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Hannah Siebern

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Beschreibung

Eine Straßensängerin und der reiche Sohn einer Adelsfamilie. Kann das gut gehen? Als Hope und David sich das erste Mal begegnen, stellt das Hopes Leben komplett auf den Kopf. Nicht nur, weil der attraktive Kerl sie mit seiner ach so feinen Art in den Wahnsinn treibt, sondern auch weil seine adlige Familie ihr etwas wegnehmen will, das ihr mehr bedeutet als alles andere auf der Welt. Als die Umstände sie dann auch noch dazu zwingen, auf das Anwesen von Davids Familie zu ziehen, ist das Chaos perfekt. Sie weiß, dass sie dringend Abstand zu David halten sollte, aber das ist leichter gesagt als getan ... Ein New Adult Roman mit einer Enemies to Lovers Geschichte, die an der Küste von England spielt.

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NEVER LOSE HOPE

HANNAH SIEBERN

INHALT

Über die Autorin

Hinweis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Epilog

Nachwort

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Content Note

Copyright © 2023 by Hannah Siebern

All rights reserved.

No part of this book may be reproduced in any form or by any electronic or mechanical means, including information storage and retrieval systems, without written permission from the author, except for the use of brief quotations in a book review.

Impressum

Hannah Siebern

Am Vogelbusch 18

48301 Nottuln

[email protected]

Deutsche Erstausgabe 03/2023

ISBN: 9798378840335

Lektorat: Nadine d’Arachart und Sarah Wedler

Satz: Hannah Siebern

Erstellt mit Vellum

ÜBER DIE AUTORIN

Hannah Siebern wurde 1986 in Münster (NRW) geboren und studierte an der Uni Dortmund Erziehungswissenschaft. Geschichten schrieb sie schon als Kind leidenschaftlich gerne. Ihre ersten Werke handelten von fiktiven Abenteuern, die sie mit ihren Freundinnen erlebte. Jahre später entdeckte sie dann ihre Liebe zu Fantasyromanen und schrieb mit 23 ihr erstes komplettes Buch.

Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie und ihrem Hund in Greven (NRW) und arbeitet schon wieder an ihrem nächsten Romanprojekt.

Foto: Guido Karp www.p41d.com

www.hannahsiebern.de

[email protected]

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HINWEIS

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Themen. Wenn du glaubst, betroffen zu sein, findest du am Ende des Buchs eine Content Note zu den Inhalten dieses Buchs.

Ich wünsche dir ein wundervolles Leseerlebnis.

1

Hope

 

„Der Tod ist ein Eichhörnchen“, hatte meine Grandma immer gesagt. „Im Sommer versteckt er ganz viele Eicheln, um sie dann im Winter zu holen. Einige findet er früher und andere später. Manche scheint er auch komplett zu vergessen. Tatsache ist, dass der Tod unser Leben endlich und unsere Zeit somit wertvoller macht. Gleichzeitig befreit er uns von all unseren Ängsten, Schmerzen und Sorgen.“

Mir war klar, dass sie mir das erzählt hatte, um mich zu trösten, wann immer ich als Kind nach meiner Mum gefragt hatte. Ganz logisch war ihre Erklärung natürlich nicht, aber die Vorstellung, dass meine Mutter jetzt bei einem Eichhörnchen war, hatte mir trotzdem gefallen.

Aber während ich an den Seven Sisters auf einem Felsen saß und auf das Meer hinausschaute, fragte ich mich, ob meine Grandma den Tod inzwischen immer noch so positiv sah, denn sie war vor drei Wochen gestorben. Drei Wochen, in denen ich jeden Tag geweint hatte, weil sie mir so sehr fehlte und weil es mir das Herz zerriss, sie nicht mehr bei mir zu haben. Drei Wochen, in denen so viel Schlimmes passiert war, dass ich gar nicht mehr hinterherkam.

Ich schaute die Klippen hinunter und hörte die Wellen, die gegen die Felsen klatschten. Mein langes blondes Haar wehte im Wind, aber ich hatte es aufgegeben, es mir aus der Stirn zu streichen. Hier an der Steilküste ging es mindestens einhundert Meter in die Tiefe. Die Seven Sisters waren eine Kette von Kreidefelsen, die sich zwischen Brighton und Seaford an der Südküste Englands in der Grafschaft East Sussex befanden. Das Besondere war ihre Farbe, denn sie waren vollkommen weiß und boten somit von der Seeseite her einen beeindruckenden Anblick. Heute allerdings war es bewölkt und nieselte, daher konnte ich den Ausblick nur halb so sehr genießen wie sonst. Doch irgendwie passte das Wetter zu meiner depressiven Stimmung.

Was, wenn ich jetzt springen würde?

Der Gedanke kam plötzlich und ließ mich den Atem anhalten.

Ich bräuchte nicht einmal zu springen, sondern es würde genügen, mich an die Klippe zu stellen, meine Arme auszubreiten und mich fallen zu lassen.

Es wäre so einfach.

All meine Sorgen wären dahin. Die Trauer über Grandmas Tod, der Schock über mein Testergebnis und der Verrat von Samuel und Faith. Nichts davon hätte mehr eine Bedeutung und ich würde mir die Unsicherheit ersparen, die mich in den nächsten Jahren erwartete. Was gab es Schlimmeres, als tatenlos zu warten, während man tickte wie eine Zeitbombe, die jeden Moment hochgehen konnte? Denn warum sollte es bei mir anders laufen als bei Grandma oder Mum?

Mein Handy klingelte zum gefühlt hundertsten Mal, aber ich beachtete es gar nicht. Bestimmt war es nur wieder Faith, doch ich wollte ihre fadenscheinigen Entschuldigungen nicht hören. Was sie getan hatte, war unverzeihlich und ich könnte es nicht ertragen, jetzt mit ihr zu sprechen. Ich ging durch die Hölle und sie … Gott. Ich durfte nicht daran denken, sonst begann ich nur wieder zu heulen.

Stattdessen nahm ich noch einen großen Schluck Sherry und stand auf. Ich liebte die Klippen der Seven Sisters. Grandma war früher oft mit mir hierhergekommen und hatte mir alte Sagen und Legenden über diesen Ort erzählt.

Doch Grandma war tot und ich würde nie wieder mit ihr hier stehen und darüber philosophieren, ob der Name der sieben Schwestern sich nun auf die Kuppen oder die Senken bezog. Sie und meine Mum waren beide an Brustkrebs gestorben. Dieselbe Krankheit, die ich auch in mir trug. Was für eine Scheiße.

Ich nahm einen weiteren Schluck und schmeckte das süße, klebrige Zeug auf meiner Zunge. Normalerweise war ich kein Fan von Sherry, aber Grandma hatte ihn geliebt und ich wollte ihr nahe sein.

„Nicht mehr lange und ich werde dir folgen“, flüsterte ich und meine Worte wurden vom Wind davongetragen.

