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Bei seinen Ermittlungen zu einem Einbruch im Londoner West End stößt Andrew Richard Montgomery, Inspector der jungen Metropolitan Police, auf die Leiche eines chinesischen Händlers. Er versucht, mehr über den Toten herauszufinden, doch dessen Spur verliert sich im Nebel der Stadt. Zu allem Überfluss scheint der Untersuchungsbericht des Coroners gefälscht worden zu sein und der einzige Hinweis, der Montgomery bleibt, verwickelt ihn in die Angelegenheiten der Ostindienkompanie in den Monaten vor dem Opiumkrieg. Was als einfacher Einbruch begann, entpuppt sich bald als Intrige gegen die mächtigste Organisation des Empires.
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Seitenzahl: 334
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Die frei stehende Villa erhob sich vor ihm aus dem dichten Nebel, der erst in der letzten Stunde aufgezogen war. Gelber Rauch stieg aus den Schornsteinen und verpestete mit seinem süßlichen Gestank nach Verwesung den frühen Novemberabend.
Andrew Richard Montgomery stand zögerlich vor dem Tor. Er hatte den Kragen seines grauen Mantels vor das Gesicht geschlagen, sodass seine Brille durch den eigenen Atem beschlug. Sein Stiefbruder Alan hatte ihn zum Dinner eingeladen, aber ein Abendessen mit seinem Stiefvater und dessen Freund Robert Tyson war mit Abstand der letzte Zeitvertreib, nach dem ihm der Sinn stand. Insbesondere, wenn es Wichtigeres zu tun gab. Den Sohn eines Hafenwirtes von Dummheiten abzuhalten, zum Beispiel. Aber Montgomery hatte seinem Bruder seinen Beistand an diesem Abend zugesagt und nicht zum Abendessen zu erscheinen, käme einem Verrat gleich.
Er seufzte, schüttelte sein Zögern ab und trat durch das hohe, schmiedeeiserne Tor in den ungepflegten Garten. Der Kiesweg knirschte leise unter seinen Schritten, führte ihn an einem morschen Baum vorbei zur Treppe vor der Eingangstür. Er griff nach dem Klingelseil und zog daran. Das Läuten durchbrach die Stille wie ein Schuss und war noch nicht verklungen, als Cunningham ihm öffnete.
Der Butler des Hauses Madbell war ein grauhaariger Mann, der sein erstes halbes Jahrhundert schon einige Jahre hinter sich gelassen hatte. Dennoch hielt er seinen Kopf aufrecht auf Schultern, die einem Soldaten Ehre gemacht hätten. Er blinzelte den Gast erstaunt an. »Lord Andrew? Was für eine Überraschung. Der Lieutenant Colonel rechnet nicht mit Ihrem Besuch, fürchte ich.«
»Dann hat mein Bruder ihn schlecht vorbereitet, Cunningham.« Montgomery lächelte flüchtig. Madbells Butler war das Einzige, was seine Familie noch mit seinem Stiefvater verband. Ein Überbleibsel aus einer Zeit, in der seine Mutter noch lebte. »Wo kann ich den Lieutenant Colonel finden?«
Cunningham trat von der Tür zurück, ließ den Gast eintreten und half ihm in der Eingangshalle aus dem Mantel. »Er und Mister Tyson sind im Salon. Vielleicht können Sie ihnen für eine Partie Whist Gesellschaft leisten?«
»Und mein Bruder? Seinetwegen bin ich hier, er hat mich eingeladen.«
Cunningham hängte den Mantel und Montgomerys Zylinder an eine Garderobe. Er machte ein bedrücktes Gesicht. »Ich fürchte, er versucht wieder einmal, seinen Verpflichtungen aus dem Weg zu gehen. Er ist vor etwa einer Stunde gegangen, kurz bevor Mister Tyson eingetroffen ist.«
Montgomery sog die Luft durch die Zähne. Das sah Alan ähnlich. Erst bat er ihn bei den Hochzeitsverhandlungen zwischen dem Alten und Tyson um Beistand und dann floh er wie ein verängstigtes Schulgör. Wieso überließ er es immer ihm, Madbell um einen Aufschub zu bitten? Montgomerys Nasenflügel zuckten. Statt hierherzukommen, hätte er seinen Assistenten zum Hafen begleiten sollen, um nach Thomas zu sehen. Mit der Bande im Nacken, brauchte der Junge wirklich seine Hilfe.
Aber nun war es zu spät, um umzukehren. Cunningham war bereits am Salon, um ihn anzukündigen. Wenn er jetzt ging, wäre sein Verhalten an Unhöflichkeit kaum zu überbieten, selbst in Alans Abwesenheit. Also trat er nach dem Butler in das Herrenzimmer mit der grünen Tapete und dem Whist-Tisch vor dem Fenster.
Sein Blick fiel zuerst auf Alastair Madbell, der auf einem Sessel am Kamin saß und Pfeife rauchte. Ein kleiner Mann mit winzigen Augen, die hinter einem Zwicker in einem feisten Gesicht verschwanden. Auch der Bauch, den er vor sich hertrug, deutete nicht darauf hin, dass er erst vor einem halben Jahr den Dienst in der Miliz der Ostindien-Kompanie beendet hatte. Jedenfalls dann nicht, wenn Montgomery seinen Geschichten über seine Einsätze im Dschungel Glauben schenkte.
»Andrew, mein Junge!« Die Stimme des Lieutenant Colonels war künstlich hoch und er näselte. »Was für eine freudige Überraschung! Was führt dich hierher?«
»Guten Abend, Lieutenant Colonel. Guten Abend, Mister Tyson.« Montgomery nickte dem anderen Mann zu, der sich aus seinem Sessel vor dem Kamin erhob und verbeugte.
