sas Grund­pro­gram­men, frei­er Zu­gang zum Auf­zug und den wich­tigs­ten Räum­lich­kei­ten der Zen­tra­le. Ein Fort­schritts­bal­ken schlepp­te sich über El­sas Ho­lo­gramm­schirm. Ab­schnitt für Ab­schnitt für Ab­schnitt. End­lich ver­kün­de­te ein kur­z­es Pie­pen den Er­folg des Pro­zes­ses. Bell nahm die Kar­te wie­der aus dem Rech­ner und gab sie an den Jun­gen zu­rück. »Jetzt kannst du al­lei­ne den Auf­zug und das Bü­ro be­tre­ten und El­sa nut­zen. Für Re­cher­che und Be­rich­te. Und nur wäh­rend der Ar­beits­zei­ten.«

Vik­tor ließ wäh­rend Bells Er­klä­rung den Blick im Raum her­um schwei­fen. »Ihr Bü­ro sieht ziem­lich ein­fach aus. Ich hat­te es mir ir­gend­wie auf­re­gen­der vor­ge­stellt.«

»Ach ja?« Bell lehn­te sich auf dem Schreib­tisch­stuhl zu­rück. Er starr­te an sei­nem Prak­ti­kan­ten vor­bei auf ei­ne Topf­pflan­ze, die zwi­schen den de­ko­ra­ti­ven Ak­ten­schrän­ken und der raum­ho­hen Fens­ter­front stand. »Wie meinst du das?«

»Na ja, ir­gend­wel­che Erin­ne­run­gen an die Sa­che mit Cu­sto und den An­dro­iden, zum Bei­spiel. Ein Zei­tungs­aus­schnitt, Blu­men, Ge­schen­ke. Wenn ich Sie wä­re, wä­re mir das sehr wich­tig!«

»Das ist ein Bü­ro, es soll­te zweck­mä­ßig sein, kein Mu­se­um. War­te, du woll­test aber nicht we­gen des An­dro­iden-Vor­falls hier an­fan­gen? Das war ei­ne ein­ma­li­ge Sa­che.«

»Ich ha­be nicht er­war­tet, dass wir zu Cu­sto ge­hen.« Vik­tor schüt­tel­te den Kopf. »Aber ich woll­te mit Ih­nen zu­sam­men­ar­bei­ten. Mein On­kel hat so viel er­zählt und ich dach­te, wenn ich schon zur Si­cher­heit soll, dann will ich we­nigs­tens von Ih­nen ler­nen. Sie sind der Bes­te! Mei­ne Kum­pels wer­den Au­gen ma­chen, wenn ich da­von er­zäh­le.«

Bell hob ei­ne Au­gen­braue, schwieg je­doch. Vik­tor war nicht nur Mil­lers Nef­fe, er schlug auch nach ihm. Aber was hat­te er an­de­res er­war­tet? Er stand von sei­nem Schreib­tisch­stuhl auf. »Komm her, ich zei­ge dir, wie du El­sa be­dienst. Und dann suchst du In­for­ma­tio­nen über die­sen Dok­tor Ka­li­nin, das Kran­ken­haus und das Wai­sen­haus Nord. Hast du einen Ge­dan­ken­chip?«

Der Jun­ge schüt­tel­te den Kopf. »Ich hat­te ge­hofft, mei­ne Mut­ter wür­de mir für das -«

»Schon gut.« Bell wink­te ab. »Setz dich hier her, wir ma­chen es auf die alt­mo­di­sche Art.«

Vik­tor setz­te sich auf Bells Schreib­tisch­stuhl. Er zog die Ta­sta­tur nä­her zu sich her­an und klick­te sich in die Archi­ve der Si­cher­heit. Un­ter Bells An­lei­tung fand er rasch den Zu­gang zu den Ak­ten und den al­ten Zei­tungs­ar­ti­keln. Au­ßer­dem ar­bei­te­te er ge­wis­sen­haft und or­ga­ni­siert. Er­staun­lich, für einen Jun­gen, der sich of­fen­bar mehr für die Aner­ken­nung sei­ner Klas­sen­ka­me­ra­den als die Ar­beit der Si­cher­heit in­ter­es­sier­te. Trotz­dem, ein Kind bei den Agen­ten ein Prak­ti­kum ab­sol­vie­ren zu las­sen, war ei­ne dum­me Idee. Selbst bei den In­spek­to­ren. Schü­ler ge­hör­ten in die Bü­ros, nicht in den Au­ßen­dienst. Und die­ser Fall eben­so. Bell schüt­tel­te den Kopf. Er trat vom Schreib­tisch zu­rück in ei­ne an­de­re Ecke des Rau­mes und nutz­te die Zeit, um im Bot­kin an­zu­ru­fen, und nach den Ar­beits­zei­ten des Dok­tors zu fra­gen. Er sah auf die Uhr über den Ak­ten­schrän­ken. »Al­so bis um sie­ben? In Ord­nung. Ich wer­de mit der nächs­ten Ver­bin­dung zu Ih­nen kom­men. Las­sen Sie Dok­tor Ka­li­nin wis­sen, dass ich ihn spre­chen will. Nein, es muss Sie nichts an­ge­hen. Ich ver­si­che­re Ih­nen, dass die Sa­che nichts mit dem Kran­ken­haus zu tun hat. Ehren Sie Cu­sto!« Er steck­te das Ho­lo­fon in sei­ne Ho­sen­ta­sche, dann sah er wie­der auf den Prak­ti­kan­ten. »Hast du schon et­was her­aus­ge­fun­den?«

Vik­tor ko­pier­te Text von ei­nem Do­ku­ment in ein an­de­res. Er schüt­tel­te den Kopf. »Noch nicht. Ich ha­be ge­ra­de erst die Cu­sto-Da­ten des Dok­tors auf­ge­ru­fen. Aber wenn ich das rich­tig se­he, war er nicht im Wai­sen­haus.«

»Wie meinst du das?«

»In den letz­ten Ta­gen wur­de kein Kind aus dem Wai­sen­haus Nord ad­op­tiert. Je­den­falls steht da nichts.«

Bell zuck­te mit den Schul­tern. »Wir soll­ten spä­ter die an­de­ren Wai­sen­häu­ser über­prü­fen. Aber wenn Ka­li­nin das Kind aus ei­nem Wai­sen­haus hat, kann ich mir nicht vor­stel­len, dass sie das in die Ak­ten ein­tra­gen. Al­so fah­ren wir jetzt erst ins Kran­ken­haus, viel­leicht ko­ope­riert der gu­te Dok­tor ja.«

 

Der Weg zum Bot­kin-Kran­ken­haus kos­te­te Bell und Vik­tor ei­ne Stun­de. Bis er den jun­gen Pfört­ner über­zeu­gen konn­te, Sie zu Ka­li­nin vor­zu­las­sen, ver­gin­gen wei­te­re drei­ßig Mi­nu­ten. Un­ter die­sen Um­stän­den hät­te er sich den An­ruf vom Bü­ro aus spa­ren kön­nen. Wes­halb wa­ren al­le Din­ge in die­ser Stadt ei­gent­lich so bü­ro­kra­ti­siert? We­nigs­tens führ­te sie jetzt ei­ne Schwes­ter zur Im­mu­no­lo­gie. Am Ein­gang der Sta­ti­on war­te­te ei­ne Des­in­fek­ti­ons­du­che auf Bell und sei­nen Prak­ti­kan­ten, ehe sie die wei­ße Schutz­klei­dung über die Uni­form zo­gen. Da­nach muss­ten sie sich ein wei­te­res Mal ab­du­schen, ehe sie schließ­lich den Flur be­tre­ten durf­ten. Han­del­te es sich wirk­lich um ei­ne Not­wen­dig­keit? Oder um Schi­ka­ne? End­lich er­reich­ten sie das Sta­ti­ons­zim­mer, den Raum di­rekt hin­ter der Schleu­se. Das gan­ze Zim­mer stank nach dem­sel­ben schar­fen Des­in­fek­ti­ons­mit­tel. Die Schwes­ter ging, oh­ne sich zu ver­ab­schie­den.

Ein jun­ger Arzt in ei­nem Schut­zo­ver­all saß auf ei­nem Me­tall­stuhl an ei­nem klei­nen vier­e­cki­gen Me­tall­tisch und stand be­hä­big auf, als Bell das Zim­mer be­trat. Er ver­zich­te­te dar­auf, ihm die Hand zu rei­chen. »Sie müs­sen der Be­am­te sein, vor dem der Pfört­ner mich ge­warnt hat?«

»Si­cher­heits­agent Ed­ward Gre­go­ry Bell. Das ist mein Prak­ti­kant, Vik­tor Le­nin. Ich neh­me an, Sie sind Dok­tor Ru­dolf Ka­li­nin?« Bell lehn­te sich ne­ben das schma­le Fens­ter an die ge­ka­chel­ten Wand und be­ob­ach­te­te Dok­tor Ka­li­nin über die Na­se hin­weg.