Ich hegte keinen Zweifel daran, dass ich genauso an diesem verdammten Krebs verrecken würde wie meine Mum und meine Grandma. Warum also darauf warten? Das Ergebnis war ohnehin dasselbe. Das Eichhörnchen würde mich holen. Da konnte ich es ihm genauso gut einfacher machen.

Ich hielt mein Gesicht in die Brise und schmeckte Salz auf meiner Zunge. Wie sehr ich das Meer liebte. Selbst der leichte Nieselregen, der dafür sorgte, dass heute kaum jemand an den Klippen unterwegs war, war Teil meiner wundervollen Kindheitserinnerungen.

Ich trat näher an den Abgrund heran und sah nach unten. Die Wellen klatschten an die Felsen und schienen nach mir zu rufen.

Wie häufig hatte meine Grandma mir gesagt, ich solle nicht so nah an die Kante gehen? Doch wo war sie heute, um mich davon abzuhalten? Sie war fort und auch sonst war niemand da, der sich dafür interessierte, was ich tat. Ich bräuchte mich nur nach vorne kippen zu lassen. Es wäre so leicht und ich sehnte mich danach, das Gefühl der Schwerelosigkeit zu erleben, bevor ich wieder mit meiner Grandma vereint wäre und endlich meine Mutter kennenlernen könnte.

Mein Herz klopfte wie verrückt bei der Vorstellung, ihr zu begegnen. Angeblich war ich ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich hatte ihre hellbraunen Augen und ihr langes blondes Haar, ihre hohe Stirn und sogar dasselbe Muttermal am Mund. Außerdem besaß ich ihr Lächeln und ihr Talent für die Musik. Ich liebte es, Gitarre zu spielen und zu singen und wollte gerne noch viele weitere Instrumente lernen, so, wie sie es getan hatte. Doch wie es aussah, hatte ich nicht den Mut meiner Mutter und auch nicht ihren Lebenswillen.

Nein. Ich war nicht wie sie. Denn sonst stünde ich jetzt nicht hier. Ich ließ die Flasche mit dem Sherry zu Boden fallen und sie kullerte von der Kante weg und über den Rasen. Dann breitete ich die Arme aus, als könnte ich davonfliegen wie ein Vogel. Es wäre so schön, einfach nichts mehr zu fühlen. Nicht mehr zu sein. Nicht mehr zu grübeln. Das stellte ich mir wundervoll vor. All der Schmerz, die Enttäuschung und die Sorgen. Das alles wäre weg.

„Heute ist ein guter Tag zum Sterben“, flüsterte ich meiner Grandma zu. Dann schloss ich die Augen und wollte mich nach vorne kippen lassen.

Doch genau in dem Moment hörte ich ein Jaulen.

Reflexartig machte ich einen Schritt zurück, stolperte über einen Stein und landete mit dem Hintern auf dem Boden.

Was war es gewesen, das mich aus meinem Trancezustand gerissen hatte? Ein Tier? Ganz bestimmt sogar. Aber was für eins?

Ich verhielt mich ruhig und hörte es wieder. Ein langgezogenes Jaulen, das mir durch und durch ging. Es war ein Hund, der Schmerzen litt und ohne dass ich es bewusst entschieden hatte, rappelte ich mich auf und folgte dem Geräusch. Ich liebte Hunde. Das war schon immer so gewesen. Meine Grandma hatte immer welche gehabt, doch der letzte Rüde – Oscar – war kurz vor ihrem Tod an Altersschwäche gestorben und sie hatte wohl gespürt, dass sie einen weiteren Hund nicht überleben würde.

Der Alkohol vernebelte mir noch das Gehirn, aber ich fühlte mich sehr viel nüchterner als noch vor ein paar Sekunden. Da war ein Lebewesen, das meine Hilfe brauchte und genau die würde es auch bekommen. Ich lief ein paar Meter dem Jaulen nach zu einer anderen Stelle der Klippe und sank in die Knie, als ich mich der Felskante näherte. Hier ging es ebenfalls weit in die Tiefe und was mir vorhin noch wie ein Sprung in die Freiheit erschienen war, kam mir plötzlich genauso bedrohlich vor, wie es auch war. Ein Sturz in den Tod.

Der Wind erschien mir mit einem Mal nicht mehr befreiend, sondern wie ein Gegner, der mich gegen meinen Willen über die Klippe zerren wollte. Ich streckte den Kopf über den Rand. Und da sah ich ihn. Es war ein kleiner struppiger Terrier, der circa anderthalb Meter unterhalb der Klippe auf einem Vorsprung saß und verzweifelt versuchte, nicht weiter abzurutschen. Er wirkte so schmächtig, dass ich davon ausging, dass ihn eine Windböe über die Klippe geweht haben musste. Oder hatten Hunde auch Selbstmordgedanken? Unwahrscheinlich. Zumindest hatte ich noch nie von so etwas gehört.

„Hey, Hundchen“, rief ich, als der Terrier herzerweichend jammerte. „Keine Angst. Ich bin da und helfe dir.“

Der Hund sah zu mir auf und geriet dabei weiter ins Rutschen. Verdammt. Nicht mehr lange und er würde in die Tiefe fallen. Ich drehte mich um und kletterte vorsichtig die Kante hinunter. Dabei war es nicht gerade hilfreich, dass es nieselte und die Felsen dementsprechend rutschig waren. Doch ich konnte den Hund nicht einfach sterben lassen.

Erleichtert atmete ich auf, als mein Fuß den Vorsprung ertastete, auf dem der junge Hund saß, doch sobald ich mein Gewicht darauf verlagerte, begann er wegzubrechen.

Meine Reaktion war schnell. Ohne Rücksicht auf mein eigenes Wohl griff ich nach dem Terrier und hielt mich mit der rechten Hand an der Kante fest. Ich erwischte ihn gerade noch am Nackenfell, bevor er abstürzte.

Mit einem Aufschrei zog ich den Hund hoch, warf ihn über die Kante und sackte dann nach unten. Schnell griff ich mit der freien Hand ebenfalls nach dem Rand des Plateaus und klammerte mich daran, so fest ich konnte.

„Nein!“, schrie ich, als ich abzustürzen drohte und wedelte mit den Beinen, um Halt zu finden.

Einen Fuß konnte ich an den Resten des Vorsprungs abstützen, aber auch der war bröckelig und würde mein Gewicht nicht lange tragen. Verzweifelt tastete ich mit meiner Hand nach etwas, woran ich mich wieder hochziehen konnte und bekam ein dickes Grasbüschel zu fassen. Es war nicht viel, aber immerhin besser als nichts. Der kleine Hund bellte wie wild und sprang am Rand hin und her, als wolle er mich anfeuern, während ich versuchte, mich hochzuziehen. Natürlich wurde in diesem Moment auch noch der Regen stärker.