Als Tyson sich wieder aufrichtete, legte sich sein Blick eisig auf Montgomerys Gesicht. Sein schwarzer Schnurrbart bewegte sich kaum als er sprach: »Guten Abend, Lord Andrew. Sind Sie hier, um ebenfalls um die Hand meiner Tochter anzuhalten? Ich würde Ihnen den Vorzug vor ihrem Bruder geben.«
Montgomery rümpfte die Nase. »Inspector Montgomery ist völlig ausreichend, Coroner. Und zu Ihrem Glück gilt mein Interesse nicht Ihrer Tochter. Oder wollen Sie sie tatsächlich mit einem einfachen Polizisten verheiraten?«
Tyson verengte die Augen. Für einen Augenblick starrten die beiden Männer einander an, ehe sich der Coroner wieder vor den Kamin setzte. Er sah an Montgomery vorbei aus dem dunklen Fenster, seine Stimme hatte nicht an Überheblichkeit verloren. »Zu schade, Mylord, wirklich. Sie sollten die Verbrecherjagd endlich denen überlassen, deren Stand von ihnen verlangt, im Dreck zu wühlen.“
„Eine Jagd, gleich welcher Art, ist das Vergnügen des Adels, finden Sie nicht?“
„Sie sind unverbesserlich, Mylord.“ Tyson seufzte affektiert, seine Stimme hatte nicht an Überheblichkeit verloren „Aber wie ich Sie kenne, werden Sie dieses unstandesgemäße Spiel kaum aufgeben, solange Sie noch jung sind. Also bleibt mir nur zu hoffen, dass Ihr Bruder die Dinge anders betrachtet. Eine Allianz unserer Familien wäre aus so vielen Gründen wünschenswert.«
»Apropos.« Montgomery wandte sich zu seinem Stiefvater um, froh darüber, von sich ablenken zu können. »Wo ist Alan? Er hat mich für heute Abend eingeladen, aber Cunningham meinte, er sei nicht im Haus?«
»Dein Bruder hat noch etwas zu erledigen. Er meinte, er habe einen Kameraden aus Kalkutta in der Stadt getroffen und wolle ihm helfen, eine Unterkunft zu finden. Aber er wird bis zum Essen zurück sein. Warum leistest du uns nicht so lange Gesellschaft? Vielleicht bei einer Partie Whist mit Strohmann?« Madbell wartete nicht auf eine Antwort, löschte seine Pfeife, schälte sich aus dem Sessel und wackelte zum Fenster.
Montgomery verdrehte die Augen, doch er fügte sich. Whist war ein stilles Spiel und so konnte er wenigstens Tysons Sticheleien umgehen.
Der Coroner hatte kaum die Karten ausgeteilt und sein eigenes Blatt aufgenommen, als ein junger Mann den Raum betrat. Er eilte mit strammen Schritten auf den Lieutenant Colonel zu, ohne die anderen Anwesenden zu grüßen, strich sich das feuchte Haar aus der Stirn, beugte sich zum Ohr des Hausherrn hinab und flüsterte ihm etwas zu.
Montgomery versuchte, unauffällig zu lauschen, doch er verstand kein Wort. Dennoch lächelte er seinen Stiefbruder an, als dieser sich aufrichtete.
Alan erwiderte das Lächeln flüchtig. Er strich seinen für seine Verhältnisse ungewöhnlich gediegenen, schwarzen Gehrock glatt, unter dem eine gelbe Seidenweste mit bunten Stickereien hervorschimmerte. »Guten Abend, Mister Tyson. Guten Abend, Andy.«
»Guten Abend, Regi«, gab Montgomery zurück und grinste über Alans wütenden Blick. »Ich hörte, du hättest noch zu tun gehabt?«
»Ein Freund im Club brauchte meine Hilfe.«
Montgomery legte den Kopf schief und musterte seinen Bruder. »Im Club? In diesem Aufzug?«
»Was ist daran falsch?« Alan schüttelte den Kopf. Er sah an sich hinunter und begriff. »Ich hatte mich bereits für das Abendessen umgezogen. Vater mag die bunten Stoffe nicht sonderlich.«
Madbell erhob sich wie auf Kommando aus dem Stuhl, legte sein Blatt mit der Bildseite nach unten ab, streckte sich und wackelte an Alan und Montgomery vorbei zu den Sesseln am Kamin. »Das ist wahr. Die übertriebene Farbenfreude sollte man den Indern überlassen. Als Engländer macht man sich damit nur lächerlich. Ebenso wie mit manch albernem Zeitvertreib.«
Alan schwieg, Tyson nickte zustimmend und folgte Madbell zu den Sesseln.
Montgomery bewahrte Haltung, auch wenn der zweite Satz eindeutig gegen ihn gerichtet war. »Was ist mit der Partie, Lieutenant Colonel?«
Madbell winkte ab. »Wir können nach dem Essen ein neues Spiel anfangen, jetzt, da wir genug Spieler haben. Nicht wahr, Alan?«
»Sicher. Ich freue mich«, antwortete Alan mit belegter Stimme.
Montgomery nahm die Brille ab und rieb sich über die Augen. Als ob es seinen Bruder um sein Erbe bringen würde, ein Kartenspiel abzulehnen. Er setzte die Brille wieder auf, wobei sein Blick auf Alans Rocktasche fiel, aus der ein dunkelbrauner Handschuh herausragte. Doch es war weniger der Handschuh als die ungewöhnliche Ausbeulung der Tasche, die ihm auffiel. Irgendetwas hatte sein Bruder eingesteckt und vergessen, es abzulegen.
Er holte Luft, um Alan darauf anzusprechen, als Cunningham zum Essen läutete.
Alastair Madbell und Robert Tyson, die sich gerade erst in die Sessel gesetzt hatten, standen wieder auf und gingen Arm in Arm zum Speisesaal. Alan wollte ihnen folgen, doch Montgomery hielt ihn an der Schulter zurück. »Wo warst du? Ich hatte schon befürchtet, du hättest mich versetzt!«
»Ich sagte doch, ein Notfall im Club.« Alan schüttelte Montgomerys Hand ab.
Montgomery nutzte den Moment, um wie zufällig über die Rocktasche zu streifen. Unter den Handschuhen verbarg sich noch etwas anderes, etwas Härteres. Allerdings konnte er keine genaue Form ausmachen, ohne dass sein Bruder sein Interesse bemerken würde. »Lass diesen Unsinn mit deinem Club. Madbell hat einen Kameraden aus Kalkutta erwähnt?«
»Hätte ich Vater sagen sollen, dass ich im Club bin? Wenn er Mister Tyson zum Essen eingeladen hat, um mich mit dessen Tochter zu verkuppeln?«
Montgomery nickte bedächtig. »Du bist kein Kind mehr. Der Alte wird dich nicht am Haus festketten, nur weil du persönliche Dinge regeln willst. Solange du am Ende das tust, was er von dir verlangt.«
Alan schnaubte und stapfte zur Tür. »Kommst du jetzt endlich? Ich will beim Essen nicht allein mit den beiden sein. Sie werden nur von Tysons Tochter und der Verlobung reden. Als ob es keine anderen Themen gibt. Ich hätte in Kalkutta bleiben sollen, verdammt noch mal.«
»Vielleicht solltest du einfach ja sagen und heiraten. Nachgeben. So wie du allen Wünschen des Alten nachgibst.« Montgomery schüttelte den Kopf und folgte Alan in den Speisesaal.
