Neurodidaktik für Trainer - Franz Hütter - E-Book

Neurodidaktik für Trainer E-Book

Franz Hütter

0,0

Beschreibung

Wie funktioniert eigentlich die Neurobiologie des Eisbergmodells? Was passiert beim erlebnisorientierten Ansatz im Gehirn? Was wird in Rollenspielen neuronal aktiviert, was geschieht bei gruppendynamischen Prozessen? Lesen Sie hier, was Kernkonzepte und -methoden des Soft-Skill-Trainings neurobiologisch auslösen. Erfahren Sie weiterhin, wie das künftige Training aussehen kann: Wie sinnvoll ist Meditieren im Seminar? Was genau erreichen Sie mit Unternehmenssimulationen? Wie findet gehirngerechtes digitales Lernen wirklich statt? Das Buch ist ein Booster für moderne Trainings mit Hirn.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 482

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Franz Hütter, Sandra Mareike Lang

Neurodidaktik für Trainer

Trainingsmethoden effektiver gestalten nach den neuesten

Erkenntnissen der Gehirnforschung

© 2017 managerSeminare Verlags GmbH

4. Aufl. 2024

Endenicher Str. 41, D-53115 Bonn

Tel.: 0228-977910

[email protected]

www.managerseminare.de/shop

Der Verlag hat sich bemüht, die Copyright-Inhaber aller verwendeten Zitate, Texte, Abbildungen und Illustrationen zu ermitteln. Sollten wir jemanden übersehen haben, so bitten wir den Copyright-Inhaber, sich mit uns in Verbindung zu setzen.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung vorbehalten.

ISBN: 978-3-98856-187-9

Herausgeber der Edition Training aktuell:

Ralf Muskatewitz, Jürgen Graf, Nicole Bußmann

Lektorat: Ralf Muskatewitz

Cover: Marcel Schauer/Fotolia

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Ihre Download-Ressourcen

Begleitend zum Buch stehen Ihnen Arbeitshilfen für die persönliche Verwendung zum Download im Internet zur Verfügung. Sie können die Vorlagen jederzeit in hoher Qualität abrufen und einsetzen.

 www.managerseminare.de/tmdl/b,251743

Inhalt

Leseanleitung für dieses Buch

Neurodidaktik und das Trainieren mit Hirn

I. Hirnforschung & Training: Grundlagen für einen fundierten Praxistransfer

1. Was Trainerinnen und Trainer über das Gehirn wissen sollten

1.1 Neuroanatomie

Das Gehirn und der ganze Mensch

Das Nervensystem: Der ganze Körper denkt mit

Das Gehirn von unten nach oben: Die wichtigsten Strukturen

Der Hirnstamm: Lebensquelle, Chemiefabrik und Wecker des Gehirns

Das Kleinhirn: Die Arbeit mit Raum und Zeit

Der Thalamus: Das Tor, das wir als Trainer durchschreiten müssen!

Hypothalamus und Hypophyse: Key Account Manager des Körpers

Mandelkern: Emotionszentrum und Katastrophenschutzbeauftragter

Die Basalganglien: Treffpunkt zwischen Bewegung und Motivation

Der Hippocampus: Gedächtnis-Lagerist und Stressmanager

Die Gürtelwindung: Ein aufmerksamer Controller mit Antrieb

Die Großhirnrinde (Neocortex) und die höheren Gehirnfunktionen

1.2 Neurophysiologie & Neuroplastizität

Die Nervenzelle: Ein Kosmos für sich

Die Signalübertragung und das Lernen durch den Synapsenbau

Das Who is Who der VIP-Botenstoffe

Training als biochemische Stimulation

Die Neuroplastizität und ihre Folgen

1.3 Netzwerkzustände im Gehirn und ihre Regulierung

Neuronale Bindung: Wenn es im Nervensystem „klick“ macht

Betriebsmodi des Gehirns: Lieber effizient oder lieber schlau?

Konsistenzregulation: Konfliktmanagement im Nervennetzwerk

Spiegelneuronen: Virtual-Reality-Simulationen im Kopf

2. Trainermythen: Die Top 3 des Neuro-Bullshits

Sie nutzen nur 10 Prozent Ihres Gehirns

Imaginationen sind für das Gehirn real

Sind Sie Rechtshirner oder Linkshirner?

3. Neurodidaktik: Die 12 Prinzipien

1. Prinzip: Lernen ist ein physiologischer Vorgang

2. Prinzip: Das Gehirn ist sozial

3. Prinzip: Die Suche nach dem Sinn ist angeboren

4. Prinzip: Sinnsuche geschieht durch die Bildung von (neuronalen) Mustern

5. Prinzip: Emotionen sind wichtig für die Musterbildung

6. Prinzip: Das Gehirn verarbeitet Informationen in Teilen und als Ganzes gleichzeitig

7. Prinzip: Lernen erfolgt sowohl durch gerichtete Aufmerksamkeit als auch durch periphere Wahrnehmung

8. Prinzip: Lernen geschieht sowohl bewusst als auch unbewusst

9. Prinzip: Es gibt mindestens zwei Arten von Gedächtnis

10. Prinzip: Lernen ist entwicklungsabhängig

11. Prinzip: Komplexes Lernen wird durch Herausforderung gefördert, durch Angst und Bedrohung verhindert

12. Prinzip: Jedes Gehirn ist einzigartig

II. Soft Skills & Hard Facts: Neurodidaktik aktueller Konzepte, Modelle und Methoden im Training

4. Neurowissenschaftliche Grundlagen von Kern-Konzepten im Training

Systemisch-konstruktivistischer Ansatz im Seminar und im Kopf

Lösungsorientierung: Neuroplastizität durch Annäherungsmotivation

Das erfahrungs-, handlungs- und erlebnis-orientierte Gehirn

Die Gruppendynamik und das kollektive „Social Brain“

5. Neurowissenschaftliche Grundlagen beliebter inhaltlicher Modelle im Training

Eisbergmodell: Das subcorticale Unbewusste

Vier Seiten einer Nachricht: Die Deautomatisierung der Reaktion

Intrinsische vs. extrinsische Motivation: Inspiration oder Dressur?

Maslow’sche Bedürfnispyramide: Wenn Hirne nach Höherem streben

Johari-Fenster: Zwischen Blinden Flecken und Bindungshormonen

Stufen des Lernens: Einmal Basalganglien und zurück

Die Komfortzone: Die neue Macht der zentralen Exekutive

Veränderungsmodelle: Change-Management im Kopf

Dynamische Balance: TZI und die Störung assoziativer Attraktoren

Eisenhower-Prinzip: Zeitmanagement im Werte-Cortex

Transaktionsanalyse: Die präfrontale Rehabilitation

6. Neurowissenschaftliche Grundlagen von Kernmethoden des Soft-Skill-Trainings

Rollenspiele als Imaginationstechnik

Gruppenarbeit: Die Emanzipationskraft des sozialen Gehirns

Aktives Zuhören: Mehr Zeit für die Spiegelneuronen

Feedback-Regeln: Schmerzvermeidung in der Gürtelwindung

Gewaltfreie Kommunikation: Konsistenz und Bedürfnisbefriedigung

Zieldefinition: Subcorticale Schützenhilfe für vernünftige Ziele

Kreativitätstechniken: Assoziationen und Alpha-Wellen

Das Harvard-Konzept: Neuropsychotherapie in der Verhandlung

Modelling: Imitationslernen mit System

Rapport: Kommunikation unter der Oxytocin-Dusche

Pacing und Leading: Das Anknüpfungsprinzip in Aktion

Spiegeln: Die Attraktionskraft des Ähnlichen

VAKOG: Vom inneren Gebrauch der Sinne

Submodalitäten: Realitätskriterien des Gehirns

Der Als-ob-Rahmen: Dopamin aus der Zukunft

Ankertechniken: Die Konditionierung von Nervenzellen

Glaubenssätze: Umbau motivationaler Schemata

Wertearbeit: Arbeit mit der limbischen Metaebene

Reframing: Weichen zwischen Mandelkern und Nucleus accumbens

Teilearbeit: Dialog mit neuronalen Netzwerken

Aufstellungen: Erlebnisräume und die Körperlichkeit des Gehirns

Reflecting Team: Doppelspiegel gegen die Bestätigungsfalle

Stühlearbeit: Perspektivenwechsel hilft beim Perspektivenwechsel

Systemische Fragen: Geländefahrten jenseits neuronaler Autobahnen

Trance und Hypnose: Frontal gehemmt zu starken Visionen

Analogien: Metaphern und Geschichten als Gehirnsprache

III. Trainieren mit Hirn: Neue Entwicklungen und Zukunftsperspektiven

7. Meditation und Achtsamkeit: Lernübergänge in die Unabhängigkeit des Gehirns

8. Digital vernetztes Lernen und Corporate Collaboration: Lernen in Selbstverantwortung

9. Spiele und Gamification: Serious Games und das Imitationslernen im Flow

10. Führungs- und Unternehmensplanspiele: Neuroplastischer Impact im Zeitrafferformat

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Dieses Buch ist Dr. Horst Krähe und Viola Stöss von krähestösspartner in München gewidmet. In der Zusammenarbeit mit ihnen sind viele Anregungen für dieses Buch entstanden. Durch sie ist unser Blick für didaktische Wirksamkeit geschärft worden.

Leseanleitung für dieses Buch

Liebe Kollegin, lieber Kollege,

in diesem Buch erhalten Sie einen vielseitigen Einstieg in die Neurodidaktik für Trainer: Teil I behandelt die Grundlagen für einen fundierten Transfer aus der Hirnforschung in die Trainingspraxis. Im Teil II bieten wir Ihnen neuropsychologische Erklärungen für die häufigsten Trainingsformate, -inhalte und -methoden. Schließlich blicken wir im Teil III in die Zukunft und beschreiben Megatrends für das Trainieren mit Hirn.

Bitte achten Sie auf nebenstehendes Icon im Text. An diesen Stellen wird auf digitales Zusatzmaterial zum Thema hingewiesen. Den Link zu den Download-Ressourcen finden Sie in der Umschlagklappe.

Sie können das Buch von der ersten bis zur letzten Seite lesen oder einfach als Nachschlagewerk nutzen. Denn wir haben jedes Kapitel so geschrieben, dass Sie es als Konw-how-Baustein für sich alleine lesen können. Deshalb haben wir Wiederholungen bewusst im Text belassen. Querverweise auf andere Kapitel und ein Stichwortverzeichnis helfen Ihnen beim Verknüpfen und Auffinden von Inhalten. Besonders ans Herz legen möchten wir Ihnen das erste Kapitel von Teil I: „Was Trainerinnen und Trainer über das Gehirn wissen sollten“. Es vertieft Ihr Verständnis zu allen anderen Erklärungen und erleichtert Ihnen die Beantwortung von Teilnehmerfragen.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit haben wir im Buch durchgängig die männliche Form benutzt. Selbstverständlich sind immer beide Geschlechter gemeint.

