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Edward Gregory Bells großer Tag ist gekommen, als er in Vertretung seines Vorgesetzten einen Fall im Außendienst übernehmen darf. Doch statt eines einfachen Vergehens gegen die Arbeitssicherheit erweist sich der Fall als Sabotageakt. Und zu allem Überfluss ist Bells Vorgesetzter nicht mehr zu erreichen. Wie weit wird der Sicherheitsinspektor gehen, um die Sicherheit seiner Stadt zu gewährleisten? Der spannende erste Band der Cyberpunk-Krimireihe »Zirkulum« in einer neuen und überarbeiteten Fassung. Tauchen Sie ein in eine Stadt, in der KI die Regierung übernommen hat!
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Zirkulum
Roman
Sarah Sander
Independently published
Impressum
Text und Verlag
Sarah Sander
Gräbenstraße 6
65604 Elz
Überarbeitete und verbesserte Auflage, April 2024
Alle Rechte beim Autor
Copyright © 2024
by S. Sander (Autor)
© Covergestaltung 2016 Jenny Zalfen
Sonntag, 11. Februar: Edward Gregory Bell
Montag, 12. Februar: Sicherheitsinspektor
Dienstag, 13. Februar: Maschinenrebellion
Mittwoch, 14. Februar: Conviction
Sonntag, 18. Februar: Ring Null
Montag, 19. Februar: In die Stadt
Dienstag, 20. Februar: Der Freizeitring
Mittwoch, 21. Februar: Der Freizeitpark
Donnerstag, 22. Februar: Skyler
Unbekanntes Datum: Custo
Freitag, 23. Februar: Beweissicherung
Samstag, 10. März: Verhandlung
Edward Gregory Bell schlug mit der Faust auf die Tischplatte. »Verdammt nochmal!«
Der Sicherheitspolizist saß an seinem Schreibtisch in dem gekachelten Großraumbüro der Sicherheitszentrale und starrte auf den altertümlichen LCD-Schirm vor ihm. Zwei wütende Augen spiegelten sich in dem tiefen Schwarz. Eine steile Falte zierte die Stirn darüber, eingerahmt von dunkelblonden Haarsträhnen, die aus der ansonsten tadellosen Frisur hangen. Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar, in dem erfolglosen Versuch, die Strähnen wieder an ihren Platz zu schieben. Die Bewegung beruhigte ihn weniger, als er sich erhofft hatte.
Er musste diesen Bericht heute abgeben, aber natürlich sabotierte ihn die Technik. Dabei sollte die Korrektur schon seit Stunden im Büro von Sicherheitsgeneral Miller liegen. Bevor Clinton seinen Urlaub angetreten hatte. Jetzt hatte er nur noch Zeit bis zu seinem Feierabend. Wenn er den korrigierten Bericht für seinen Vorgesetzten bis dahin nicht abgab, würde Clinton Ärger mit dem Chef bekommen. Und dann würde Bell Ärger mit Clinton bekommen und seine Beförderung rückte noch weiter in die ungewisse Zukunft. Bells Magen krampfte sich zusammen, ebenso wie seine Hände.
Ein Kollege am Nachbartisch sah sich zu ihm um. Sein Computer lief tadellos. Jeder Computer in diesem Raum lief tadellos. Jeder, außer Bells.
»Kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte sich der Kollege.
»Das verdammte Mistding hat schon wieder den Geist aufgegeben«, brummte Bell. »Das vierte Mal in den letzten zwei Tagen.«
»Was haben Sie gemacht?«
»Was ich gemacht habe?« Bell fuhr herum. Er stierte seinen Kollegen an, als hätte dieser ihn eines Mordes bezichtigt, dann schüttelte er den Kopf. Er musste sich beruhigen. Sein Kollege hatte nichts mit der Sache zu tun. Es war ein Kampf zwischen ihm, dem Computer und der laxen Arbeitsmoral seines Vorgesetzten. »Nichts. Ich war dabei, Clintons Fallakte zu korrigieren, als das Ding einfach runtergefahren ist.« Er klopfte mit den Fingerknöcheln auf das Gehäuse des würfelförmigen Rechners, etwas fester als nötig. Ein hohles Geräusch hallte über den Schreibtisch. »Macht piep und geht aus. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass ein Virus in Clintons Dokumenten ist.«
Er wollte den letzten Satz wie einen Scherz klingen lassen, aber er war noch immer zu wütend über den Absturz, so dass es wie ein Vorwurf hervorkam.
Sein Kollege runzelte die Stirn. »Ging es bei dem Fall nicht um sowas? Spionage oder Sabotage?«
Bell schüttelte den Kopf. Allmählich entspannte sich sein Magen wieder. »Ich glaube nicht. Ist bloß der Stromausfall. Von einem Virus steht nichts in dem Bericht. Soweit ich ihn lesen konnte. Viermal. Verdammt. Ich habe diesen Bericht viermal zur Hälfte gelesen, und alles nur, weil Miller zu geizig ist, uns endlich neue Computer zu besorgen. Wie lange sind die Dinger schon in Betrieb? Hundertfünfzig Jahre?« Bell sah auf seine analoge Armbanduhr, ein antikes Stück aus den 1980ern Jahren.
»Nicht so lange wie deine Uhr jedenfalls. Kann ich helfen?«, mischte sich eine flötende, viel zu fröhliche Stimme in Bells Ausbruch. »Ich krieg den guten Blocko sicher wieder zum Laufen.« Hugo Reynolds, Cheftechniker der Sicherheit, lehnte sich neben Bell an dessen Schreibtisch.
Bell sah auf und seufzte tief. Hugo, der einzige Freund unter seinen Kollegen, Schönling der Behörde und wahnsinnig wie alle Techniker. »Was tust du hier? Und wer ist Blocko?«
Hugo deutete auf den Lautsprecher über der Tür, ohne aufzusehen: »Der Chef hat mich hergeschickt. Er meint, seine Durchsagen kommen in letzter Zeit nicht an.«
»Ist er sicher, dass es an den Lautsprechern liegt und nicht daran, dass alle ihn ignorieren?«
»Wann hast du das letzte Mal eine Durchsage gehört?«
»Ist was dran. Aber wenn Miller dich schickt, solltest du dich lieber um deinen Auftrag als um meinen Rechner kümmern.« Bell stand auf. »Ich werde jetzt nach Hause gehen. Soll sich Clinton selbst um den verdammten Bericht kümmern. In den inneren Ringen gibt es sowieso nichts Sinnvolles zu tun.«
Der Sicherheitstechniker beugte sich über den Tisch und betrachtete den Computer, ohne ihn zu berühren. »Du hast also nur den Bericht gelesen?«
»Korrigiert. Eigentlich sollte ich ihn heute Vormittag abgeben, bevor Clinton sich davonmacht. Aber das dämliche Teil spielt nicht mit. Und jetzt frisst es sich in meinen Feierabend, wie es aussieht. Ganz ehrlich, bei der Arbeit, die ich für ihn mache, könnte ich auch gleich Clintons Posten kriegen.« Bell zog das schwarze Jackett seiner Uniform von der Rückenlehne seines Schreibtischstuhls und legte es sich über die Schulter, dann griff er nach seiner Geldbörse auf dem Schreibtisch.
»Wenn du mir fünf Minuten gibst, bekomme ich Blocko wieder hin.« Hugo setzte sich. Er zog den Computer zu sich heran, löste die Klappe und begutachtete die Platinen im Inneren. »Oder auch nicht. Was hast du gemacht? Hast du Kaffee ins Gehäuse geschüttet?«
»Ich sagte doch, die Rechner hier sind überaltert. Also, kriegst du es vor Feierabend hin oder nicht?«
»Mmh«, machte Hugo und wiegte den Kopf. Er stöpselte die Kabel von dem Würfel und zog ihn näher zu sich, dann sah er zu den Lautsprechern auf. »Ich werde einen meiner Leute damit beauftragen müssen, fürchte ich. Der Chef geht vor.«
»Also kein Feierabend?« Bell seufzte. Und das alles nur, weil Clinton seine Arbeit nicht selbst erledigen konnte. »Was soll ich Miller sagen?«
»Gar nichts. Ich bestätige dir den Defekt. Aber wenn du dich auf seine gute Seite stellen willst, solltest du den Bericht vielleicht zu Hause fertig korrigieren.«
Bell seufzte. Er nahm die Chipkarte mit Clintons Unterlagen vom Schreibtisch und nickte. »Wahrscheinlich hast du Recht. Viel Erfolg mit dem Lautsprecher und ehre Custo.«
»Du gehst jetzt schon? Wir haben nicht mal halb sechs.«
»Kann ich hier noch was machen? Nein. Also werde ich den Kram mit nach Hause nehmen und von dort arbeiten. Wir sehen uns später!« Bell zog sein Jackett über, packte seinen Mantel und verließ die Sicherheitszentrale. Eisiger Februarwind schlug ihm entgegen. Er wickelte sich fester in den schwarzen Mantel und stapfte die Straße entlang zu den Wohngebieten von Ring Drei.
