Neurosoziologie - Dirk Baecker - E-Book

Neurosoziologie E-Book

Dirk Baecker

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Beschreibung

Die Soziologie hat den steilen Aufstieg der Hirnforschung, der mit dem Aufkommen neuer bildgebender Verfahren seinen Ausgang nahm, bislang eher zögernd beobachtet. Eine soziologische Theorie des Gehirns fehlt, ähnlich wie die Schwerkraft oder den Sauerstoff setzte man das Vorhandensein dieses Organs einfach voraus. Ausgehend von den Berührungspunkten in den Überlegungen, die Autoren wie Heinz von Foerster, Humberto Maturana und Niklas Luhmann zu geschlossenen Systemen anstellten, lässt sich Dirk Baecker nun erstmals auf dieses interdisziplinäre Wagnis »hart an der Grenze der Kompetenzüberschreitung« ein. Man könne, so Baecker, die Neuropublizisten, die aus fragwürdigen Forschungsergebnissen noch fragwürdigere Konsequenzen für den Reformbedarf von Schulen, Gerichten, Sendeanstalten und Internetdiensten ableiten, schließlich nicht ungestraft aus den Augen lassen.

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Die Soziologie hat den steilen Aufstieg der Hirnforschung, der mit dem Aufkommen neuer bildgebender Verfahren seinen Anfang nahm, bislang eher zögernd beobachtet. Eine soziologische Theorie des Gehirns fehlt, ähnlich wie die Schwerkraft oder den Sauerstoff setzt man das Vorhandensein dieses Organs einfach voraus. Dieses Zögern muss umso mehr verwundern, als die Soziologie wie geschaffen scheint, das Gehirn nicht nur im Singular, sondern auch im Plural zu denken. Welche Rolle spielt die Existenz anderer Gehirne für die neuronalen Operationen jedes einzelnen Gehirns? In einem interdisziplinären Wagnis »hart an der Grenze der Kompetenzüberschreitung« schlägt Dirk Baecker vor, die Theorie operational geschlossener Systeme, wie sie von Heinz von Foerster, Humberto R. Maturana und Niklas Luhmann vorgelegt worden ist, mit Überlegungen von Immanuel Kant zur notwendigen Unbedingtheit der Operationen von Vernunft und Verstand zu kombinieren. In der Denkfigur dieser Unbedingtheit reflektiert jedes einzelne Gehirn die Autonomie jedes anderen Gehirns.

 

Dirk Baecker, geboren 1955, lehrt Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt Beobachter unter sich. Eine Kulturtheorie.

Neurosoziologie

Ein Versuch

 

Dirk Baecker

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Suhrkamp

Die edition unseld wird unterstützt durch eine Partnerschaft mit dem Nachrichtenportal Spiegel Online. www.spiegel.de

 

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe

der edition unseld 52.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Umschlaggestaltung: Nina Vöge und Alexander Stublić

 

eISBN 978-3-518-73642-5

www.suhrkamp.de

Neurosoziologie

Inhalt

Der Spalt

11

Gepflegtes Nichtwissen

18

Lesen und Schreiben

30

Öffnung und Schließung

47

Die Idee der Form

58

Ein teleologischer Apparat

72

Beweglich, aufrecht, nackt

87

Ω (ξi, ξj)

102

Gestik, Sprache, Emotion               

107

Der kantsche Code

127

Abweichende Zwecke

144

Im Medium der Semiose

154

Kein Selbst

168

Sperrklinkeneffekte

192

Ein kognitives Differenzial

218

Literatur

227

9»›If it is any point requiring reflection‹,

observed Dupin, as he forebore to enkindle the wick,

›we shall examine it to better purpose in the dark.‹«

 

Edgar Allan Poe, The Purloined Letter (1844)