Wir wünschen Ihnen viel Freude und Erfolg bei der Anwendung dieses Buches in Ihren Trainings!

Ihr Franz Korbinian Hütter und Ihre Sandra Mareike Lang

Neurodidaktik und das Trainieren mit Hirn

Alles Neuro, oder was? – „Neurodidaktik“ ist eines dieser schicken Modewörter, die im Zuge des Neuro-Hypes der letzten Jahrzehnte entstanden sind. Dazu zählen auch Neuropädagogik, Neurofinance, Neuroleadership, Neuromarketing, Neuropolitik, Neuroästhetik und viele mehr. Hinter all diesen Neuro-Ansätzen steckt das Anliegen, das jeweilige Praxisfeld vor den Hintergrund neurowissenschaftlicher Befunde neu zu überdenken.

Der Begriff „Neurodidaktik“ ist dabei einer der Veteranen unter den Neuro-Wörtern. Er wurde schon in den späten Achtzigerjahren von Gerhard Preiß vorgeschlagen (Friedrich & Preiß 2003). Als Fachdidaktiker hatte Preiß damals die offenkundige Relevanz der Hirnforschung für das Lehren und Lernen erkannt. Er verfolgte mit seiner Wortschöpfung das Ziel, dass sich Pädagogen mit diesen Erkenntnissen auseinandersetzen und ihre Unterrichtspraxis reflektieren sollten. Angesichts der Kluft zwischen dem, was wir über gelingende Lernvorgänge im Gehirn heute wissen und der gelebten Realität in vielen Klassenzimmern ein allzu verständliches Anliegen!

Das Neuro-Label diente also schon damals dem Marketing – im Falle von Preiß der Verbreitung seiner Idee einer Pädagogik und Didaktik, die Schülern eine Chance auf hirnkompatible Lernumgebungen gibt.

Was dabei an Handlungsempfehlungen für Lehrende herausgekommen ist, ist eine empirische Bestätigung dessen, was Reformpädagogen, engagierte Didaktiker und Trainer schon lange leben: methodische Vielfalt, Vermittlung von Inhalten auf mehreren Sinneskanälen, der Vorrang eigener Erfahrungen vor der Frontalbeschallung mit Faktenwissen, Emotionalisierung durch relevante Sinnbezüge zum Leben der Zielgruppe, bewegtes und spielerisches Lernen, soziale Verstärkung von Lernprozessen in der Gruppe und einiges mehr (cf. Hermann 2009).

So findet sich beispielsweise die Empfehlung zum multisensorischen Lernen, die gerade erst durch eine Studie des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig empirisch bestätigt wurde (Mayer et al. 2015), schon beim böhmisch-mährischen Theologen und Pädagogen Johann Amos Comenius, der im 17. Jahrhundert forderte: „Alles soll wo immer möglich den Sinnen vorgeführt werden, was sichtbar dem Gesicht, was hörbar dem Gehör, was riechbar dem Geruch, was schmeckbar dem Geschmack, was fühlbar dem Tastsinn. Und wenn etwas durch verschiedene Sinne aufgenommen werden kann, soll es den verschiedenen zugleich vorgesetzt werden. Und weil die Sinne die treusten Sachverwalter des Gedächtnisses sind, so wird diese Veranschaulichung der Dinge bewirken, dass jeder das, was er weiß, auch behält.“ (Comenius 1657)

Insofern startete die Neurodidaktik als eine Art „Glaubenssatzarbeit mit Wissenschaft“ nach dem Motto: Wenn schon die Psychologie auf taube Ohren stößt und die Reformpädagogen milde belächelt werden, vielleicht schafft es ja dann die Hirnforschung mit ihren empirischen Daten und ihrer eindrucksvollen Bildgebung, die verkrusteten Glaubens- und Organisationssysteme zu durchbrechen.

Der Trainernutzen

Wenngleich noch erheblich mehr in der Neurodidaktik steckt, ist dieser Nutzenaspekt auch für uns als Trainer nicht zu verachten. Schließlich werden auch unsere Inhalte und Methoden zu Recht immer wieder hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Fundierung hinterfragt.

Richtig praktisch wird Neurodidaktik daher für uns, wenn sie uns Modelle liefert, die die Wirkungen von Übungen und anderen Trainingsformaten erklären helfen, sodass wir die Akzeptanz bei Auftraggebern und Teilnehmern steigern können.

Warum kann zum Beispiel ein gut durchgeführtes Outdoor-Training oder ein Führungsplanspiel schneller dauerhafte Lerneffekte vermitteln als die klassische Sequenz aus Input, Rollenspiel und Diskussion? Warum ist der Ruf erlebnisorientierter Formate als „Erlebnis ohne Ergebnis“ (FAZ 30.03.2009) unbegründet? Auf welchen neuropsychologischen Wirkungszusammenhängen fußen die Erfolge von achtsamkeitsbasierten Trainingsformen und warum sind Seminarspiele mehr als „Kindergarten für Erwachsene“?

Hier können wir das Grundbedürfnis unserer Seminarteilnehmer und Auftraggeber nach Orientierung und Kontrolle besser bedienen und das Warum hinter unserer Methodik transparent machen. Somit öffnet die Faszinationskraft der Hirnforschung Türen, die es Teilnehmern leichter macht, sich den Erfahrungsangeboten zu stellen, die wir als Trainer in unseren Seminaren machen.

In Teil II dieses Buchs geben wir Ihnen neurowissenschaftliche Hintergründe und Begründungen zu vielen gängigen Trainingsinhalten und Formaten an die Hand. Diese können insbesondere auch in Ihre Selbstpositionierung auf dem Trainermarkt einfließen. Denn gerade für die Positionierung ist es erfahrungsgemäß nützlich, sich mit den Wirkungsgrundlagen eigener Seminarkonzepte und Methoden auseinandergesetzt zu haben und dies auch nach außen zu kommunizieren.

Neuronale Zusammenhänge

Um die Fragen von Teilnehmern und Auftraggebern beantworten zu können und einen wirklich fundierten Praxistransfer aus der Hirnforschung zu leisten, braucht es jedoch mehr als eine Aneinanderreihung von „Erkenntnissen“ der Hirnforschung. Deshalb laden wir Sie im Teil I des Buchs („Was Trainer über das Gehirn wissen sollten“) dazu ein, mit uns in die neuronalen Zusammenhänge einzutauchen.

Wir haben dabei den Ehrgeiz, Ihnen den nötigen Überblick über das Teamwork der Nervenzellen im Kopf, über Neuroplastizität und über Neuroanatomie durch viele Brücken in die Praxis spannend und lustvoll zu vermitteln. Wenn Sie dieses Kapitel aufgesogen haben, sollte Ihnen zu den gängigen Teilnehmerfragen nach wissenschaftlichen Begründungen in den meisten Fällen eine Antwort einfallen. Zugleich laden wir Sie ein, sich bei aller wachsenden Sicherheit darüber im Klaren zu sein, dass es sich auch bei den neuropsychologischen Erklärungen nur um Modelle und nicht um eine abschließend „bewiesene“ Wahrheit handelt. Deshalb bietet dieser Überblick auch eine brauchbare Immunisierung gegen grassierende Trainer-Mythen und Neuro-Plattitüden in Seminaren, die vor ein paar Jahren noch als plausible Erklärungen durchgegangen wären.

Wir wollen damit gerne einem Trend entgegenwirken: Allzu oft wird mit dem Label „Neuro“ nur alter Wein in neue Schläuche gegossen. Wenn wir zum Beispiel statt von „Motivation“ von „Dopamin-Ausschüttung“ sprechen, haben wir damit noch keinen Erkenntnisgewinn erzielt. Im Gegenteil: Wir haben eine Blendgranate geworfen, nach dem Motto „If you can’t dazzle them with brilliance, baffle them with bullshit“ (W. C. Fields). So entsteht nach außen manchmal der Eindruck, es gäbe in der Führung, im Training und in anderen Anwendungsfeldern neue, todsicher wirksame Methoden direkt aus den High-Tech-Laboren der Hirnforscher und man könne damit nun auf Basis „wissenschaftlich bewiesener“ Methoden endlich „optimal“ handeln.

Diese zutiefst menschliche Sehnsucht nach einfachen, eindeutigen Lösungen wird indes auch von der Neurodidaktik nicht bedient. Was Neurodidaktik aber leisten kann, ist, Modelle zu bauen, die die abstrakten psychologischen Vorgänge rund um das Lernen ein Stück weit greifbarer machen. Dabei ist es uns sehr wichtig klarzustellen, dass es sich um Modelle, also um unsere Interpretation wissenschaftlicher Studien in Bezug auf das jeweilige Thema handelt.

Denn was ein Rollenspiel im Seminar oder ein Outdoor-Training in den Köpfen der Menschen wirklich bewegt, lässt sich mit den derzeitigen Methoden der Hirnforschung nicht direkt untersuchen, da man mit einem tonnenschweren Hirnscanner nicht in einen Seminarraum, geschweige denn in einen Hochseilgarten gehen kann. So müssen wir also immer Befunde aus Labor-Experimenten zu ganz anderen Themen (zum Beispiel der psychologischen Wirksamkeitsforschung, cf. Paquette et al. 2003) auf die lebendige, schillernde Realität im Seminarraum übertragen. Deshalb sind unsere Modelle erkenntnistheoretisch noch ein Stück weit modellhafter als die ursprünglichen Labor-Studien es ohnehin schon waren.

Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie. – Kurt Lewin

Wenn dieses Buch die Trainer-Community dazu anregt, die längst überfällige Theoriebildung voranzutreiben, was im Training warum veränderungswirksam wird (und was nicht), so hätten wir viel für die Weiterentwicklung unserer Branche getan. Ja, ja, grau ist alle Theorie, oder? Wir möchten dieser weit verbreiteten Theorie-Allergie den Satz von Kurt Lewin gegenüberstellen, nach dem es nichts Praktischeres gibt als eine gute Theorie. Denn Theorien bauen Modelle, wie etwas funktioniert. Und die brauchen wir, wann immer wir Wirkungen erklären, steigern und wirksame Methoden weiterentwickeln wollen.