Er erreichte den Wohnkomplex eine halbe Stunde später. Ein einzelnes Motorrad tuckerte an ihm vorbei. Er sah ihm nach und lächelte in sich hinein, doch seine Knie zitterten. Der Fahrer und das Motorrad bogen um die nächste Kurve. Bell wandte sich ab und stieg die metallenen Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Seine Schritte machten ein hohles Geräusch, das als Echo von den eckigen Gebäuden mit ihren gelb-grauen Fassaden zurückgeworfen wurde. Immerhin bildete der Komplex eine U-Form, ein Schutz, gegen den Wind, der Bell auf dem Weg begleitet hatte.
Er trottete an der Wohnung neben seiner vorbei. Sein Blick durch das Fenster seines Nachbarn. Glänzende Bauteile und alte Platinen warfen das Licht der Straßenlaternen zurück. Elektroschrott versteckte die Möbel und den Fußboden.
Bell seufzte. Ring Drei glich immer mehr den äußeren Ringen, schmutzig und vergessen. Kein Ort für einen Sicherheitsbeamten. Aber ohne Beförderung konnte er nicht einmal von träumen, einen Bungalow in Ring Vier zu beziehen. Ein schickes Haus mit runden Wänden und Platz für ein eigenes Aquarium. Kein Hühnerkäfig wie seine jetzige Wohnung. Aber als Mitarbeiter im Innendienst war er für Custo zu unbedeutend, um einen hohen Status zu rechtfertigen. Damit er überhaupt Aussicht auf einen höheren Status hatte, korrigierte er Clintons Berichte. Um dann bei der nächsten Beförderung übergangen zu werden. Wenigstens konnte er nach getaner Arbeit in den Sterla gehen, den Dartclub im nördlichen Ring Drei.
Er zog seine ID-Karte durch den Schlitz neben der Eingangstür. Die Tür sprang auf, Bell trat ein und setzte sich an den winzigen Tisch hinter der Tür, auf dem sein tragbarer Computer stand. Ein klobiges Stück aus Hugos privater Sammlung, noch aus ihren Schultagen, genauso langsam wie die Rechner im Büro, aber deutlich zuverlässiger. Bell klappte ihn auf und startete. Während der alte Rechner die Arbeit aufnahm, schloss Bell ein Lesegerät für die Chipkarte an. Er kopierte den Bericht auf den Desktop und korrigierte zum fünften Mal die erste Hälfte des Berichts. Stromausfall im Fabrikviertel von Ring Drei. Die Liste der bisher betroffenen Gebäude. Keine Gespräche mit Zeugen. Bell gähnte. Normalerweise beneidete er die Inspektoren um ihre Aufgaben, aber Clinton überwachte die Fabriken zuständig. Der Aufpasser für die Technikbehörde. Ein besserer Papiertiger. Nur durfte Sicherheitsinspektor Clinton den Papierkram abschieben.
Bell rieb sich über die Augen und las weiter. Die zweite Hälfte des Berichts beschäftigte sich mit der Ursache des Stromausfalls, einem Defekt im Kraftwerk. Bell spante sich. Clinton hatte keinen Hinweis auf ein technisches Problem gefunden, also blieben die Software oder ein Versagen der Mitarbeiter. Aber Clinton schien nicht weit genug gekommen zu sein. Sein Urlaub hatte die Ermittlungen abgebrochen, noch ehe er sie richtig aufgenommen hatte. Und Bell musste sich rechtfertigen, wenn er das Büro eine Stunde eher verließ, obwohl es nichts mehr zu tun gab. Er schnaubte. Sein Blick glitt vom Bildschirm des Laptops zu der Wand gegenüber der Eingangstür, wo sein Bett stand. Wenn er im Außendienst arbeiten und in einer schicken Wohnung mit Aquarium wohnen würde, würde er den Fall nicht einfach ruhen lassen. Aber so blieb ihm nichts anderes übrig, als den Bericht zu korrigieren und sich auf seine Freizeit vorzubereiten.
Mit einem arbeitswilligen Rechner schloss Bell seine Arbeit rasch ab. Er schickte den fertigen Bericht über das Netzwerk der Sicherheit an Miller und ließ sich anschließend auf sein Bett sinken. Sein Blick fiel auf den Wäschekorb neben der Badezimmertür. Die Wäsche darin quoll über die Ränder. Weiße und schwarze Hemden, eine schwarze Hose, zwei Jacketts. Unterwäsche. Und irgendwo dazwischen ein Wollpullover, den seine Schwester ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Eines der wenigen Kleidungsstücke, das nicht zu seiner Uniform gehörte. Bell schüttelte den Kopf. Er musste unbedingt zur Wäscherei. Vielleicht wäre ein Haushaltsroboter keine schlechte Idee, aber allein der Gedanke, seinen Haushalt einer Maschine anzuvertrauen, würgte Bell. Besser eine Haushaltshilfe aus Fleisch und Blut, aber da wusste nie, wen man sich ins Haus holte. Er arbeitete bei der Sicherheit, er hatte Zugang zu sensiblen Daten. Und einen Gedankenchip, den jemand auslesen konnte. Nein, ihm blieb nichts anderes übrig, als seine wenige Freizeit so einzuteilen, dass er nicht irgendwann nackt im Hauptquartier der Sicherheit erschien.
Er stand auf und wühlte in dem Korb nach dem Pullover. Dunkelrot mit Streifen in einer undefinierbaren Farbe. Kratzig. Und er roch unangenehm. Bell warf ihn wieder auf den Stapel. Unter den Umständen würde er später in der schwarzen Hose und einem weißen Hemd im Club aufschlagen. Ohne Krawatte, damit es nicht zu formell aussah.
Sein Weg führte ihn erst zur nächsten U-Bahn-Station und von dort zum Hauptquartier der Technik. Bell stapfte die Stufen zum Ausgang hinauf, blieb auf halber Strecke stehen und las den verwitterten gelben Zettel. Die U-Bahn in Ring Drei sollte schon vor Ewigkeiten geschlossen werden, damit man den Ring an das oberirdische Busnetz anschließen konnte. Eine Kontrollmaßnahme, um es Bewohnern der äußeren Ringe zu erschweren, sich ins Innere der Stadt zu schleichen. Aber die Nachricht trug kein Datum und offensichtlich hatten selbst Custos Schaltkreise das Vorhaben vergessen.
Das Kreischen der U-Bahn riss Bell aus seinen Gedanken. Er verließ die Station und schlenderte über die breiten, beinahe menschenleeren Straßen zu einer Seitengasse zwischen den Backsteinhäusern. Obwohl sie den Anschein von dreihundert Jahre alter Architektur erwecken sollten, erkannte Bell, dass es sich um moderne Häuser handelte. Der Stil der Türen und Fenster passte nicht zur Farbe und Beschaffenheit der Steine. Aber die Kopien waren immer noch besser als die heruntergekommenen Wohnungen oder die gläsernen Türme der Sicherheitszentrale. Backstein hatte Charme.
An dem Haus zu seiner Rechten blinkte eine Leuchtreklame, um Passanten die Tür zum Club Sterla zu zeigen. Nicht, dass es nötig war, denn um diese Uhrzeit bewachte ein ausgewachsener Gorilla in grauem Anzug den Zugang. Der Mann war auffälliger als das Schild und schrie geradezu die Worte begehrter Club. Vor allem war der Türsteher des Dartclubs ein Mensch, kein Roboter, kein Android. Eine lebendige, denkende Person.
Bell trat auf den Mann zu und grüßte ihn beiläufig. »Wie laufen die Geschäfte, Toni?«
»Wie immer, Mister Bell. Heute nur Sie?«
»Ist Hugo noch nicht da? Eigentlich wollten wir zusammen an dem freien Turnier heute Nacht teilnehmen.«
Der Türsteher schüttelte den Kopf, der gegen die breiten Schultern lächerlich klein wirkte. »Hab ihn nicht gesehen.«
»Wahrscheinlich kommt er noch. Er hatte heute eine Menge zu tun.« Bell trat an Toni vorbei in das Dämmerlicht des Flurs. Er beeilte sich, in den eigentlichen Club zu kommen, einen hell erleuchteten, großen Raum, in dessen Mitte eine runde Bar auf ihn wartete. Wände, Polster und der Anstrich der Bar erfüllten den Raum mit einem beruhigenden Blau, sanfte Musik säuselte aus den Deckenlautsprechern, leise genug, um nicht zu stören.
Bell setzte sich an den Tresen, nickte dem Wirt zu und beobachtete drei junge Männer, die auf einer der kurzen Seiten Darts spielten. Der Abend war noch jung und die meisten Gäste des Clubs erschienen erst gegen neun Uhr.