Ka­li­nin ließ sich wie­der auf den Stuhl sin­ken und nick­te. »Wes­halb hal­ten Sie mich von der Ar­beit ab, Agent Bell?«

»Der Si­cher­heit wur­de an­ge­tra­gen, dass Sie einen Jun­gen ad­op­tiert ha­ben sol­len. Was ha­ben Sie da­zu zu sa­gen?«

»Wer ver­brei­tet die­sen Schwach­sinn?« Dok­tor Ka­li­nin schüt­tel­te den Kopf, oh­ne Bell oder Vik­tor an­zu­se­hen. »Ich bin Jung­ge­sel­le, wie soll­te ich ein Kind ad­op­tie­ren? Und warum?«

Vik­tor stand ne­ben der Tür, die Ar­me vor der Brust ver­schränkt, und sah aus wie ein Tür­ste­her aus ei­nem der schlech­ten Kri­mi­nal­fil­me des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts. Sein Blick ruh­te fest auf dem Dok­tor. »Um das her­aus­zu­fin­den sind wir hier, Dok­tor. Ha­ben Sie ei­nes der Wai­sen­häu­ser be­sto­chen?«

Bell stieß sich von der Wand ab. Er trat auf Vik­tor zu, warf ihm einen ta­deln­den Blick zu und setz­te sich auf den zwei­ten Stuhl Ka­li­nin ge­gen­über. Selbst der Tisch roch nach Des­in­fek­ti­ons­mit­tel. Der Ort war kein Kran­ken­haus, son­dern ei­ne Schnaps­fa­brik. »Ich hal­te die­se An­schul­di­gung für eben­so weit her­ge­holt wie Sie. Wes­halb soll­te ein jun­ger Arzt aus den In­ne­ren Rin­gen ein Kind aus Ring Null ad­op­tie­ren? Noch da­zu, wo Sie nicht ein­mal Kin­der­arzt sind. Das ist lä­cher­lich.«

»Und warum sind sie dann ge­kom­men?«

»Wie ich sag­te, ir­gend­je­mand hat Sie an­ge­zeigt. Sie mit ei­nem Kind ge­se­hen. Wis­sen Sie, ich kann ver­ste­hen, dass Sie das Kind nicht her­ge­ben wol­len. Aber die Ge­set­ze ver­lan­gen ei­ne or­dent­li­che Ad­op­ti­on. Sie müs­sen ei­ne Part­ner­schaft ein­ge­hen, be­vor Sie das Recht da­zu ha­ben. Sie sind Arzt, Sie soll­ten die Ge­set­ze ken­nen.«

»Ich ha­be kein Kind ad­op­tiert, Agent Bell. Ich ha­be einen ver­letz­ten Jun­gen in die­ses Kran­ken­haus ge­bracht, um ihn zu be­han­deln. Cu­sto soll­te die­sen fei­nen Un­ter­schied er­ken­nen. Ich ha­be nicht vor, das Kind zu be­hal­ten und auf­zu­zie­hen.«

Vik­tor schlen­der­te auf den Dok­tor zu. »Und warum zei­gen Sie uns den Jun­gen dann nicht? Sie soll­ten vor der Si­cher­heit kei­ne Ge­heim­nis­se ha­ben, das macht sie ver­däch­tig.«

»Halt dich dar­aus, Jun­ge«, blaff­te Bell den Schü­ler an.

Vik­tor zuck­te zu­sam­men. Er trot­te­te an sei­nen Platz ne­ben der Tür zu­rück und be­gnüg­te sich da­mit, den Arzt zu be­ob­ach­ten.

Bell seufz­te lei­se. Er rieb sich über die Au­gen, schüt­tel­te den Kopf. Je schnel­ler er die Sa­che hin­ter sich brach­te, de­sto schnel­ler wür­de er Vik­tor wie­der los­wer­den. »Ich ge­be dem Jun­gen nur un­gern recht, aber es stimmt. Sie ma­chen sich ver­däch­tig, wenn Sie nicht mit­ar­bei­ten. Sie sag­ten, das Kind sei in die­sem Kran­ken­haus? Kön­nen wir es se­hen?«

Dok­tor Ka­li­nin sah Bell fest in die Au­gen. »Der Jun­ge ist ver­letzt und braucht Ru­he. Er hat­te einen schlim­men Un­fall mit die­ser ver­ma­le­dei­ten über­al­ter­ten U-Bahn in Ring Drei. Dass die­se ver­fluch­ten Scheiß­din­ger über­haupt noch exis­tie­ren. Das Kind ist völ­lig ver­stört. Wenn jetzt noch die Si­cher­heit auf­taucht, könn­te er einen Zu­sam­men­bruch er­lei­den. War­ten Sie ein paar Ta­ge, viel­leicht auch ei­ne oder zwei Wo­chen. Dann kön­nen wir noch ein­mal dar­über re­den.«

»Da­mit Sie Be­wei­se ver­nich­ten kön­nen?«

»Vik­tor!« Bell spann­te sich. »Noch­mal, du be­ob­ach­test und hältst den Mund!«

»Ja, Sir.« Vik­tor senk­te klein­laut den Kopf.

Hät­te man die­sen Jun­gen nicht auch Ro­ma­now an­ver­trau­en kön­nen? Im­mer­hin hat­te er schon mit ei­nem Haus­halts­ro­bo­ter zu tun, ei­nem me­cha­ni­schen Ba­by­sit­ter. Bell schüt­tel­te den Kopf und sah Ka­li­nin wie­der an. »Hö­ren Sie, ich ha­be kein In­ter­es­se, die­sen Fall vor mir her­zu­schie­ben. Las­sen Sie mich mit dem Kind re­den und wir kön­nen dann al­le wie­der an un­se­re Ar­beit ge­hen. Und wenn er dann auf den Bei­nen ist, kön­nen Sie mich an­ru­fen und ich wer­de ihn dann ins Wai­sen­haus zu­rück­brin­gen.« Bell seufz­te tief und hielt dem Arzt sein Ho­lo­fon ent­ge­gen. »Ha­ben Sie we­nigs­tens ei­ne Ah­nung, warum je­mand Ih­nen das an­hän­gen will?«

Dok­tor Ka­li­nin scann­te Bells Te­le­fon­num­mer in sein ei­ge­nes Gerät und zuck­te an­schlie­ßend mit den Schul­tern. »Nicht die Ge­rings­te. Es sei denn, je­mand an­de­res wür­de das Kind ad­op­tie­ren wol­len und hat Angst, es jetzt nicht zu­ge­teilt zu be­kom­men. Vi­el­leicht stö­ren sich mei­ne Kol­le­gen auf der Kin­der­sta­ti­on dar­an, dass ich ih­nen in den Fü­ßen rum­ste­he. Kei­ne Ah­nung.« Er stand auf. »Ich wer­de bei Ihrem Ge­spräch mit dem Jun­gen an­we­send sein, zu sei­ner Si­cher­heit. Und hal­ten Sie sich kurz, ich ha­be noch zu ar­bei­ten.«

»Wir al­le ha­ben zu ar­bei­ten, Dok­tor.« Bell stand eben­falls auf und wink­te Vik­tor zu. Er folg­te Ka­li­nin auf den Flur des Kran­ken­hau­ses. Der Ge­ruch nach ste­ri­ler Sau­ber­keit er­schlug ihn hier drau­ßen und al­lein der Ge­dan­ke an die Des­in­fek­ti­ons­du­sche am Aus­gang des Trak­tes ließ ihn schau­dern. Den Ge­ruch nach Des­in­fek­ti­ons­mit­tel wür­de er nie wie­der aus sei­ner Uni­form be­kom­men. Er stank be­reits jetzt wie ei­ne wan­deln­de Zahn­arzt­pra­xis.

Dok­tor Ka­li­nin führ­te Bell und Vik­tor nach dem Klei­dungs­wech­sel in einen hö­her ge­le­ge­nen Trakt des Bot­kin. Das Zim­mer des Kin­des be­fand sich in der Mit­te des bun­ten Gan­ges, der er­staun­lich we­nig nach Des­in­fek­ti­ons­mit­tel roch. Der Jun­ge war al­lei­ne in dem Raum, ob­wohl die drei lee­ren Bet­ten an­zeig­ten, dass es sich nicht um ein Ein­zel­zim­mer han­del­te. Als das Kind den Dok­tor sah, woll­te es auf­sprin­gen, ver­kroch sich aber beim An­blick von Bell und Vik­tor un­ter der De­cke.

Dok­tor Ka­li­nin ging auf das Bett zu. Er schlug die De­cke zu­rück und lä­chel­te den Jun­gen an. »Du musst kei­ne Angst ha­ben, Erast. Si­cher­heits­agent Bell und sein Prak­ti­kant sind Freun­de von mir. Sie wol­len dir ein paar Fra­gen stel­len. Glaubst du, du kannst mit ih­nen re­den?«

Erast starr­te Bell an. Er nick­te ver­hal­ten.

Bell schritt auf das Bett ne­ben dem des Jun­gen zu, nahm sei­ne Uni­form­müt­ze ab und setz­te sich. Er leg­te das Ho­lo­fon mit ein­ge­schal­te­ter Auf­nah­me­funk­ti­on ne­ben sich auf die Bett­de­cke. »Gu­ten Mor­gen, Erast. Mein Na­me ist Bell, ich kom­me von der Si­cher­heit. Weißt du, was die Si­cher­heit tut?«

Erast schüt­tel­te den Kopf.

»Wir su­chen nach bö­sen Men­schen. Uns wur­de ge­sagt, dass der Dok­tor et­was falsch ge­macht hat, des­we­gen sind wir hier.«

»Der Dok­tor ist kein bö­ser Mensch!«, pro­tes­tier­te der Jun­ge. »Er hat mich vor der Krank­heit und dem Wurm ge­ret­tet!«

Bell lä­chel­te flüch­tig. »Ich sa­ge nicht, dass er bö­se ist. Aber viel­leicht hat er et­was falsch ge­macht. Du kannst uns hel­fen, das her­aus­zu­fin­den. Da­für muss ich wis­sen, wo du her­kommst.«

Das Kind sah den Dok­tor an, die­ser zuck­te mit den Schul­tern. »Beant­wor­te ihm am bes­ten al­le sei­ne Fra­gen.«

Erast nick­te. »Ich kom­me von drau­ßen.«

»Wo ist drau­ßen?«

»Ich bin durch einen Tun­nel in die Stadt ge­kom­men.«

Vik­tor trat eben­falls nä­her. Er blieb ne­ben dem Bett ste­hen, auf dem Bell saß und blin­zel­te. »Durch einen Tun­nel von drau­ßen?«

»Mhm. Ich ha­be in ei­nem Haus ge­wohnt, mit ganz vie­len Er­wach­se­nen. Und der Dok­tor ist ge­kom­men, um die Kin­der ge­sund zu ma­chen und hat mich mit­ge­nom­men. Da­mit ich hier ge­sund wer­de. Er hat ge­sagt, das Haus macht mich ge­sund. Ma­ma hat das auch ge­sagt. Aber Nes­h­ka hat ge­sagt, ich muss zu Hau­se blei­ben.«

Bell run­zel­te die Stirn. Der Jun­ge war zu alt, um mit sei­nen El­tern in Ring Null zu le­ben, ei­gent­lich. Al­lem An­schein nach war die­ser Fall vor al­lem ein Ver­sa­gen sei­ner Kol­le­gen von der Ge­bur­ten­kon­trol­le. Er sah Dok­tor Ka­li­nin an. »Sie ha­ben das Kind von Ring Null ins Kran­ken­haus ge­holt? Al­lei­ne?«

Ka­li­nin schüt­tel­te den Kopf. »Nicht von Ring Null. Von Au­ßer­halb.«

Bell schnaub­te. Von au­ßer­halb. Si­cher. Er sah wie­der auf Erast. »Der Dok­tor hat ge­sagt, du hat­test einen Un­fall. Kannst du dich an den Un­fall er­in­nern?«

»Wir wa­ren in ei­ner tie­fen Höh­le, das war wie ein Haus, aber un­ter der Er­de. Da wa­ren lan­ge Tun­nel mit großen, schnel­len Wür­mern drin. Der Dok­tor hat ge­sagt, dass es U-Bahn heißt. Ich bin in einen ih­rer Tun­nel ge­fal­len. Aber der Dok­tor hat mich raus ge­holt, be­vor der Wurm mich ge­fres­sen hat. Ich ha­be mir am Bein weh­ge­tan.« Erast deu­te­te auf sein lin­kes Knie.