Oh Gott. War das die Strafe dafür, dass ich mein Leben hatte wegwerfen wollen? Denn jetzt gerade kam mir der Gedanke, diese Klippen hinunterzustürzen, überhaupt nicht mehr erstrebenswert vor. Im Gegenteil. Es gab noch so viel, was ich in meinem Leben tun wollte. So viel, was ich vorhatte.

Ich wollte mein Studium beenden und Musik machen. Ich wollte mehr von der Welt sehen und ich wollte mich verlieben. So richtig. Denn wenn ich ehrlich war, dann war das mit Samuel keine richtige Liebe gewesen. Ich wollte mehr. So viel mehr. Aber dafür musste ich leben.

Ich fühlte, wie das Gras unter meinen Fingern nachgab und stieß einen frustrierten Schrei aus.

„Nein!“, rief ich wieder.

Ich wusste, dass an diesen Klippen schon häufig Menschen zu Tode gekommen waren, weil sie den Wind unterschätzt hatten. Doch als hätte das Schicksal entschieden, dass ich eine zweite Chance verdiente, kam nun eine Böe von der anderen Seite. Es war, als würde der Wind mir von unten einen Stoß geben und ich schaffte es, weiter nach vorne zu greifen. Ich bekam das nächste Grasbüschel zu fassen und dann wieder des nächste, bis es mir gelang, mich zurück auf das Plateau zu ziehen. Ich keuchte und schnaufte, während ich mich auf den Rücken rollte und in den düsteren Abendhimmel schaute.

Der Regen war eiskalt auf meiner Haut und ich konnte nichts weiter tun, als auf meinen eigenen Herzschlag zu lauschen, bis ich die warme Zunge des kleinen Hundes an meiner Wange spürte. Das Gefühl kitzelte und brachte mich zum Lachen, obwohl mir eigentlich zum Weinen zumute war.

„Ist ja gut“, sagte ich. „Du musst dich nicht so überschwänglich bedanken. Das habe ich gerne gemacht.“

Ich zog den Hund an meine Brust. Er war kein Welpe mehr, aber auch noch nicht erwachsen. Vielleicht war er ein paar Monate alt. Ich konnte sowas schlecht einschätzen. Er war weiß und hatte zwei braune Ringe um die Augen, die ihn wirken ließen, als hätte er eine Brille auf. Vermutlich war er ein Jack Russell Terrier.

„Hey“, sagte ich zu dem Hund. „Wie es aussieht, hast du mir heute das Leben gerettet. Wo sind denn deine Besitzer?“

Der Hund wedelte mit dem kurzen Schwanz und versuchte wieder, mein Gesicht abzuschlabbern. Ich hob ihn hoch und stellte fest, dass ‚er‘ eine ‚sie‘ war.

„Du bist ja eine kleine Hundedame“, sagte ich und wollte sie näher an mich ziehen, als sie aufjaulte.

„Oh. Tut mir leid. Das wollte ich nicht“, sagte ich, obwohl die Hündin das sicher nicht verstehen konnte. „Bist du verletzt?“

Ich tastete das Tier ab und es jaulte erneut, als ich die linke Hinterpfote berührte.

„Bestimmt hast du dir bei dem Sturz wehgetan“, sinnierte ich. „Ich bringe dich so bald wie möglich zu einem Tierarzt.“

Doch das war einfacher gesagt als getan. Ich war mit dem Taxi hergekommen und hatte mir keine Gedanken über den Rückweg gemacht. Im Moment blieb mir nur der Bus.

Also nahm ich die Hündin vorsichtig auf den Arm und lief zur Bushaltestelle, die einige hundert Meter entfernt lag. Als wir die Straße erreichten, waren wir vollkommen durchweicht und froren um die Wette.

Ich sah auf den Fahrplan und ächzte auf. Der letzte Bus war vor einer halben Stunde gefahren.

Erschöpft ließ ich mich auf die Bank in dem Bushäuschen fallen und wusste nicht, was ich tun sollte. Verzweiflung drohte mich zu überrollen, als die Hündin an meiner Brust herumzappelte und fiepend versuchte, mein Gesicht abzulecken.

„Hey, du kleiner Schatz“, sagte ich und rang mir ein Lächeln ab. „Keine Angst. Wir schaffen das schon.“

Die Frage war nur, wie. Der Bus fiel aus. Ich konnte versuchen ein Taxi herzurufen, aber der Fahrer war schon auf dem Hinweg nicht begeistert gewesen, so weit rauszufahren.

Ich könnte jemanden bitten, mich abzuholen. Aber wen? Samuel und Faith hatten mich verraten und sonst hatte ich nicht viele Freunde. Also blieb höchstens mein Vater. Ich hasste zwar die Gleichgültigkeit, mit der er mich oft behandelte, aber das hier war ein Notfall und da würde er hoffentlich eine Reaktion zeigen.

Ich zog mein Handy hervor und sah mehrere Anrufe in Abwesenheit. Viele waren von Samuel und Faith, aber es waren auch einige von meinem Vater dabei und … von Tante Hazel. Sofort schlug mir das Herz bis zum Hals und ich drückte auf Rückruf.

„Hope?“, rief sie im nächsten Moment mit ihrer rauchigen Stimme ins Telefon. „Himmel, Pups und Faden. Du kleiner Schneebesen. Sag mir sofort, wo du bist, oder ich versohle dir den Hintern.“

Ihre Worte entlockten mir ein Lächeln. Meine Tante hatte die Eigenart, Redewendungen zu verdrehen und sich ungewöhnliche Beleidigungen auszudenken, indem sie Wörter verwendete, die in dem Zusammenhang überhaupt keinen Sinn ergaben. Oftmals konnte ich nicht einmal richtig unterscheiden, ob es ein Schimpfwort oder ein Kosename sein sollte, denn auch da war sie äußerst kreativ.

Als ich klein war, hatte sie sich immer einen Spaß daraus gemacht, mit mir zusammen nach Wörtern zu suchen, mit denen man gut schimpfen konnte, ohne jemanden damit zu verletzen. In ihrem Fall war das sogar sinnvoll, denn sie schimpfte häufig. Wenn ich viel mit ihr geredet hatte, rutschte mir manchmal ebenfalls ein kreativer Fluch heraus, denn diese Art zu reden war eindeutig ansteckend.

„Tante Hazel“, rief ich. „Bin ich froh, dich zu hören.“

Ich hatte meiner Tante vor ein paar Stunden weinend eine Sprachnachricht geschickt, dass mein Test bei der Brustkrebsklinik positiv ausgefallen war. Sie war nicht ans Telefon gegangen und hatte mir auch nicht gleich geantwortet. Stattdessen hatte nur Faith immer wieder angerufen, also hatte ich aufgehört, darauf zu achten.

 Im Hintergrund waren Motorgeräusche zu hören, daher vermutete ich, dass meine Tante mit ihrem Wohnmobil unterwegs war.