»Heute ganz allein?«, erkundigte sich der Wirt, als er das Bier vor Bell abstellte.
Bell trank einen Schluck, ehe er antwortete: »Hugo hat noch zu tun, nehme ich an. Er wird später dazu stoßen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich die Chance entgehen lassen wird, ein paar Grünschnäbel abzuziehen.« Er lachte und deutete auf die kleine Gruppe. »Ich hoffe, die Burschen spielen sich richtig warm.«
Der Barkeeper ging nicht auf die Bemerkung ein. Er sortierte die Getränke hinter sich und fragte beiläufig: »Warum bringen Sie eigentlich immer nur ihren Kollegen mit?«
Bell stockte. Er klammerte sich an sein Bier und blinzelte sein Gegenüber an. »Was soll die Frage?«
Der Barkeeper deutete erst auf die vier jungen Männer, dann auf einen Tisch in der Ecke, an dem vier junge Frauen saßen. »Es wird Zeit für Sie, nicht wahr?«
Bell entspannte sich. Er zuckte mit den Schultern. »Hugo hat es dringender als ich. Außerdem habe ich dafür keine Zeit. Genau deshalb gibt es Custos System, nicht wahr?«
»Glauben Sie an das System?«
Bell prallte zurück. Er griff hastig nach seinem Glas und trank einen großen Schluck, um Zeit zu gewinnen. Testete der Wirt ihn? Meinte er Frage ernst gemeint? »Sie wissen, dass ich von der Sicherheit komme. Ich könnte Sie für die Frage verhaften.«
»Oh, so meinte ich das nicht.« Der Barkeeper hob abwehrend die Hände. »Aber Sie sind kein Freund der Technik, wenn ich mich richtig erinnere. Es wundert mich, dass Sie ausgerechnet bei so menschlichen Dingen wie der Liebe einem Computerprogramm Vertrauen schenken.«
»Menschen irren, vor allem in der Liebe. Computer mögen kaputt gehen, aber solange sie ordentlich laufen, irren sie nicht. Und Custo läuft ordentlich.«
»Schon seit hundert Jahren.« Der Barkeeper lächelte. Er schob die Anmeldeliste für das Dartsturnier später am Abend über den Tresen zu Bell. »Aber lassen wir das. Sie und Hugo wollen teilnehmen?«
»Wenn Hugo noch kommt. Die Technik im Büro hat heute kollektiv den Geist aufgegeben, fürchte ich.« Bell zog sein Holofon aus der Tasche, kein Anruf und keine Nachricht von Hugo. Er schüttelte den Kopf. »Ich werde ihn besser anrufen und nachfragen.«
Bell stand auf. Er suchte sich eine stille Ecke im Club, abseits der Dartscheiben und wartete darauf, dass Hugo den Anruf annahm. Doch niemand meldete sich. Bell legte auf und betrachtete misstrauisch sein Holofon, dann versuchte er erneut, seinen Freund zu erreichen. Auch der zweite Anruf blieb ohne Erfolg. Bell kehrte zum Tresen zurück. »Er geht nicht ran. Sieht ihm gar nicht ähnlich.«
»Vielleicht ist er schon auf dem Weg hierher?«
Bell wiegte den Kopf. In der U-Bahn gab es keinen guten Empfang, vielleicht hatte Hugo den Anruf nicht mitbekommen. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Wie lange haben wir für die Anmeldung Zeit?«
»Sie beide kriege ich immer noch rein gequetscht, machen Sie sich keine Sorgen.«
Es nicht das Turnier sorgte Bell. Hugo meldete sich weder in den nächsten vierzig Minuten, noch erschien er im Club. Bell hoffte, dass die Reparatur der Lautsprecher in der Zentrale Hugo aufhielt, aber er konnte sich nicht völlig von dem Gedanken lösen, dass etwas passiert sein konnte. Er musste sich ablenken. Hugo war ein erwachsener Mann, kurz vor der Verpartnerung durch Custo, und ein Beamter der Sicherheitsbehörde. Und ein Techniker. Hugo konnte besser auf sich aufpassen als Bell. Hugo war immer davongekommen.
Bell schaukelte sein Bierglas auf seinem Rand hin und her, sah zur Tür und zurück zum Wirt. »Vielleicht kommt Hugo auch heute nicht mehr. Haben Sie zufällig ein Kinoprogramm hier?«
»Für heute? Es laufen sonntags keine Klassiker.«
»Ein neuer Film kann auch eine gute Idee sein.«
Bell kam am nächsten Morgen unruhig ins Büro. Hugo hatte sich den ganzen Abend nicht mehr gemeldet. Ob doch etwas passiert war? Oder hatte er die Zentrale am Ende gar nicht erst verlassen? Vielleicht sollte Bell zuerst in der Werkstatt nachhören, aber das würde bedeuten, durch die Kellerflure zu laufen. Für nichts, schlimmstenfalls. Ob er stattdessen anrufen oder eine Nachricht schicken sollte? Hugos Kollegen antworteten mit Sicherheit.
Bell ließ sich vor seinem Schreibtisch auf den Stuhl fallen und streckte den Arm nach dem Einschaltknopf aus. Das Gerät fuhr mit einem leisen Piepen hoch. Immerhin hatte Hugo oder einer seiner Kollegen die Reparatur beendet. Während er darauf wartete, dass der Rechner einsatzbereit war, sah er aus dem Fenster auf die Straße vor dem Gebäude. Er erkannte einige seiner Kollegen, sah ihnen nach, bis sie vor der Pforte im Nichts verschwanden und schüttelte den Kopf. So früh am Morgen trafen erst die Papiertiger ein, die Beamten im Innendienst, wie er. Die kleinsten Lichter, auf denen die gesamte Sicherheit ruhte. Nach ihnen kamen die Inspektoren, wie Clinton, die Männer und Frauen, die den größten Teil der Arbeit stemmten, Ermittlungen außerhalb der Zentrale führten. Immer nach dem Auftrag des Chefs, natürlich. Clayton Miller selbst kam normalerweise gegen zehn ins Büro, noch vor den Agenten. Die Mitarbeiter, die nach neuen Fällen suchten und ohne direkte Anweisung ermitteln durften. Hugo begann seinen Tag irgendwann zwischen dem der Innendienstmitarbeiter und Agenten. Später als Bell. Vielleicht war er noch nicht im Haus.
Bell schüttelte heftig den Kopf. Er konnte sich nicht ewig damit herausreden, dass Hugo ein erwachsener Mann war und auf sich aufpassen konnte. Er redete von Hugo Reynolds. Sein Freund war zwar bisher aus allen Schwierigkeiten heil herausgekommen, aber jede von ihnen war selbstverschuldet. Hugo besaß ein Talent, in Schwierigkeiten zu geraten. Und der Tunnel zur Werkstatt? Der dunkle Schlund mit einem einzigen, flackernden Licht auf seiner ganzen Länge konnte ihn nicht aufhalten. Nicht heute. Er stand ruckartig auf und stapfte zum Aufzug. Doch ehe er den Rufknopf berührte, klingelte als sein Holofon. Er kramte das kleine Gerät hervor und stockte. Das Display zeigte Millers Namen. Bell atmete tief durch und nahm den Anruf an.
Miller wartete gar nicht erst auf eine Reaktion. »Clinton, Ihr Bericht ist unzureichend. Überarbeiten Sie ihn bis heute Abend!«
Bell seufzte. Clinton hatte sein Dienst-Holofon auf Bells umgeleitet und jetzt konnte Bell sich mit Miller herumärgern. Und egal, wie sehr er sich um Hugo sorgte, Miller ging vor. Bell kehrte an seinen Schreibtisch zurück und rief seinen Chef an. »Sicherheitsgeneral, ich rufe wegen des Berichtes von Sicherheitsinspektor Clinton an. Mister Clinton ist in Urlaub, wie Sie wissen. Ich kann den Bericht nicht weiter überarbeiten, dafür fehlen mir leider die nötigen Informationen.«
Miller schwieg. Er schwieg so lange, dass Bell fürchtete, die Verbindung sein abgebrochen. Endlich antwortete der Sicherheitsgeneral: »Dann schlussfolgern Sie aus dem, was Ihnen vorliegen irgendetwas. Das Wahrheitsministerium will über den Fall auf dem Laufenden gehalten werden. Ich kann nicht warten, bis Clinton aus Ring Sieben zurück ist.«
Bell schnappte nach Luft, blinzelte heftig. Einer seiner Kollegen schob ihn zur Seite, um zum Aufzug zu gelangen, und er ließ es geschehen. Hatte sein Chef ihm gerade aufgetragen, das Wahrheitsministerium zu belügen? In Clintons Namen? Bell schluckte. Er spannte seine Schultern und nickte heftig. »Natürlich. Sicher. In Ordnung. Ehren Sie Custo.«
»Sie sind ein guter Mitarbeiter, Bell. Ich danke Ihnen. Ehren Sie Custo!«
Miller legte auf. Bell sah einen Moment verwirrt auf das Holofon in seiner Hand. Nach und nach fanden die Gedanken zu ihm zurück. Er knurrte. Wieso bliebt Clintons gesamte Arbeit an ihm hängen? Das Wahrheitsministerium beruhigen? Das gehörte nicht einmal mehr annähernd in zu den Aufgaben eines Sicherheitspolizisten im Innendienst! Er sollte einen Antrag stellen, ins Fundbüro zurück versetzt zu werden. Dort blieben einem potentiell lebensbedrohliche Aufgaben wenigstens erspart.