Seine Schritte hallten dumpf auf dem Kopfsteinpflaster wider, während er dem Piccadilly durch den dichten Nebel bis hinunter zum Hamilton Place folgte. Das Abendessen und die letzte Partie Whist hatten ihn bis Mitternacht in der Villa seines Stiefvaters festgehalten und er konnte es kaum erwarten, sich endlich in die Stille seines eigenen Stadthauses zurückzuziehen. Die schmale Seitenstraße versank fast völlig im stickigen Nebel, der die wenigen Geräusche der Nacht verschluckte. Montgomery fand seinen Weg mehr mit seinem Instinkt als mit den Augen und stieß vor den Stufen zum Gebäude mit einer Gestalt zusammen.
Der Mann fluchte und wandte hektisch den Kopf. Im nebligen Zwielicht erkannte Montgomery nun seinen Assistenten Caine Torrent. Das dunkle Gesicht, behaart mit Ausnahme von Lippen, Nasenspitze und Augenlidern, wirkte wie ein Loch in der Nacht. Nur Caines blaue Augen verrieten, dass es sich bei dem Mann um ein lebendes Wesen handelte. Sie und die tiefe, sanfte Stimme, mit der er sich entschuldigte. »Oh, du bist es, Andrew. Tut mir leid, ich habe dich nicht gesehen.«
»Schon in Ordnung.« Montgomery winkte ab. Er ließ seinen Assistenten die Tür öffnen, trat vor ihm in den Flur des Gebäudes und folgte leise den Treppen im Dunkeln nach oben in den dritten Stock, um keinen der Angestellten zu wecken. In seinem Lesezimmer angekommen entzündete er eine einzelne Kerze, mehr Licht war um diese Zeit nicht nötig. Nicht für ihn jedenfalls. Er setzte sich in einen Sessel, den Blick aus dem Fenster auf die Park Lane und den dahinterliegenden Hyde Park gerichtet. »Warst du im Kraken?«
Caine nickte. Er nahm den Stuhl von einem Schreibtisch neben dem Fenster, setzte sich und sah ebenfalls in die Dunkelheit. »Die Kneipe steht noch, wie wir sie heute Morgen verlassen haben.«
»Und? Wie geht es Thomas?«
Caine schwieg.
Montgomery betrachtete sein eigenes, angespanntes Gesicht in der Spiegelung der Fensterscheibe und presste die Lippen zusammen. Eine tiefe Falte zog sich über seine Stirn. »Glaubst du, er wird eine Dummheit begehen?«
»Ich weiß es nicht«, murmelte Caine, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. »Ich habe nicht mit ihm geredet.«
Montgomery sah seinen Assistenten an. »Weshalb? Ist etwas vorgefallen?«
Caine schüttelte den Kopf. Seine Schultern hoben sich schwarz gegen das fahle Gelbgrau der Nacht und der Gaslaternen vor dem Fenster ab. »Tom war nicht da. Der alte Griffiths meinte, er wäre irgendwann am frühen Nachmittag gegangen. Um die Probleme zu lösen. Und er ist nicht wiedergekommen, jedenfalls nicht, bevor ich nach Hause bin. Und ehe du fragst, nein, der alte Griffiths wusste nichts Genaues. Konnte mir nicht mal sagen, wohin oder zu wem er gegangen ist.«
Montgomery erstarrte, krallte beide Hände in die Lehnen seines Sessels. Er zwang seinen Atem zur Ruhe, um seinen Herzschlag unter Kontrolle zu halten. Thomas Griffiths und sein Ziehvater hatten an diesem Morgen wieder Ärger mit der Bande von Richard Cook gehabt. Ein Streit, der mit Sicherheit eskaliert wäre, wären Montgomery und Caine nicht zufällig in der Nähe gewesen. Und Cooks Drohungen waren deutlich genug, dass der Inspector sie verstanden hatte. Aber unglücklicherweise auch so vage, dass er nichts gegen die Bedrohung unternehmen konnte. Doch dies würde Tom nicht abhalten, etwas gegen Cook und seine Bande von Halsabschneidern zu unternehmen. Der Bursche war nicht dumm, aber ein Heißsporn, insbesondere, wenn es um den Kraken und Mister Griffiths ging. »Wie schätzt du die Situation ein?«, fragte er endlich mit belegter Stimme.
»Ich weiß es nicht. Es sieht Tom nicht ähnlich, Griffiths alleine im Kraken arbeiten zu lassen.« Caine schüttelte den Kopf. »Aber heute Abend waren mit mir nur vier Gäste im Pub. Möglich, dass der Junge einen anderen Weg gesucht hat, um Cook zu bezahlen.«
Montgomery senkte den Blick, rieb sich nachdenklich über die Nase, schob dabei die Brille zurück und nickte. »Thomas hat angedeutet, dass die Bande die Gäste fernhält. Glaubst du, dass er etwas gegen die Bande unternommen hat? Wenigstens, um sie vom Kraken abzulenken?«
»Wenn ja, ist es ihm nicht gelungen. Der Kraken war fast leer, den ganzen Abend. Dasselbe Bild wie seit Wochen.« Caine stand auf und trat an Montgomery vorbei auf die Tür zum Treppenhaus zu. »Aber ich nehme an, dass er eine Gelegenheit gefunden hat, ein wenig Geld außerhalb des Pubs zu verdienen. Nur, weil die Matrosen nicht zu ihm kommen, heißt es ja nicht, dass er nicht an den Schiffen helfen kann.«
»Um diese Uhrzeit noch?« Montgomery runzelte die Stirn und erhob sich ebenfalls.
»Vielleicht hat er ihnen auch angeboten, sie zu einer Unterkunft zu führen ...«
»Und dann hat er sie nicht in den Kraken gebracht?«
Caine lächelte verlegen.