„Ach, du blaue Sieben. Wie kannst du mich nur so verrückt machen und dann nicht mehr drangehen, du Eselsohr? Dein Vater wusste auch nicht, wo du steckst, also bin ich direkt losgefahren. Der Verkehr in London war eine Katastrophe, aber jetzt bin ich schon fast in Eastbourne. Also. Wo bist du?“

„Ich bin bei den Seven Sisters“, erklärte ich und im nächsten Moment quietschten die Reifen.

„Himmlischer Kräutergarten. Und das sagst du jetzt erst?“, schimpfte Hazel. „Fast hätte ich die Abfahrt verpasst. Wo genau bist du?“

„Bei den Beachy Head Cliffs.“

„Gut. Rühr dich nicht von der Stelle, Honigpups. Ich bin gleich bei dir.“

Sie legte auf und ich drückte den kleinen Hund enger an mich.

„Alles wird gut“, sagte ich. „Mum hat uns ihre Schwester Hazel geschickt, damit sie auf uns aufpasst.“

Der kleine Hund wuffte zustimmend und eine Viertelstunde später hielt das Wohnmobil meiner Tante vor uns an und sie sprang aus dem Wagen. Hazel sah man ihre fünfzig Jahre kaum an. Sie hatte langes, leicht ergrautes Haar, das zu einem Zopf geflochten war und trug ein buntes Kleid. Von ihrem Wesen her war sie ein richtiger Hippie und genoss das Leben in vollen Zügen. Ich wickelte den kleinen Hund in meine Jacke und ließ ihn kurz auf der Bank zurück, um meine Tante zu begrüßen. Sie erwiderte meine Umarmung und drückte mir einen Kuss auf die Wange.

„Hope, meine Bärentatze. Was machst du für einen Unsinn?“, fragte sie.

Ich schniefte. „Es tut mir leid, Tante Hazel. Aber … das Gen. Ich … ich habe es auch.“

Nach dem Tod meiner Großmutter hatte ich mich testen lassen, um herauszufinden, ob ich die Trägerin eines Gens war, das mit großer Wahrscheinlichkeit zu Brustkrebs führte. In seltenen Fällen kam das vor und da Brustkrebs in meiner Familie vermehrt aufgetreten war, hatte ich Sicherheit haben wollen. Leider hatten sich meine Befürchtungen bestätigt und mir damit endgültig den Boden unter den Füßen weggezogen.

„Verwünscht seien meine Pantoffeln“, sagte meine Tante. „Aber weißt du, nur weil du dieses Gen hast, heißt das noch lange nicht, dass du erkranken musst, oder dass du gar stirbst.“ Tante Hazel umarmte mich fest und streichelte mir über das feuchte Haar.

Sie war neben meiner Grandma meine engste Bezugsperson und ihre Arme fühlten sich an wie Heimat.

„Ich weiß, aber ich habe Angst“, gab ich zu und Tränen liefen mir über die Wangen. „Du hast keine Ahnung, wie sehr.“

Tante Hazel nickte und streichelte mir über den Rücken. „Das verstehe ich, mein Krümelmonster. Aber jetzt ist nicht der Moment, um den Kopf in den Salat zu stecken. Du musst kämpfen, hörst du? Wenn du dich regelmäßig checken lässt und der Krebs früh genug erkannt wird, dann können sie dich direkt behandeln und …“

„Nein!“, sagte ich entschlossen. „Ich will das nicht. Ich will nicht jedes Mal Angst haben müssen, wenn ich wieder zu so einer Vorsorgeuntersuchung muss. Ich will nicht ständig in Sorge leben.“

„Aber …“

„Ich will sie weghaben.“

Meine Tante riss die Augen auf. „Du willst eine Brustamputation machen lassen? In deinem Alter?“

Ich schluckte, aber nickte dann. „Ganz genau. Ich habe mich schon vor Grandmas Tod damit auseinandergesetzt, und ja. Ich bin mir sicher. Ich ertrage diese Ungewissheit nicht und wenn Angelina Jolie sowas kann, dann kann ich das auch.“

Im Grunde genommen war es der Schauspielerin zu verdanken, dass ich überhaupt auf den Gedanken gekommen war, mich testen zu lassen. Ich hatte im Fernsehen eine Reportage über sie gesehen und dabei war erwähnt worden, dass sie sich vorsorglich beide Brüste hatte amputieren lassen, um ihr Krebsrisiko zu vermindern. Ein mutiger Schritt. Und genau das wollte ich auch.

„Ich glaube, du hast getrunken und bist gerade ziemlich durch den Wind“, sagte meine Tante. „Am besten schläfst du nochmal darüber und dann sehen wir weiter. Soll ich dich nach Hause bringen?“

„Nein!“, rief ich. „Alles, bloß das nicht.“

Meine Tante runzelte die Stirn. „Aber warum denn nicht, mein Glücksbärchen? Ist etwas passiert?“

„Einigen wir uns darauf, dass ich Samuel nie wieder begegnen will“, sagte ich ausweichend.

„Also gut. Wie du willst. Dann nehme ich dich eben mit nach London. Das trifft sich ohnehin gut, weil ich in der Brustklinik dort einige Ärzte kenne. Doktor Sanchez ist ein Genie und wird mit dir alle Optionen durchgehen.“

Warum eigentlich nicht? Hier in Eastbourne hielt mich nichts. Samuel nicht und Faith ganz sicher auch nicht. Mit meinem Vater hatte ich ohnehin keine enge Beziehung, und die Uni? Ich studierte seit über zwei Jahren Physiotherapie und mir fehlte nicht mehr viel bis zu meinem Abschluss, aber im Moment brauchte ich vor allem Abstand. Von allem. Und das würde mir hier nicht gelingen.

„Einverstanden“, sagte ich. „Aber nur, wenn wir den Hund mitnehmen.“

„Den was?“ Irritiert sah Hazel mich an und ich deutete auf meine Jacke, aus der der kleine Kopf meiner Retterin hervorlugte.

„Ach, du blaue Sieben. Was ist das denn für ein süßer Purzel?“, fragte Hazel. „Und wo kommt er her?“

„Er ist eine sie“, sagte ich. „Ich habe sie bei den Klippen gefunden, aber sie ist verletzt und muss zum Tierarzt.“

„Okay. Dann fahren wir direkt zum Tierarzt. Irgendwo wird wohl jemand Notdienst haben und danach nehme ich dich mit nach London. Hat die Kleine denn keine Besitzer, die nach ihr suchen?“

„Vielleicht. Das werde ich noch herausfinden.“ Ich sah die Hündin an und streichelte ihr über den Kopf. „Falls wir deine Besitzer nicht finden, dann bleibst du bei mir. Und ich habe auch schon den perfekten Namen für dich. Lucky. Was hältst du davon?“

Der Hund wuffte.