»Wa­rum bist du auf die Glei­se ge­fal­len?«

Erast sah Bell einen Mo­ment ver­ständ­nis­los an, ehe er die Fra­ge be­griff. Er nick­te hef­tig. »Sa­scha und Mi­scha sind uns ge­folgt. Ich ha­be sie ge­se­hen. Sie woll­ten mich fan­gen, al­so bin ich weg­ge­lau­fen. Da­bei bin ich run­ter­ge­fal­len, zu dem Wurm. Und seit­dem ist Ma­ma ver­schwun­den.«

Bell sah auf Dok­tor Ka­li­nin. »Was ge­nau meint er da­mit?«

Ka­li­nin seufz­te tief. Er setz­te sich zu Erast auf das Bett, senk­te den Blick. »Dass sind an­de­re Kin­der aus der Ge­gend Ich ha­be von der Krank­heit der Kin­der da drau­ßen er­fah­ren und woll­te hel­fen, des­we­gen ha­be ich Erast mit in die Stadt ge­nom­men. Er scheint als ein­zi­ges Kind ge­sund zu sein.«

»Nes­h­ka sagt, sie brau­chen mein Blut, um die Kin­der ge­sund zu ma­chen.« Erast senk­te den Blick. »Aber der Dok­tor hat ge­sagt, dass das nicht stimmt.«

»Men­schen von au­ßer­halb? Ein Blut­kult? Dok­tor Ka­li­nin, Sie ver­ste­hen schon, dass die Ge­schich­te, die Sie mir hier auf­ti­schen wol­len, für Se ge­fähr­li­cher sein kann, als ei­ne il­le­ga­le Ad­op­ti­on? Und lä­cher­lich ist es noch da­zu. Es gibt au­ßer­halb kei­ne Men­schen. Hat­ten Sie ei­ne Af­fä­re mit der Mut­ter des Jun­gen?«

»Wie­so soll­te ich? Ich mei­ne, für was hal­ten Sie mich, Agent Bell?« Dok­tor Ka­li­nin schnaub­te. »Und da ha­ben Sie Ih­re Ant­wor­ten. Wenn Sie jetzt ge­hen wür­den. Ich mel­de mich bei Ih­nen, so­bald Erast das Kran­ken­haus ver­las­sen kann. Ehren Sie Cu­sto!«

Bell schüt­tel­te den Kopf und schal­te­te sein Ho­lo­fon aus. Dann stand er auf und ging zur Tür. Fürs Ers­te hat­te er ge­nug ge­hört. »Ehren Sie Cu­sto.« Er ver­ließ das Zim­mer, war­te­te auf dem Gang auf Vik­tor und schüt­tel­te dort noch ein­mal den Kopf. »Was für ei­ne ver­rück­te Ge­schich­te. Ein Kind von au­ßer­halb und blut­durs­ti­ge Idio­ten.«

»Glau­ben Sie ihm, Sir?«

»Kein Wort.«

»Was wer­den Sie jetzt tun?«

Bell zuck­te die Schul­tern. »Er­stein­mal ma­chen wir Fei­er­abend. Ich ha­be heu­te Abend noch Ter­mi­ne, und die­ser Fall ist zu lä­cher­lich für Über­stun­den. Mor­gen se­hen wir wei­ter.«

 

Bell lie­fer­te Vik­tor in der Zen­tra­le der Si­cher­heit in Ring Drei ab, da­mit Mil­ler sich um sei­nen Nef­fen küm­mern konn­te, ehe er nach Hau­se ging. Er setz­te sich an den klei­nen Tisch ge­gen­über von sei­nem Bett an der kur­z­en Wand des rund­li­chen Bun­ga­lows und fuhr sei­nen pri­va­ten Lap­top hoch. Wäh­rend der al­te Rech­ner vor sich hin rat­ter­te, ging Bell in das klei­ne Ba­de­zim­mer des Hau­ses, um sich zu du­schen und die Klei­dung zu wech­seln. Nicht, dass es viel zu wech­seln gab. Au­ßer ei­ni­gen Sets an Uni­for­men be­saß er nur ei­ne Hand­voll T-Shirts aus dem Ver­gnü­gungs­park in Ring Acht. Er zog ei­ne der schwar­zen, schwe­ren Stoff­ho­sen der Si­cher­heit und ein bun­tes T-Shirt mit der Auf­schrift ›Kreml – Spaß für je­des Al­ter‹ an, ehe er an sei­nen Com­pu­ter zu­rück­kehr­te.

Auf dem Bild­schirm prang­te auf schwar­zem Hin­ter­grund das sil­ber­ne Lo­go der Si­cher­heit, die we­ni­gen Sym­bo­le auf dem Desktop wa­ren fein säu­ber­lich in ei­ner Spal­te auf der lin­ken Sei­te an­ge­ord­net. Trotz­dem be­nö­tig­te Bell ei­ni­ge Se­kun­den, um das Ge­dan­ken­chip-Icon zu fin­den. Er na­vi­gier­te mit­hil­fe des Chips durch den Cy­ber­space auf der Su­che nach ei­ner Fahr­schu­le. Vi­el­leicht hat­te er die­sen lang­wei­li­gen Fall als Wink des Schick­sals zu wer­ten. Als ein Zei­chen von Cu­sto, end­lich sei­nen Mo­tor­rad­füh­rer­schein zu er­neu­ern. Er konn­te nicht sein gan­zes Le­ben lang vor der Erin­ne­rung an den Un­fall da­von­lau­fen. Oder sich auf die U-Bahn ver­las­sen. Au­ßer­dem ver­grö­ßer­te sich mit je­dem Tag die Ge­fahr, dass je­mand an­de­res die tief­blaue, bei­na­he nacht­vio­let­te Ural Bo­lo­to von Bo­ro­mir’s Bikes sein ei­gen nen­nen wür­de.

An­de­rer­seits konn­te er auch erst den Fall ab­schlie­ßen und Mil­lers Nef­fen end­lich los­wer­den. Wie wa­ren die Na­men, die das Kind im Kran­ken­haus ihm ge­nannt hat­te? Bell griff nach sei­nem Ho­lo­fon und ließ die Auf­nah­me von dem Ge­spräch ab­spie­len. Sa­scha und Mi­scha und Nes­h­ka. Nichts da­von klang nach ei­nem rich­ti­gen Na­men. Spitz­na­men, aber nichts, wo­mit er das Ein­wohn­er­re­gis­ter durch­su­chen konn­te. Er mach­te ei­ne No­tiz, Dok­tor Ka­li­nin ge­ge­be­nen­falls noch ein­mal dar­auf an­zu­spre­chen. Was für ei­ne al­ber­ne Räu­ber­pis­to­le, nur, um den Sta­tus nicht zu ver­lie­ren.

Bell seufz­te.

Die Sei­te der nächs­ten Fahr­schu­le in Ring Drei flim­mer­te auf dem Bild­schirm und pries mit viel zu bun­ter Schrift die bes­ten Prei­se und schnells­ten Er­fol­ge an. Er brauch­te kei­ne Er­fol­ge. Er wuss­te, wie man ein Mo­tor­rad lenk­te. Er brauch­te nur Übung und einen Wisch, der dies auch be­schei­nig­te.

Bell na­vi­gier­te zum An­ge­bot der Fahr­schu­le. An­fän­ger­kur­se. Au­to­fahr­kur­se. Kur­se für das Füh­ren von Trieb­wa­gen. Wie­so bot die­se Fahr­schu­le die Aus­bil­dung von U-Bahn-Füh­rern an, wenn die U-Bahn schon längst hät­te ge­schlos­sen sein sol­len? Bus­füh­rer­schei­ne. Noch so ein über­flüs­si­ges Ding. Ob es Men­schen in der Stadt gab, die Füh­rer­schei­ne sam­mel­ten? Oder Kin­der? Si­cher gab es Men­schen, die Af­fä­ren sam­mel­ten.

Bell rieb sich über die Schlä­fen. Wenn Ka­li­nin die Wahr­heit ge­sagt hat­te und auch kei­ne Af­fä­re mit der Mut­ter des Kin­des hat­te, warum hat­te er es dann in Ring Sie­ben ge­holt? Er hät­te nach der Mut­ter fra­gen sol­len, als er im Kran­ken­haus war. Jetzt war es da­für zu spät. Er wür­de die­se Fra­ge wohl auf ein nächs­tes Tref­fen mit dem Dok­tor ver­schie­ben müs­sen. Ein Tref­fen, dass trau­ri­ger­wei­se statt­fin­den wür­de. Ob Ka­li­nin das Kind viel­leicht für ir­gend­wel­che Im­mu­n­ex­pe­ri­men­te miss­brauch­te? Der Jun­ge hat­te im­mer­hin von ir­gend­ei­ner Krank­heit ge­re­det. Aber wes­halb nutz­te er kei­ne Zell­kul­tu­ren, wie an­de­re Ärz­te? Was ge­nau tat ein Im­mu­no­lo­ge über­haupt?