Montgomery schüttelte den Kopf. »Sich jetzt noch Gedanken darüber zu machen, wird uns nicht weiterbringen.« Er trug die Kerze an ihm vorbei zu seinem Schlafzimmer gegenüber des Salons. In der Tür blieb er stehen und wartete auf seinen Assistenten. »Ich gehe morgen so früh wie möglich zum Kraken und hätte dich gerne dabei, wenn du es einrichten kannst. Ich hoffe nur, dass Thomas bis dahin wieder zurück ist, um sich die Ohren langziehen zu lassen. Ich will ihn nicht aus der Themse fischen müssen.« Er seufzte, drückte Caine den Kerzenhalter in die Hand und zog sich in die Dunkelheit seines Schlafzimmers zurück.
Montgomery stapfte am nächsten Morgen durch den Flur im Hauptquartier der Metropolitan Police zu seinem Büro. Er unterdrückte ein Gähnen. Erst die Hochzeitsverhandlungen, bei denen Alan darauf bestand, dass er seine Interessen verteidigte, dann das Whist-Spiel und schließlich die Sorge um Tom hatten ihn sehr viel später einschlafen lassen als üblich. Hoffentlich blieb der heutige Tag wenigstens ruhig. Er legte die Hand auf den Türgriff, hielt jedoch inne. Jemand auf dem Gang rief seinen Namen. Er drehte sich um.
Ein junger Constable kam mit eiligen Schritten auf ihn zu, deutete auf den Eingang des Gebäudes und verkündete mit kühler Gleichgültigkeit: »Guten Morgen, Inspector. Sergeant Dunham sucht nach Ihnen. Er ist mit einem anderen Constable unten auf der Strand bei einem Einbruch.«
Montgomery hob eine Augenbraue. »Bei einem Einbruch? Was ist daran so ungewöhnlich, dass er meine Hilfe braucht?«
Der Constable zuckte mit den Schultern. »Dazu hat er mir nichts gesagt. Aber ich soll Sie zu ihm schicken, wenn ich Sie sehe.«
Montgomery nickte. »In Ordnung. Bringen Sie mich zu ihm!«
Er wandte sich von der Tür ab und folgte dem jungen Constable durch die enge Gasse hinter dem Hauptquartier hinunter zur Strand.
Sie blieben vor einem einfachen Haus stehen, dessen Tür offenstand. Der Constable deutete ins Halbdunkel des Treppenhauses: »Sergeant Dunham ist oben.«
Montgomery nickte, trat an dem Constable vorbei und folgte den Stufen zu einem Zimmer im ersten Stock. Auf dem Weg betrachtete er die Umgebung. Ein Einbruch in dieser Gegend war zwar nicht ungewöhnlich, aber nichts, dass ein unerfahrener Gauner unbemerkt zustande brachte, schon gar nicht in einem höheren Stockwerk. Vermutlich handelte es sich bei dem Einbrecher um einen der großen Köpfe hinter den Dieben der Gegend. Aber wie war er in das Zimmer gekommen? Durch die Haupttür und das Treppenhaus? Oder durch ein offenes Fenster? Aber er hatte keine Bäume vor dem Haus gesehen, die als Einstieg dienen konnten. Davon abgesehen würde niemand, der seine Sinne beisammenhatte, in einer Novembernacht ein Fenster geöffnet lassen.
Der Constable an der Zimmertür nickte Montgomery zu. Dieser erwiderte den Gruß und trat ein. Ein kleiner Raum mit Blick auf die Straße, karg eingerichtet mit einem abgewetzten Teppich, einem alten Tisch und einfachen Stühlen. Der Inspector grüßte erst Dunham, dann den anderen Mann, vermutlich den Bewohner des Hauses.
Es handelte sich um einen jungen Mann, etwa in Montgomerys Alter. Er trug eine alte Weste, ein vergilbtes Hemd und abgewetzte Hosen. Seine Bewegungen waren nervös und abgehackt, seine Augen blickten unstet im Raum umher. Er erinnerte Montgomery an eine Dohle, linkisch und auf der Hut. Der Inspector hätte ihn für den Täter gehalten, hätte er nicht selbst die Polizei gerufen.
Vor dem Mann blieb er stehen und stellte sich vor, ohne den Zylinder abzunehmen: »Ich bin Inspector Montgomery von der Metropolitan Police. Was ist hier vorgefallen?«
Der Mann öffnete den Mund, doch Dunham unterbrach ihn: »Gestern Nacht ist eine Person in dieses Zimmer eingedrungen und hat ein silbernes Armband entwendet.«
Montgomery wandte sich an den Mann hinter dem Stuhl. »Sie wohnen hier? Teilen Sie sich das Haus mit jemandem, Mister?«
»Evans. Norman Evans.« Der Mann nickte hastig. »Ja, ich lebe in dieser Wohnung. Im Erdgeschoss wohnt im Moment niemand. Ich – mein Vermieter ist zurzeit in Schottland, in Glasgow.«
Montgomery brummte nachdenklich. Er zog sein Notizbuch aus der Manteltasche, um die Aussage aufzuschreiben. Dabei beobachtete er den Mann aus den Augenwinkeln. »Also leben Sie alleine hier?«
Evans nickte.
»Wo waren Sie, als der Einbruch geschah?«
»Im Schlafzimmer. Da hinten.« Norman Evans zeigte auf eine Tür, die von der kurzen Seite des Raumes wegführte. »Ich bin aufgewacht, weil ich etwas Ungewöhnliches gehört hatte. Hier, aus diesem Zimmer. Ich habe einen leichten Schlaf, wissen Sie? Aber als ich rauskam, war der Dieb schon fast weg.«
Montgomery sah sich im Raum um, suchte nach Spuren des Einbruchs. Doch das wenige Mobiliar schien nicht bewegt worden zu sein und das Fenster erschien ihm ebenfalls unberührt. Vielleicht war der Einbrecher tatsächlich durch die Tür gekommen. Wollte Dunham deswegen seine Hilfe? Er schüttelte den Kopf und sah Evans wieder an. »Was wurde gestohlen?«
»Ein Armband, wie Ihr Kollege sagte.«
»Was für ein Armband genau? Wie sah es aus?«
»Ein Erbstück meiner Tante. Aus Silber. Sehr filigran. Eine Nachbildung einer Blume.« Evans sah an Montgomery vorbei auf die Wand. »Es ist ein altes, wertvolles Stück. Hoffentlich hat der Dieb es noch nicht versetzt. Ich hatte vor, es meiner Verlobten zu schenken.«
»Sie sind verlobt?«, fragte Montgomery kühl und musterte den Mann, der ihn noch immer nicht ansah.