Der Psychotherapieforscher Klaus Grawe hat es uns vorgemacht. Nach 30 Jahren empirischer Wirksamkeitsforschung zog er 1994 auf dem Hamburger Psychotherapeutenkonkress ein Resümee (Grawe 1994): Die unzähligen unterschiedlichen Therapieschulen haben alle Methoden hervorgebracht, die in bestimmten Fällen wirken. Die besten Erfolge erzielen Querdenker-Therapeuten, die eine gute Beziehung zu ihren Klienten aufbauen und ein möglichst breites Spektrum aus möglichst vielen Therapieschulen situativ passend anwenden. Dabei könne man wesentliche Teile der Theorien, mit denen diese Schulen ihre Wirkungen erklären, in die Tonne treten, da sie teilweise wissenschaftlich widerlegt wären und sich viele ihrer Behauptungen gegenseitig ausschlössen. Daher musste eine neue Metatheorie her, die schulenunabhängig die Wirkung (oder Nichtwirkung) von therapeutischen Interventionen erklärte.

Dieser näherte er sich im Jahr 2004 mit seinem wegweisenden Buch „Neuropsychotherapie“ (Grawe 2004) an. Hier definiert er nicht etwa schon wieder eine neue Therapieform, sondern genau eine solche schulenübergreifende Metatheorie psychotherapeutischer Veränderungsprozesse auf Basis der Neurowissenschaften. Seine Modelle sind weit über den psychotherapeutischen Bereich hinaus paradigmenbildend geworden. Kaum eine seriöse Betrachtung über die Wirksamkeit von Coaching oder Führung auf der Ebene neuroplastischer Veränderungen kommt heute mehr an dieser Theorie vorbei. Auch in diesem Buch werden Sie viel von ihr hören, denn das Lernen, um das es hier geht, beruht wie Psychotherapie, Coaching und Führung auch auf wirksamen Veränderungen in der synaptischen Struktur von Gehirnen.

Die Vision, die hinter diesem Buch steckt, besteht darin, Diskussionen anzuregen, die in ähnlicher Weise in eine Metatheorie des Trainings und seiner wirksamen Bestandteile münden. Denn diese brauchen wir noch mehr als die Psychotherapeuten. Schließlich sind die Trainingsmethoden, die wir anwenden, ein zusammengeklautes Methoden-Sammelsurium aus Transaktionsanalyse, klientenzentrierter Gesprächstherapie, Verhaltenstherapie, Gestalttherapie, Tiefenpsychologie und vielen anderen, zu gefühlten 99 Prozent psychotherapeutischen Verfahren mit völlig unterschiedlichen Theoriehintergründen. In diesem Buch benennen wir daher die Herkunft jeder Methode, die wir beschreiben und liefern dazu unsere Hypothesen über die neuropsychologischen Zusammenhänge, die sie wirksam machen könnten.

Dass eine solche metatheoretische Herangehensweise ein zukunftsweisender Trend ist und gegenwärtig von den Vordenkern der Szene vorangetrieben wird, zeigt Klaus Eidenschinks systemtheoretisch inspirierter Ansatz der „Metatheorie der Veränderung“ für die Beratung und Organisationsentwicklung (metatheorie-der-veraenderung.info). Dass ferner auch eine neurodidaktische Theoriebildung – in den Worten von Hinderk M. Emrich (Emrich 2001) – nur auf eine „nicht-reduktionistische System-Neurobiologie“ aufbauen kann, zeigt alleine schon der mechanistische Neuro-Bullshit heutiger Tage, mit dem Auftraggebern und Teilnehmern suggeriert wird, es gäbe so etwas wie „Motivationsknöpfe“ oder „Hebel“ im Gehirn, die nur richtig bedient werden müssten, um die gewünschten Erfolge zu erzielen (meist sind auf den entsprechenden Flyern Köpfe mit Zahnrädern abgebildet).

Statt Ihnen also ein Buch voller schlauer „neurowissenschaftlicher Erkenntnisse“ und darauf aufbauender pseudoevidenter Handlungsverschreibungen anzubieten, wollen wir Sie dazu einladen, unsere Modelle eher als Metaphern mit einem wahren Kern zu lesen und sich von der witzig-verfremdenden Hirn-Perspektive auf den Trainingsalltag zu eigenen neuen Beobachtungen inspirieren zu lassen. So können die Inhalte des Buches weitaus mehr zur Weiterentwicklung Ihrer Handlungsoptionen beitragen, als wenn sie es als Sammlung von Wahrheiten mit beigefügtem Kochrezept lesen.

Welchen Nutzen aber kann die Neurodidaktik dann noch für unsere eigene methodische Weiterentwicklung als Trainer und für die Zukunft der Personalentwicklung haben? Wir glauben, dass die große Mehrzahl unserer Kolleginnen und Kollegen sehr viele Empfehlungen, die sich auf der didaktischen Ebene aus der Neurobiologie des Lernens ergeben, schon heute umsetzt. Sie mit viel wissenschaftlichem Klimbim darüber zu belehren, dass erfahrungsorientiertes Lernen besser ist als eine ewig lange PowerPoint-Präsentation über Kommunikation, dass es darauf ankommt, Inhalte durch Bezug zur realen Lebenswelt der Teilnehmer relevant zu machen und dass die Aktivierung von Emotionen zu nachhaltigeren Lernerfolgen führt als das furztrockene Herunterleiern von Sachinformationen wäre vermessen.

Methoden gegenüber Auftraggebern plausibel machen

Die Neurodidaktik kann uns aber dabei helfen, das, was wir als erfahrene Trainer methodisch und konzeptionell für richtig halten, gegenüber unseren Auftraggebern plausibel zu machen und damit mehr freie Hand in der Gestaltung von Trainings zu bekommen.

Denn ob sich die genannten vulgärdidaktischen Banalitäten schon bis in jede Personalentwicklungsabteilung herumgesprochen haben, ist eine ganz andere Frage. Zumindest zweifeln wir immer mal wieder daran, wenn wir vor dem Seminar in schweißtreibender Räumarbeit die schulmäßig im Seminarraum aufgestellten Sitzpult-Reihen entfernen müssen oder nach einem Skript gefragt werden, das den genauen Ablauf der „Schulung“ im Halbstundentakt nachlesbar macht. Herrgott, diese Teilnehmer haben keine triviale Produktionsmaschine zwischen den Ohren, die in einer bestimmten Reihenfolge mit Wissen und Kompetenzen bestückt werden könnte, um dann über einen Auswurfschacht den richtigen Verhaltensoutput zu liefern!

Schließlich ist das Gehirn eines jeden Menschen, der bei uns im Seminar sitzt, auf der Ebene seiner Hardware-Struktur anders als das seines Sitznachbarn. Die neuroplastische Kraft emotional bedeutsamer Lebenserfahrungen hat die synaptische Feinstruktur seiner Nervenverbindungen individuell geformt und damit auch seine derzeitige Art, wahrzunehmen, zu denken, zu fühlen und zu handeln.

Hinzu kommt die Tatsache, dass Gehirne nicht linear, sondern hochgradig assoziativ verschaltet sind (Singer 2007), ähnlich einem sozialen Netzwerk wie Facebook, in dem wir nie wissen, welchen Weg eine Information nehmen wird. Dass komplexe Lernerfahrungen bei einer so hohen Individualität der „Lernorgane“ und bei so viel Nichtlinearität in der Infrastruktur derselben innerhalb von genormten Abläufen stattfinden kann, erscheint zweifelhaft. Vielmehr brauchen wir in unseren Trainings ein hohes Maß an Freiheitsgraden und Flexibilität, mehr Jazz als das Abspielen von Noten vom Blatt, ein Surfen auf der Welle von kognitiven und emotionalen Prozessen, die nicht wirklich im Voraus planbar sind.

Leitfäden dienen unserer eigenen Auseinandersetzung mit dem Material sowie der Klärung von Kerninhalten und Methoden, die mit den Auftraggebern vereinbart werden. Solange schon bei der Auftragsklärung allen Beteiligten klar ist, dass man sich wahrscheinlich nicht an einen vordefinierten Ablauf halten wird, sind sie für alle Seiten nützlich.

Dies ist nur ein Beispiel von vielen, an denen sich zeigt, wie das Ernstnehmen der Neuroplastizität, der assoziativen Funktionsweise unseres Gehirns und anderer scheinbar harmloser Befunde der Hirnforschung das Training und die Personalentwicklung in Konflikt mit der historisch gewachsenen Praxis bringen kann.

Ein anderes Beispiel hierfür ist die Unart – allem Transfer-Gefasel zum Trotz – die Qualität von Trainings nicht anhand ihrer Wirkungen zu messen. Dies wäre gerade im betrieblichen Kontext oft relativ unaufwendig möglich, wenn Trainings etwa mit gemeinsam erarbeiteten Umsetzungsaufgaben verknüpft würden. Zum Beispiel werden Führungskräfte im Change-Seminar dazu eingeladen, bis zum Follow-up-Termin in zwei Monaten auf einem digital zur Verfügung gestellten Arbeitsblatt Kommunikationsstrategien für die von ihnen verantworteten Veränderungsprozesse zu erarbeiten. Schon an der Rücklaufquote, spätestens aber an der Qualität der Arbeitsergebnisse lassen sich viele Kriterien erkennen, die sonst alleine durch Evaluationsbögen abgefragt werden: „Waren die Inhalte des Seminars klar und verständlich?“, „Fanden Sie die Inhalte nützlich für Ihre praktische Tätigkeit?“, „Sind Sie motiviert, die Seminarinhalte umzusetzen?“

Veränderungswirksame Prozesse können im Seminar nur angetriggert werden

Denn wenn wir eines aus der Hirnforschung sicher wissen, so ist es, dass in der kurzen Zeit, die uns im Seminar zur Verfügung steht, veränderungswirksame neuroplastische Prozesse nur angetriggert werden können. Die eigentliche Veränderung in den Hirnen und im Handeln der Menschen findet jedoch durch das konkrete und wiederholte Tun im Alltag statt. Feedback-Bögen als alleiniges Maß für die Qualität von Seminaren und gegebenenfalls für die Erteilung von Folgeaufträgen nehmen Trainern viel von der unabhängigen und bei Bedarf auch unbequemen Außenperspektive, die sie in ein Unternehmen einbringen könnten. Da die Bögen trotz aller ausgeklügelter Fragerei letztlich den durchschnittlichen Happiness-Faktor abfragen, ist ihre korrumpierende Wirkung nicht zu unterschätzen. Trainer, die Seminarteilnehmer trotzdem mit dysfunktionalen Mustern konfrontieren – zum Beispiel mit einem möglichen Zusammenhang zwischen dem Kontrollbedürfnis der anwesenden Führungskräfte und der von ihnen beklagten Unselbstständigkeit ihrer Mitarbeiter – gehören zu den wirklich mutigen Heroen unserer Branche.