Die Sei­te der Fahr­schu­le ver­blass­te, statt­des­sen öff­ne­te sich ei­ne Sei­te, die Mit­tel­schü­lern bei der Be­rufs­wahl hel­fen soll­te. Sie zeig­te den Ein­trag über die Ar­beit der Im­mu­no­lo­gie. Er­for­schung und Be­kämp­fung von an­ste­cken­den Krank­hei­ten in Mensch und Tier. Der Text war in viel zu großer Schrift ge­schrie­ben und wur­de im­mer wie­der von Mi­kro­skop­bil­dern und Fo­tos lä­cheln­der Pa­ti­en­ten im Kran­ken­haus un­ter­bro­chen.

Vi­el­leicht wür­de ei­ne gu­te Idee sein, Ka­lin­ins Kol­le­gen zu be­fra­gen, ins­be­son­de­re die auf der Kin­der­sta­ti­on. Selbst wenn nie­mand von ih­nen die Si­cher­heit in­for­miert hat­te, Kol­le­gen hat­ten im­mer zu trat­schen. Bell seufz­te. Ei­gent­lich soll­te er sich jetzt nicht mit dem Fall be­schäf­ti­gen, aber ehe er nicht mehr über Dok­tor Ka­li­nin und die­ses Kind her­aus­ge­fun­den hat­te, konn­te er sich nicht auf die Su­che nach ei­ner Fahr­schu­le kon­zen­trie­ren. Oder den Fall ab­schlie­ßen. Mil­lers No­ti­zen wa­ren viel zu spär­lich ge­we­sen.

Er na­vi­gier­te mit dem Ge­dan­ken­chip aus dem öf­fent­li­chen Cy­ber­space in die Archi­ve des Bür­ger­re­gis­ters und such­te Zu­griff auf die Ak­te von Ru­dolf Ka­li­nin. Die Lauf­bahn des Dok­tors war ge­rad­li­nig und lücken­los. Cu­sto stuf­te ihn als ehr­gei­zig ein. Au­ßer­dem war er un­ver­hei­ra­tet und zu jung, um von Cu­sto zwangs­ver­part­nert zu wer­den. Er hat­te auch von sich aus kei­nen Kon­takt zu mög­li­chen Part­nern ge­sucht, oder zu ei­nem der Wai­sen­häu­ser der Stadt.

Bell press­te die Lip­pen zu­sam­men. Er muss­te die Mut­ter des Kin­des aus­fin­dig ma­chen. Al­les deu­te­te dar­auf hin, dass es sich um ei­ne ge­hei­me Af­fä­re des Dok­tors han­del­te. Vi­el­leicht war der Jun­ge das Er­geb­nis die­ser Ver­bin­dung und Ka­li­nin hat­te Angst um sei­nen Sta­tus. Wenn ja, wä­re das Pro­blem mit ei­ner Part­ner­schaft schnell ge­löst.

Bells Ho­lo­fon pieps­te.

Er logg­te sich aus und gähn­te. Ein Blick auf das klei­ne Gerät, das ne­ben dem Lap­top auf dem Tisch lag, ver­riet ihm, dass es be­reits halb neun war. Höchs­te Zeit, zu sei­nem Tref­fen mit Hu­go auf­zu­bre­chen. Er konn­te sei­ne Nach­for­schun­gen mor­gen im Bü­ro fort­set­zen. Wenn Mil­ler ihm schon einen Prak­ti­kan­ten auf­zwang, konn­te er ihm auch be­wei­sen, dass er ein gu­ter Leh­rer war. Oder we­nigs­tens ein en­ga­gier­ter. Im­mer­hin schi­en es kein Ver­stoß ge­gen Pa­ra­graph 27 des Fa­mi­li­en­ge­set­zes zu sein, eher ein Fall von Sta­tus­be­trug. Nicht, dass es viel in­ter­essan­ter war. Er fuhr sich mehr­mals mit den Hän­den durch das Haar, bis es or­dent­lich lag und ihm kei­ne Sträh­nen mehr ins Ge­sicht fie­len. Ein letz­ter Griff nach dem Ho­lo­fon und der ID-Kar­te, dann ver­ließ Bell das Haus und be­gab sich in den vier­ten Ring.

Er traf ei­ni­ge Mi­nu­ten zu spät im Rus­ty Ta­ble ein. Er kämpf­te sich sei­nen Weg durch das Halb­dun­kel und die eng bei­ein­an­der­ste­hen­den Ti­sche, voll be­setzt mit Grüpp­chen ver­schie­dens­ter Leu­te. End­lich er­reich­te er Hu­go, der in der Nä­he des Tre­sens saß und auf den klei­nen Bild­schirm schiel­te, der über der Bar hing. An­statt der üb­li­chen Sport­ver­an­stal­tun­gen un­ter­hielt sich ein Mo­de­ra­tor mit drei Män­nern auf ei­nem bei­ge­far­be­nen So­fa. Zwei von ih­nen ka­men Bell be­kannt vor, wa­ren aber nicht lan­ge ge­nug im Bild, dass er ih­re Ge­sich­ter zu­ord­nen konn­te.

Er setz­te sich auf den Stuhl ne­ben Hu­go und schob ein klei­nes vier­e­cki­ges Pa­ket zu ihm, das halb­her­zig in bun­tes Pa­pier ein­ge­wi­ckelt war. »Herz­li­chen Glück­wunsch und al­les Gu­te für dein letz­tes Jahr in Frei­heit!«

Hu­go grins­te ihn an, nahm das Päck­chen ent­ge­gen, wid­me­te dann sei­ne Auf­merk­sam­keit wie­der der Sen­dung.

Bell sah eben­falls auf den Fern­se­her. »Um was geht es? Wa­rum ist Mil­ler im Fern­se­hen? Und ist das da­ne­ben der ers­te Chef­tech­ni­ker?«

»Mil­ler, Lin­ford und Beauch­amp vom Wahr­heits­mi­nis­te­ri­um.« Hu­go nick­te. »Heu­te ist das Ju­bi­lä­um der Un­ab­hän­gig­keit, schon ver­ges­sen?«

»Das Ju­bi­lä­um schon. Ist es nicht trau­rig, an ei­nem Ge­denk­tag Ge­burts­tag zu ha­ben?«

»Bes­ser als an ei­nem rich­ti­gen Fei­er­tag. Gleich fängt der Be­richt an.«

Bell schüt­tel­te den Kopf. Er zück­te sein Ho­lo­fon und be­trach­te­te die Ge­trän­ke­kar­te des Rus­ty Ta­ble. Er war zu sel­ten in die­ser Art Ab­stei­ge, um mit den gan­zen iri­schen und schot­ti­schen Na­men auf der Kar­te et­was an­fan­gen zu kön­nen, al­so be­stell­te er das erst­bes­te Bier, das er fin­den konn­te. Er folg­te mit den Au­gen ei­nem der Gäs­te, der sich durch das Ge­wühl zu ei­ner al­ter­tüm­li­chen Ju­ke­box kämpf­te, die selbst in Bells Au­gen nicht in das Am­bien­te pas­sen woll­te.

»Kannst du den Fern­se­her kurz lau­ter ma­chen?«, rief Hu­go über das Stim­men­ge­wirr und die Ju­ke­box dem Wirt zu.

Aus den ein­ge­bau­ten Laut­spre­chern des Bild­schirms krächz­te der Be­richt über die Un­ab­hän­gig­keit Zir­ku­lums ge­ra­de so bis zu ih­rem Tisch. Und ge­ra­de laut ge­nug, das Bell ihn nicht igno­rie­ren konn­te. Er sah auf. Der Ein­spie­ler zeig­te his­to­ri­sche Bil­der aus ei­ner Zeit vor dem Bau der Au­ßen­mau­er. Die Stim­me des Off-Spre­chers fa­sel­te ir­gen­det­was von der Si­che­rung der Stadt ge­gen Krank­hei­ten und an­de­re ne­ga­ti­ve Ein­flüs­se von au­ßen. Wie die Er­rich­tung von Ring Null die Bür­ger schützt und Ver­bre­chen dau­er­haft un­ter­bun­den ha­be. Bell gähn­te. Wie­so hat­te ei­gent­lich der gan­ze Tag nur mit Krank­hei­ten und Ärz­ten und der Au­ßen­welt zu tun?

Hu­go sah ihn an. »Was ist los? Hat dich dein neu­er Fall so mü­de ge­macht?«

»Nicht der Fall, die Sen­dung. Ich wuss­te nicht, dass du dir Ge­schichtstalks­hows an­siehst. Schon gar kei­ne, wo Mil­ler oder das Wahr­heits­mi­nis­te­ri­um mit­spie­len.«

»Tue ich auch nicht. Nor­ma­ler­wei­se je­den­falls. Aber den Be­richt hat mein Schwa­ger ge­schrie­ben. Apro­pos. Weißt du, wer mir heu­te Mor­gen als ers­ter gra­tu­liert hat?«

Bell schüt­tel­te den Kopf, ob­wohl er sich die Ant­wort den­ken konn­te. Gleich­zei­tig griff er nach ei­nem Pint-Glas, wel­ches ein Kelln­er­ro­bo­ter auf ei­nem Ta­blett her­an­roll­te. Er hielt dem Ro­bo­ter sein Ho­lo­fon ent­ge­gen. »Wer?«

»Der Brief­trä­ger. Al­so, die­ser An­dro­id, der in mei­nem Vier­tel qua­si den Haus­meis­ter macht, ei­gent­lich. Erst gra­tu­liert er mir und dann drückt er mir den Cu­sto-Droh­brief in die Hand.« Hu­go lach­te. »Jetzt muss ich mir wohl wirk­lich einen Part­ner su­chen.«

»Sieht so aus.« Bell nahm einen Schluck von dem röt­li­chen Bier und schüt­tel­te den Kopf. Vi­el­leicht hät­te er sich ge­nau­er in­for­mie­ren sol­len. Er deu­te­te auf das Ge­schenk, wel­ches noch im­mer vor Hu­go auf dem Tisch lag. »Da ich dir mein ei­gent­li­ches Ge­schenk nicht ma­chen konn­te, ha­be ich dir ei­ne Jagd­an­lei­tung ge­kauft. Mach auf!«