11Der Spalt

Die Hirnforschung ist auch für ein Publikum außerhalb der Neurowissenschaften ein faszinierendes Feld. Zum einen betrifft sie ein Organ, das jeder von uns mit sich herumträgt, mal beschwingend, mal belastend, ein Organ, dem mindestens so viel Individualität zugeschrieben wird wie einem Gesicht (vgl. Mecacci 1984). Zum anderen müssen wir lesen, dass ausgerechnet im Gehirn, wo man sie vermutet, seit das Herz, die Leber und das Zwerchfell ihren Kandidatenstatus als Träger reflexiver kognitiver Funktionen verloren haben, kein Neurowissenschaftler bisher ein Bewusstsein oder einen freien Willen entdeckt hat. Im Gegenteil, die Forschung weist darauf hin, dass uns das Nervensystem in unseren Entscheidungen einige Millisekunden voraus ist (vgl. Libet 2004). Ausgerechnet dort, wo wir die Fähigkeit zur bewussten Kontrolle vermuten, herrschen unbewusste Prozesse, die diese Kontrolle als illusionär erweisen oder, schlimmer noch, als Diener eines fremden Herrn.

Des Rätsels Lösung ist jedoch möglicherweise leichter als befürchtet. Es genügt die Annahme, dass das Gehirn sensorisch wie motorisch nicht reiz-, sondern vorhersagegesteuert ist. Es wartet nicht ab, bis etwas zu tun oder wahrzunehmen ist, sondern es ist auf der Grundlage eines massiv parallel arbeitenden Gedächtnisses laufend damit beschäftigt, dem vorzugreifen, was zu tun und wahrzunehmen ist. Die meisten dieser Vorhersagen werden gehemmt, das nennen wir Denken, ohne uns sicher sein zu können, was daran bewusst, unbewusst, intuitiv oder habituell ist; andere werden realisiert, und auch dann sind wir nicht sicher, ob sich die Vorhersagen bewähren, weil wir es wollen, oder ob die Welt so ist, wie wir sie vorhersagen. In diesem Falle wären wir an 12der Kontrolle unseres Verhaltens durch das Gehirn beteiligt (vgl. Pauen 2004; Pauen/Roth 2008), auch wenn unklar ist, wer sich hier als »wir« angesprochen fühlen darf: mein Bewusstsein, mein Organismus oder meine Gesellschaft. »Wir« sind uns unentwirrbar in die genetische Menschheitsgeschichte, in die eigene Biographie sowie in unsere sozialen Gelegenheiten und Verwicklungen entzogen. Dennoch ist es ein nicht unerheblicher Unterschied, ob wir Menschen uns als Vollzugsorgane eines falsch verstandenen darwinistischen Willens zum Überleben, also mehr oder minder sublimierter libidinöser Energien und genetischer Programme begreifen müssen oder umgekehrt annehmen können, dass »wir« uns einmischen können, indem Biographie, Entscheidung und Bewusstsein eine Rolle spielen.

Wenn das Gehirn vorhersage- und nicht reizgesteuert ist (vgl. Lurija 1973), wird das Problem des freien Willens weniger drängend, weil das Gehirn offenbar autonom ebenso wie pfadabhängig genug anderes zu tun hat, als auf Reize zu reagieren. Zugleich wird jedoch fraglich, was es tut, wenn es sich auf der Grundlage aktuell selektiver Erinnerungen mit seinen Vorhersagen beschäftigt, die meisten davon hemmt, manche verdrängt, andere nur vorsichtig wieder zu Bewusstsein kommen und einen geringen Teil in einer Art Modus der Selbstüberraschung Wirklichkeit werden lässt.