„Das heißt dann wohl ja“, sagte ich, nahm Lucky hoch und kletterte in das Wohnmobil meiner Tante.

Sie grinste mich an und fuhr los. „Bist du bereit, Honigpups?“, fragte sie und mir war klar, dass sie nicht nur die Autofahrt meinte, sondern auch alles andere, was mich in den nächsten Monaten erwarten würde.

„Ich denke schon“, erwiderte ich und war plötzlich ganz optimistisch, was die Zukunft anging. Tante Hazel hatte recht. Ich war nicht meine Mum und ich war nicht meine Großmutter. Ich würde kämpfen, um mir mein Leben zurückzuholen und irgendwie würde schon alles gut werden. Ich musste nur fest genug daran glauben.

2

Ein Jahr später

Hope

„Da sind wir also“, sagte Hazel und hielt den Wagen am Hafen von Eastbourne an. Von hier aus konnte man das kleine Fischerstübchen meines Vaters gut erkennen und ein Gefühl von Wehmut überkam mich.

„Und du bist sicher, dass du hierbleiben willst, Krümelmonster?“, fragte meine Tante. „Ich habe nichts dagegen, noch länger in Eastbourne zu verweilen.“

Meine Tante lebte nie lange in einer Stadt, sondern wechselte mit ihrem Wohnmobil regelmäßig den Wohnort. Sie hatte mit dem alten Ding sogar schon Reisen quer durch Europa und Afrika unternommen.

„Das ist lieb von dir, Tante Hazel“, sagte ich. „Aber das musst du nicht. Es wird langsam Zeit, dass ich nach Hause zurückkehre. Die Universität war einverstanden, dass ich ein Jahr pausiere, aber wenn ich nicht bald wieder anfange, dann werde ich exmatrikuliert und das möchte ich auf keinen Fall.“

Ich öffnete die Tür des Wagens und Lucky hüpfte fröhlich bellend nach draußen.

Nachdem meine Tante mich vor knapp einem Jahr an den Seven Sisters eingesammelt hatte, war sie mit mir und Lucky zu einem Tierarzt gefahren, der Luckys Pfote versorgt hatte. Von ihm hatte ich auch erfahren, dass bei ihr kein Chip zu finden war. Entweder hatte sie keinen oder er war so weit gewandert, dass das Gerät ihn nicht erfassen konnte. So oder so war es unmöglich, Luckys alte Besitzer ausfindig zu machen. Auch bei meinen Telefonaten mit den Tierheimen von Eastbourne und der Umgebung hatte ich keinen Erfolg gehabt. Ein paar Wochen hatte ich immer mal wieder nachgefragt, aber schließlich hatte man mir gesagt, dass ich den Hund behalten könne, da ihn offenbar niemand haben wollte.

Für mich war das der beste Tag meines Lebens gewesen, denn Lucky hatte sich mit Karacho in mein Herz geschlichen und ein Leben ohne sie konnte ich mir längst nicht mehr vorstellen. Während der schlimmen Zeit nach meiner OP war sie immer an meiner Seite gewesen und hatte sich beim Schlafen eng an mich gekuschelt. Tante Hazel und Lucky waren der einzige Grund, warum ich nicht durchgedreht war und ich würde sie um nichts auf der Welt wieder hergeben.

Ich griff nach meiner Gitarre, die mein Vater mir bei einem seiner Besuche in London mitgebracht hatte und nahm mir den Seesack, in dem ich meine Klamotten hatte. Dann stieß ich einen tiefen Seufzer aus. Das letzte Jahr war nicht einfach gewesen, aber ich hatte es überstanden und jetzt konnte ich nach vorne schauen.

Die Operation war gut verlaufen und rein theoretisch hätte ich längst wieder an der Uni sein können, aber ich hatte beschlossen, stattdessen für ein paar Monate meine Tante auf ihren Reisen quer durch Europa zu begleiten. Ich hatte etwas Abstand gebraucht. Sowohl zu Samuel, als auch zu Faith und zu Eastbourne allgemein.

Noch länger wollte ich allerdings nicht warten. Immerhin fehlte mir nicht mehr viel bis zum Abschluss und den wollte ich unbedingt machen, bevor ich England den Rücken kehrte und mit meiner Tante nach Afrika reiste. Ich wollte die Welt sehen und mein Leben in vollen Zügen genießen. Genau, wie sie es tat.

„Danke für alles, Tante Hazel“, sagte ich und umarmte sie fest. Wie immer roch sie nach Räucherstäbchen und Rosenwasser. „Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich getan hätte.“

Tante Hazel winkte ab. „Ach. Schon gut, Pancake. Es war schön, ein Jahr lang nicht alleine zu sein. Auch wenn der Anlass erfreulicher hätte sein können. Ich werde Lucky und dich vermissen.“

Ich lächelte. „Wir werden dich auch vermissen. Versprich mir, dass wir in Kontakt bleiben.“

„Ich bestehe sogar darauf. Und wenn etwas ist, dann hole ich euch beide jederzeit ab und wir setzen unsere Reise fort. Gar kein Problem. Es gibt noch so viele Ort, die wir besuchen können.“

„Wer weiß. Vielleicht komme ich darauf zurück. Aber jetzt muss ich erstmal meinen Dad begrüßen.“

„Tu das. Und pass gut auf dich auf, mein Honigpups.“

Sie drückte mir noch einen Kuss auf die Wange, streichelte Lucky über den Kopf und stieg dann wieder in ihren Bulli. Sie winkte mir zu und fuhr davon. Lucky bellte irritiert und sah mich fragend an.

„Ich weiß“, sagte ich. „Sie wird mir auch fehlen. Aber jetzt wird es Zeit, dass wir etwas Zeit mit Dad verbringen.“

Ich umfasste meine Gitarre stärker und ging zu dem kleinen Imbissladen hinüber, der meinem Vater gehörte. Ich sah durch das Fenster und entdeckte ihn sofort. Sein Haar war noch grauer geworden in den letzten Monaten und sein Bart war ein ganzes Stück länger. Ganz offensichtlich war mein Testergebnis auch für ihn ein Schock gewesen und hatte ihm jede Menge neuer Falten beschert.

Als ich eintrat, kam mir sofort der Geruch nach Bratfisch entgegen, den ich seit meiner Kindheit mit ihm in Verbindung brachte. Ein Glöckchen erklang und alle Leute in dem kleinen Laden sahen zu mir. Alle, bis auf meinen Vater, der gerade dabei war, eine Ladung Pommes frites aus der Fritteuse zu holen.

Ich räusperte mich. „Hallo, Dad.“

Sein Kopf fuhr hoch, sein Mund klappte auf und ein paar Pommes fielen von einem Teller auf den Boden.

„Hope?“, fragte er überrascht.

„Das hoffe ich doch“, sagte ich mit einem Grinsen.