»Dein ei­gent­li­ches Ge­schenk?«

»Ro­ma­now von dir weg­ho­len. Aber Mil­ler hat mir sei­nen Nef­fen und einen Ver­stoß ge­gen Pa­ra­graph 27 auf­ge­drückt.«

»Das Fa­mi­li­en­ge­setz?« Hu­go nahm das Pa­ket und be­frei­te es von dem bun­ten Pa­pier. Er schob das Buch, das sich dar­in be­fand, et­was nä­her an die elek­tri­sche Ker­ze auf dem Tisch. »›101 nar­ren­si­che­re Metho­den, ei­ne Part­ne­rin zu fin­den‹. Bist du si­cher, dass du das nicht lie­ber le­sen soll­test?«

»Ich ha­be noch ein Jahr mehr Zeit.«

»Ein Jahr be­deu­tet nichts.« Hu­go leer­te sein Glas und wink­te nach dem Ro­bo­ter, der ihn je­doch nicht be­merk­te. »Oder hast du je­man­den im Au­ge? Lu­cas viel­leicht?«

Bell schnaub­te. »Mit Si­cher­heit nicht. Aber ich ver­las­se mich auf die gu­te Da­me von der Wä­sche­rei. Wo auch im­mer sie stän­dig ih­re weib­li­che Ver­wandt­schaft herzau­bert.«

»Du soll­test die Part­ner­su­che erns­ter neh­men. Ir­gend­wann wirst du ei­ne Fa­mi­lie ha­ben wol­len. Oder müs­sen.«

»Müs­sen wohl eher. Wa­rum kann Cu­sto einen zu­frie­de­nen Jung­ge­sel­len ei­gent­lich nicht in Ru­he las­sen? Au­ßer­dem bist du der Rich­ti­ge, um dich dar­über lus­tig zu ma­chen.«

»Ich ha­be kein Pro­blem da­mit, mich an­de­ren Men­schen an­zu­ver­trau­en. Ins­be­son­de­re nicht dei­ner Schwes­ter. Ei­gent­lich hat­te ich ge­hofft, du bringst sie mit.«

Bell schüt­tel­te den Kopf. »Und weil du so gut mit Men­schen kannst, sitzt du den gan­zen Tag in die­ser Ab­stell­kam­mer vol­ler Elek­tro­nik und schaffst es nicht ein­mal, das Gang­licht zu re­pa­rie­ren.«

»Ich bin Si­cher­heits­tech­ni­ker, nicht der Haus­meis­ter.« Hu­go zuck­te mit den Schul­tern.

»Dann lass einen dei­ner Mit­ar­bei­ter das Ding aus­wech­seln.«

»Wenn die die nö­ti­gen Kom­pe­ten­zen hät­ten, wä­re das schon lan­ge er­le­digt.« Hu­go seufz­te. »Aber die re­den sich stän­dig mit ir­gend­wel­chen Sys­tem­kon­trol­len raus, auch nur ein we­nig ver­nünf­ti­ge Ar­beit zu leis­ten. Vi­el­leicht soll­te ich die Tech­nik an­ru­fen, da­mit sie je­man­den vor­bei­schi­cken?«

»Und wir Lu­cas im Haus ha­ben? Ver­giss es.«

Der Kelln­er­ro­bo­ter dräng­te sich durch das Ge­wühl an ih­ren Tisch. Hu­go gab sei­ne Be­stel­lung auf. »Aber jetzt wirk­lich. Was macht dei­ne Schwes­ter so? Ist sie im­mer noch Sin­gle?«

»Ele­na ist nicht dein Typ. Sie mag Leu­te mit ei­nem Händ­chen für le­ben­di­ge Din­ge, Kat­zen und Blu­men. Nicht für Com­pu­ter.«

»Wo du von Blu­men re­dest, hast du mein Ge­schenk zur Be­för­de­rung be­kom­men?«

»Das al­ber­ne Grün­zeug? Es macht sich gut ne­ben den Ak­ten­schrän­ken, ja. Aber hät­test du nicht ir­gend­was ver­nünf­ti­ges kau­fen kön­nen? Ei­nen Klei­der­stän­der oder ein schö­nes Fo­to?«

»Um dich an dei­ne Fa­mi­lie oder dei­ne Angst vor Fahr­stun­den zu er­in­nern?«

»Ich ha­be ei­ne Fahr­schu­le ge­fun­den. Ich muss mich nur noch an­mel­den. Der Fall kam mit da­zwi­schen.«

Hu­go seufz­te und schüt­tel­te den Kopf. »Ich bin ge­spannt, wann du die U-Bahn auf­gibst. Aus­ge­rech­net du.«

»Die Zü­ge sind be­leuch­tet.« Bell zuck­te mit den Schul­tern. »Was ist mit Ro­ma­nows Fall? Weiß er schon, wie die Fa­mi­lie an den ver­rück­ten Ro­bo­ter ge­kom­men ist?«

»Ein Mit­ar­bei­ter der Müll­ab­fuhr hat wohl auf ei­ge­ne Faust al­te Pla­ti­nen ge­sam­melt und ver­kauft. Das hat ihm je­den­falls die Fa­mi­lie er­zählt.« Hu­go zuck­te mit den Schul­tern. »Ich bin si­cher, dein Freund Lu­cas wür­de sich sehr da­für in­ter­es­sie­ren.«

Bell schob sein Bier ein we­nig mehr in die Mit­te des Ti­sches. Das Zeug war über­haupt nicht sein Ge­schmack und er wür­de heu­te Abend nicht ge­nug trin­ken kön­nen, um et­was dar­an zu än­dern. »Sei froh, dass er nichts da­von weiß. Aber im­mer­hin klingt die Sa­che auf­re­gen­der, als auf Mil­lers Nef­fen auf­zu­pas­sen und mich mit Fäl­len rum­zu­schla­gen, von de­nen ich nicht mal si­cher bin, ob sie Ver­bre­chen sind oder nicht. Ist es ein Ver­bre­chen, ei­ne Part­ner­schaft ge­heim­zu­hal­ten, wenn man mit der Per­son nicht ver­part­nert ist?«

»Kei­ne Ah­nung. Frag einen Rich­ter.« Hu­go griff über den Tisch nach Bells Glas. »Du trinkst das nicht mehr, neh­me ich an?«

»Du bist gei­zig.« Bell mach­te ei­ne weg­wer­fen­de Ges­te.

»Ich ge­nie­ße den Abend und das soll­test du auch tun.«

»Du bist das Ge­burts­tags­kind. Du soll­test mich da­zu ein­la­den.«

»Vi­el­leicht hast du Recht. Mit der nächs­ten Run­de. Wenn die an­de­ren Jungs da sind.«

Freitag, 15. Juni: Familie Kalinin

Bell und Vik­tor stan­den am nächs­ten Vor­mit­tag an der Pfor­te des Bot­kin-Kran­ken­hau­ses. Der jun­ge Mann, der die neu­en Pa­ti­en­ten und die Be­su­cher in der Da­ten­bank re­gis­trier­te, wisch­te ge­lang­weilt durch ei­ne Web­si­te auf sei­nem Ho­lo­fon und schenk­te ih­nen kei­ne Be­ach­tung.

Bell räus­per­te sich zum vier­ten Mal, ehe er dem Pfört­ner sei­ne Dienst-ID buch­stäb­lich un­ter die Na­se hielt. »Agent Bell, Si­cher­heit. Ich muss mit Dok­tor Ka­li­nin re­den.«

»Schon wie­der?« Der Kerl be­saß die Frech­heit, selbst jetzt nicht auf­zu­se­hen. »Aber ich muss Sie ent­täu­schen, Agent Bell. Es ist Frei­tag, Dok­tor Ka­li­nin ist nicht im Haus. Er hat über das Wo­che­n­en­de für ge­wöhn­lich frei. Wenn Sie mich al­so wie­der mei­ne Ar­beit ma­chen las­sen wür­den.«

»Kann ich statt­des­sen mit ei­nem sei­ner Kol­le­gen spre­chen?«

»Wel­chen Kol­le­gen wür­den Sie denn spre­chen wol­len?« Im­mer­hin leg­te der Pfört­ner sein Ho­lo­fon zur Sei­te und wid­me­te sei­ne Auf­merk­sam­keit dem al­ter­tüm­li­chen Dienst­com­pu­ter oh­ne Ho­lo­gramm­aus­ga­be.

Bell schüt­tel­te den Kopf. »Ist mir egal. Je­mand von sei­ner Sta­ti­on oder noch bes­ser ein Kin­der­arzt.«

»Oh­ne einen Na­men kann ich Sie nicht an­mel­den, tut mir leid. Au­ßer­dem soll­ten Sie schon wis­sen, wer für Ihren Fall von Be­deu­tung ist und wer nicht. Auch die Si­cher­heit kann nicht ein­fach Ärz­te von ih­rer Ar­beit ab­hal­ten.«

»Es wer­den ja wohl nicht al­le im Ope­ra­ti­ons­saal sein.« Bell seufz­te. Die­se Stadt und ih­re Be­hör­den konn­ten ein Alb­traum sein, ins­be­son­de­re in den in­ne­ren Rin­gen. Die äu­ße­ren moch­ten zwar ge­fähr­li­cher sein, aber we­nigs­tens hat­ten die meis­ten Leu­te dort Re­spekt vor sei­ner Uni­form. Au­ßer de­nen, die ihn des­we­gen um­brin­gen woll­ten. »Ich brau­che nicht mehr als ei­ne hal­be Stun­de.«

»Kein Na­me, kein Ter­min. Tut mir Leid, Agent Bell. Wenn Sie ei­ne Dienst­an­wei­sung oder we­nigs­tens ei­ne Ah­nung ha­ben, wo­nach Sie su­chen, kön­nen Sie ja wie­der kom­men. Oder Sie ver­su­chen, Dok­tor Ka­li­nin zu­hau­se zu be­su­chen.«

»Hö­ren Sie, ich bin jetzt hier und ich wer­de so oder so mit ei­nem der an­de­ren Ärz­te spre­chen müs­sen. Al­so warum ma­chen wir es uns nicht bei­den ein­fa­cher und Sie ru­fen ein­fach je­man­den her?« Was war es ei­gent­lich, dass al­le Pfört­ner in die­ser Stadt be­schlos­sen hat­ten, ihn in den Wahn­sinn zu trei­ben? Da­mals der Al­te im Kraft­werk und jetzt die­ser jun­ge Kerl im Bot­kin.