Kaum eine Entdeckung hat die Hirnforschung in den vergangenen Jahrzehnten so sehr stimuliert wie der Befund, dass das Gehirn im sogenannten Ruhezustand nicht untätig ist (vgl. Raichle et al. 2001). Es döst, träumt, erinnert, ahnt, assoziiert, kombiniert das Erlebte mit anderem Erlebtem, das Erwartete mit dem Befürchteten, die Überraschung mit der Hoffnung. Die Annahme von René Descartes, dass das Gehirn nur etwas tut, wenn es gereizt wird, etwa von einem Schmerz in einem Zeh, der einem 13Feuer zu nah kommt (Descartes 1664, S. 68f.), war bereits von Iwan Pavlov widerlegt worden, der jeden äußeren Reiz von inneren Reizen begleitet sah, so dass insgesamt nur von »bedingten Reflexen« die Rede sein kann und sich die Frage stellt, wie das Gehirn, der »Analysator«, zu den »Bedingungen« dieser Reflexe kommt (vgl. Pavlov 1909). Die Entdeckung, dass das Gehirn auch dann etwas tut, wenn der Organismus ruht, legt die Annahme nahe, dass es möglicherweise erst recht etwas tut, wenn der Organismus aktiv wird. Oder will man annehmen, dass das Gehirn die Momente der Inaktivität des Organismus nur nutzt, um sich auch einmal mit sich selbst zu beschäftigen, in einer Art Fernsehzustand des Geistes? Umso interessanter wird jedoch die Frage, in welchem Verhältnis die Beziehung, die das Gehirn zu sich selbst unterhält, zu den Beziehungen steht, die es zur Welt unterhält.

Mit der Einsicht in die autonome Aktivität des Gehirns stellt sich die Frage danach, wie es tut, was es tut. Man weiß, dass nur ein Bruchteil der Aktivitäten des Gehirns bewusst ist. Die Bewusstseinsphilosophie in der Nachfolge Edmund Husserls weiß also nur begrenzten Rat. Immerhin kann man in dieser Philosophie die Vermutung finden, dass das Bewusstsein ein Aufmerksamkeitszustand ist, der die Aktivitäten des Gehirns begleitet und nur fallweise, Husserl spricht von Intentionalität, aufgerufen wird, um sich zurückgreifend auf Erinnerungen und vorgreifend auf Erwartungen, also retentional und protentional dessen zu vergewissern, was aktuell der Fall ist (vgl. Husserl 1913/1930, S. 162ff.). Aber in welchem Unbewussten finden alle anderen Aktivitäten des Gehirns statt? Und warum haben wir es mit einem Organ zu tun, das für die Produktion der Wahrnehmung der Welt zuständig ist, aber unter allen Objekten in der Welt ausgerechnet sich selber nicht wahrnehmen kann? Hirnforscher sprechen von einer au14toepistemischen Limitation (vgl. Northoff/Musholt 2006); Systemtheoretiker würden von einer blockierten Selbstreferenz reden, die gleichzeitig auf der Element-, Prozess- und Systemebene des neuronalen Systems greift und dafür mit Wahrnehmungsresultaten entschädigt, die wir problemlos der Welt zurechnen, obwohl wir wissen können, dass wir sie ausschließlich unserem Gehirn verdanken. Wer sonst könnte für Hören und Sehen, Riechen und Schmecken, Fühlen und Denken zuständig sein? Das sei die eigentliche Bewusstseinsleistung, hat Niklas Luhmann einmal vermutet: die Wahrnehmung der Leistungen des eigenen Gehirns zu blockieren, den Prozess der Entstehung dieser Wahrnehmung auszublenden und alle Resultate der Wahrnehmung der Außenwelt und nicht etwa der eigenen Wahrnehmungsleistung zuzurechnen; das Bewusstsein löscht Informationen über den Ort, an dem die Wahrnehmung stattfindet (Luhmann 1995a, S. 14f.).

Umso interessanter wird es, diesem faszinierenden Organ auf andere Weise auf die Spur zu kommen. Wenn wir es bewusst nicht wahrnehmen können, müssen wir es auf den Seziertisch legen. Vivisektion statt Introspektion. Die Geschichte der Hirnforschung beginnt mit anatomischen Studien, die zu medizinischen Zwecken an noch lebenden oder bereits toten Opfern von Unfällen, Krankheiten oder kriegerischen Handlungen vorgenommen werden. Sie setzt sich fort als Neurophysiologie, die das Gehirn des Menschen mit Gehirnen anderer Säugetiere und anderer Tiere vergleicht. Und sie oszilliert bis heute zwischen bildgebenden Verfahren der Untersuchung lebender und sezierter Gehirne einerseits und dem Studium von »Ausfällen« im Verhaltensspektrum von Menschen nach unfallbedingten Schädelhirnverletzungen oder aufgrund organischer Störungen (etwa Tumoren) andererseits (vgl. Sacks 1985; Ramachandran/Blakeslee 1998; 15und stilbildend für die Gattung des »neurologischen Romans«, so Oliver Sacks: Luria 1968 und 1972).