Dabei bestünde gerade durch die Konfrontation mit heiklen Themen die Chance, die vielbeschworene emotionale Aktivierung durch Anknüpfung an hoch bedeutsame Motive der Teilnehmer zu erreichen.

Wenn auch Heikles in einem geschützten, wertschätzenden Rahmen besprechbar wird, wird auf jeden Fall leichter die emotionale Betriebstemperatur erreicht, die für dauerhafte neuroplastische Veränderungen erforderlich ist. Wer dieses ohne Zweifel nicht gerade kleine Risiko eingeht, tut als Trainer nicht nur etwas für seine eigene Persönlichkeitsentwicklung, sondern gibt seinen Teilnehmern Entwicklungsimpulse, die geeignet sind, ihren Reifegrad und den Reifegrad der Organisation, in der sie arbeiten, längerfristig zu steigern.

Diese wenigen Anwendungsbeispiele mögen verdeutlichen, worin wir das eigentliche Veränderungspotenzial sehen, das für uns als Trainer in der Beschäftigung mit Neurodidaktik steckt.

Während die relativ trivialen Empfehlungen der Neurodidaktik für eine „gehirngerechte“ Vermittlung von Wissen und Kompetenzen zum Standardrepertoire jeder halbwegs brauchbaren Trainerausbildung gehören, lohnt sie sich erst so richtig, wenn wir ihre Befunde auf ein Lernen höherer Ordnung anwenden.

Was Lernen höherer Ordnung sein kann, beschreibt der Anthropologe, Sozialwissenschaftler und Kybernetiker Gregory Bateson (1904-1980) in seiner grundlegenden Lerntypologie (Bateson 1981):

Lernen I

Lernen I, die niedrigste Stufe des Lernens ist zugleich die am meisten verbreitete. Wir kennen sie aus dem schulischen Kontext, in dem zum Teil Wissen eingepaukt wird, um bei der nächsten Prüfung wiedergegeben zu werden. Auch unsere Hochschulen und Universitäten bewegen sich seit der Bologna-Reform verstärkt auf eine Lernkultur des Bulimie-Lernens ohne Sinn und Verstand zu. Im Seminar bewegt sich das klassische So-geht’s-Training auf diesem Niveau. Der Trainer steht hier als Experte vor seinen Teilnehmern und zeigt ihnen, wie erfolgreiches Handeln in einem bestimmten Praxisfeld funktioniert. Der Lernmodus besteht in der Imitation einer Best Practice, die so lange funktioniert, wie sich die Welt da draußen bequemt, sich nach dem jeweiligen Drehbuch zu richten. Bereits hier können neurodidaktische Impulse natürlich hilfreich sein, um den „Stoff“ mit Methodenmix und Action ein wenig ansprechender aufzubereiten.

Lernen II

Lernen II, von Bateson auch als Deuterolernen bezeichnet, ermöglicht es den Teilnehmern bereits, erworbene Fähigkeiten situativ flexibel anzuwenden und je nach Kontext zu modifizieren. Hier findet auch schon eine Reflexion darüber statt, welche Vorgehensweisen am besten zur eigenen Persönlichkeit und zu den eigenen Werten passen. Bei Bedarf sind die Lernenden in der Lage, selbstständig neue Strategien zu entwickeln, um ihr Handeln an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen („Lernen lernen“). Gerade in Unternehmen, die es als überlebenswichtig erkannt haben, zu lernenden Organisationen zu werden, ist das Erreichen dieser Stufe unumgänglich. Der neurodidaktische Background kann Trainer hier dazu inspirieren, neue Formate anzuwenden und weiterzuentwickeln, die ein entsprechend anwendungsflexibles Lernen ermöglichen. Im Teil III dieses Buches sind einige Trainingsformate beschrieben, die sich hierfür eignen und denen wir daher ein großes Zukunftspotenzial im Seminar von morgen zuschreiben. Dazu gehören zum Beispiel der achtsamkeitsbasierte Ansatz, das digital vernetzte Lernen und ein Führungsplanspiel, in dem jeder abwechselnd Mitarbeiter- und Führungsfunktionen innehat und direkt im Anschluss an die jeweils absolvierte Situation zu Verhaltensalternativen und seinem zwischenmenschlichen Agieren unter Stressbedingungen gecoacht wird.

Lernen III

All diesen Methoden ist es gemeinsam, dass sie bereits Ansätze enthalten, die über das Lernen II in Richtung Lernen III hinausweisen. Während im Lernen II immer schon ein Stück weit Persönlichkeitsentwicklung mitschwingt, steht sie beim Lernen III im Zentrum der Aufmerksamkeit. Hier geht es nicht nur darum, selbstständig neue Verhaltensstrategien zu erwerben, sondern in eigener Regie über sich selbst hinauszuwachsen. Menschen erwerben auf dieser Stufe beispielsweise den Mut, gegen den Strom der Mehrheitsmeinung eigene Wahrnehmungen zu machen und diese auch zu äußern. Sie lernen, Stress und Angstgefühle, die dabei aufkommen im erträglichen Rahmen zu halten. Sie lernen, unter Unsicherheit Entscheidungen zu treffen und sich dabei bewusst zu sein, dass sie für jede Entscheidung einen Preis zahlen werden. Sie lernen, die vielen Ambivalenzen und Dilemmata des Mitarbeiter- und Führungsalltags nicht mehr durch binäres Denken in den Kategorien „richtig“ oder „falsch“ zu betäuben. Zutiefst unsympathische Meinungen anderer werden auf dieser Stufe in eigene Entscheidungen einbezogen, da, frei nach Peter Kruse, die Erkenntnis gereift ist, dass das Fehlen von internen Widersprüchen eine Organisation der exponentiellen Verdummung anheimfallen lässt (Kruse 2008). Sie lernen, anfangs oft gegen den Widerstand massiver eigener Unlust, Komplexität wieder zu tolerieren und nicht mehr unzulässig auf sieben Bulletpoints zu reduzieren.

Zu den erheblichen Risiken und Nebenwirkungen des Lernübergangs in diese dritte Stufe gehört es allerdings, dass solche Menschen in zunehmendem Maß die Eignung verlieren, in den hierarchischen Organisationen traditioneller Prägung als Befehlsempfänger zu fungieren. Zumindest fangen sie an, im Sinne des Kant’schen Sapere aude (Kant 1784) sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen und mit wachsender innerer Autonomie zu handeln.

Wir sind der Meinung, dass die Förderung solcher persönlicher und organisationaler Reifungsprozesse heute eine unumgängliche Notwendigkeit ist. Wir sind auch überzeugt davon, dass das Lernen III in der heutigen Zeit, in der die alten Strukturen dysfunktional geworden sind und eine schwere Krise nach der anderen produzieren, die zukünftige Existenzberechtigung unseres Berufsstandes als Trainer und Personalentwickler ausmachen wird.

Neurodidaktik als Reflexionsgrundlage hin zu neuen Freiheitsgraden im Denken und Handeln

Auf dieser Stufe entfaltet die Neurodidaktik ihr eigentliches Potenzial: als Reflexionsgrundlage dafür, wie wir uns selbst und unsere Teilnehmer schrittweise zu neuen Freiheitsgraden im Denken und Handeln ermutigen und befähigen. Denn das vielbeschworene „demokratische Unternehmen“ (Sattelberger et al. 2015) und selbst sein entfernter Vorfahre, die partizipative Führung, kann nur dann gedeihen, wenn die kritische Masse an Menschen überschritten ist, die selbst denken und handeln können und wollen und die es gelernt haben, mit diesen neuen Freiheiten umzugehen.

Betrachten wir hierzu kurz die komplexesten und nachhaltigsten Lernprozesse, die das Gehirn in seiner Entwicklung meistert. Beginnend mit dem Laufenlernen über den Spracherwerb bis hin zur Sozialisation in Elternhaus, Schule und Beruf. All diese Prozesse werden von massiven Zumutungen an Komplexität, Überforderung und kognitiven ebenso wie emotionalen Frustrationen begleitet. Aufstehen, hinfallen, schreien, wieder aufstehen, weitergehen.

Obwohl wir im Erwachsenenalter längst nicht mehr über das Ausmaß an Neuroplastizität und Frustrationstoleranz verfügen wie im Kindesalter, ist auch heute noch die Full Immersion, also das Eintauchen in die gnadenlose Komplexität der realen Erfahrung die effektivste Trainingsmethode. Das erkennen wir sowohl beim Erwerb einer Fremdsprache, die wir am besten durch einen Job im Ausland erlernen, ebenso wie bei der Sozialisation in einer neuen Unternehmenskultur, die oft am besten gelingt, indem wir geradewegs in ein Projekt hineinspringen.

Vor diesem Hintergrund müssen wir uns als Trainer fragen, ob wir nicht durch die übermäßige Komplexitätsreduktion selbst dazu beitragen, dass ein Lernen höherer Ordnung verhindert wird und Teilnehmer stattdessen in passiven Konsumhaltungen und erlernter Hilflosigkeit fixiert werden. Hier gibt es erheblichen Aufholbedarf, was die theoretische und praktische Umsetzung von Neurodidaktik in den Seminarräumen anbelangt. Wenn wir ihre Befunde ernst nehmen, so können wir uns selbstkritisch die folgenden Fragen stellen:

 Wie viel emotionalen Tiefgang (also wie viel Konfrontation mit eigenen Ängsten, unausgesprochenen Wünschen, Gier, Neid, Scham) mute ich meinen Teilnehmern angesichts des Evaluationsdrucks wirklich zu? Für wirksame neuroplastische Veränderungen wäre mehr davon zieldienlich.

 Glaube ich wirklich, dass ich als Trainer die heute benötigten Metakompetenzen, wie das Entscheiden unter Unsicherheit und zunehmender Komplexität, auf der Ebene von „Tools“ und „Lösungen“ vermitteln kann, die die reale Komplexität auf imitierbare Schrittfolgen reduzieren?

 Inwieweit sollte sich die Personalentwicklung der Zukunft daher von den auf der Verhaltensebene trainierbaren „Skills“ auch im betrieblichen Kontext wieder in Richtung Persönlichkeitsentwicklung bewegen, um statt fertiger Lösungen mit geringer Halbwertszeit durch die Steigerung des Reifegrads von Individuen und Organisationen die Ermöglichung von Lösungen voranzutreiben (cf. Kruse 2008)?