Der Pfört­ner igno­rier­te Bell voll­stän­dig. Er stand auf, hol­te ein klei­nes Gerät aus ei­nem Schrank auf der an­de­ren Sei­te des klei­nen Empfangs­räum­chens und wink­te da­mit je­man­dem zu. »Dok­tor Wla­di­mir­so­na! Sie ha­ben schon wie­der Ihren Pie­per ver­ges­sen!«

Bell run­zel­te die Stirn. Die­ses Kran­ken­haus war noch alt­mo­di­scher aus­ge­stat­tet als die Si­cher­heit. Pie­per und die­se Com­pu­ter mit ih­ren Bild­schir­men. Hof­fent­lich wa­ren we­nigs­tens die Be­hand­lungs­me­tho­den mo­dern. Nicht, dass er vor­hat­te, dem­nächst die Kom­pe­tenz der Ärz­te hier aus­zu­pro­bie­ren.

Ei­ne Ärz­tin in Bells Al­ter schob sich an ihm vor­bei an den Tre­sen und nahm dem Pfört­ner den Pie­per aus der Hand. »Dan­ke.«

»Es wä­re ei­ne Schan­de, wenn Sie nicht ins La­bor kom­men könn­ten.« Der jun­ge Kerl grins­te.

»Ins La­bor? Ver­zei­hung, Mein Na­me ist Bell, ich bin Agent der Si­cher­heit. Sie sind nicht zu­fäl­lig von der Im­mu­no­lo­gie?«

Die Ärz­tin sah sich ir­ri­tiert nach Bell um. Sie schi­en den Agen­ten vor­her nicht be­merkt zu ha­ben. »Ich bin zu­fäl­lig nicht von der Im­mu­no­lo­gie. Ich bin Mi­kro­bio­lo­gin. Wa­rum fra­gen Sie?«

»Ich su­che einen Kol­le­gen von Dok­tor Ka­li­nin. Ich ha­be ei­ni­ge Fra­gen be­züg­lich ei­nes Kin­des, das er hier be­han­delt.«

»Dann ha­ben Sie Glück. Ich bin Teil der For­schungs­grup­pe für blut­ge­bun­de­ne Krank­hei­ten. Eben­so wie er. Wie kann ich Ih­nen hel­fen, Agent Bell?«

»Blut­ge­bun­den?« Bell schüt­tel­te den Kopf. Hat­te das Kind nicht auch et­was von Blut ge­sagt? Aber jetzt war nicht die Zeit, dar­über nach­zu­den­ken. Er schal­te­te die Auf­nah­me­funk­ti­on sei­nes Ho­lo­fons ein, deu­te­te aber gleich­zei­tig auf den War­te­be­reich zwi­schen Ein­gang und Empfang. »Wa­rum set­zen wir uns nicht einen Mo­ment? Sie ha­ben nichts da­ge­gen, dass mein Prak­ti­kant an­we­send ist?«

»Nein.« Dok­tor Wla­di­mir­so­na ließ sich auf ei­nem der Plas­tik­stüh­le nie­der. »Al­so, worum geht es?«

»Zu­nächst wüss­te ich ger­ne Ihren Na­men und in wel­chem Ver­hält­nis Sie zu Dok­tor Ka­li­nin ste­hen.«

»Dok­tor Er­len­du­ra Wla­di­mir­so­na, Mi­kro­bio­lo­gin. Ich ar­bei­te ge­mein­sam mit Dok­tor Ka­li­nin an der Er­for­schung blut­ge­bun­de­ner Krank­hei­ten.«

Vik­tor lehn­te ne­ben Bells Stuhl an ei­nem lee­ren Zeit­schrif­ten­re­gal. »Er­len­du­ra Wa­di­mir­so­na? Das ist ein sehr un­ge­wöhn­li­cher Na­me.«

»Ich ha­be ei­ne kom­pli­zier­te Fa­mi­li­en­ge­schich­te. Mei­ne Ur­groß­el­tern sind nach Is­land aus­ge­wan­dert, aber mit der Ka­ta­stro­phe kam mei­ne Fa­mi­lie zu­rück nach Zir­ku­lum. Und bei dem Pa­pier­kram der Ein­wan­de­rung muss et­was mit den Na­men schief­ge­lau­fen sein.« Dok­tor Wla­di­mir­so­na zuck­te mit den Schul­tern. »Aber ich neh­me nicht an, dass dies für Ihren Fall re­le­vant ist?«

»Igno­rie­ren Sie Mis­ter Le­nin ein­fach. Er hat ges­tern erst in der Si­cher­heit an­ge­fan­gen und muss noch ler­nen, dass wir uns nicht in ei­nem De­tek­tiv­film be­fin­den. Sie sag­ten, Sie er­for­schen blut­ge­bun­de­ne Krank­hei­ten? Was darf ich mir dar­un­ter vor­stel­len?«

»Krank­hei­ten, die durch blut­sau­gen­de Pa­ra­si­ten über­tra­gen wer­den, haupt­säch­lich. Mala­ria. In­fek­ti­öse Epi­lep­sie. Bo­rel­lio­se. Aber auch be­stimm­te For­men von Blut­krebs.«

»Mhm. Wis­sen Sie et­was über das Kind, wel­ches Dok­tor Ka­li­nin die­sem Kran­ken­haus be­han­deln lässt? Ist der Jun­ge von ei­ner die­ser Krank­hei­ten be­trof­fen?«

»Ich er­in­ne­re mich, dass er ein Kind hat ein­wei­sen las­sen. Aber so­weit ich das ver­stan­den ha­be lag es an ei­nem Ver­dacht auf ein ge­bro­che­nes Bein und ei­ne grö­ßer Wun­de, die es sich bei ei­nem Sturz zu­ge­zo­gen ha­ben soll. Die For­schungs­grup­pe und das Kind ha­ben je­den­falls nichts mit­ein­an­der zu tun.«

»Wis­sen Sie, in wel­chem Ver­hält­nis Dok­tor Ka­li­nin und das Kind zu­ein­an­der ste­hen?«

»Nein. Vi­el­leicht ist es sein Nef­fe oder das Kind ei­nes Nach­barn?«

»Ha­ben Sie je die El­tern des Kin­des ge­trof­fen?«

»Nein. Aber ich ha­be auch we­nig mit den Pa­ti­en­ten di­rekt zu tun. Vi­el­leicht kann Ih­nen je­mand von der Kin­der­sta­ti­on in die­ser Hin­sicht bes­ser wei­ter­hel­fen als ich.« Dok­tor Wla­di­mir­so­na sah auf die große Uhr bei den Fahr­stüh­len. »Und wenn Sie mich bit­te ent­schul­di­gen wür­den, ich muss lang­sam ins La­bor. Ehren Sie Cu­sto.«

»Si­cher. Ich will Sie nicht wei­ter von der Ar­beit ab­hal­ten. Ehren Sie Cu­sto.«

Bell sah Dok­tor Wla­di­mir­so­na hin­ter­her, schüt­tel­te den Kopf und deu­te­te Vik­tor an, sich zu ihm zu set­zen.

»Was wer­den Sie jetzt tun, Sir?«

»Ich wür­de ger­ne mit dem Kind oder ei­nem der Kin­derärz­te re­den, aber ich fürch­te dass sich die­ser Kerl an der Pfor­te nicht über­zeu­gen las­sen wird. Nicht oh­ne, dass ich Mil­ler in­for­mie­ren muss, je­den­falls.« Bell be­en­de­te die Auf­nah­me­funk­ti­on und ver­band sich statt­des­sen mit dem Ein­wohn­er­re­gis­ter Zir­ku­lums. »Vi­el­leicht soll­ten wir Ka­li­nin einen Be­such ab­stat­ten. Oder sei­ner Schwes­ter.«

»Sei­ner Schwes­ter?«

»Falls sei­ne Kol­le­gin recht hat, könn­te Erast das Kind von ihr sein. Laut dem Re­gis­ter hat sie je­den­falls einen Sohn, der noch nicht zur Schu­le geht. Und steht da wirk­lich ein mo­nat­li­cher Ge­winn von et­wa elf­tau­send Zir­kul?« Bell hielt sein Ho­lo­fon sei­nem Prak­ti­kan­ten ent­ge­gen. »Für ei­ne Gärt­ne­rei?«

Vik­tor nick­te. »Das se­he ich auch. Das ist ei­ne Men­ge Geld.«

»So viel ver­die­nen die Chef­tech­ni­ker, so­weit ich weiß. Aber ich glau­be nicht im Mo­nat.« Bell schüt­tel­te den Kopf. »Die Blu­men, die sie ver­kauft, sind bes­ser aus Gold. Gut. Lass uns mit ihr re­den. Ir­gend­was stimmt hier nicht und ich glau­be nicht, dass es der Fa­mi­li­en­sta­tus die­ses Kin­des ist.«

»Und der Dok­tor?«

»Dem stat­ten wir spä­ter einen Be­such ab. Jetzt will ich zu­erst mit sei­ner Schwes­ter re­den. Elf­tau­send im Mo­nat. Ich bin ge­spannt, ob sie we­nigs­tens ge­nug An­ge­stell­te da­mit durch­zu­füt­tern hat.«

 

Das Ray Ras­te­niy, die Gärt­ne­rei von Feo­do­ra Ka­li­ni­na, lag in Ring Sechs und Bell und Vik­tor brauch­ten mit den Bus­sen rund zwan­zig Mi­nu­ten, um vom Bot­kin dort­hin zu ge­lan­gen. Das rie­si­ge Glas­haus über­rag­te mit sei­nen Stahl­stre­ben und dem spit­zen Dach die um­lie­gen­den Gärt­ne­rei­en und Ge­schäf­te und Bells Woh­nung wür­de fünf- oder sechs­mal auf die Flä­che pas­sen. Nur der bo­ta­ni­sche Gar­ten der Stadt war ein noch grö­ße­res Ge­wächs­haus.