Schon Aristoteles wusste, dass das Gehirn sich kühl anfühlt, und schloss daraus, dass es die im Herzen enthaltene Wärme temperiert (Über die Teile der Lebewesen, 652b). Leonardo da Vinci bewies in seinen Zeichnungen genaue Vorstellungen über die Kammern und Ventrikel des Gehirns, die bereits von Galen beschrieben und von der arabischen Medizin überliefert worden waren. Spätestens seit Descartes gibt es keine Hirnforschung ohne Bilder und kein Bild ohne immer wieder neue Ansätze, das Gehirn mit seiner grauen und weißen Substanz, mit seinen Nervenzellen, Synapsen und Glia, mit seinen Blutgefäßen, Hirnregionen und Hirnfunktionen mithilfe von anatomischen Schnitten und histologischen Präparaten sichtbar zu machen. Korbinian Brodmann erstellte auf der Grundlage histologischer Untersuchugen und anatomischer Vergleiche mit Tieren detaillierte Karten der Lappen, Windungen und Windungskomplexe der Großhirnrinde, die maßgebend dazu beitrugen, Regionen und Felder des Gehirns zu unterscheiden, denen verschiedene sensorische, motorische, emotionale, linguistische, analytische und weitere Funktionen zugeordnet werden können. Brodmann sprach von der »funktionellen Dignität des Cortex«, die weniger in der Quantität der Nervenzellen des Säugetiergehirns als vielmehr in ihrer Qualität zu suchen sei, »in der feinen inneren Differenzierung, der Oberflächenentwicklung, d.h. Dendritenzahl, dem Reichtum ihrer Konnektive« (Brodmann 1909, S. 93). Gedacht wird, wenn man so sagen darf, in Windungen und auf Oberflächen, im Schutz von Falten und in der Form von Verknüpfungen.

In jüngster Zeit vervielfältigen sich die bildgebenden Verfahren dank Messungen von elektrischen Potenzialänderungen (Elektroenzephalogramm, EEG), von magnetischen Feldern (Magnetoen16zephalographie, MEG), von elektrischen Aktivitäten mithilfe von Elektroden (Elektrocorticographie, ECoG), dank Schnittbildern von schwach radioaktiv markierten Substanzen (Positronen-Emissions-Tomographie, PET), dank Messungen der Veränderung der Blutsauerstoffversorgung unterschiedlicher Gehirnregionen (funktionelle Magnetresonanztomographie, fMRT) sowie Messungen von Molekülschwingungen durch elektromagnetische Strahlung im nah-infraroten Bereich (Nahinfrarotspektroskopie, NIRS) für jeweils wissenschaftliche ebenso wie medizinische Zwecke (vgl. dazu z.B. Raichle 2009; Weiller 1999). Aber was sieht man, wenn man diese Bilder sieht? Und was sieht man nicht? Auch zwischen verschiedenen Hirnforschern, etwa Neurowissenschaftlern, Neurologen und Psychiatern, ist der Aussagewert von Bildern umstritten, verweist man auf Funktionen, die nur schwer Regionen zuzuordnen sind, und sucht man nach Prozessen, wenn die Bilder nur Räume zeigen; ganz zu schweigen davon, dass visuelle Erkenntnisse es traditionell schwer haben, sich gegenüber statistisch ausgezählten, räumlich metrisierten und funktional zugeordneten Erkenntnissen zu behaupten (vgl. Beaulieu 2002).