Bell runzelte die Stirn. Lebensbedrohlich oder lebensverändernd? Hugo würde ihm mit Sicherheit raten, die Aufgabe als Chance zu sehen. Miller beachtete ihn und wenn der Bericht zur Zufriedenheit des Wahrheitsministeriums ausfiel, würde Bell doch noch seine Beförderung erhalten. Bell lächelte grimmig. Miller würde den besten Bericht bekommen, den er abliefern konnte.
Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und machte sich erneut an die Arbeit. Er musste die Datei bearbeitet haben, bevor dieser viereckige Schrotthaufen zum fünften Mal beschloss, ebenfalls Urlaub zu nehmen.
Bell heftete seine Augen auf dem Bericht. Seit gestern hatte sich nichts an seinem Inhalt verändert. Wie auch? Miller machte sich nicht die Mühe, Stellen zu markieren, die dem Wahrheitsministerium nicht ausreichen würden. Als ob Bell wüsste, was die Regierung hören wollte. Sollte er sich Zeugenaussagen ausdenken? Keine gute Idee. Er konnte höchstens einige Schlussfolgerungen ziehen. Aber er hatte die Lage im Kraftwerk nicht überprüft, wie treffend konnten seine Schlussfolgerungen sein?
Bell seufzte. Das Wahrheitsministerium würde nicht erfahren, dass er den Bericht an Clintons Stelle verfasst hatte, also würden sie ihm auch nicht nachsetzen. Hoffentlich. Bell knackte mit den Fingerknöcheln, spannte die Schultern und tippte eine erste Analyse in den Bericht, dann stoppte er wieder.
Der Cursor blinkte unnachgiebig hinter dem letzten Wort, Mitten im Satz.
Bell kaute auf einem Finger und starrte auf den Bildschirm. Was, wenn das Wahrheitsministerium doch erfuhr, dass er den Bericht für Clinton verfasst hatte? Ein Sicherheitspolizist, der das Kraftwerk nicht einmal von außen sehen durfte. Geschweige denn in dem Fall ermitteln. Konnte er sich aus der Affäre winden, indem er die Schuld auf Miller schob? Miller war der Sicherheitsgeneral. Selbst das Wahrheitsministerium würde es nicht wagen, ihn anzurühren. Nicht wegen einer solchen Kleinigkeit. Aber er, Bell, der Papiertiger, war ersetzbar.
»Du siehst skeptisch aus«, bemerkte sein Kollege vom Nachbartisch.
Bell schüttelte den Kopf. Er rieb sich über die Augen, zwang sich, seinen Kollegen anzusehen und ein entspanntes Gesicht zu machen. »Ich frage mich nur, warum Clinton sich in den Urlaub verziehen durfte, ohne den Fall korrekt abzuschließen. Dieser Bericht ist ein einziges Chaos.«
»Wie meinst du das?«
»Clinton ist mit seinen Ermittlungen zu keinem Ergebnis gekommen. Alles, was er geschrieben hat, ist, dass es einen Stromausfall gab. Dafür braucht es die Sicherheit nicht, soviel kriegt die Technik allein hin. Selbst das Wahrheitsministerium hat genug Grips dafür.«
Sein Kollege zuckte mit den Schultern. »Mag sein, aber das geht uns nichts an. Und vielleicht war es wirklich nur ein Stromausfall.«
Bell senkte den Blick auf den Schreibtisch. Er suchte erst mit den Augen, dann mit den Fingern nach einem Stift, tippte damit auf die Tischplatte. Nur ein Stromausfall? Ohne eine Ursache? In Zirkulum? Er schüttete den Kopf. »Stromausfälle passieren nicht ohne Grund. Entweder ist es technisches Versagen oder menschliches. Oder Sabotage.«
»Sabotage?« Sein Kollege lachte. »Hast du in letzter Zeit wieder einen antiken Agentenfilm gesehen? Ganz ehrlich, warum sollte jemand das Kraftwerk sabotieren wollen? Und wer überhaupt? Die ACA?«
»Keine Ahnung. Ich will damit nur sagen, dass der Strom nicht einfach ausfällt, weil ihm langweilig ist. Vielleicht wurde ein Generator überlastet, das wäre ein Verstoß gegen die Arbeitssicherheit. Oder jemand hat zur falschen Zeit den falschen Knopf gedrückt, dann ist es ein Verstoß gegen die Maschinenaufsicht. Oder ein unpassender Roboter oder Android wurde an der falschen Stelle eingesetzt, dann ist es …«
Sein Kollege hob die Hand. »Schon gut. Ehrlich mal, Custo hätte dich als menschlichen Beisitzer vor Gericht einteilen sollen, nicht in die Sicherheit. Du musst nicht alle Paragraphen auswendig können.«
Bell zuckte mit den Schultern. »Vielleicht nicht im Innendienst.«
»Auch draußen nicht, wette ich. Wenn es drauf ankommt, stören die Regeln wahrscheinlich mehr als dass sie helfen.« Bells Kollege wandte sich von ihm ab. »Du umgehst sie dann und für den Rest ist der Chef da. Miller darf die Regeln so biegen, dass sie uns nicht im Weg sind. Du als Polizist oder Agent darfst das nicht. Du darfst sie bloß ignorieren, wenn es drauf ankommt.«
»Weise Worte von einem Papiertiger. Aber man sollte die Regeln nicht umgehen. Besser nutzt du die Schlupflöcher aus, und dafür musst du die Gesetze gut kennen. Aber vor allem sollte man nicht vergessen, seine Arbeit zu Ende zu bringen.«
Bell atmete geräuschvoll ein und wandte sich wieder dem Bericht zu. Ja, man durfte die Regeln nicht umgehen. Nicht als Agent und erst recht nicht in Millers Position. Aber vermutlich war es sicherer, ein paar Notlügen in den Bericht zu schreiben, als zuzugeben, dass man den verantwortlichen Agenten mitten in den Ermittlungen in den Urlaub geschickt hatte. Wenigstens hatte er jetzt Schlussfolgerungen. Ein technischer Defekt erschien zwar bei Clintons Datenlage unwahrscheinlich, aber er würde das Wahrheitsministerium am wenigsten beunruhigen. Und sollte die Technikbehörde zu einem anderen Ergebnis gekommen sein, würde Clinton später schon ein Grund einfallen. Die Ermittlungen konnte er immer noch wiederaufnehmen, wenn er aus Ring sieben zurückkam.
Bell stellte den Bericht kurz vor der Mittagspause fertig, doch gerade in dem Moment, als er einen Kaffee holen wollte, knackte der Lautsprecher über der Tür. Dem Knacken folgten zwei Sekunden Stille, dann ein Rauschen und schließlich die verzerrte, blecherne Stimme Millers.
»Sicherheitspolizist Edward Gregory Bell! Sofort in mein Büro!«
Bell hielt in der Bewegung inne und starrte den Lautsprecher an. Die Worte seines Chefs prallten an ihm ab, so sehr überraschte ihn die Durchsage selbst. Der Lautsprecher funktionierte wieder. Nach all der Zeit, in der sie im Büro ihre Ruhe vor Miller hatten. Hugo hatte es gestern also ernst gemeint.
Sein Kollege sah ihn fragend an. »Hast du das angestellt?«
Bell schüttelte den Kopf. Er hatte keine Ahnung, was los war oder warum Miller ihn sprechen wollte. War schon wieder etwas es mit Clintons Bericht? Nein, er hatte ihn gerade erst abgeschickt, Miller konnte ihn noch nicht gelesen haben. Aber warum dann dieser Aufruf? Er fühlte sich beinahe wie damals in der Schule. Verlassen, bloßgestellt. Nicht, dass er sich als Schüler viel hätte zuschulden kommen lassen. Das war Hugos Aufgabe gewesen. Trotzdem, genau so hatten sie sich immer gefühlt, wenn der Direktor einen ihrer Namen durch den Äther gebrüllt hatte. Angespannt und peinlich berührt.