Mein Vater stellte die Pommes zur Seite, kam um die Theke herum und zog mich in eine lange Umarmung. Er war nicht viel größer als ich, aber so kräftig, dass er mir fast die Rippen brach.

Lucky, die nicht verstand, was los war, begann aufgeregt zu bellen und hüpfte um uns herum.

„Dad. Du erdrückst mich“, protestierte ich.

„Tut mir leid“, sagte er, ließ mich los und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Ich bin nur so froh, dass du hier bist. Du siehst gut aus. Zufrieden. Das freut mich. Hast du vor, zu bleiben?“

Er sah auf mein Gepäck und ich nickte.

„Die nächsten Monate schon“, erwiderte ich. „Ich möchte wieder studieren und hatte gehofft, ich könnte ein paar Wochen bei dir wohnen, bis ich was Eigenes gefunden habe.“

„Natürlich, Liebling. Alles, was du willst. Ich bin so froh, dass du wieder da bist. Ich habe sogar deine alte Schrottkarre noch.“

„Wirklich?“, fragte ich. „Ich dachte, du wolltest sie verkaufen.“

Er zuckte mit den Schultern. „Habe ich auch versucht, aber niemand wollte ihn haben. Also hab ich mir gedacht, was soll’s. Er steht im alten Schuppen.“

„Funktioniert er noch?“

Mein Vater zog eine Grimasse. „Ich fürchte, er braucht eine Generalüberholung, aber ich bin optimistisch, dass der alte Bob das wieder hinkriegt. Hast du nachher Lust, mal wieder eine Runde Schach zu spielen?“

Als ich klein war, hatten wir häufig gespielt, wenn ich zu Besuch bei ihm gewesen war und es freute mich, dass er es vorschlug. Seit ich mich für die Operation entschieden hatte, hatte sich unser Verhältnis deutlich verbessert und er interessierte sich viel mehr für mich, als er es vorher getan hatte. Offenbar hatte mein Testergebnis ihm klargemacht, wie wertvoll unsere gemeinsame Zeit war.

„Sehr gerne“, sagte ich. „Das haben wir schon viel zu lange nicht mehr getan.“

Lucky bellte und sprang fröhlich an uns hoch.

„Oh. Da ist ja auch wieder der Köter, den du gefunden hast“, sagte mein Vater und tätschelte Lucky den Kopf.

Ich nickte. „Genau. Aber sie ist kein Köter, sondern eine Hundedame.“

„Wie auch immer. Eigentlich mag ich ja keine Hunde in meinem Stübchen, aber für dich mache ich eine Ausnahme. Es wundert mich allerdings, dass du sie herbringst. Hast du gar keine Angst, dass du ihren alten Besitzern über den Weg laufen könntest?“

Ich winkte ab. „Unsinn. Ich habe Lucky nicht in Eastbourne gefunden, sondern fünf Meilen von hier entfernt. Außerdem haben sie sie vor einem Jahr nicht gesucht. Warum sollten sie es dann bitte schön jetzt tun?“

3

2 Wochen später

David

 

Warum bekamen es so viele Läden nicht auf die Reihe, ihre Eingänge behindertenfreundlich zu gestalten? Wie sollte man mit einem Rollstuhl denn bitte schön so eine steile Treppe hochkommen? Ich fasste mir an den Kopf, wo sich wieder mal ein heftiger Kopfschmerz ankündigte und raufte mir die rötlichen Haare. Dann riss ich mich zusammen und setzte für meine kleine Schwester ein Lächeln auf.

„Willst du da hoch? Ich könnte dich tragen“, schlug ich vor, als wir vor dem Eingang von ‚Jefferson Clothes‘ stehenblieben. Es war ein kleines Geschäft mit teurer Markenkleidung, in das Joy früher gerne mit unserer Mutter gegangen war.

Doch Joy schüttelte den Kopf, sodass ihre langen roten Haare hin und her schwangen. „Nein“, entschied sie. „Wenn die keine Rampe haben, dann kaufe ich da nichts. Ich habe sowieso keine Lust, einzukaufen. Hätten wir die Sachen nicht einfach im Internet bestellen können?“

Ich seufzte und schob ihren Rollstuhl weiter. Seit dem schlimmen Unfall vor einem Jahr hatte Joy sich stark verändert. Während sie früher ein fröhliches und selbstbewusstes Mädchen gewesen war, hatte sie sich inzwischen zu einer mürrischen Teenagerin entwickelt, die Gott und die Welt hasste und regelmäßig ihren Körper verfluchte, der nicht mehr so konnte, wie sie das wollte. Mir war klar, dass es einige Jugendliche in ihrem Alter gab, die eine schwierige Phase durchmachten, aber Joy hatte an dem Tag damals nicht nur ihre Mutter und ihren Hund verloren, sondern auch ihre Fähigkeit zu laufen. Und das war mehr, als ein normaler Mensch in seinem Leben verlieren sollte. Ich selbst war bei dem Unfall zwar auch schwer verletzt worden, aber im Vergleich zu meiner Schwester hatte ich kein Recht dazu, mich zu beschweren. Ich konnte gehen und hatte Gefühl in all meinen Gliedmaßen. Das war etwas, das ich immer als Selbstverständlichkeit angesehen hatte. Das hatte sich seit dem Unfall definitiv geändert.

„Natürlich hätten wir dir Klamotten im Internet bestellen können, aber ich fand es wichtig, dass du mal wieder rauskommst“, sagte ich.

„Ganz richtig“, bestätigte auch Suzanna, die neben uns herlief. „Du musst dringend mehr an die frische Luft, Mädchen.“

Suzanna war die Haushälterin auf dem Anwesen meiner Großmutter und kümmerte sich seit dem Unfall hingebungsvoll um meine Schwester. Sie war bereits für uns da gewesen, als wir noch Kinder gewesen waren, aber nie hatte Joy sie so sehr gebraucht wie jetzt.

„Frische Luft bekomme ich auch im Garten“, beharrte Joy. „Immerhin zwingt ihr mich jeden Tag dazu, nach draußen zu gehen.“

Das stimmte. Denn wenn es nach Joy gegangen wäre, dann hätte sie nur noch in ihrem Zimmer gehockt und düstere Bilder gezeichnet. Sie haderte seit dem Unfall mit ihrem Schicksal und wollte partout nicht einsehen, dass ihr Leben sich grundlegend verändert hatte. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie davon ausging, es müsste nur genügend Zeit vergehen, bis sie wieder laufen konnte. Aber die Ärzte hatten uns dahingehend wenig Illusionen gemacht. Sie hatte eine inkomplette Querschnittslähmung erlitten, was dazu führte, dass sie zumindest etwas Gefühl in ihren Beinen hatte und mit Hilfe sogar stehen konnte. Aber Laufen war einfach nicht drin.