»Noch nicht. Aber ich hoffe, bald.«
»Mmh«, machte der Inspector und widmete sich wieder seinem Notizbuch. »Konnten Sie den Einbrecher sehen?«
»Nur flüchtig. Ich habe dem Sergeant bereits eine Beschreibung gegeben. Weshalb sind Sie überhaupt hier, Inspector?«
Montgomery kaute auf seiner Lippe. Ein einfacher Einbruch, durchgeführt von einem Ortskundigen. Jemand, der wusste, dass das Erdgeschoss des Hauses leer stand. Dennoch, irgendetwas an der Sache musste Dunhams Misstrauen geweckt haben, sonst hätte er ihn nicht rufen lassen. »Sergeant? Zeigen Sie mir die Beschreibung des Täters!«
Dunham nickte eifrig und kam näher, zögerte jedoch, Montgomery sein Notizbuch auszuhändigen. »Ich fürchte, es wird Ihnen nicht gefallen, was Sie sehen werden. Die Beschreibung des Einbrechers, meine ich ...«
Montgomery schüttelte den Kopf. »Reden Sie keinen Unsinn. Geben Sie mir Ihr Notizbuch. Bitte.«
Dunham atmete tief ein, schlug die Seite mit der Beschreibung des Täters auf und händigte dem Inspector seine Notizen aus. Montgomery las aufmerksam die Zeilen, stockte und las sie ein weiteres Mal. Dann sah er Evans an. »Wären Sie bereit, die Beschreibung ein zweites Mal abzugeben?« Er musste sich versichern, dass Dunham nichts falsch verstanden hatte.
Evans zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie meinen. Es handelte sich um einen Burschen, jünger als Sie und kleiner. Er war sehr flink unterwegs. Recht schmal gebaut, aber er schien stark zu sein. Ist über den Tisch hier gesprungen und dann nach draußen. Und er hatte helles Haar.«
»Das konnten Sie in der Nacht erkennen?«
Evans deutete auf das Fenster. »Vor dem Haus steht eine Straßenlaterne, Inspector. Und der Nebel war nicht so dicht, dass es im Raum dunkel war. Nicht dunkel genug jedenfalls, als dass ich nichts mehr hätte erkennen können.«
Montgomerys Blick folgte der Geste. Er betrachtete eine Weile stumm die Gaslaterne auf der anderen Straßenseite. Entweder hatte der Einbruch sehr früh am Abend stattgefunden, ehe der Nebel dicht geworden war, oder Evans hatte die Augen eines Luchses. Nichts von beidem erschien Montgomery wahrscheinlich. Er schluckte, gab Dunahm seine Notizen zurück und notierte sich trotz des Zweifels die Beschreibung in seinem eigenen Büchlein. »Erinnern Sie sich sonst noch an etwas? Seine Bewegungen oder seine Stimme?«
Evans schüttelte den Kopf, hielt inne und nickte. »Doch, warten Sie. Er hat geflucht wie ein Seemann, als er mich bemerkt hat. Ein Cockney.«
Montgomery nickte, steckte das Notizbuch ein und winkte Dunham, ihm nach draußen zu folgen. Er blieb im Flur im Erdgeschoss stehen und drehte sich zu dem Sergeant um. »Kennen Sie einen Burschen hier in der Gegend, auf den die Beschreibung zutrifft?«
»Nein, Sir. Nicht hier in West End. Zumindest niemanden, dem ich einen Einbruch zutrauen würde. Da sind nur Smith und seine Bande ...«
Montgomery winkte ab. »Schuh- und Wäschediebe. Sie haben recht, die Sache wäre viel zu heiß für Sie.« Er rieb sich über die Lippen und senkte den Kopf. Er kannte nur eine Person in der gesamten Stadt, auf die die Beschreibung zutraf. Kein Bursche aus dem West End, aber ein verzweifelter Kerl, der den Weg von den Häfen im Osten zur Strand auf sich nehmen würde, um seinem Vater zu helfen. Aber Tom war kein Einbrecher.
Dunham musste ihm den Gedanken angesehen haben, denn er schüttelte den Kopf. »Vielleicht hat sich ein neuer Gauner in die Gegend verirrt. Ich meine jemanden von außerhalb der Stadt, weder aus dem West End noch von den Häfen. Die Banden an den Docks bleiben lieber unter sich, nicht wahr?«
»Vermutlich haben Sie recht«, murmelte Montgomery, dann sah er auf und schüttelte den Kopf. Nein, Tom war kein Einbrecher. Es gab tausende junger Männer in London und er war sicher nicht der Einzige, auf den Evans Beschreibung zutraf. Aber der Junge war in der Nacht nicht zu Hause gewesen. Und er war verzweifelt.
Montgomery biss sich auf die Lippe, zwang seine Gedanken zu dem Gespräch zurück. »Ich werde versuchen, mehr über diese Sache herauszufinden. Ein Neuling bleibt in dieser Gegend nicht lange unerkannt.«
»Soll heißen?«
»Ich werde mit Jack und Molly reden. Sie bleiben hier und behalten das Haus und diesen Evans im Auge. Die Geschichte mit dem Armband gefällt mir nicht. Versuchen Sie, mehr darüber herauszufinden, während ich unterwegs bin. Und geben Sie mir später Ihren Bericht.«
»Jawohl, Sir.« Dunham salutierte unbeholfen.
Montgomery winkte ab und verließ das Gebäude. Er hoffte inständig, seine Informanten in ihrem üblichen Versteck an der Themse anzutreffen. Und vor allem, dass sie ihm tatsächlich helfen konnten.
Er folgte der Strand bis hinunter zum Fluss und diesem zur Waterloo Bridge. Das Wasser rauschte um die Pfeiler der alten Brücke, doch das Geräusch drang nur dumpf durch den Nebel, der hier unten dichter war als oben in der Stadt. Dichter, aber weniger gelb und ohne den penetrant süßlichen Geruch der Kohlefeuer. Montgomery blieb stehen und sah sich um. Nahe am Ufer, versteckt zwischen Büschen und der Brücke, stand ein alter irischer Kesselflickerwagen. Die hintere Achse der fassförmigen Kutsche war gebrochen und sie neigte sich gefährlich in Richtung Wasser. Die Leute, die dort hausten, schien dies jedoch nicht weiter zu stören. Ein Mann und eine Frau standen neben dem Wagen, dunkle Schatten gegen den Morgennebel, und redeten miteinander oder mit einer dritten Person, die Montgomery auf die Entfernung nicht sehen oder hören konnte. Ihre Stimmen gingen im Gemurmel der Themse unter und verstummten ganz, als sie die Schritte des Inspectors hörten. Der Mann und die Frau huschten in den Wagen, die dritte Person, ein Kind, stob davon.