Auf jeden Fall braucht es eine Menge Mut, sich diese bewusst provozierend formulierten Fragen immer wieder ernsthaft zu stellen und die eigenen Antworten darauf zu finden. Dies betrifft uns als die Autoren dieser nassforschen Fragen, Thesen und Forderungen, von deren Erfüllung wir in der Praxis selbst oft meilenweit entfernt sind, ebenso wie Sie. Es geht uns – mit Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ – in diesem Buch eher darum, dem Wirklichkeitssinn den Möglichkeitssinn an die Seite zu stellen und damit Visionen zur Zukunft des Trainings anzuregen. Dabei möchten wir lieber eine gerne auch hitzige Diskussion anregen als „Wahrheiten“ verkünden. Denn wer Grundlagenforschung, wie sie die Neurowissenschaften betreiben, aus der Petrischale oder aus dem Hirnscanner auf die Komplexität realer betrieblicher Lern- und Entwicklungsprozesse bezieht, kann dabei keinen normativen Wahrheitsanspruch geltend machen. Vielmehr handelt es sich immer um subjektiv eingefärbte Lesarten empirischer Daten. Ob Sie sich in Teilaspekten unseren Interpretationsangeboten anschließen wollen oder aus den neurowissenschaftlichen Befunden völlig andere Rückschlüsse ziehen, tut dabei nichts zur Sache. Wichtig ist uns, dass Sie sich selbst ein Bild machen können und, wenn Sie Feuer gefangen haben, die Neurodidaktik bei der Konzeption und Durchführung ihrer Trainings mit Leidenschaft nutzen. In den folgenden Abschnitten erhalten Sie das hierfür erforderliche neurowissenschaftliche Rüstzeug.

I. Hirnforschung & Training:Grundlagen für einen fundierten Praxistransfer

Im ersten Teil des Buchs legen wir die Grundlagen, die Sie als Trainerin oder Trainer für den fundierten Praxistransfer aus der Hirnforschung benötigen. Dabei laden wir Sie ein, mit uns in die Zusammenhänge einzutauchen, die für die neurowissenschaftliche Erklärung von Lernerfolgen und gelungenen Veränderungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln von Menschen entscheidend sind.

Im ersten Kapitel erfahren Sie, wie starke Lernerfahrungen im Gehirn ihre Wirkung entfalten:

 Zunächst erwerben Sie grundlegende Ortskenntnisse im menschlichen Gehirn. Sie erfahren viel über die Funktionen wichtiger neuroanatomischer Strukturen und ihrer Bedeutung im Trainingskontext.

 Die Ebene der Nervenzellen und Synapsen in unserem Gehirn ist Inhalt des zweiten Abschnitts. Hier erfahren Sie beispielsweise, wie starke Emotionen unsere Gene aktivieren und so den neuronalen Straßenbau in Gang bringen.

 Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit dem neuronalen Networking im Gehirn. Sie lernen Modelle kennen, wie unterschiedliche Betriebszustände des Gehirns Effektivität, Kreativität oder auch Stress erzeugen. Außerdem erfahren Sie, wie Spiegelneuronen eine Simulation fremder Verhaltensweisen und Gefühle in Ihr eigenes Nervensystem „hineinkopieren“.

Das zweite Kapitel behandelt Trainermythen rund um das Gehirn. Es soll Ihnen auch Erkennungsmerkmale für Neuro-Bullshit liefern und Sie gegen diesen immunisieren.

Schließlich erreichen wir im dritten Kapitel den Praxistransfer in die Neurodidaktik. Wir reichern die 12 neurodidaktischen Prinzipien nach Renata Nummela-Caine mit dem erworbenen Grundlagenwissen an und übertragen sie vom schulischen Kontext auf die Seminarsituation. Dabei zeigen wir das Potenzial der Neurodidaktik auf, in der Personalentwicklung ein Lernen höherer Ordnung zu etablieren.

Studien sind durch Quellenangaben belegt, Lehrbuchwissen nicht. Als Referenz für neuropsychologisches Lehrbuchwissen empfehlen wir:

Bear, M. F. et al. (2016). Neurowissenschaften. Ein grundlegendes Lehrbuch für Biologie, Medizin und Psychologie. Deutsche Ausgabe, hrsg. von Andreas K. Engel. Wiesbaden: Springer Spektrum.

Kapitel 1 Was Trainerinnen und Trainer über das Gehirn wissen sollten

Im ersten Kapitel erwerben Sie grundlegende Ortskenntnisse im menschlichen Gehirn. Sie erfahren viel über die Funktionen wichtiger neuroanatomischer Strukturen und ihrer Bedeutung im Trainingskontext. Der folgende Schnellfinder bietet Ihnen gute Orientierung in diesem Kapitel.

1.1 Neuroanatomie

Das Gehirn und ganze Mensch

Das Nervensystem: Der ganze Körper denkt mit

Das Gehirn von unten nach oben: Die wichtigsten Strukturen

Das Kleinhirn: Die Arbeit mit Raum und Zeit

Der Thalamus: Das Tor, das wir als Trainer durchschreiten müssen

Hypothalamus und Hypophyse: Key Account Manager des Körpers

Mandelkern: Emotionszentrum und Katastrophenschutzbeauftragter

Die Basalganglien: Treffpunkt zwischen Bewegung und Motivation

Der Hippocampus: Gedächtnis-Lagerist und Stressmanager

Die Gürtelwindung: Ein aufmerksamer Controller mit Antrieb

Die Großhirnrinde (Neocortex) und die höheren Gehirnfunktionen

1.2 Neurophysiologie & Neuroplastizität

Die Nervenzelle: Ein Kosmos für sich

Die Signalübertragung und das Lernen durch den Synapsenbau

Das Who is Who der VIP-Botenstoffe

Training als biochemische Stimulation

Die Neuroplastizität und ihre Folgen

1.3. Netzwerkzustände im Gehirn und ihre Regulierung

Neuronale Bindung: Wenn es im Nervensystem „klick“ macht

Betriebsmodi des Gehirns: Lieber effizient oder lieber schlau?

Konsistenzregulation: Konfliktmanagement im Nervennetzwerk

Spiegelneuronen: Virtual-Reality-Simulationen im Kopf

1.1 Neuroanatomie

 Das Gehirn und der ganze Mensch

Erinnern Sie sich noch an die Zeichentrickserie Captain Future? Zu den beeindruckenden Figuren dieser Serie gehört Professor Simon Wright. Nach dem Tode des Professors war nämlich sein Gehirn in eine Art fliegende Käseglocke gepflanzt worden. Sensoren und ein Sprachprozessor ersetzen den fehlenden Körper, sodass der schlaue Professor einfach als sprechendes Gehirn durch die Serie saust.

Embodiment-Forschung: Der Körper mischt beim Denken mit

Das Gehirn ist Teil eines großen Informationsnetzwerkes, das sich über den gesamten Organismus erstreckt.

 Das Nervensystem: Der ganze Körper denkt mit

Schnell auf den Punkt gebracht, ist unser Nervensystem ein Vermittler zwischen Wahrnehmung und Aktion.

Vermittler zwischen Wahrnehmung und Aktion

Auf der Wahrnehmungsseite stehen afferente, also wörtlich „hineintragende“ sensorische Nerven, die Reize aus dem Körperinneren oder aus der Außenwelt ins zentrale Nervensystem leiten. Dieser Input wird im zentralen Nervensystem, insbesondere im Gehirn, verarbeitet. Die interne Verarbeitung besorgen sogenannte Interneuronen, also Nervenzellen, die nicht direkt mit der Außenwelt verbunden sind, sondern nur von Neuron zu Neuron kommunizieren.

Neurowissenschaftler schätzen das Verhältnis von, nennen wir sie „Außendienst-Neuronen“, die Informationen aus der Welt da draußen ins Gehirn hineintragen, zu den „Innendienst-Neuronen“, die den Input nach rein internen Arbeitsanweisungen und Dienstvorschriften bearbeiten, auf 1 zu 10.000 (Maturana & Varela 1987).

Es kommt also in erheblichem Maße darauf an, welche Wahrnehmungsfilter, Denkmuster, emotionalen Reaktionsmuster und Verhaltenspräferenzen das Leben in ein Gehirn eingeschrieben hat, ob ein und dieselbe Situation zum Beispiel als bedrohlich oder spannend, verständlich oder unverständlich, lustig oder traurig empfunden wird.

Die Aktionsseite wird durch sogenannte efferente Neuronen besorgt, die die Arbeitsergebnisse des Innendienstes wieder in den Körper und vor allem in Motorik übersetzen. Hier sind wir in der Welt des konkreten Handelns angekommen, in der zum Beispiel eine Entscheidung in konkretes Verhalten umgesetzt wird.

Wenn wir als Trainer auf Verhaltensänderung abzielen, so geht es auf biologischer Ebene immer um motorische Programme. Selbst Kommunikation beruht in diesem Sinne auf Sprachmotorik.

Die Komponenten des Nervensystems

Das Nervensystem des Menschen ist gegliedert in:

 Das zentrale Nervensystem (ZNS), bestehend aus dem Rückenmark und dem Gehirn

Peripheres Nervensystem

 Das periphere Nervensystem (PNS), bestehend aus

› dem somatischen Nervensystem, das die Skelettmuskulatur ansteuert und so die Willkürmotorik ermöglicht. Bei der progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson etwa nutzen wir die willkürliche Anspannung und Entspannung von Muskelgruppen und deren Rückwirkung auf das vegetative Nervensystem.

› dem vegetativen Nervensystem, das nicht direkt willkürlich steuerbar ist. Es untergliedert sich wiederum in

• das sympathische Nervensystem, welches für die Aktivierung der inneren Organe sorgt. Eine sympathikotone Aktivierung versetzt den Organismus in einen Arbeitsmodus (ergotrop) und lässt den Körper auf seine Energiespeicher zugreifen. So werden wir auf Herausforderungen, aber auch Gefahren vorbereitet und sind mit hoher Drehzahl unterwegs. Das Herz schlägt schneller, unsere Schweißdrüsen arbeiten stärker und wir sind aktiviert bis aufgeregt. Da wir in einer solchen Situation nicht unbedingt Energie durch Verdauung oder Gedanken an Sex vergeuden sollen, wird zum Beispiel die Aktivität des Verdauungstrakts und der Keimdrüsen zurückgefahren. Zu viel sympathikotone Aktivierung über einen zu langen Zeitraum führt zu einer breiten Palette von psychosomatischen Stressfolgen.