„Wie wäre es, wenn wir in den Laden da vorne gehen?“, schlug Suzanna vor und deutete auf ein Geschäft, das nur ein paar Schritte weiter lag.

Doch Joy schüttelte den Kopf. „Nein. Da gibt es nur Billigsachen. Wenn, dann will ich was Teureres haben.“

Dazu sagte ich nichts. Joy hatte es immer schon geliebt, das Geld unseres Vaters auszugeben und seit dem Unfall setzte er ihr auch kein Limit mehr, was das anging.

„Dann vielleicht der nächste?“, fragte Suzanna. „Da gibt es Kleidung von Ralph Lauren.“

Joy zuckte nur lustlos mit den Schultern und ich nickte Suzanna zu.

In der Innenstadt von Eastbourne gab es viele kleine Sträßchen, in denen die Touristen einkaufen konnten. Ich schob meine Schwester über das Kopfsteinpflaster und bog dann mit ihr zusammen in den Laden ein. Es war schnell zu erkennen, dass wir hier richtig waren, denn die teure Kleidung passte genau zu dem, was meine Schwester oder ich für gewöhnlich trugen.

„Ich werde mich auch ein bisschen umsehen“, sagte ich und Suzanna übernahm gleich den Rollstuhl. Sie schob Joy durch den Laden, während ich nach ein paar Sachen für den Frühling Ausschau hielt. Es wurde jeden Tag wärmer und bald brauchte ich keine Winterjacke mehr.

 Ich ging nicht gerne einkaufen, aber ich hatte unserem Vater versprochen, mit Joy shoppen zu gehen, bevor wir uns später zum Mittagessen trafen. Als ich sah, wie Suzanna Joy ein Outfit nach dem anderen zeigte, musste ich schlucken.

Joy war mit ihren vierzehn Jahren sieben Jahre jünger als ich und ich hatte mein Leben lang auf sie aufgepasst. Eine meiner prägendsten Erinnerungen war der Moment, in dem mein Vater mir das Baby auf den Schoß gelegt und zu mir gesagt hatte: „Das ist deine kleine Schwester, David. Du musst immer auf sie aufpassen. Deine Mum verschwindet ab und zu in ihrer eigenen Welt, also ist es umso wichtiger, dass du für deine Schwester da bist.“

Damals hatte ich noch nicht geahnt, wie Recht mein Vater haben würde, was meine Mutter anging und jedes Mal, wenn ich an den schlimmen Unfall dachte, bei dem sie ums Leben gekommen war, schwankte ich zwischen Wut und Verzweiflung. Am schlimmsten waren allerdings die Schuldgefühle, die ich nie ganz unterdrücken konnte, egal wie sehr ich es auch versuchte.

Doch ich schob die trüben Gedanken fort und ging lieber zurück zu meiner Schwester.

„Schau mal“, sagte Suzanna gerade zu Joy und deutete auf ein kurzes Kleid. „Das wäre doch was für den Sommer.“

Joy schüttelte den Kopf. „Ich trage keine Kleider mehr“, beharrte sie. „Aber ich nehme ein paar von den Ohrringen da vorne. Und die teuersten Shirts, die wir finden.“

„Joy …“, begann ich. „Nur, weil Dad gesagt hat, dass du dich austoben darfst, heißt das noch lange nicht …“

„Du wolltest doch unbedingt, dass ich einkaufen gehe“, fauchte sie. „Das tue ich hiermit.“

Mir war klar, dass ich meine Schwester stoppen sollte. Sie würde vermutlich jede Menge Sachen kaufen, die sie überhaupt nicht brauchte, nur um zu verhindern, dass ich sie noch einmal in die Innenstadt schleppte. Sie wollte unseren Vater dafür bestrafen, dass er seit dem Unfall so überfürsorglich war und ein bisschen konnte ich das sogar verstehen. Seit sie im Rollstuhl saß, durfte sie nicht mehr zur Schule gehen, sondern wurde privat unterrichtet. Außerdem konnte sie nicht mehr reiten, und das war vermutlich das Schlimmste von allem.

Ich sah zu, wie Joy ein Shirt nach dem anderen abnickte und danach noch einige Hosen und Schuhe aussuchte.

Die Rechnung würde sicherlich weit über tausend Pfund betragen, aber es war immerhin nicht so, als würde unser Vater sich das nicht leisten können. Also sagte ich nichts dazu und suchte mir stattdessen selbst noch ein paar Poloshirts heraus. Immerhin konnte man nie wissen, wann es endlich wieder wärmer wurde und wer wusste schon, was der Frühling noch bringen würde.

4

Hope

 

„Einen grünen Smoothie, einen Salat und eine Möhre in einer Schale, bitte“, sagte ich zu dem Kerl hinter der Theke und wurde schräg angeguckt.

Der Typ war eindeutig neu, sonst wäre er an meine komischen Bestellungen schon gewöhnt. Immerhin war ich in den letzten zwei Wochen fast jeden Tag hier gewesen.

„Die Möhre ist für meinen Hund“, erklärte ich und deutete auf Lucky, die neben mir saß und den Kopf schief legte, was unglaublich niedlich aussah.

„Du gibst deinem Hund Möhren zu essen?“, fragte der junge Mann an der Theke und ich zuckte mit den Schultern.

Er sah nicht schlecht aus. Sein Gesicht wirkte jungenhaft, er trug einen dieser neumodischen Bärte und hatte sein langes Haar zu einem Dutt aufgetürmt.

„Warum nicht? Lucky mag sie gerne und in diesem veganen Laden habt ihr ja bestimmt kein Fleisch für den Hund, oder?“

Der Kerl schüttelte den Kopf. „Nein. Aber ich wusste gar nicht, dass Hunde sowas mögen.“

„Lucky mag fast alles an Obst und Gemüse. Nur mit Salat kann man sie jagen. Okay. Sowas wie Knoblauch oder Chili würde ich ihr natürlich auch nie geben. Aber ansonsten ist sie nicht wählerisch.“

„Mag sie Bananen?“, fragte der Typ und hielt besagte Frucht in die Höhe.

„Sehr gerne sogar“, erwiderte ich und nahm sie entgegen. „Danke schön. Was macht das?“

„Die Banane geht aufs Haus. Für den Rest bekomme ich sieben Pfund.“

Ich kramte in meiner Tasche und kippte kurzerhand mein Kleingeld vor ihm aus.

„Oha. Hast du einen Obdachlosen überfallen?“, fragte der Kerl und ich errötete.

„Unsinn.“ Ich deutete auf die Gitarre, die ich immer bei mir trug. „Ich bessere mein Konto mit Straßenmusik auf.“

Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Wirklich? Du machst Musik auf der Straße? Wo stehst du denn? Ich würde dich gerne mal spielen hören.“

Ich lächelte. „An der All Saints Church. Da ist immer was los und die Leute sind spendabler, als man denkt. Komm doch gerne mal vorbei. Ich würde mich freuen.“

Das meinte ich ernst. Der Kerl sah gut aus und war mir auf Anhieb sympathisch. Das waren schon mal gute Voraussetzungen.