Montgomery lächelte flüchtig in sich hinein, schritt gemächlich auf den Wagen zu und klopfte gegen den hölzernen Fensterladen. »Molly, Jack! Ich bin es, Caines Freund. Ich weiß, dass Sie hier sind, ich habe Sie gesehen.«
Seine Stimme verhallte im Nebel, niemand rührte sich in dem Wagen.
Montgomery klopfte erneut. »Ich habe ein paar Fragen an Sie. Gestern Abend wurde in ein Haus auf der Strand eingebrochen. Wissen Sie etwas darüber?«
»Wir wissen nix davon, Insepctor«, schnarrte die raue Stimme der Frau aus dem Wagen. »Un’ wir wollen auch nix davon wissen. Hau ab!«
Montgomery verzog das Gesicht, lehnte sich an das vom Nebel feuchte Holz neben dem Fenster und bemühte sich um einen freundschaftlichen Ton. »Warum so feindselig? Habe ich Sie jemals in Schwierigkeiten gebracht?«
»Du bist’n Bulle«, entgegnete Molly trocken.
Montgomery seufzte leise. Er hätte nach Hause gehen und Caine an seiner statt schicken sollen. Aber erst zum Hamilton Place und dann hinunter zur Themse laufen, kostete Zeit. Zeit, die er nicht verlieren durfte. Nicht, wenn Toms Leben auf dem Spiel stand. Er musste herausfinden, was in der Nacht geschehen war – so schnell wie möglich. Dafür musste er selbst das Vertrauen der beiden Vagabunden gewinnen. »Jack und du wisst doch, dass Caine mir vertraut. Ihr seid seine Freunde und ich würde Caines Freunde nie in Schwierigkeiten bringen.«
»Du hast zwei von unser’n Gör’n festgenommen.«
»Ich sicher nicht. Aber ich werde den Constable danach fragen und sehen, was ich für sie tun kann. Nur versprechen kann ich nichts, ich bin ein Inspector, nicht der liebe Gott. Also, was ist gestern hier passiert? Ihr habt gerade noch mit einem der Kinder geredet. Worüber? Über einen Fremden in eurem Revier?«
Der Laden des kleinen Fensters öffnete sich einen Spalt. Nur so weit, dass Mollys Gesicht dahinter zu erahnen war. »Jack un’ ich haben nix mit dem Toten zu tun, Sir. Un’ wir wissen nix von einem Einbruch. Also verzieh dich endlich!«
»Ein Toter?« Montgomery runzelte die Stirn. In der letzten Nacht schien sich auf der Strand einiges abgespielt zu haben. Ob die beiden Fälle zusammengehörten? »Ich bin nicht wegen eines Toten hier. Sind in den letzten Tagen Fremde in eurem Revier aufgetaucht? Keine Straßenkinder, erwachsene Burschen.«
»Keine Ahnung«, antwortete Molly. Sie öffnete das Fenster des Wagens ganz und streckte ihren Kopf heraus. Ein rundes Gesicht mit harten, alten Zügen. Sie stierte auf Montgomerys Hände. »Lohnt’s sich, was zu wissen?«
Montgomery nickte, griff in die Tasche und holte einige Münzen hervor. »Es lohnt sich immer, Bescheid zu wissen. Und es lohnt sich noch mehr, wenn die Nachrichten nützlich sind. Also, was habt ihr gesehen?«
Molly grapschte nach den Münzen, stopfte sie ungeprüft in ihren Ausschnitt und verschwand für einen Moment im Dunkel des Wagens. Sie flüsterte mit Jack, von dem Montgomery bis heute nicht herausgefunden hatte, in welchem Verhältnis er zu ihr stand. Dann sah sie wieder nach draußen. »Die Gör’n jammern seit ’n paar Tagen, dass so’n Cockney hier rumschnüffelt. Hält sie von der Arbeit ab, sagen sie.«
»Cockney? Ein East Ender?« Montgomery presste die Lippen zusammen – Tom. »Kennt ihr den Kerl? Wie sah er aus?«
»Nee. Die Gör’n sagen aber, er wär ein Ochse. Riesig und breit. Wortkarg. Hätt’ s’e von ihr’m normalen Platz weggescheucht. Auf der Promenade, wo die reichen Ladies ihre Hunde ausführ’n. Findest du den Kerl, ja? Will nicht, dass er uns die Geschäfte ruiniert. Einer von den Kleinen sagt, er hätt’ ihn gestern Nacht gesehen, wie er an einer Leiche rumgefummelt hat. Keine Ahnung. Danach soll er die Strand rauf sein.«
»Die Strand hinauf? Wo ... nein. Schon in Ordnung.« Montgomery nickte. Ein Bursche aus dem East End mit dem Kreuz eines Ochsen konnte unmöglich Tom sein. Aber Richard Cook, der Bandenführer. Nicht dass diese Erkenntnis Montgomery beruhigte. Cook war die Sorte Mensch, der er einen Mord ohne weiteres zutraute. Und Tom konnte mit ihm unterwegs gewesen sein. Es war kein Zufall, dass sie beide gestern im West End gesehen wurden. Es konnte kein Zufall sein. »Ich kümmere mich darum.«
Er musste mehr über all das herausfinden, vor allem über den mysteriösen Toten. Vielleicht gehörten er und der Einbruch zusammen. Vorausgesetzt Mollys minderjährige Handlanger sagten die Wahrheit.
Molly kniff die Augen zusammen. »Weißt du, wer der Kerl is? Kannst du ihn von hier wegscheuchen?«
»Nein«, log Montgomery, drückte Molly allerdings eine weitere Münze in die Hand. Dann wandte er sich ab, und trottete zur Straße zurück. Er würde mit Cook und Tom reden, nachdem er mehr über diesen Mord erfahren hatte.
Auf dem Weg zurück nach Scotland Yard ließ Montgomery seine Gedanken schweifen. Nichts half besser dabei, sich Klarheit zu verschaffen, als ein Spaziergang. Er musste herausfinden, ob bereits einer seiner Kollegen den möglichen Mord untersuchte und versuchen, nicht nur Informationen, sondern am besten den gesamten Fall von ihm zu bekommen. Nur zur Sicherheit, falls Thomas tatsächlich an der ganzen Sache beteiligt war. Denn die meisten seiner Kollegen zögerten nicht, einen Hafenjungen festzunehmen und vor Gericht zu stellen, gleichgültig, ob er die Tat begangen hatte oder nicht.