Gerade im Stressmanagement zielen viele Interventionen – vom autogenen Training über diverse Meditationstechniken bis hin zur Bearbeitung von stresserzeugenden Glaubenssätzen – auf eine Absenkung des sympathikotonen Aktivierungsniveaus.

• das parasympathische Nervensystem. In diesem Modus kann der Körper seine Energiespeicher wieder auftanken und sich regenerieren. Puls und Blutdruck werden herunterreguliert, Verdauung und Keimdrüsenaktivitäten angekurbelt.

Die vermehrten Magen- und Darmgeräusche, die Teilnehmer bei einer Entspannungsübung oder einer Fantasiereise schon einmal zum Schmunzeln bringen, sind als ein gutes Zeichen dafür, dass der parasympathische Modus dabei ist, all die Gedankenkarusselle und Hamsterräder zu entschleunigen.

Der „Überlebensmodus“

Wir sprechen daher auch von einem trophotropen Betriebszustand des menschlichen Organismus. Wenn im Training also manchmal vom „Überlebensmodus“ und vom „Wachstumsmodus“ die Rede ist, so ist das Wording zwar ein wenig überspitzt, zielt aber auf eine bedeutsame physiologische Tatsache: die Notwendigkeit für jedes Individuum, ein Gleichgewicht zwischen sympathischer und parasympathischer Aktivierung zu finden.

Viele Interventionen, die in modernen Trainings und im betrieblichen Gesundheitsmanagement angeboten werden, helfen dabei, diesen homöostatischen Prozess zu unterstützen. Damit haben sie nicht nur positive Auswirkungen auf das seelische Wohlbefinden, sondern auch auf die körperliche Gesundheit.

Ein besonders wichtiger anatomischer Bestandteil des parasympathischen Nervensystems ist der zehnte Hirnnerv, der Nervus vagus, der aus der Olive des Hirnstamms austritt und von dort aus weite Teile des Kopf-, Hals-, Brust- und Bauchraums innerviert. Deshalb werden die Bezeichnungen Vagotonus und Parasympathikotonus mehr oder weniger synonym gebraucht.

Das „Bauchgehirn“

• das enterische Nervensystem, das fast den ganzen Magen- und Darmtrakt durchzieht. In Trainings, insbesondere zum Thema Intuition, trägt das enterische Nervensystem oft den Ehrentitel „Bauchgehirn“. An dieser Bezeichnung ist zumindest ein Körnchen Wahrheit dran. Mit seinen ca. 100 Millionen Nervenzellen ist das enterische Nervensystem ein unglaublich komplexes, autonom arbeitendes Gebilde, das nicht nur die Darmbewegungen steuert, sondern auf eine große Zahl an giftigen oder verwertbaren Substanzen „intelligent“ reagiert und dabei eine wichtige Funktion im menschlichen Stoffwechsel und bei der Steuerung des Immunsystems spielt (cf. Gershon 1999). Allerdings ist die Behauptung, dieses „Bauchgehirn“ würde selbst denken oder intuitive Entscheidungsvorlagen liefern, nicht vereinbar mit dem heutigen Stand des Wissens. Auch das Argument, dass in den Eingeweiden ja dieselben Botenstoffe wie im Gehirn verwendet würden (zum Beispiel Serotonin), rechtfertigt nicht die Stilisierung des enterischen Nervensystems zu einem „Second Brain“. Schließlich haben die Substanzen, die im Gehirn als Neurotransmitter dienen, in vielen unterschiedlichen Körperregionen völlig andere Funktionen, so zum Beispiel Noradrenalin bei der Erregungssteuerung des Herzmuskels, ohne dass man das Herz gleich als eine Art Gehirn bezeichnen müsste.

Was bleibt, ist die Feststellung, dass im menschlichen Organismus eben alles mit allem zusammenhängt und dass natürlich Verarbeitungsprozesse im Gehirn über Sympathikus und Parasympathikus ebenso wie über hormonelle Signale Auswirkungen auf den Zustand des enterische Nervensystems haben. Auf gleiche Weise hat der Zustand im Magen-Darm-Trakt und dem ganzen restlichen Körper Auswirkungen auf die Zustände des Gehirns und die Verarbeitungsvorgänge, die dort stattfinden. So kann zum Beispiel der Ärger über den Chef auf den Magen schlagen, ebenso wie die hastig gegessene Currywurst in der Kantine emotionale und kognitive Prozesse des Gehirns beeinflussen kann.

Intuition: unbewusster Zugriff auf unsere Wissensdatenbank

Im Zusammenhang mit der Intuition ist bedeutsam, dass gleichzeitige Aktivierungen über das gesamte Nervensystem des Menschen hinweg aneinandergebunden werden und damit eine Art „Wissensnetzwerk“ bilden (siehe Neuronale Bindung ab Seite 95). Wenn wir uns also bei einer Präsentation bis auf die Knochen blamiert haben – oder den Erfolg unseres Lebens feierten –, so gibt es dazu Sinneseindrücke, Gedanken, Emotionen und eben auch eine mit diesem Erlebnis einhergehende Aktivierung des enterischen, vegetativen und somatischen Nervensystems. Durch die neuronale Bindung speichern wir all dies als Erlebnisgestalt ab, sodass in Zukunft zum Beispiel ein Sinnesreiz (der Anblick eines Rednerpults, der Geruch von Bohnerwachs, den wir noch aus der Schule kennen) oder eben ein Bauchgefühl ausreicht, um bestimmte Gedanken und Handlungstendenzen auszulösen.

So funktioniert intuitives Denken und Handeln auch dann noch, wenn die gespeicherte Erlebnisgestalt lückenhaft geworden ist und die expliziten „Lessons learnt“ längst der Vergessenheit anheimgefallen sind. Die „Mustererkennungssoftware“ in unseren Köpfen sucht beständig und meist ohne explizites Bewusstsein nach Strukturähnlichkeiten zwischen dem aktuellen Erleben und vergangenen Erfahrungen. Intuition funktioniert als unbewusster Zugriff auf eine Wissensdatenbank, deren Quellen wir meist nicht mehr kennen.

Gerade Entspannungsverfahren und bewegte Trainingsformate, die den Körper aktiv oder wahrnehmend in den Fokus rücken, können über das vegetative Nervensystem stark auf den gesamten Organismus und insbesondere auf das Gehirn zurückwirken. Schließlich laufen 80 Prozent der Verbindungen zwischen Gehirn und vegetativem Nervensystem vom Körper in den Kopf und nur 20 Prozent in umgekehrter Richtung (Taylor et al. 2010).

Dieser Umstand erinnert uns bei unseren eigenen Trainings immer wieder daran, rechtzeitig mit dem „Hirnen“, Diskutieren und selbst mit der (redenden) Arbeit an Gedanken und Gefühlen aufzuhören und Inhalte stattdessen körperlich konkret erfahrbar zu machen. So ist es für Teilnehmer eine völlig andere Erlebnisqualität, ob sie beispielsweise über die nötige Abgrenzung gegenüber Kollegen reden und dies dann in einem Rollenspiel ausprobieren oder ob sie die Erfahrung machen, andere Teilnehmer auch einmal körperlich von sich wegzuschieben, wenn diese ihre Wohlfühldistanz unterschreiten.

 Das Gehirn von unten nach oben: Die wichtigsten Strukturen

Wir arbeiten uns im Gehirn von unten nach oben voran und damit auch evolutionsgeschichtlich von den uralten bis hin zu den neuesten Gehirnstrukturen, die es dem Menschen erst ermöglichen, das zu sein, was er heute ist: ein reflexionsfähiges Wesen, das nicht mehr alleine darauf zurückgeworfen ist, instinktiv auf gegenwärtige Wahrnehmungen zu reagieren, sondern das die Fähigkeit entwickelt hat, Ungesehenes und Unerhörtes zu konstruieren und sich so in allerlei mögliche Welten hinein zu entwerfen.

 Der Hirnstamm: Lebensquelle, Chemiefabrik und Wecker des Gehirns

Der Hirnstamm besteht aus den folgenden Teilen (Abb. von unten nach oben):

 Verlängertes Rückenmark (Medulla oblongata)

 Brücke (Pons)

 Mittelhirn (Mesencephalon)

Der Hirnstamm ermöglicht grundlegende Vitalfunktionen

Der Hirnstamm ist der für das Überleben wichtigste Teil des Gehirns. Beim sogenannten Apallischen Syndrom zum Beispiel sind die Großhirnfunktionen weitestgehend zum Erliegen gekommen, während Hirnstamm, Kleinhirn und Zwischenhirn noch funktionieren. Der Mensch liegt in einem tiefen Koma, aber er lebt. Die Strukturen des Hirnstamms ermöglichen grundlegende Vitalfunktionen wie die Steuerung der Atmung, des Kreislaufs, der Wachheit sowie wichtige Reflexe wie den Brechreflex. Auch sind im Hirnstamm bereits grundlegende sensorische und motorische Funktionen angelegt. Hier befinden sich zudem viele der Chemiefabriken und Materiallager, die das restliche Gehirn mit Botenstoffen versorgen. Zu den prominenten Produzenten gehören die Substantia nigra und das ventrale tegmentale Areal (VAT) als Dopamin-Lieferanten, der Locus coeruleus als Lieferant des Noradrenalins und die Raphe-Kerne als Serotonin-Fabriken.

Im Hirnstamm befinden sich außerdem die Taktgeber, die die Frequenzen der Hirnstrommuster bestimmen, wie sie im EEG sichtbar sind. Steigen sie aus Delta-Band (0,5-3 Hz) und Theta-Band (4-7 Hz) in Richtung Alpha-Band (8-13 Hz), so wachen wir langsam auf, um schließlich auf Beta-Wellen (14-30 Hz) mit entspannter Aufmerksamkeit (niedriger Beta-Bereich), erhöhter Konzentration (mittlerer Beta-Bereich) oder Hektik und Stress (hoher Beta-Bereich) durch unseren Arbeitstag zu surfen. Im Gamma-Band, insbesondere bei Frequenzen um die 41 Hz, finden unter anderem neuronale Bindungen und damit Aha-Erlebnisse und kreative Leistungen statt (vgl. Seite 95 ff.).

Bei der Hypnose, aber auch schon bei leichten Entspannungszuständen zielen wir auf eine Absenkung der Hirnstromfrequenzen ab: in den Alpha-Bereich, der beim sogenannten „Superlearning“ genutzt wird, bei leichter Entspannung und in den Theta- und Delta-Bereich bei tieferen Trancezuständen.