Der Lautsprecher knackte erneut und Clintons Stimme klang noch blecherner als vorher: »Sicherheitspolizist Edward Gregory Bell! Sofort in mein Büro!«
Bell zuckte zusammen. Er schaltete rasch den Bildschirm seines Arbeitscomputers ab und verließ betont langsam das Büro. Sein Herz raste und er fürchtete, dass seine Beine anfangen würden zu zittern, sollte er stehen bleiben. Woher kam nur diese Nervosität? Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, jedenfalls nicht, seit er für die Sicherheit arbeitete. Aber eine solche Durchsage bedeutete niemals etwas Gutes.
Auf dem Weg zum Aufzug blieb er stehen und sah den Gang hinab in Richtung der Pforte. Ob jetzt die Zeit war, sich krankzumelden und einen Weg aus der Stadt zu suchen? Aber wohin? In die unbewohnte Wildnis? Die Sümpfe um Zirkulum herum? Da draußen gab es keinen Ort, zu dem er fliehen konnte.
Der Aufzug klingelte leise, jemand kam über den Flur auf Bell zu und klopfte ihm auf die Schulter. »Alles in Ordnung, Greg?«
Bell zuckte heftig zusammen. Er fuhr herum.
Hugo lächelte ihn breit an, gut gelaunt wie immer. Nichts deutete darauf hin, dass er gestern länger gearbeitet hatte oder anderweitig im Stress war.
Bell runzelte die Stirn. »Wo kommst du her?«
»Von oben. Ich habe Miller das neue Lautsprechersystem erklärt. Es scheint, als läuft jetzt wieder alles.«
»So neu wirkt das Ding an der Wand gar nicht.«
»Ich habe auch nicht die Lautsprecher ausgetauscht. Nur die Software.«
»Mhm«, machte Bell und nickte höflich. Zu viel Technik für seine verpatzte Mittagspause. »Warst du deswegen gestern nicht erreichbar? Ich hab im Sterla auf dich gewartet. Das Turnier.«
Hugo schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn, etwas zu heftig, etwas zu schnell. Wie gespielt. »Oh, das Turnier! Das habe ich völlig vergessen. Tut mir leid, Greg.«
»Schon in Ordnung. Die Arbeit geht vor.«
Hugo lächelte flüchtig und nickte. Dann drehte er sich um und eilte grußlos zur Pforte.
Bell sah ihm stirnrunzelnd nach. Etwas an Hugos Verhalten war fremd und seltsam, und dabei ignorierte er noch die Tatsache, dass sein Freund um zwölf Uhr mittags Feierabend zu machen schien. Er streckte die Hand aus. »Hugo!«
Doch Hugo war schon außer Hörweite.
Wieso hatte er gestern Abend nicht abgesagt, wenn es länger dauerte? Nein. Wieso war er überhaupt nicht gekommen, wenn die Reparaturen doch nur aus einem einfachen Softwareupdate bestanden? Und was hatte er bei Miller zu suchen gehabt? Der Chef der Sicherheit verstand genug von Computern, um eine neue Software auch ohne Hilfe der Technik in den Griff zu bekommen. Bell zuckte zusammen. Miller! Er hatte keine Zeit, über Hugo nachzudenken. Er musste die Sache mit dem Sicherheitsgeneral klären.
Der Aufzug brachte Bell ins oberste Stockwerk des Hauptturms der Sicherheitszentrale. Grelles Sonnenlicht fiel durch die Scheiben gegenüber auf den breiten Flur. Rechts säumten ihn die Türen zu den Büros der hochrangigen Inspektoren, links die der Agenten. Am Ende des Ganges, hinter den Agentenbüros, drohte eine Hochsicherheitstür den Besuchern des Stockwerks. Die Tür wurde nicht nur durch dicken Stahl gesichert, sondern auch durch zwei biometrische Scanner, einen für die Handfläche und einen für die Iris. Neben der Tür war ein Messingschild in den Stein eingelassen, auf dem der Titel »Sicherheitsgeneral« zu lesen war, darunter klebte ein Plastiknamensschild mit der Aufschrift »Clayton Miller«.
Bell drückte seine linke Hand auf den Sensor über dem Namensschild und starrte, ohne zu blinzeln, in die Kamera darüber. Seine rechte Hand krampfte sich um das Ende seiner ID-Karte, das aus dem Kartenleser herausragte. Er hatte noch immer nicht die leiseste Ahnung, warum er ins Büro des Sicherheitsgenerals kommen sollte. Hugos Verhalten und seine plötzliche Flucht hatten nicht unbedingt zu Bells Selbstvertrauen beigetragen.
Das Gerät ließ sich Zeit. Der Handscanner surrte ein zweites Mal unter der Handfläche des Sicherheitspolizisten, der Irisscan wiederholte sich. Bells Augen trockneten allmählich aus, er konnte den Drang, zu blinzeln, kaum noch unterdrücken. Endlich piepste das Gerät und die Tür öffnete sich surrend.
Bell schluckte und trat ein.
Hinter einem ausladenden Schreibtisch saß ein Mann am Ende seiner Fünfziger mit grauem Haar und Geheimratsecken in einem Ledersessel. Clayton Miller, der Sicherheitsgeneral. Das Hologramm eines Gesichtes flackerte über dem Schreibtisch, halb verdeckt von einem aufgeschlagenen Golfmagazin. Der restliche Raum war leer, bis auf eine tragbare Golfbahn.
Bell trat vollständig ein und salutierte.
Miller erwiderte den Gruß beiläufig. Er hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf, sondern kam direkt zum Thema. »Sie arbeiten für Harold Clinton, nicht wahr?«
Bell nickte verwirrt. »Ich korrigiere seine Berichte, ehe er Sie Ihnen zusendet.«
»Dann sind Sie also im Bilde über die Vorkommnisse im Kraftwerk?«
Bell zog die Augenbrauen zusammen, zwang sich aber zu einem Nicken. Worauf wollte Miller hinaus? War er doch wegen des Berichts hier? »Mehr oder weniger, ja.«
»Gut.« Miller räkelte sich und stand auf. »Würden Sie den Fall als abgeschlossen betrachten? Sie haben den Bericht gelesen, nicht wahr?«
»Ja. Ich habe eben die Korrektur fertig gestellt, die Sie verlangt haben. Der Bericht sollte auf ihrem Rechner angekommen sein.«
»Sehr gut. Gut.« Miller nickte. Er stand noch immer hinter dem Schreibtisch, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, und musterte Bell. »Also, Sicherheitspolizist Bell, was ist Ihre Meinung zu dem Fall?«
Bell kaute auf seiner Unterlippe. Er unterdrückte das Bedürfnis, an seiner Uniform zu nesteln, aber es gelang ihm nicht, den Blick auf Miller gerichtet zu halten. Er musste vorsichtig und diplomatisch vorgehen, solange er nicht sagen konnte, was Millers Ziel war. Ein falsches Wort würde nicht nur seine Karriere, sondern auch seinen kleinen Status riskieren. Ohne die Stelle in der Sicherheit würde er in Ring Eins landen. Im besten Fall. »Ich bin nicht in der Position, Mister Clintons Arbeit zu kritisieren.«
»Aber?«
»Aber ich würde nicht sagen, dass der Fall abgeschlossen ist. Ich fürchte, Mister Clinton wird nach seinem Urlaub noch daran arbeiten müssen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
Bell zuckte mit dem Kopf. Eine Haarsträhne löste sich aus seinem zurückgekämmten Haar, er nutzt den Moment als Ablenkung und schob sie an ihren Platz zurück. Sein Herz raste, seine Finger fuhren kalt und feucht über seine Stirn. Lauerte Miller auf einen Fehler? Oder hatte er in schon gefunden? Bell räusperte sich umständlich, ließ den Arm wieder sinken. »Mister Clinton hat noch nicht mit den Zeugen gesprochen. Alles, was er bisher geschafft hat, war, sich im Kraftwerk umzusehen. Es gab keinen Kontakt zu Betroffenen, nicht einmal ein Gespräch mit der Technik. Und der Bericht endet ohne eine Schlussfolgerung, wie Sie gesehen haben. Der Fall scheint komplizierter sein, als wir zunächst angenommen haben, wenn Mister Clinton in zwei Wochen nicht einmal einen Schritt vorangekommen ist.«
Miller nickte bedächtig. »Also glauben Sie, Sie können den Fall schneller abschließen?«
»Wie meinen Sie das?«
Der Sicherheitsgeneral streckte seinen Arm über den Schreibtisch. »Ich muss bis Sonntag eine vernünftige Erklärung für den Stromausfall beim Wahrheitsministerium abgeben. Clintons Bericht wird die Regierung kaum beruhigen, im Gegenteil. Die Sicherheit muss die Ermittlungen in dem Fall erfolgreich abschließen, wenigstens vorläufig. Und zwar am besten so, dass sie sich mit den Erkenntnissen der Technikbehörde deckt. Ich habe keine Lust, mich mit einer Wahrheitsprüfung herumzuschlagen. Nicht gegen Clinton. Also geben Sie mir ihre ID-Karte!«
Bell blinzelte. Er händigte mechanisch die kleine Plastikkarte aus seiner Geldbörse seinem Vorgesetzten aus. Ihm gingen Fragen durch den Kopf, zum Wahrheitsministerium, zu dem Fall und zu Clinton, aber er war nicht in der Lage auch nur eine davon zu stellen.