Montgomery sog die Luft ein und blieb einen Moment stehen, als das Gebäude der Metropolitan Police in Sicht kam. Er zweifelte nicht daran, dass Richard Cook in diese Sache verstrickt war, und er vertraute Dunhams Instinkt. Etwas an dem Einbruch war seltsam, der Zeuge erinnerte sich an die falschen Dinge. Und dann Cook mit dem Toten. Nein, es musste einen Zusammenhang geben. Einen Zusammenhang, den er nur dann finden würde, wenn er mehr über die Leiche und die Todesumstände in Erfahrung bringen konnte. Der Einbruch würde sich dann vielleicht von selbst aufklären. Oder zumindest konnte er Cook mit dem Wissen um den Toten unter Druck setzen.
Er löste sich von seinen Gedanken und schritt ins Foyer von Scotland Yard. Dort schickte er den Constable am Empfang auf die Suche nach dem Inspector, der den Mordfall betreute, und ging in sein Büro. Sein Blick suchte auf der anderen Seite des Fensters nach Antworten. Doch er sah nur drei Constables, die sich im Hof des Gebäudes miteinander unterhielten.
Jemand klopfte und öffnete die Tür, ohne auf Montgomerys Antwort zu warten. Der Inspector fuhr herum. Vor ihm stand ein älterer Sergeant mit einem stoischen Gesichtsausdruck und hängenden Schulter. Er grüßte knapp und schlurfte vor den Schreibtisch.
Montgomery hob die Brauen und musterte den Mann, erwiderte jedoch den Gruß. Er beschloss, nicht nach dem Grund zu fragen, weshalb sein Kollege einen Vertreter schickte, sondern deutete auf die beiden Sessel vor dem Schreibtisch. »Ich nehme an, dass Sie mit dem Mordfall auf der Strand betraut worden sind?«
Der Sergeant nickte.
»Gut. Ich brauche Informationen darüber. Sergeant Dunham hat meine Hilfe bei einem anderen Fall erbeten, der vermutlich mit dem Mord in Zusammenhang steht. Was können Sie mir über den Toten und die Umstände seines Todes sagen?«
Der Sergeant holte sein Notizbuch hervor, blätterte darin, als versuchte er, sich krampfhaft an die Ermittlungen zu erinnern, die nicht einmal einen ganzen Tag zurücklagen. »Ein Mister Raynolds hat uns gegen acht Uhr gerufen, weil sein Hausmädchen etwas gehört hat. Bei unserer Ankunft fanden wir die Leiche eines jungen Mannes auf der Straße vor dem Haus. Er trug orientalische Kleidung und einen langen Zopf, wahrscheinlich ein Chinese.«
»Ein Chinese?« Montgomery runzelte die Stirn und streckte den Arm über den Schreibtisch. »Darf ich Ihre Aufzeichnungen sehen? Gibt es Verdächtige?«
Der Sergeant reichte Montgomery das Notizbuch. »Nein. Wer auch immer den Mord begangen hat, ist in den Nebel geflohen. Sie wissen, wie dicht er gestern Abend war, nicht wahr? Das Hausmädchen hat nicht viel mehr als Schemen gesehen.«
»Ich verstehe.« Montgomery kaute auf seiner Lippe. Seine Augen suchten in den Notizen nach einem Hinweis, einer Beschreibung des Täters. Doch er fand nichts. Nicht einmal eine Vermutung, die über das hinausging, was der Sergeant ihm zuvor mitgeteilt hatte. Er schnalzte unzufrieden mit der Zunge. Ohne ein Bild des Verdächtigen konnte Cook ebenso der Mörder sein wie Tom. Oder jeder andere in London. »Wissen Sie, in welche Richtung der Mann geflohen ist?«
»Die Strand hinauf. Jedenfalls soweit ihn das Hausmädchen sehen konnte. In der Suppe verliert man schnell den Überblick.«
»Wohl wahr. Was ist mit der Leiche? Befindet sie sich bereits in der Obhut des Coroners?«
»Jawohl.«
Montgomery nickte nachdenklich, blätterte in den Aufzeichnungen des Sergeants, überflog die Zeilen und übertrug sie in sein eigenes Notizbuch. Eine männliche Leiche, vermutlich ein Asiate, wurde mit dem Gesicht nach unten in einer Blutlache gefunden. Ein Toter ohne Mantel und Hut, jedoch mit fünf Sovereigns und einigen kleineren Münzen in einem Säckchen an seinem Gürtel. Montgomery stockte. Molly hatte erzählt, dass jemand die Leiche ausgeraubt hatte. Richard Cook oder zumindest ein Mann von dessen Statur. Hatte er das Geld übersehen?
Der Sergeant beugte sich über den Tisch. »Ist Ihnen etwas aufgefallen, Inspector?«
»Ja und nein.« Montgomery rieb sich über das Kinn. »Sah es für Sie aus, als habe sich jemand an der Leiche zu schaffen gemacht?«
»Nun, der Tote war quasi halb nackt. Niemand bei klarem Verstand würde im November ohne einen Mantel spazieren gehen.«
»Wenn ihm jemand den Mantel gestohlen hatte, hätte er dann nicht auch die Geldbörse bemerken müssen?«
Der Sergeant wiegte den Kopf. »Vielleicht hatte er es eilig? Oder er befürchtete, gesehen zu werden?«
Montgomery gab dem Mann das Notizbuch zurück und ging zur Tür. »Ich werde etwas überprüfen. Vermutlich handelt es sich bei meinem Einbrecher und Ihrem Mörder um dieselbe Person. Selbst wenn nicht, bin ich sicher, dass der Einbrecher den Hut und Mantel des Opfers an sich genommen hat.«
»Machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen, jemanden zu finden, Sir. Diese Gauner sind clever, sie wissen sehr gut, wann sie wo zuzuschlagen haben.«
»Das ist genau, was mir an der ganzen Sache zu denken gibt. Falls Ihnen bei Ihren Ermittlungen noch etwas auffällt, das mit dem Einbruch auf der Strand in Zusammenhang stehen könnte, wenden Sie sich umgehend an Sergeant Dunham. Wir werden dasselbe für Ihren Fall tun.«
»Wie Sie wünschen.« Der Sergeant zuckte mit den Schultern, stand auf und schlurfte an Montgomery vorbei aus dem Raum.