Um 1900 hatte Santiago Rámon y Cajal ebenfalls mithilfe einer histologischen Färbetechnik entdeckt, dass das Gehirn nicht nur aus Milliarden miteinander vernetzter und polarisierter Nervenzellen besteht, sondern dass jede dieser Nervenzellen von ihren Nachbarn durch einen Spalt getrennt ist (vgl. Rámon y Cajal 1896). Das war die Grundlage für die Einsicht, dass das Gehirn eigenständig aktiv ist, insofern jede dieser Nervenzellen in der Lage ist, Signale zu empfangen und auszusenden, Signale, die andere Nervenzellen entweder zu eigenen Signalen anregen oder hemmen. Doch kaum hatte man dies entdeckt und kaum hatte Charles Sherrington diesem Spalt den Namen Synapse (griech. syn haptein, zusammen greifen, fassen, tasten) gegeben, als der17selbe Sherrington auch schon darüber nachdachte, was in diesem Spalt geschieht, in dem nicht wiederum eine Nervenzelle aktiv sein kann: Hat man es zwischen den Oberflächen der Neuronen mit physischen oder chemischen Prozessen zu tun, mit osmotischen Prozessen, elektrischen Ladungen, Bewegungen von Ionen, mit Oberflächenspannungen, die von Potenzialänderungen abhängen, oder mit Potenzialänderungen, die von Oberflächenspannungen abhängen, mit Membranen, die für bestimmte Elektrolysekonzentrationen undurchlässig und für andere durchlässig sind, oder mit Gallerten, die unterschiedlich geladen sein können (Sherrington 1906, S. 16)? Hier intervenieren Physik, Chemie und Biochemie, wird die Psyche somatisch und der Körper psychisch. Wenn man die Nervenzellen als selbständige Organismen fasst, so fragt Ludwig Edinger, wie muss man sich dann deren Verknüpfung durch Fibrillen und Dendriten vorstellen (Edinger 1904, S. 24ff.)?

18Gepflegtes Nichtwissen

Es gibt keine soziologische Theorie des Gehirns. Soziologen genügt es in der Regel zu wissen, dass Menschen mit einem gedächtnis- und intelligenzfähigen Organ ausgestattet sind, das es ihnen erlaubt, die Anforderungen des Alltags ebenso zu bewältigen wie die Ansprüche der Familie, des Berufs, der Politik, der Religion oder der Kunst. Die Soziologie kann den hörenden und sprechenden, lesenden und schreibenden, tastenden und schlagenden Menschen schlicht als gegeben voraussetzen. Einen Faktor, der sich identisch wiederholt, kann man aus wissenschaftlichen Erklärungen streichen. Deswegen gibt es auch keine soziologische Theorie der Gravitation, jener Kraft, die es Menschen erlaubt, aufrecht die Erde zu beschreiten, ohne laufend befürchten zu müssen, ins All davonzuschweben, oder eine soziologische Theorie des Wassers und des Sauerstoffs, mit denen Menschen laufend versorgt werden müssen, um überlebensfähig zu sein. Es gibt noch nicht einmal Soziologien der Geburt oder der Sterblichkeit des Menschen, obwohl man glauben sollte, dass diese Bedingungen seines Anfangs und seines Endes sein soziales Verhalten nicht nur emotional zutiefst prägen.

Wohl aber gibt es Soziologien, denen auffällt, dass der Zugang einzelner Menschen oder bestimmter Gruppen und Klassen von Menschen zu ihren eigenen Gehirnen (Erziehung und Bildung) oder auch zu Wasser und Sauerstoff, zur Fortpflanzung und zur Gestaltung der Sterblichkeit höchst ungleich verteilt ist. Das ist jedoch kein Grund, sich mit Gehirnen, Wasser und Sauerstoff, Geburt und Tod zu beschäftigen, sondern ein Grund, die sozialen Bedingungen zu erforschen, die diesen Zugang regeln und die etwas mit verfügbarem Einkommen und verfügbarer Zeit, erreichbaren Medien sowie topographischen und geopolitischen Umständen, geordneter Sexualität und Gesundheitsvorsorge zu tun haben.

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