Miller schob achtlos das Golfmagazin zur Seite und steckte die Karte in ein Lesegerät. Während er darauf wartete, dass sein Computer seine Arbeit verrichtete, sah er Bell direkt in die Augen. »Ich will, dass Sie an Clintons Stelle im Kraftwerk ermitteln. Und bei den Leuten, die vom Stromausfall betroffen waren. Insbesondere in der Kupferfabrik.«
»Was ist mit der Kupferfabrik?«
»Die Mitarbeiter dort berichten seit dem Stromausfall von Ausfällen und ungewöhnlichem Verhalten der Roboter und Androiden. Ich hatte Clinton darauf angesetzt, aber er ist abgereist, ehe er sich darum kümmern konnte.«
Millers Computer piepste. Der Sicherheitsgeneral zog Bells ID aus dem Lesegerät und gab sie zurück. »Ich habe Ihren Status auf Stufe Vier angehoben. Willkommen im Team, Sicherheitsinspektor Bell. Ab sofort sind Sie für die Überwachung des Kraftwerkes sowie der Kupferfabrik und der angeschlossenen Wohnbezirke zuständig. Seien Sie aufmerksam, erfüllen Sie ihre Pflicht sorgfältig und ehren Sie Custo!«
Bell verstand nur langsam, was geraden geschehen war. Er nahm die Karte abgehakt entgegen, als ob er sich selbst in einen Roboter verwandelt hätte. Seine Gedanken kreisten dabei um dieses eine Wort: Sicherheitsinspektor. Er war wegen einer Beförderung hergerufen worden. War das Hugos Verdienst oder der von Millers Golfpartnern im Wahrheitsministerium? Spielte es überhaupt eine Rolle? Er betrachtete die ID-Karte für einen Moment, ehe er sie wieder einsteckte. Das schwarze Plastik war unverändert, natürlich. Alle Änderungen steckten in dem kleinen goldenen Chip. »Eine Statuserhöhung für den Fall?«, krächzte Bell.
Miller schüttelte den Kopf. »Ihre Beförderung war schon lange überfällig. Aber ruhen Sie sich nicht darauf aus, Bell. Es gibt mehr Plätze im Büro als auf der Straße.«
Bell nickte. Er verstand die Drohung und den Druck, der dahinter stand. Er hatte Zeit bis zum Sonntag, bis zum Ende der Woche, um sich zu beweisen und seinen neuen Status zu behalten. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Sicherheitsgeneral Miller. Ich werde es nicht enttäuschen. Ehren Sie Custo!«
Clayton Miller lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah an seinem Untergebenen vorbei. »Gut, wenn das damit erledigt ist: Machen Sie sich unverzüglich auf den Weg zur Kupferfabrik und sehen Sie dort nach dem Rechten! Hören Sie sich im Bezirk um und finden Sie heraus, was es mit der ganzen Sache auf sich hat!«
»Was ist mit Mister Clintons Akten? Ich habe nur Zugang zum fertigen Bericht, nicht zu seinen anderen Daten.«
Miller sah Bell an, zog einen Mundwinkel nach hinten und machte eine abgehackte Geste mit der rechten Hand. »Mister Clinton ist im Urlaub, Bell. Und Sie haben selbst gesagt, dass seinem Bericht über den Stromausfall nicht viel zu entnehmen ist. Außerdem ist die Technik noch dabei, Ihren neuen Computer in Ihrem Büro einzurichten. Also, gehen Sie die Ermittlungen heute ganz unvoreingenommen an. Sie wollten doch eine Chance, sich im Außendienst zu beweisen, habe ich nicht recht?« Er legte seine Hand flach auf den Schreibtisch ab und deutete mit einem Finger auf die Tür.
Bell verstand. Er salutierte erneut und verließ das Büro. Er kehrte zu seinem alten Arbeitsplatz zurück, um seine Elektroschockpistole und sein Holofon zu holen. Danach schaltete er seinen Computer aus, grinste seinen Kollegen im Innendienst zu und verließ das Gebäude mit ausladenden Schritten. Er würde sofort die Ermittlungen aufnehmen und nichts und niemand konnte ihm heute den Tag vermiesen.
***
Bell kehrte nach Hause zurück. Am frühen Nachmittag sah der Wohnblock ebenso deprimierend aus wie am Abend, aber immerhin hatte er jetzt die Chance, die Gegend in naher Zukunft zu verlassen. Er griff seinen Laptop und setzte sich auf das Bett. Der Wäschekorb neben ihm sandte einen unangenehmen Geruch nach Schweiß und alter Wäsche durch den Raum, doch Bell ignorierte ihn. Er konnte sich später darum kümmern, jetzt musste er mehr über Clintons Fall herausfinden. Er suchte im Cyberspace, dem Netzwerk der Stadt Zirkulum, nach Berichten über den Stromausfall. Anrufe, Beschwerden, Aufträge an die Technik oder einen verirrten Zeitungsartikel, der es an den Augen des Wahrheitsministeriums vorbei geschafft hatte.
Ohne Erfolg. Der Stromausfall wurde totgeschwiegen – natürlich.
Bell fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Sicher gab es Anweisungen des Wahrheitsministeriums zum öffentlichen Umgang mit dem Vorfall. In Zirkulum passierten keine Fehler, denn Fehler führten zu Hysterie. Und mit hysterischen Menschen funktionierte die Stadt nicht mehr. Menschen waren in den Augen Custos und der Minister anfällig und emotional. Um einen ersten Hinweis, einen Startpunkt zu finden, brauchte er Clintons Unterlagen. Aber zum einen wollte er mit dem Laptop nicht auf das Netzwerk der Sicherheit zugreifen und zum anderen hatte Miller sich seine Gründe, weshalb er ihm die Unterlagen vorenthielt. Vielleicht lag Clintons schwacher Bericht weder an mangelnder Arbeitsmoral noch am Misstrauen der Mitarbeiter des Kraftwerks. Vielleicht lag es am Wahrheitsministerium.
Bell seufzte. Welchen Sinn hatte sein neuer Status, seine Rolle als Inspektor, wenn er auf kaum mehr Informationen als der Normalbürger zugreifen konnte? Unter diesen Umständen gab es nur eine einzige Lösung für Bell: Er musste sich selbst im Kraftwerk, der Kupferfabrik und bei den Anwohnern umhören. Am Besten noch heute. Aber er war seit über zehn Jahren an einen Schreibtisch gefesselt, er hatte keine Ahnung von Verhören und Befragungen. Gab es keine Anleitungen dazu? Irgendetwas in den Dienstvorschriften der Sicherheitsinspektoren?
Er schüttelte den Kopf. Miller hätte ihm den Fall nicht anvertraut, wenn er nicht davon ausging, dass Bell ihn lösen konnte. Wenigstens weit genug, um keinen Ärger mit dem Wahrheitsministerium zu bekommen. Er musste und er würde es schaffen.
Er schloss den Computer, ohne ihn herunterzufahren, und stand auf. Sein Blick fiel auf den Berg Wäsche. Auf dem Weg zur U-Bahn würde er bei Hilda vorbeikommen, also konnte er die Wäsche auch gleich mitnehmen. Er stopfte sie in einen Sack und machte sich auf den Weg zur Wäscherei in der Nähe der Wohnanlagen.
Bell betrat das kleine Haus, das im Schatten der neueren Wohnkomplexe zu ertrinken drohte. Hätte er den Laden nicht schon seit seiner Ausbildungszeit genutzt, wäre er ihm vermutlich nicht aufgefallen, abgesehen vom Geruch nach Wasserdampf und Waschpulver. Die Schrift an dem großen Schaufenster war verblasst und löste sich in Fetzen von der Scheibe. Das alte Neonschild über der Tür war im selben desolaten Zustand wie die Technik der Innendienstbüros. Eine kleine dicke Frau wuselte hinter dem Tresen herum, der sie bis fast zu den Schultern versteckte. Hinter ihr stand eine Tür einen Spalt breit offen und gab den Blick in eine Art Lagerraum frei. Hier drinnen war der Geruch nach Waschmittel beinahe erschlagend. Wenigstens musste er nicht lange bleiben, er würde seine Wäsche abgeben und sofort wieder verschwinden.