Der Inspector sah ihm nach und seufzte. Damit blieb ihm nichts anderes übrig, als auf den Bericht des Coroners zu warten. Aber immerhin konnte er die Zeit nutzen, um mit Cook und Tom zu sprechen, wie er es Caine am Abend zuvor angekündigt hatte. Vielleicht reichte sein Wissen dann bereits aus, um Cook zum Reden zu zwingen.
Montgomery ging zu seinem Haus zurück, wo er Caine im Arbeitszimmer fand. Er bat seinen Assistenten, ihm zum Hafen zu folgen, um gemeinsam nach Cook zu suchen. Auf der Fahrt zu den East India Docks weihte er ihn über die Vorkommnisse und in seine Sorgen ein. Ein Zeuge wollte jemanden gesehen haben, der Cook ähnlich sah, ein anderer Thomas. Und keiner der beiden Burschen hatte einen Grund, auf der Strand einzubrechen. Oder einen Chinesen zu ermorden. Das alles ergab keinerlei Sinn.
An den Toren der East India Docks angekommen, stiegen die beiden Männer aus dem Growler. Die klare Luft im Hafen roch nach Fisch, ein leichter Wind trieb den Morgennebel auseinander. Von einem Dreimaster wehte der stechende Geruch von Guano zu ihnen hinüber. Montgomery schlug den Kragen seines blauschwarzen Mantels hoch und zog den Zylinder so tief in die Stirn, wie seine Brille es ihm erlaubte.
»Wie genau gehen wir vor?«, fragte Caine auf dem Weg zu den Hafenbecken.
»Das ist eine gute Frage.« Montgomery sah sich um. Vor ihnen lagen die Lagerhäuser und das große Dock, Seeleute schlenderten über den weiten Platz, Möwen kreischten aus der Takelage eines verlassenen Segelschiffes. Er führte Caine an dem Becken entlang, vorbei an dem kleineren Dock, wo Seeleute und Hafenarbeiter ein Schiff entluden. Montgomery blieb stehen und deutete in Richtung der Themse. »Cooks Bande treibt sich üblicherweise irgendwo am Brunswick Wharf herum. Aber ich fürchte, sie werden nicht herauskommen, wenn sie mich sehen. Vor allem dann nicht, wenn Cook irgendeinen Unsinn angestellt hat.«
»Unsinn klingt sehr harmlos.« Caine lachte. »Soll ich versuchen, die Burschen rauszulocken?«
»Ich fürchte, das wird nicht funktionieren. Die Kerle kennen dein Gesicht.«
»Es ist ja auch keins, das man leicht vergisst.«
Cains Stimme klang sanft und fröhlich, doch Montgomery wusste, dass dies nur Fassade war. Er schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht, was ich meine. Die Burschen kennen jeden, der zu mir gehört, und sie sind gerissen und vorsichtig. Jedenfalls die, die länger für Cook arbeiten. Mmh ...«
Er beobachtete vier junge Männer, die am Anleger des Guano-Schiffes herumlungerten. Sie versuchten halbherzig, die Matrosen auf sich aufmerksam zu machen, um sich ein paar Münzen zu verdienen, doch ihre eigentliche Aufmerksamkeit galt dem Polizisten und dem Gentleman. Montgomery lächelte in sich hinein. Er deutete mit dem Kopf auf die vier Burschen. »Siehst du, wie sie uns beobachten?«
Caines Blick folgte Montgomerys Geste. Er nickte.
Der Inspector führte seinen Assistenten zu einem Stapel Fässer in der Nähe der Schiffe, sodass die Burschen sie nicht weiter beobachten konnten.
»Ich kenne zwei der Kerle. Sie arbeiten hin und wieder mit Cooks Bande zusammen. Vielleicht wissen sie, wo er sich herumtreibt.« Montgomery griff unter seinen Mantel, holte seine Taschenuhr hervor und drückte sie Caine in die Hand. »Steck die ein und pass auf, dass die Kette sichtbar bleibt. Schlendere an den Schiffen entlang, tu so, als hättest du dich verirrt.«
Caine wiegte den Kopf. »Glaubst du, dass das eine gute Idee ist? Ich meine, ich sehe nicht wie ein leichtes Opfer aus. Oder wie jemand, auf den sich ein Überfall lohnt.«
»Mmh«, machte Montgomery und musterte Caine. Tatsächlich wirkte der Mann wie ein Bär in einem Anzug, mit dem behaarten Gesicht und den breiten Schultern. Aber eine bessere Idee fiel ihm auf die Schnelle nicht ein. Er trat auf Caine zu und richtete dessen Weste und Mantel. »Gib dich als Händler aus, der mit den Dampfschiffen gekommen ist. Gib mit deinem Reichtum an, verhalte dich dumm und auffällig. Einer der Burschen wird schon darauf hereinfallen. Ich kann ihre Gier beinahe riechen.«
Caines Gesicht drückte deutlichen Zweifel aus, aber er nickte. Er ließ die Uhrenkette lose aus der Westentasche baumeln und steckte seine Hände in die Hosentaschen, damit sowohl sein Mantel als auch sein Rock die Sicht auf seine Brusttasche freigaben. »So in etwa?«
Montgomery lächelte. »Ich verlasse mich auf dich. Sobald die Burschen dich wieder bemerken, locke sie zu den Lagerhäusern am Eingang der Docks. Ich werde dort auf euch warten und eingreifen, wenn es nötig wird.«
»Wie du meinst.« Caine schlurfte zum Kai an der Themse und verschwand zwischen den Gebäuden.
Montgomery blieb am Kanal zurück und wartete. Sein Blick folgte zuerst den Möwen, dann den Seeleuten, die an ihm vorbei zu den Lagern gingen. Sie kamen aus derselben Richtung, in die Caine verschwunden war. Er wartete, bis die Burschen ihren Platz am Schiff verließen, um Caine zu folgen. Erst dann huschte er zum Eingang der East India Docks zurück, um das Geschehen von dort im Auge zu behalten.
Caine fiel unter den Seeleuten und Verwaltern auf, weniger durch seine Kleidung als durch seine allgemeine Erscheinung. Doch er spielte seine Rolle wie ein Schauspieler in einem Shakespeare-Stück. Er blieb immer wieder stehen, betrachtete die Schiffe und Matrosen, schenkte dem Treiben im Hafen allerdings keine große Aufmerksamkeit.