Diese im Hirnstamm entstehenden Frequenzen werden über das aufsteigende retikuläre Aktivierungssystem (ARAS) in die höheren Etagen des Gehirns weitergeleitet und bestimmen zum Beispiel den Öffnungsgrad des Thalamus, der im Zwischenhirn sitzt und ein gewichtiges Wörtchen mitzureden hat, wie wach wir sind und auf welche Informationen wir unsere bewusste Aufmerksamkeit richten.

Sorry, das sogenannte „Reptilienhirn“ gibt es nicht!

Der Hirnstamm wird in Seminaren oft mit dem „Reptilienhirn“ gleichgesetzt. Verbunden damit sind Aussagen wie „Wenn der Stress zu groß wird, übernimmt das Reptilienhirn das Ruder. Der Mensch fällt dadurch zurück auf seine Überlebensinstinkte, nämlich Angriff, Flucht oder Erstarrung.“

Lediglich eine nützliche Metapher

Es handelt sich hierbei um eine nützliche Metapher mit einem wahren Kern. Allerdings bewegen wir uns mit dem zugrunde liegenden Modell des dreieinigen Gehirns („the Triune Brain“), das der Neurowissenschaftler Paul MacLean in den Sechzigerjahren entwickelt hat, auf wissenschaftlich dünnem Eis (MacLean 1970). MacLean betrachtete in seinen Untersuchungen gar nicht den Hirnstamm, sondern die Entwicklung des Vorderhirns. Hier unterschied er auf Basis des damals zur Verfügung stehenden Wissens zwischen

 einem „Reptilian Complex“ der in der Evolution der Arten bei Reptilien und Vögeln auftauche und kennzeichnend für deren Gehirn sei. Als Reptilienhirn bezeichnet er die Basalganglien (und wie gesagt nicht den Hirnstamm). Bei Menschen sind die Basalganglien wichtig für die Bewegungssteuerung, die Speicherung von Bewegungs-Verhaltensmakros, das prozedurale Gedächtnis (Klavierspielen, Fahrradfahren etc.) sowie als wesentliche Komponente des Belohnungs- und Motivationssystems. Angriff, Flucht und Totstellreflexe werden durch sie weniger vermittelt.

 einem „Paleomammilian Complex“ mit Gehirnstrukturen, die erst frühe Säugetiere entwickelt hätten. Diese Strukturen bestehen im wesentlichen aus dem sogenannten „Limbischen System“.

 einem „Neomammillian Complex“, bestehend aus dem Neocortex, also der äußeren Hirnrinde, die erst bei höheren Säugetieren und insbesondere bei Menschen auftauche.

MacLeans Modell ist heute wissenschaftlich nicht mehr haltbar, weil die evolutionsgeschichtlichen Zuordnungen so nicht stimmen (cf. Striedter 2005). Zum Beispiel gab es die Basalganglien schon vor den Reptilien, den Neocortex schon bei den frühen Säugetieren und seine Vorläufer wohl auch schon bei Vögeln und Reptilien. Zoologische Spitzfindigkeiten?

Wir meinen, dass es mehr ist als ein Gebot der wissenschaftlichen Redlichkeit, Teilnehmern gegenüber zu kommunizieren, ob wir in einem bestimmten Kontext eine Metapher gebrauchen oder empirisch belegte Fakten kommunizieren wollen. Schließlich impliziert es ja auch eine Bewertung, wenn das Verhalten eines Menschen auf einer Skala von immer „primitiveren Tieren“ klassifiziert wird. Deshalb schlagen wir vor, den unnötigen zoologischen Garten aus der Beschreibung der unterschiedlichen Komplexitätsebenen des menschlichen Gehirns zu tilgen oder die Metapher, wenn sie schon für den provokativen Effekt unbedingt gebraucht wird, auch als solche zu kennzeichnen.

 Das Kleinhirn: Die Arbeit mit Raum und Zeit

Das Kleinhirn ist durch drei Kleinhirnstiele mit dem Hirnstamm verbunden und liegt in der hinteren Schädelgrube. Gemeinsam mit dem verlängerten Rückenmark und der Brücke bildet es das sogenannte Rautenhirn. Im Gegensatz zum Hirnstamm ist das Kleinhirn eine paarige Struktur, die, ähnlich wie das Großhirn, aus einer rechten und einer linken Hemisphäre besteht. Das Kleinhirn spielt unter anderem eine Rolle für das Gleichgewicht, die Augenbewegungen, die Koordination von Muskelbewegungen sowie die Integration sensorischer Informationen in die Bewegungsplanung. Andere Untersuchungen zeigen, dass das Kleinhirn neben den Basalganglien eine wichtige Struktur für die Ausbildung prozeduraler Gedächtnisinhalte (Torriero et al. 2007) – z.B. Autofahren – und für das Erlernen komplexer motorischer Fertigkeiten (de Ribaupierre et al. 2008) ist. Wie alle anderen Gehirnstrukturen, die an der Repräsentation des Raumes beteiligt sind, hat auch das Kleinhirn Bedeutung für die Zeitrepräsentation, insbesondere für das Timing von Bewegungen (O‘Reilly et al. 2008).

Zeit konzeptualisieren wir über räumliche Vorstellungen, indem wir von Zeiträumen sprechen, Zeitpfeile in unsere Präsentationen malen oder Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsplanung im Training auf einer am Boden ausliegenden Zeitlinie (Timeline) gestalten. Die Zeitdimension zu verräumlichen ist somit eine der Methoden im Seminar und im Coaching, die aus neuropsychologischer Perspektive viel Sinn ergibt, da wir damit gut an die Art und Weise anknüpfen, wie das Gehirn mit Zeit umgeht.

Das Zwischenhirn (Diencephalon) schließt nach oben direkt an den oberen Teil des Hirnstamms (das Mittelhirn) an.

Wichtige Teile des Zwischenhirns sind:

 Der Thalamus

 Der Hypothalamus

 Der Thalamus: Das Tor, das wir als Trainer durchschreiten müssen!

Das Tor zum Bewusstsein

Der Thalamus, ein etwa 3 cm großes, einförmiges Gebilde, ist die größte Struktur des Zwischenhirns. Der Thalamus liegt paarig vor, das heißt, es gibt einen rechten und einen linken Thalamus. Da mit Ausnahme des Geruchs alle sensorischen Signale, die unser Gehirn aus der Außenwelt erreichen ebenso wie alle Signale aus unserem Körperinneren über den Thalamus verschaltet werden, bevor sie an die bewusstseinsfähigen Areale der Großhirnrinde weitergeleitet werden, nennt man den Thalamus auch „das Tor zum Bewusstsein“. Wie ein bissiges Vorstandssekretariat lässt er nur die Informationen zum CEO durch, die hoch priorisiert sind. Wie die Vorstandssekretariate im wahren Leben leistet er dabei auf Basis langjähriger Erfahrung meistens erstaunlich gute Arbeit. Nur manchmal hat er einfach keine Ahnung und lässt wirklich wichtige Dinge einfach nicht nach oben durchdringen.

Metaphern beiseite: Wie um alles in der Welt „weiß“ eine Hirnstruktur, die ja nicht einmal selbst bewusst über irgendetwas nachdenken kann, was wichtig und was unwichtig ist? Dies wird vor allem dadurch bewerkstelligt, das der Thalamus eng mit anderen Gehirnarealen vernetzt ist.

Über seine Verbindungen zum Hippocampus ist er an die Gedächtnisfunktionen unseres Gehirns angeschlossen, die ständig unbewusst aktuelle Wahrnehmungen auf Strukturähnlichkeiten mit bereits Erlebtem vergleichen. Auf diese Weise fungiert der Thalamus insbesondere hin als Neuigkeitsdetektor und lässt bevorzugt Informationen passieren, die aus der Reihe fallen, Neuigkeitswert haben und irgendwie überraschend wirken. Alles dagegen, was einem sich wiederholenden Muster folgt, läuft Gefahr, vom Thalamus ausgefiltert zu werden.

Wenn Sie den Teilnehmern einmal die Funktion des Thalamus plastisch demonstrieren wollen, lassen Sie sie einfach eine Minute lang schweigen und zum Beispiel alles hören, was an Geräuschen im Raum ist.

So wichtig er ist, so großes Kopfzerbrechen kann uns der Thalamus auch bereiten. Denn alles, was Teilnehmer an Inhalten und Methoden schon zu kennen glauben, fällt leicht seiner Filterfunktion zum Opfer.

In diesen Fällen helfen Musterunterbrechungen, Überraschungen und Tabubrüche. Statt die Feedback-Regeln zum zwanzigsten Mal zu erklären und einzuüben, könnte man beispielsweise mit einer Übung starten „Was Sie Ihrem ‚Lieblingsmitarbeiter’ schon immer mal sagen wollten“. Nach einer erheiternden ersten Runde reflektieren die Teilnehmer schriftlich darüber, was ihre größten Kritiker im Unternehmen ihnen schon immer mal sagen wollten. Diese Reflexion kann zur Vorbereitung einer zweiten Runde dienen, in der die Betroffenen genau dieses Feedback von ihrem Übungspartner erhalten. Diese weniger lustige zweite Runde kann in einer – nunmehr emotional aktivierten – Diskussion darüber münden, wie es jedem Einzelnen dabei ging, was er oder sie sich gewünscht hätte und welche Leitplanken sich daraus für verwertbares, motivierende Feedback ergäben.

Die emotionale Bedeutsamkeit

Viele Trainingsformate, insbesondere erlebnisorientierte Trainings und Outdoor-Trainings zielen darauf ab, die Business-as-usual-Erwartungen von Teilnehmern zu durchbrechen und durch einen ungewöhnlichen Kontext Neuigkeitsreize zu setzen. Gerade durch die damit oft auch verbundene emotionale Aktivierung wird neben dem Neuigkeitswert ein weiteres Relevanzkriterium des Thalamus angesprochen, nämlich die emotionale Bedeutsamkeit. Denn auch mit den Strukturen des limbischen Systems, die unbewusste Bewertungen ermöglichen, insbesondere den Mandelkernen und dem Belohnungs- und Motivationssystem steht der Thalamus in engem Austausch.

 Hypothalamus und Hypophyse: Key Account Manager des Körpers

Unterhalb des Thalamus befindet sich der Hypothalamus. Er steuert eine Reihe von körperlichen Zuständen wie Hunger, Durst, Sexualverhalten, Kreislauf und Körpertemperatur. Zugleich ist er das oberste Steuerungszentrum des vegetativen Nervensystems (Sympathikus und Parasympathikus). Gemeinsam mit seinem „Anhängsel“, der Hirnanhangdrüse (Hypophyse), lenkt er außerdem die Produktion vieler Hormone.

Aufregen oder relaxen?