Bell be­trach­te­te den glä­ser­nen Gi­gan­ten ab­fäl­lig. Was für ei­ne Ver­schwen­dung von Platz und Bau­ma­te­ri­al. Wenn es we­nigs­tens ein schö­nes Ge­bäu­de wä­re. Aber nein, es sah aus wie ei­ne rie­si­ge Ver­si­on der Plas­tik­häus­chen, die sei­ne El­tern und sei­ne Schwes­ter für die An­zucht ih­rer Sa­men und Steck­lin­ge nutz­ten. Er schüt­tel­te den Kopf, wink­te Vik­tor zu und trat ein. Im In­ne­ren des Ge­wächs­hau­ses schlug ihm der Ge­ruch ver­schie­de­ner Pflan­zen so hef­tig ent­ge­gen, dass selbst er so­fort er­kann­te, dass es sich hier um le­ben­de We­sen han­del­te, und nicht um gut ge­mach­te Ko­pi­en. Äs­te und We­del hin­gen von den Bäum­chen in ih­ren Töp­fen her­ab und ver­sperr­ten die Sicht auf die Gän­ge im In­ne­ren der Gärt­ne­rei. Bü­sche und Stau­den, so hoch wie Vik­tor, säum­ten die We­ge und ver­wan­del­ten das Glas­haus in ein un­über­sicht­li­ches La­by­rinth. Ir­gend­wo zwi­schen den Pflan­zen krächz­te ein Vo­gel aus ei­nem ka­put­ten Laut­spre­cher.

Bell reck­te sich, schob einen Palm­we­del zur Sei­te und trat ei­ni­ge Schrit­te wei­ter ins In­ne­re des Ge­bäu­des. »Feo­do­ra Ka­li­ni­na? Si­cher­heit!«

Ei­ne jun­ge Frau mit blon­den Lo­cken, ge­ra­de alt ge­nug, um ih­re Aus­bil­dung ab­ge­schlos­sen zu ha­ben, kam durch die Gän­ge an­ge­lau­fen. Sie trug ei­ne grü­ne Schür­ze mit dem Lo­go der Gärt­ne­rei, blieb vor Bell ste­hen und nick­te ihm zu. »Gu­ten Mor­gen, In­spek­tor. Kann ich Ih­nen hel­fen?«

»Si­cher­heits­agent Ed­ward Gre­go­ry Bell. Sind Sie Feo­do­ra Ni­ka­no­ro­wa Ka­li­ni­na?«

Die jun­ge Frau schüt­tel­te den Kopf. Sie deu­te­te mit der Hand den Gang ent­lang, vor­bei an ei­ni­gen ran­ken­den Blu­men mit ro­ten und wei­ßen Blü­ten. »Der Chef ist hin­ten im Bü­ro. Bit­te, fol­gen Sie mir.«

Bell trot­te­te hin­ter ihr her, be­merk­te in der Nä­te aber einen ho­hen Busch mit großen, ro­ten Blü­ten. Er blieb vor ihm ste­hen, sah in einen Blü­ten­kelch hin­ein. Aus der Mit­te der Blü­te streck­te sich ein lan­ger Stem­pel em­por, wie die Zun­ge ei­nes fre­chen Kin­des. Er hat­te die­se Pflan­zen noch nie ge­se­hen, nicht ein­mal auf Bil­dern in al­ten Do­ku­men­ten. Ge­schwei­ge denn ir­gend­wo in der Stadt. Wie die meis­ten der Pflan­zen, an de­nen er vor­bei­ge­kom­men war. »Wo ha­ben Sie Ih­re Wa­ren her?«

»Wir be­zie­hen einen Teil un­se­rer Sa­men und Setz­lin­ge aus dem bo­ta­ni­schen Gar­ten in Ring Sechs. Was wir von dort nicht be­kom­men kön­nen, züch­ten wir selbst. Das Ray Ras­te­niy ist der größ­te Blu­men­händ­ler der Stadt. Wir be­lie­fern die Stadt­gärt­ner eben­so wie Pri­vat­haus­hal­te und Ge­schäf­te, die auf der Su­che nach ei­ner ge­schmack­vol­len De­ko­ra­ti­on sind. Bei uns fin­den sie al­le ty­pi­schen Pflan­zen so­wie schwer zu züch­ten­de und sel­ten ge­han­del­te Exo­ten.«

Bell run­zel­te die Stirn. Die Ant­wort der jun­gen Frau kam so prompt und si­cher, dass sie bei­na­he wie ein An­dro­id klang. Ih­re ei­gen­tüm­li­che, et­was zu lang­sa­me Sprach­me­lo­die half nicht da­bei, sie mensch­li­cher er­schei­nen zu las­sen. Aber Bell konn­te sich kaum vor­stel­len, dass Ka­lin­ins Schwes­ter Ro­bo­ter oder An­dro­iden in die­sem Kli­ma be­schäf­tig­te. Vi­el­leicht war die Sel­ten­heit der Pflan­zen ein Grund für den ho­hen Ge­winn der Gärt­ne­rei. Aber wie vie­le Men­schen in Zir­ku­lum ga­ben ein Ver­mö­gen für Blu­men aus? Er sah sich nach Vik­tor um, der ihm dicht folg­te.

Die jun­ge Frau blieb vor ei­nem höl­zer­nen Ver­schlag ste­hen, der zum Teil mit Moos und an­de­rem Grün­zeug be­wach­sen war. Sie klopf­te an. »Mis­ter Ka­li­nin? Hier sind Be­am­te der Si­cher­heit, die mit Ih­nen spre­chen wol­len!«

»Mis­ter Ka­li­nin?« Bell blin­zel­te ver­wirrt.

Ei­ne kla­re, et­was zu hel­le Män­ner­stim­me ant­wor­te­te von der an­de­ren Sei­te: »Las­sen Sie sie rein­kom­men, Flo­ra!«

Die jun­ge Frau öff­ne­te die Tür in das Bü­ro, nick­te Bell auf­for­dernd zu und ver­schwand an­schlie­ßend wie­der an ih­re Ar­beit.

Ob sie die ein­zi­ge Mit­ar­bei­te­rin hier war? In ei­ner so großen An­la­ge eher un­wahr­schein­lich. Al­ler­dings wa­ren sie auf dem gan­zen Weg nie­man­dem sonst be­geg­net. Bell tausch­te einen Blick mit Vik­tor, ehe er ein­trat.

Die feuch­te Wär­me des Ge­wächs­hau­ses ver­wan­del­te sich zwi­schen den Holzwän­den rasch in ei­ne drücken­de Schwü­le, in der Bell kaum mehr at­men konn­te. Vor ihm stand ein Mann hin­ter ei­nem Schreib­tisch, viel­leicht Mit­te drei­ßig, wenn sein Ge­sicht nor­mal ge­al­tert war. Er trug ein Mus­kels­hirt vom sel­ben Grün wie die Schür­ze sei­ner An­ge­stell­ten mit dem Lo­go der Gärt­ne­rei auf der lin­ken Brust. Sein kur­z­es, dun­kel­blon­des Haar war schweiß­nass und lag eng am Kopf an, aber der Mann selbst zeig­te kei­ne Zei­chen, dass ihm die Schwü­le in ir­gend­ei­ner Form Pro­ble­me be­rei­te­te.

Bell wies sich mit sei­ner ID-Kar­te an­stel­le sei­nes Ho­lo­fons aus, aus Angst, die Elek­tro­nik durch das Kli­ma zu be­schä­di­gen. »Si­cher­heits­agent Ed­ward Gre­go­ry Bell. Das ist mein Prak­ti­kant Vik­tor Le­nin. Sind Sie Feo­do­ra Ka­li­ni­na?«

»Wenn Sie mich so nen­nen wol­len.« Der Mann zuck­te mit den Schul­tern. »Ich be­vor­zu­ge es al­ler­dings, Feo­dor ge­nannt zu wer­den. Seit ich mit der Aus­bil­dung fer­tig bin …«

Bell un­ter­brach Feo­dor Ka­li­nin mit ei­ner ra­schen Ges­te und schüt­tel­te den Kopf. »Ich bin mir si­cher, Ih­re Le­bens­ge­schich­te ist zum rich­ti­gen Zeit­punkt sehr in­ter­essant an­zu­hö­ren. Aber wir sind nicht des­we­gen hier. Sie sind al­so der – äh – Bru­der von Ru­dolf Ka­li­nin, dem Im­mu­no­lo­gen?«

»Hat der Klei­ne et­was an­ge­stellt?«

»Vi­el­leicht.« Bell wisch­te sich über die Stirn. Wie konn­te Feo­dor in die­ser Um­ge­bung über­haupt ar­bei­ten? »Wis­sen Sie et­was über einen Jun­gen na­mens Erast, den Ihr Bru­der be­treut? Oder ei­ne Frau, mit der Ihr Bru­der ver­kehrt?«

»Erast?« Feo­dor Ka­li­nin ließ sich auf sei­nen Stuhl sin­ken. Er rieb sich über Stirn und Schlä­fe, schließ­lich schüt­tel­te er den Kopf. »Ich weiß nichts von ei­nem Kind mei­nes Bru­ders. Ru­dolf ist noch nicht ein­mal ver­hei­ra­tet. Er hat im­mer ge­sagt, er war­tet da­mit auf Cu­stos Ent­schei­dung. Part­ner­su­che ist ihm zu an­stren­gend. Lenkt zu sehr von der Ar­beit ab. Geht es um sei­ne Ar­beit?«

»Ich bin mir nicht si­cher, ver­mut­lich auch. Aber haupt­säch­lich su­chen wir nach der Mut­ter des Kin­des. Laut den Da­ten im Mel­de­re­gis­ter sind Sie ver­hei­ra­tet und ha­ben einen Sohn?«