Bell stellte den Wäschesack auf den Tresen. »Guten Tag, Hilda. Wie läuft das Geschäft?«
Die Frau kniff die Augen zusammen und musterte ihn. »Sie kommen immer seltener, Mister Bell. Sie sollten wirklich häufiger Ihre Unterwäsche wechseln.«
Bell presste die Lippen aufeinander und wich ihrem Blick aus. »Ich wechsele meine Unterwäsche häufig genug, Hilda. Das Problem ist nicht die Menge Wäsche, sondern meine Zeit. Ich arbeite jetzt im Außendienst.«
»Ja, sicher. Bei euch Junggesellen ist es immer die Arbeit.« Hilda zog den Sack über den Tresen und hievte ihn auf einen Stapel im Nebenraum. Sie redete weiter auf Bell ein, ohne ihn anzusehen. Stattdessen wühlte sie in seiner Wäsche herum, als ob sie einen Hinweis auf eine anstehende Verlobung suchte. »Wollen Sie nicht bald heiraten? Sie sind über dreißig. Wenn Sie noch länger zögern, ist es zu spät, um sich jemanden auszusuchen. Meine Freundin Margarita hat eine Tochter, die genau in ihrem Alter ist. Eine reizende KI-Koordinatorin. Sie hat Aussicht auf eine Stelle im Wahrheitsministerium, in der Custo-Abteilung.«
Bell zuckte zurück. Ein unangenehmes Kribbeln lief über seine Arme, das er mit einem heftigen Zucken zu vertreiben versuchte. »Was? Ich – hören Sie, Hilda! Mein Privatleben hat Sie nicht zu interessieren. Ich kann mir auch eine andere Wäscherei suchen!«
Die Frau kam zurück, stützte beide Ellbogen auf den Tresen und lehnte sich so weit zu Bell vor, wie es ihre kleine Gestalt erlaubte. Ihre Stimme klang unbeeindruckt und sarkastisch: »Ja, sicher. Auf der anderen Seite der Stadt soll es eine geben. Sie können Ihre Uniformen nächsten Dienstag abholen.«
»Morgen?«
»Nächsten Dienstag. Nicht Morgen.«
»Sie meinen in einer Woche?« Bell spannte sich. Das war ein schlechter Scherz. Der Sack war zwar voll mit Wäsche, aber eine Woche?
Hilda richtete sich auf und zuckte mit den Schultern. »Dann hätten Sie eher da sein sollen, Mister Bell. Jetzt müssen Sie warten, bis ich die Wäsche der anderen Kunden gewaschen habe. Durch den Stromausfall habe ich auch mehr zu tun. Insbesondere diese reizende junge Dame aus dem Wohnblock an der Kupferfabrik. Wie war doch gleich ihr Name?«
Bell schüttelte den Kopf. Er wollte nichts mehr von irgendwelchen alleinstehenden Frauen hören. Aber eine Anwohnerin der Fabrik, die ihre Wäsche normalerweise nicht in die Wäscherei brachte? Eine mögliche Zeugin. Wenigstens eine Betroffene. »Darf ich den Namen der Frau erfahren?«
Hilda sah auf. In ihren Augen funkelte es. »Anastasia Petrova. Eigentlich wäscht sie selbst, aber der Stromausfall hat ihre Waschmaschine ruiniert, sagt sie. Aber ich bin sicher, Sie weiß genau, dass die Wäscherei …«
Bell unterbrach die Alte mit einer mürrischen Geste. »Nicht alle Ihre Kunden kommen zu Ihnen, um verkuppelt zu werden.«
»Und ich dachte, Sie wären interessiert?«
»Nicht aus den Gründen. Haben Sie Frau Petrovas Adresse zufällig griffbereit?«
Hilda verschränkte die Arme, die Karikatur eines Türstehers. Toni vom Sterla wäre entzückt. Ihre Lüge kam prompt, einen Augenblick zu schnell und zu laut. »Nein.«
Bell lächelte flüchtig. Er deutete mit dem Kopf auf das Whiteboard neben der Tür. »Was ist mit den Nummern und Namen da drauf?«
»Ich meine, ich kann Ihnen nicht einfach die Adressen meiner Kunden geben!«
Sie starrte ihn an, lauernd und herausfordernd, ohne ihre Haltung zu ändern.
Auch Bell änderte seine Haltung nicht. Er stand hoch aufgerichtet und offen vor ihr, lächelte, erwiderte ihren Blick. Sie war nicht schwer zu durchschauen, nicht, nach all den Jahren, die sie seinen nicht vorhandenen Beziehungen nachlief. »Und wenn ich bereit wäre, mit Frau Petrova auszugehen?«
Hilda zögerte. Sie musterte Bell ausgiebig, soweit ihre kleine Statur hinter dem Tresen es erlaubte. Dann wiegte sie den Kopf. »Sie sind von der Sicherheit. Vielleicht ist es in Ordnung, wenn ich Ihnen die Adresse gebe. Sie sind ein ordentlicher Mann, nicht wahr?«
Bell lächelte noch immer. Er nickte. »Machen Sie sich keine Sorgen, Hilda. Ich bin kein ungehobelter Barbar aus Ring Null.«
Hilda zögerte noch einen Augenblick, mehr aus Höflichkeit denn aus Zweifel, dann wandte sie sich zu dem Whiteboard um. Sie suchte mit dem Finger nach dem Namen der Kundin. »Ah, hier. Anastasia Petrova, Wohneinheit 34-12-C. Direkt im Wohnblock an der Kupferfabrik. Ich glaube, Sie ist Vertreterin für Hausroboter oder etwas in der Art.«
»Ich danke Ihnen, Hilda. Sie sind ein Schatz. Also, wann kann ich die Wäsche abholen?«
Hildas Laune schlug augenblicklich um. Sie sah Bell über die Schulter aus verengten Augen an. »Nächste Woche Dienstag. Wenn Sie glauben, ich würde mich von Ihnen so leicht einwickeln lassen …«
Bell drehte sich um und ging, ohne das Ende von Hildas Schimpftirade abzuwarten. Er hatte die Adresse einer möglichen Zeugin und damit einen Anhaltspunkt außerhalb des Kraftwerks gefunden. Jetzt musste er nur herausfinden, was diese Anastasia Petrova wusste. Wenn sie etwas wusste.
Er fuhr mit der U-Bahn auf die Westseite der Stadt, in den Kraftwerkbezirk. Hinter den sandfarben angestrichenen Häusern drohten die Schlote der Kupferfabrik mit Rauch und Ruß, sollten jemals die Filtersysteme ausfallen. Bell schlenderte an den Erdgeschosswohnungen mit ihren Vorgärten vorbei, auf der Suche nach Wohneinheit C. Künstliche Blumen und echtes Gras, das von Robotern gepflegt wurde. Wäsche wehte in der kalten Februarluft. Aus den Bäumen am Straßenrand tönte Vogelgezwitscher aus winzigen Lautsprechen. Er blieb vor Haus 34 stehen. Frau Petrovas Wohnung musste im ersten Stock sein, mit Zugang über den Balkon. Er sah auf sein Holofon, prüfte die Uhrzeit und stieg die Stufen nach oben. Ein offenes Fenster neben der Tür versprach, dass er wenigstens einen Hausbewohner treffen würde. Die Frage war nur, ob es sich um Frau Petrova oder einen Haushaltsroboter handelte.
Bell klingelte.
Einen Moment später öffnete eine Frau, etwa in Bells Alter, die Tür. Sie blickte ihn fragend an.
Bell hob das Holofon mit seiner Dienstmarke. »Mein Name lautet Bell, ich komme von der Sicherheit. Sind Sie Frau Anastasia Petrova?«
Die junge Frau nickte zögerlich, trat aber zur Seite und deutete auf das Innere ihrer Wohnung. »Ja, die bin ich. Ist etwas vorgefallen, Inspektor?«
Bell schüttelte den Kopf. Er trat ein und sah sich um. Er stand in einem schmalen Flur, der an zwei Türen vorbei zu einem Wohnraum führte, in dem sich weder Küchengeräte noch Betten befanden. Eine riesige Wohnung, für die Verhältnisse des dritten Rings. Ein hellblaues Sofa und zwei Sessel standen mitten im Raum, mit Blick auf einen Flachbildschirm. Ein Durchgang an der kurzen Seite führte in die Küche. Davor stand eine kleine Bar, die auch als Esstisch diente. Eine Schüssel und ein benutzter Teller warteten auf Aufmerksamkeit.