Damit ist der Hypothalamus eine Art Key Account Manager des Gehirns in Bezug auf den restlichen Körper. Er erhält fortwährend Statusberichte aus anderen Hirnregionen wie dem Hippocampus, dem Thalamus und dem limbischen System und gibt diese zum Beispiel an den Hirnstamm weiter. Das aus dem Hirnstamm aufsteigende ARAS beeinflusst wieder die Hirnstromfrequenzen und damit den Erregungsgrad des Gehirns. Der Hypothalamus steuert die sympathikotone oder parasympathikotone Aktivierung des vegetativen Nervensystems, sodass der Körper „weiß“, ob Aktivierung und Aufregung oder Chillen und Relaxen angesagt ist. Er aktiviert zudem die Produktion bestimmter Hormone, die längerfristig das körperliche Befinden beeinflussen.

Der Kloß im Hals, die Schmetterlinge im Bauch, das Magengrummeln oder auch das freudig erregte Herzklopfen von Verliebten wäre ohne die Regulierungsarbeit des Hypothalamus nicht denkbar.

Am Hypothalamus wird auch deutlich, wie stark die Rückkopplungsschleifen zwischen dem Gehirn und im ganzen Körper sind. Unterdrückt man beispielsweise die vegetative Reaktion durch Gabe von Betablockern, so haben diese Probanden weitaus größere Probleme, die dargestellten Emotionen zu interpretieren (Harmer et al. 2001). Wie schon im Kontext der Embodiment-Forschung erwähnt, scheint die Repräsentation von Emotionen ohne begleitende Zustandsinformation aus dem Körper nicht möglich zu sein.

Wenn wir diese Befunde ernst nehmen, so müsste – verzeihen Sie das Klischee – ein Ruck durch die Seminar- und Coaching-Räume gehen und wir müssten unser „Helping by Talking“-Paradigma zugunsten körperlich-konkreter Erfahrungsmöglichkeiten – zurückschrauben. Als Schatztruhe für entsprechende Interventionen empfiehlt sich Danie Beaulieus Buch „Impact-Techniken für die Psychotherapie“, in dem die Nutzung alltäglicher Gegenstände vom Geldschein bis zum Kaffeefilter zur Erzeugung von Aha-Effekten beschrieben wird (Beaulieu & Dreyer 2013).

Die Stressreaktion des Menschen

Das Stresshormon Cortisol

Zu den Aufgaben des Hypothalamus und der Hypophyse gehört es, die Produktionsorder für das Stresshormon Cortisol an die Nebennierenrinde zu senden. Dort wird es hergestellt und erreicht dann – unter anderem – auch wieder das Gehirn, wo es seine spezifische aktivierende Wirkung entfaltet. Cortisol wird gemeinhin als Stresshormon bezeichnet, was sein Image als böse, unerwünschte Substanz zu Unrecht geprägt hat. Seine Funktion ist es jedoch nicht, den Menschen zu ärgern oder ihm zu schaden. Vielmehr handelt es sich beim Cortisol um eine Art Energydrink unseres Hormonsystems. Es soll dafür sorgen, uns Flügel zu verleihen, indem es die Bereitstellung von Energie fördert. Es hilft uns morgens beim Aufwachen, weshalb wir auch im Morgenurin die höchsten Cortisolkonzentrationen im Tagesverlauf haben. In den Abendstunden haben wir nur noch 10 Prozent des morgendlichen Levels – es sei denn, wir leiden an akutem oder chronischem Stress, sodass uns die erhöhten abendlichen Cortisolspiegel (neben anderen Faktoren) um den Schlaf bringen.

Der Neurotransmitter Noradrenalin

In anstrengenden oder gefährlichen Situationen gibt uns Cortisol die Energie, die Situation zu bewältigen, zum Beispiel, indem wir uns aus einer Gefahrenzone entfernen oder uns gegen einen Angriff verteidigen. Es ist also an sich eher ein Stressbewältigungshormon als ein Stressgift. Cortisol hat in der Stressbewältigungsabteilung unseres Körpers noch einen Kollegen, den Neurotransmitter Noradrenalin. Er teilt sich mit dem Cortisol die Aufgabe, die vegetative Aktivierung und die Bereitstellung von Energie für die Bewältigung von herausfordernden Situationen zu managen.

Allerdings ist in dieser Hinsicht Noradrenalin der Juniorpartner, also die kleine Energydrink-Dose, während Cortisol die extra starke Jumbodose mit entsprechend längerer Wirkungsdauer ist.

Während die Halbwertszeit von Noradrenalin weniger als 1 Minute beträgt, beträgt die von Cortisol einige Stunden. Deshalb scheint die vermehrte Ausschüttung von Noradrenalin im Gegensatz zur vermehrten Ausschüttung von Cortisol in unterschiedlichen Situationen stattzufinden: Nehme ich eine leichte Stresssituation eher als herausfordernd und bewältigbar wahr, so reicht mir der kleine Energydrink, den mir das Noradrenalin zur Verfügung stellt. Interpretiere ich ein Stressereignis als bedeutsam, belastend, aber nicht ohne Weiteres bewältigbar, so muss ich den Turbo zünden und aktiviere mit Cortisol weitaus mehr Energiereserven.

So weit, so gut. Denn alles löst sich in Wohlgefallen auf, wenn ich die schwierige Situation schließlich als erledigt und gut bewältigt in die Schublade legen kann. Was aber, wenn das nicht der Fall ist? Wenn ich zum Beispiel mein Haus abbezahlen muss, sodass der Gedanke an eine Kündigung des ungeliebten Jobs mit mehr Ängsten verbunden ist als der Verbleib auf dieser Stelle? Wenn meine mangelnde Motivation und der wachsende Druck sich dann noch in einem Leistungstief äußern, erste negative Rückmeldungen von den Vorgesetzten kommen, sodass ich damit rechnen muss, bei der nächsten Entlassungswelle in die Personalabteilung gerufen zu werden? Da die Stelle ja scheinbar so sicher war, ist auch meine Selbstmarketing-Muskulatur geschwächt und ich weiß nicht, ob ich mit Ende 40 noch den Marktwert habe, den ich bräuchte, um eine Stelle mit gleicher Bezahlung zu erhalten.

Wenn Cortisol zu lange ausgeschüttet wird

Solche und ähnliche Beispiele kommen in beliebiger Zahl im privaten und beruflichen Lebensbereich vor. Kennzeichnend sind für sie alle eine Zunahme der inneren Anspannung, oft einer äußerlich wahrnehmbaren agitierten Hektik und eines steigenden Gefühls von Hilflosigkeit. Hier schüttet der Körper über lange Zeiträume viel zu viel Cortisol aus, das in diesen Dosierungen so schädlich wirkt wie etliche große Dosen Energydrink am Tag. Dieser extra Cortisol-Schub ist eben für einen zeitlich begrenzten Einsatz gedacht und nicht für den Dauereinsatz. Die zellulären Energiespeicher laufen leer, was zunächst zu zunehmender Ermüdung und Energielosigkeit führt. Schließlich kommt es zu einer toxischen Übererregung in vielen Teilen des Nervensystems und durch den zellulären Energiemangel zu einem Ausfall der Instandhaltungsfunktionen der Nervenzellen.

Wie eine Firma, die kurz vor der Insolvenz steht und auf einen radikalen Sparkurs umstellt, wird dann an allen Ecken und Enden gespart. Zunächst werden viele Zellen der Dendritenbaum gestutzt, über den die Nervenzelle die meisten eingehenden Signale von anderen Nervenzellen erhält. Schließlich kann es auch zum Absterben von Nervenzellen kommen. Auf jeden Fall kann dadurch die Konnektivität der neuronalen Netzwerke im Gehirn erheblich herabgesetzt werden. Dabei ist es gerade diese Infrastruktur, die uns zu intelligenten, strategisch klugen Handlungen befähigt. So beginnt ein Teufelskreis, in dem Menschen gerade die Hardware verlieren, die sie zur Problembewältigung bräuchten.

Krise als Gelegenheit zum Neuanfang

Den einzigen Vorteil, den dieser neuronale Kahlschlag wohl hat, beschreibt Gerald Hüther in seinem sehr lesenswerten Buch „Die Biologie der Angst“ (Hüther 2013): Gemeinsam mit den alten neuronalen Verknüpfungen können bisweilen auch alte dysfunktionale Muster untergehen. Habe ich ein Leben lang ungeliebte Dinge getan, um Anerkennung bei Personen zu gewinnen, die ich eigentlich gar nicht mag, so bietet die Lebenskrise, die zugleich eine Krise meines Nervensystems ist, die Chance, dass dieses motivationale Schema mit der neuronalen Machete dauerhaft überschwelliger Cortisol-Dosen eliminiert wird. So bietet die Krise auch eine Gelegenheit zum Neuanfang.

Allerdings ist der Preis für diese Rosskur nicht unerheblich. Denn natürlich gehen nicht nur die Verschaltungen unter, die mich ohnehin geschädigt haben, sondern auch viele nützliche Netzwerke in meinem Gehirn. So sind bei Erkrankungen mit starker Stresskomponente wie der Posttraumatischen Belastungsstörung und der Depression zum Teil erhebliche Volumen- und Dichteverluste im Hippocampus (Organisator des bewusstseinsfähigen Gedächtnisses), im Cingulum (Antrieb) und im präfrontalen Cortex (strategisches Denken und Handeln) dokumentiert (cf. Grawe 2004). Deshalb kann es dazu kommen, dass Menschen vergesslich, unkonzentriert und weniger leistungsfähig werden. So manchem älteren Mitarbeiter wurde schon zu Unrecht eine beginnende Demenz angedichtet, der in Wirklichkeit unter einer stressbedingten, zum Beispiel depressiven Pseudodemenz litt.

Die gute Nachricht ist, dass sich das Gehirn wieder regeneriert, wenn sich äußere Rahmenbedingungen und innere Einstellung geändert haben. So kann die verlorene Konnektivität von Neuem wieder aufgebaut werden. Im Hippocampus und im Riechhirn werden sogar aus neuronalen Stammzellen neue Nervenzellen gebildet. Dies alles gelingt jedoch nur dann, wenn an die Stelle der ständigen neurotoxischen Übererregung wieder neurotrophe Bedingungen im Gehirn herrschen.

Neurotrophe Faktoren wie der BDNF (brain-derived neurotrophic factor) wirken im Gehirn wie Seramis-Stäbchen im Blumentopf, sie fördern das Sprießen neuer Verbindungen und auch das Wachstum neuer Nervenzellen.

Entspannung und Bewegung