»Al­ler­dings. Mei­ne Part­ne­rin und ich ha­ben vor et­wa ei­nem Jahr einen Jun­gen aus Ring Null ad­op­tiert. Aber falls Sie da­mit an­deu­ten wol­len, dass es sich da­bei um das Kind han­delt, mit dem mein Bru­der ver­kehrt, muss ich Sie ent­täu­schen. Mein Sohn lebt bei mir zu­hau­se und Ru­dolf und ich ha­ben nur we­nig Kon­takt mit­ein­an­der. Ich kann Ih­nen auch sonst nicht hel­fen, fürch­te ich. Al­ler­dings glau­be ich kaum, dass er ein il­le­gi­ti­mes Kind oder auch nur ei­ne un­an­ge­mel­de­te Part­ner­schaft hat. Er will kei­nen Är­ger mit dem Sys­tem, das woll­te er nie. Es han­delt sich si­cher nur um einen Pa­ti­en­ten. Vi­el­leicht ist es das Kind ei­nes Nach­barn?«

»Wann ha­ben Sie Ihren Bru­der zu­letzt ge­se­hen?«

»Das ist be­reits ei­ne Wei­le her. Wie Ih­nen auf­fal­len dürf­te, le­ben und ar­bei­ten wir in ver­schie­de­nen Rin­gen und Be­zir­ken. Durch die Gärt­ne­rei ha­be nicht mehr viel Zeit für Fa­mi­li­en­tref­fen. Au­ßer­dem war Ru­di nie voll­kom­men mit mei­nem Le­bens­stil ein­ver­stan­den. Ich glau­be, er hat Angst, dass ich da­mit ir­gend­ei­ne Re­gel bre­che und sich dies ne­ga­tiv auf sei­ne Kar­rie­re aus­wirkt.«

Bell nick­te nach­denk­lich. »Darf ich fra­gen, warum Sie in Ring Sechs le­ben? Ih­re Fa­mi­lie scheint ei­ne ho­he Frei­ga­be zu be­sit­zen.«

»Dann ha­ben Sie Ih­re Nach­for­schun­gen aber schlecht an­ge­stellt.« Feo­dor lach­te. »Mei­ne Fa­mi­lie stammt aus Ring Vier. So­wohl Ru­dolf als auch ich ha­ben uns hoch­ge­ar­bei­tet.«

»Ich ver­ste­he. Ken­nen Sie je­man­den, der Ihrem Bru­der et­was an­hän­gen wol­len könn­te?«

»Nein. Nicht oh­ne län­ger dar­über nach­zu­den­ken, je­den­falls. Aber ich ken­ne sei­ne Nach­barn und Kol­le­gen nicht. Ich fürch­te, ich bin Ih­nen kei­ne be­son­ders große Hil­fe. Tut mir leid.«

Bell griff sich an den Kno­ten sei­ner Kra­wat­te, wi­der­stand aber im letz­ten Mo­ment der Ver­su­chung, ihn zu lo­ckern. Er hat­te noch ei­ni­ge Fra­gen, die in sei­nem Kopf her­um wa­ber­ten, aber nicht in die­sem Kli­ma. Wenn er das Bü­ro nicht bald ver­ließ, wür­de er um­kip­pen. »Ich dan­ke Ih­nen den­noch für Ih­re Ko­ope­ra­ti­on. Soll­te ich wei­te­re Fra­gen ha­ben, wer­de ich auf Sie zu­kom­men.«

»Tun Sie dass. Sie kön­nen mich wäh­rend un­se­rer Öff­nungs­zei­ten hier er­rei­chen. War­ten Sie.« Feo­dor Ka­li­nin öff­ne­te ei­ne Schub­la­de sei­nes Schreib­ti­sches und reich­te Bell ei­ne alt­mo­di­sche Vi­si­ten­kar­te. »Da­mit Sie nicht lan­ge nach der Num­mer su­chen müs­sen.«

»Vie­len Dank.« Bell steck­te die Kar­te zu­sam­men mit sei­ner ID in die fla­che Bör­se in sei­ner Ta­sche. Die dün­ne Pap­pe fühl­te sich mod­rig und kleb­rig an. Au­ßer dem Chef­gärt­ner schi­en nichts das Kli­ma die­ses Bü­ros gut zu ver­tra­gen. Vi­el­leicht war das der Grund, wes­halb hier nicht ein­mal ein al­ter­tüm­li­cher Rech­ner stand, nur ein ana­lo­ges Te­le­fon und Ber­ge von Pa­pier. »Ehren Sie Cu­sto!«

Bell be­eil­te sich, das Bü­ro und den über­dach­ten Dschun­gel zu ver­las­sen. Vor dem Ge­wächs­haus at­me­te er tief durch. Der Som­mer hat­te zwar eben­falls ei­ne drücken­de, war­me Feuch­tig­keit durch die Stadt ge­schickt, aber hier drau­ßen stau­te sie sich we­nigs­tens nicht.

Vik­tor stand ne­ben ihm. Dem Jun­gen schi­en die Schwü­le nichts aus­ge­macht zu ha­ben, er war eben­so auf­merk­sam und ener­ge­tisch wie zu­vor. »Wie ma­chen wir jetzt wei­ter?«

»Das ist ei­ne ver­dammt gu­te Fra­ge.« Bell zog sein Ho­lo­fon her­vor und warf einen Blick auf die Uhr. »Wir ha­ben fast Mit­tag. Vi­el­leicht ha­ben wir Glück und Ka­li­nin oder ei­ner sei­ner Nach­barn ist zum Mit­ta­ges­sen zu­hau­se. Wenn nicht gibt es dort be­stimmt ein Café oder der­glei­chen, wo wir selbst Pau­se ma­chen kön­nen.«

»Aber …«

»Ich ha­be dir ge­sagt, dass die Din­ge lang­wei­lig wer­den. Mis­ter Mil­ler hat einen sehr un­in­ter­essan­ten Fall aus­ge­wählt.« Bell zuck­te mit den Schul­tern. »Al­so müs­sen wir wohl das Bes­te dar­aus ma­chen. Im­mer­hin lernst du so die wah­re Er­mitt­lungs­ar­beit ken­nen.« Oh­ne auf einen wei­te­ren Pro­test oder Fra­gen Vik­tors ein­zu­ge­hen, stapf­te Bell zur nächs­ten Bus­hal­te­stel­le.

 

Das Wohn­ge­biet in Ring Sie­ben, Be­zirk eins war ei­ne große, ge­pfleg­te Fuß­gän­ger­zo­ne. Die dop­pel­stö­cki­gen Häu­ser be­her­berg­ten im Erd­ge­schoss ein La­den­lo­kal und dar­über ei­ne Wohn­ein­heit. Ru­dolf Ka­li­nin leb­te in 35-A, di­rekt über ei­nem Ge­schäft für Da­men­wä­sche. Der Auf­gang von der ge­pflas­ter­ten Ein­kaufs­pla­za zum um­lau­fen­den Bal­kon der Woh­nun­gen war nur zwei Häu­ser ent­fernt.

Bell führ­te Vik­tor zu Ka­lin­ins Woh­nung. Er stell­te sich hoch auf­ge­rich­tet seit­lich an die Haus­tür und klopf­te.

Kei­ne Re­ak­ti­on aus dem In­ne­ren des Hau­ses.

Er klopf­te ein wei­te­res und noch ein drit­tes Mal, dann seufz­te er, spann­te er­neut die Schul­tern und mach­te ein erns­tes Ge­sicht. Sein vier­tes Klop­fen war nach­drück­li­cher. »Si­cher­heit! Öff­nen Sie die Tür!«

Vik­tor be­ob­ach­te­te ihn auf­merk­sam, aber zu­neh­mend skep­tisch.

Bell wand­te sich von der Tür ab und schüt­tel­te den Kopf. Er warf einen Blick durch das run­de Fens­ter ne­ben der Tür in den Flur des Hau­ses. Das Licht war aus, im In­ne­ren be­weg­te sich nie­mand. Ent­we­der ver­steck­te sich Ru­dolf Ka­li­nin ge­zielt vor der Si­cher­heit oder er war tat­säch­lich nicht zu­hau­se. Bell wand­te sich ab. »Der Dok­tor scheint nicht da zu sein. Ent­we­der wir ver­su­chen es di­rekt bei ei­nem Nach­barn, oder wir war­ten auf ihn und es­sen zu Mit­tag.«

»War­ten? Wo? Hier auf dem Gang?«

»Wir müs­sen in der Nä­he blei­ben. Wei­ter nichts. Die Woh­nung im Blick be­hal­ten.« Bell trot­te­te die Ga­le­rie ent­lang, wel­che die Ein­gän­ge zu den Wohn­ein­hei­ten die­ses Blocks mit­ein­an­der ver­band und blieb vor der Tür des Nach­bar­hau­ses ste­hen. Er be­trach­te­te die blass­gel­be Far­be, die ne­ben dem Tür­rah­men ab­blät­ter­te, und das Fens­ter, wel­ches not­dürf­tig mit ei­nem al­ten Hand­tuch ab­ge­hängt war. Auf dem Na­mens­schild un­ter der Num­mer der Ein­heit stand in Schreib­schrift der Na­me Ko­ma­row. Der An­blick des Ge­bäu­des er­in­ner­te ihn an sei­ne Zeit in Ring Null. Er schüt­tel­te den Kopf. Dass es so­weit im In­ne­ren über­haupt her­un­ter­ge­kom­me­ne Woh­nun­gen gab. We­nigs­tens schim­mer­te Licht an dem Hand­tuch vor­bei nach drau­ßen. Er klopf­te.

Ei­ni­ge Krü­mel Far­be und Ver­putz lös­ten sich vom obe­ren Rah­men und rie­sel­ten auf die Flie­sen der Ga­le­rie hin­ab.

»Si­cher­heit. Öff­nen Sie die Tür!«

Zu Bells Er­stau­nen hör­te er im In­ne­ren des Hau­ses so­fort ei­ne Tür ge­hen. Er trat einen Schritt zu­rück, hob sein Ho­lo­fon auf Au­gen­hö­he und leg­te die freie Hand si­cher­heits­hal­ber auf sei­ner Waf­fe ab.

---ENDE DER LESEPROBE---