Bell setzte sich auf einen der Sessel. Er legte sein Holofon auf die Armlehne und startete den Sprachrekorder. Ein rotes Dreieck schwebte über die Hologrammausgabe. »Ich habe gehört, Sie haben seit dem Stromausfall Probleme mit den technischen Geräten in Ihrer Wohnung?«
Frau Petrova nickte verhalten. »Ja, aber nur Kleinigkeiten. Mein Mixer und meine Waschmaschine haben eine Überspannung abbekommen, als der Strom wieder eingeschaltet wurde. Das war meine eigene Schuld, ich habe vergessen, sie abzustöpseln. Die Sicherungen in diesem Haus sind leider überaltert.« Sie lächelte verlegen. »Aber es ist nichts, worum sich die Sicherheit Sorgen machen müsste. Die Bewohner haben die Technikbehörde informiert, aber ich fürchte, sie kann sich erst darum kümmern, wenn die Fabriken wieder laufen.«
Bell sah von seinem Holofon auf. »Wie meinen Sie das?«
»Die Kupferfabrik hat es beim Stromausfall wohl schwer erwischt. Die anderen Fabriken auch, die ganze Technikbehörde ist überall in den äußeren Ringen unterwegs, um die Dinge wieder zum Laufen zu kriegen.«
Bell nickte. »Gab es sonst irgendwelche Probleme? Für Sie privat oder auf Ihrer Arbeit?«
Frau Petrova schüttelte den Kopf, stockte jedoch und nickte. »Oh, mein Computer. Wissen Sie, ich arbeite hauptsächlich von zuhause aus. Ich betreue Kunden, die einen bestimmten Typ Haushaltsroboter nutzen, vor allem hier im Viertel.«
»Was ist mit Ihrem Computer?«
»Er lässt sich seit dem Stromausfall nicht mehr ausschalten. Er macht sonst keine Probleme.«
Bell spannte sich und runzelte die Stirn. »Warum haben Sie das nicht gemeldet?«
»Ich hielt es für unwichtig. Es ist ein älteres Modell und ich dachte, das seien die typischen Macken, ehe das Gerät den Geist aufgibt. Sobald die Technik Zeit hat, wollte ich sie darauf schauen lassen.« Sie stand auf und ging zur Bar. »Wollen Sie etwas trinken, Inspektor?«
»Danke nein. Ich will die betroffenen Geräte sehen!«
»Natürlich. Folgen Sie mir, bitte!« Die Frau führte Bell in die kleine Küche. Ein Toaster und ein Mixer teilten sich den Platz auf der Anrichte.
Bell betrachtete den Mixer von allen Seiten. »Ist er programmierbar?«
»Nein, nicht das ich wüsste. Ich lege keinen Wert auf intelligente Küchengeräte, wenn Sie darauf hinauswollen. Ich habe den ganzen Tag mit Robotern zu tun, da lernt man, alte Technik zu bevorzugen. Aber vielleicht hat er einen Datenchip eingebaut. Warten Sie, irgendwo muss ich die Bedienungsanleitung haben.«
Frau Petrova verließ die Küche.
Bell nutzte die Zeit, um sich die anderen Geräte anzusehen, die mit dem Stromnetz verbunden waren. Ein Kühlschrank, ein Mikrowellenherd, der Toaster und ein kleines Display an der Wand, auf dessen Rahmen das Wort Rezeptbuch stand. Keines der Geräte schien auffällig, vor allem waren außer dem Kühlschrank alle abgeschaltet.
Frau Petrova kam mit einem dünnen Heft in der Hand zurück und reichte es Bell. »Hier ist die Bedienungsanleitung für den Mixer.«
Er überflog die Seiten. Kein Hinweis auf irgendwelchen Schnickschnack. Ein guter, altmodischer Mixer. Bell gab die Anleitung zurück und deutete mit dem Kopf zur Tür. »Ihren Computer muss ich ebenfalls sehen!«
»Natürlich.« Frau Petrova legte das Heft auf der Anrichte ab und führte Bell durch den Flur in ihr Schlafzimmer, das gleichzeitig als Büro diente. An der langen Seite der Wand rahmten Regale einen Schreibtisch ein. Auf dem Tisch stand ein älterer Computer ohne eingebauten Kartenleser, sein Bildschirm erleuchtete fahl den Raum.
Bell setzte sich auf den Stuhl vor dem Rechner und starrte auf den Bildschirm. Er war unsicher, wo oder wie genau er anfangen sollte. Aber wenn der Stromausfall etwas zerstört hatte, musste es Spuren im Betriebssystem oder an der Hardware geben. »Haben Sie ein Monitoring-Programm für die Leistung Ihres Computers?«
Frau Petrova blieb neben ihm stehen. Sie half ihm dabei, unter all den installierten Programmen das richtige zu finden. »Wonach suchen Sie eigentlich, Inspektor?«
»Es geht um die Folgen des Stromausfalls. Angeblich randalieren seitdem Roboter und Geräte. Haben Sie im Rahmen Ihrer Arbeit davon gehört?«
Sie schüttelte den Kopf.
Bell brummte vor sich hin. Er navigierte durch die Einstellungen des Computers, fand jedoch nichts verdächtiges. Das war eine Aufgabe für Hugo und die Sicherheitstechniker, nicht für ihn. Er sah auf. »Haben Sie ein Lesegerät? Ich muss Ihr System kopieren, damit die Sicherheit es untersuchen kann. Nur für alle Fälle.«
»Natürlich.« Sie nahm eine Kiste von einem der Regale, öffnete sie und reichte ihm ein externes Lesegerät.
Bell schloss es an den Computer an, schob seine ID-Karte in das Lesegerät und rief die Programmübersicht des Computers auf. »Ich werde den Inhalt Ihrer Festplatte kopieren und mit ins Hauptquartier nehmen. Bis wir herausgefunden haben, was los ist, sollten Sie ihren Computer vom Strom trennen. Schließen Sie ihn erst wieder unter Aufsicht eines Technikers der Sicherheit an!«
»Und wie lange wird das dauern? Ich brauche meinen Computer für die Arbeit.«
Bell presste die Lippen zusammen, schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange es dauern wird. Aber ehe wir nicht wissen, was genau diesen Stromausfall und die randalierenden Geräte verursacht hat, müssen wir vorsichtig vorgehen. Besorgen Sie sich für die Arbeit einen neuen Computer, das Wahrheitsministerium kann Ihnen die Kosten ersetzen. Oh, und sprechen Sie bitte mit niemandem darüber.«
Bell stand auf.
Frau Petrova begleitete ihn bis zur Tür. »Kann ich der Sicherheit sonst irgendwie helfen?«
»Falls sie Nachbarn oder Bekannte haben, bei denen ähnliche Probleme mit technischen Geräten aufgetreten sind, sagen Sie ihnen bitte, dass sie sich bei der Sicherheit melden sollen. Ansonsten helfen Sie uns am meisten, wenn Sie mit niemandem über die Vorfälle sprechen. Ehren Sie Custo.«
Bell salutierte knapp, dann verließ er den Wohnblock. Ein Blick auf sein Holofon verriet ihm, dass er noch Zeit hatte, um sich in der Kupferfabrik umzuhören. Wenn er Glück hatte, konnte er vielleicht jemanden von der Technikbehörde dort treffen.
Das Kraftwerk und die Kupferfabrik lagen hinter einer zweiten Schutzmauer, die auf dieselbe Art gesichert war wie die Übergänge zwischen den Ringen. Neben dem Schleusentor stand ein Terminal mit einem Handscanner und einer Kamera, um die Iris zu scannen. Niemand, der nicht die entsprechende Erlaubnis der Behörden besaß, konnte auch nur in die Nähe des industriellen Herzens Zirkulums zu kommen.
Bell schob seinen Ausweis in das Lesegerät, legte seine Hand auf den Scanner und sah in die kleine Kamera über dem Display. Das Terminal ratterte einen Moment, piepste und spuckte die Karte wieder aus. Auf dem Display blinkten die Worte: »Willkommen in Ring Drei, Industrieviertel, Sicherheitsinspektor Edward Gregory Bell. Ehren Sie Custo!«
Neben dem Terminal öffnete sich die Schleuse. Bell steckte die Karte wieder ein, murmelte hastig eine Antwort auf den Gruß und trat durch das Tor.
Auf der anderen Seite der stählernen Mauer führte eine breite, schmutzige Asphaltstraße an den Lagerhallen vorbei zu den Fabriken und dem Hauptkraftwerk West. Irgendwo dahinter, in Richtung der Stadtmitte, lag Ring Vier. Der Wohnring der Mittelklasse und das Sprungbrett zu Status und Ruhm. Ein Elektroauto rollte beinahe geräuschlos an Bell vorbei. Lastenroboter rumpelten daneben über die Straße und verschwanden in den Gassen zwischen den Lagerhallen. Androiden eines veralteten Typs, mit fahler Haut und starren Bewegungen, winkten die Fahrzeuge und Roboter ein.
Bell folgte der Straße zu den Schloten der Fabrik. Ein hoher elektrischer Zaun mit einer Schrankenanlage sicherte das Gelände. Auf dem asphaltierten Platz vor dem Gebäude parkten einige wenige Autos, zwei Mitarbeiter standen daneben und unterhielten sich. Bei der Schranke lehnte ein junger Mann an einem Pförtnerhäuschen. Er stieß sich von der Wand ab und kam auf Bell zu. Seine Stimme war unnatürlich gleichförmig und emotionslos.