„Cool. Ich bin übrigens Nate. Und du?“

„Hope.“

„Ein schöner Name.“

„Danke. Ich mag ihn auch sehr. Er erinnert mich daran, dass nach jedem Gewitter auch irgendwann die Sonne wieder hervorkommt.“

„Klingt gut. Hier ist dein Salat. Den Smoothie bringe ich dir gleich an den Tisch.“ Nate reichte mir einen Teller und ich bedankte mich artig.

Dann ging ich mit Lucky zu einem der Tische und schälte die Banane.

„Warte, Mäuschen“, sagte ich, weil Lucky bereits aufgeregt auf und ab hüpfte und sich ungeduldig im Kreis drehte.

Sie war so ein Wirbelwind und seit ihre Pfote wieder verheilt war, schaffte ich es kaum, sie ruhig zu halten.

Ich gab ihr ein Zeichen, woraufhin sie sich auf die Hinterbeine setzte und die Vorderpfoten in die Luft hob. Es sah einfach zu drollig aus. Ich brach ein Stück von der Banane ab und warf es ihr zu. Sie fing es in der Luft auf und fraß es.

„Sehr gut“, sagte ich und streichelte ihr über den Kopf, bevor ich ihr mehr von der Banane gab und ihr danach die Möhre hinlegte.

Erst als Lucky versorgt war, wandte ich mich meinem Salat zu. Ich hatte nach dem Testergebnis beschlossen, meine Ernährung komplett umzustellen und versuchte seither, Zucker und Weizenmehl zu vermeiden. Meistens ernährte ich mich zusätzlich vegetarisch, obwohl ich das nicht immer durchziehen konnte. Ab und zu genehmigte ich mir einen Cheat Day und aß alles, worauf ich Lust hatte.

In dem Moment kam Nate dazu und stellte mir den Smoothie mit Obst und Gemüse vor die Nase.

„Hier“, sagte er und grinste. „Gute Wahl übrigens. Den mit Blaubeeren und Ingwer mag ich auch am liebsten.“

Ich lächelte zurück. „Danke schön.“

„Ich muss leider wieder hinter den Tresen, aber vielleicht sehen wir uns mal wieder.“

„Das würde mich freuen“, sagte ich. „Bis dann, Nate.“

„Bis dann, Hope und kleiner Hund, dessen Namen ich nicht weiß.“

„Lucky.“

„Wie bitte?“

„Ihr Name ist Lucky?“

Nate lachte. „Lucky und Hope. Glück und Hoffnung. Da kann ja eigentlich nichts mehr schiefgehen bei euch, oder?“

Er winkte noch einmal und ging dann zurück hinter den Tresen, während ich weiter meinen Salat aß und ihn mit einem Lächeln auf den Lippen beobachtete. Er war mir sympathisch und ich hoffte, dass er sein Versprechen noch wahr machen und mal bei mir vorbeischauen würde.

Es würde mich definitiv freuen, denn seitdem ich zurück war, hatte ich nicht versucht, wieder Kontakt zu meinen alten Freunden aufzunehmen. Die waren nämlich alle entweder mit Faith oder mit Samuel befreundet und ich hatte keine Lust, als das arme betrogene Mädchen bemitleidet zu werden, das ich ja leider auch war. Bisher war ich noch keinem meiner alten Bekannten begegnet, aber das würde sich vermutlich ändern, sobald die Uni wieder begann.

Aber solange ich mich von der Mensa fernhielt, würde es schon gehen. Es waren ja ohnehin nur noch ein paar Monate, dann hatte ich meinen Abschluss als Physiotherapeutin in der Tasche und konnte gehen, wohin auch immer ich wollte. Zusammen mit Lucky. Das war im Grunde das Wichtigste.

5

David

 

„Das hat aber ganz schön lange gedauert“, nörgelte Joy, als Suzanna mit ein paar dampfenden Bechern aus einem Café zurückkam.

„Tut mir leid, aber es war einiges los“, sagte Suzanna und reichte uns je einen Becher.

„Vielen Dank”, sagte ich und roch an dem Getränk. Ich liebte den Geruch von frischem Kaffee.

Ich nahm einen Schluck und wärmte mir die Hände an dem Becher. Etwas Warmes im Bauch tat gut, da die Temperaturen immer noch bei circa zehn Grad lagen.

„Hmmm“, machte auch Joy, die nach der ausgiebigen Shoppingtour etwas zufriedener wirkte. „Cappuccino ist mein Lebenselixier.“

Ich grinste. „Stell dir mal vor, es gäbe keinen Kaffee und …“

„Stopp“, unterbrach meine Schwester mich. „Über sowas macht man keine Scherze.“

Suzanna lachte. „David ist doch genauso verrückt nach Kaffee wie du. Er würde vermutlich schneller Amok laufen als alle anderen.“

„Stimmt“, gab ich zu. „Ein Tag ohne Kaffee ist kein Tag, sondern Folter.“

„Der Kaffee schmeckt aber nicht so gut wie der von zu Hause“, nörgelte Joy.

„Kein Wunder. Da gibt es ja auch eine High-Tech-Kaffeemaschine.“

„Das ist ein Kaffeevollautomat“, berichtigte ich Suzanna. „Aber ja. Das Zeug ist der Hammer.“

Suzanna lächelte milde. „Ich bin froh, dass ich mich nie an Kaffee gewöhnen konnte. Das klingt ganz so, als wärt ihr beide süchtig.“

„Ein Cappuccino am Tag ist noch lange keine Sucht“, sagte Joy. „Du bist dafür süchtig nach Schokolade.“

 „Touché.“ Suzanna hob ihren Becher mit Kakao und prostete meiner Schwester zu. Ihre miese Laune schien sie überhaupt nicht zu stören.

„Wo wollen wir als Nächstes hin?“, fragte ich und registrierte, dass sich ein paar Meter weiter eine Traube von Menschen gebildet hatte.

„Nach Hause“, erwiderte meine Schwester. „Ich hab’ keinen Bock mehr.“

Ich verdrehte innerlich die Augen. „Das geht nicht“, stellte ich klar. „Wir treffen uns nachher noch mit Dad zum Mittagessen. Schon vergessen?“

„Nein. Aber darauf habe ich auch keine Lust. Ich will viel lieber weiter zeichnen.“

„Das kannst du nachher machen. Heute ist Mittagessen angesagt. Du weißt, wie selten Dad Zeit für sowas hat.“

Unser Vater arbeitete viel. Er war Anwalt und verwaltete zusätzlich die zahlreichen Ländereien und Besitztümer der Familie Beaufort. Doch er gab sich immer Mühe, sich ab und an Zeit für Joy und mich zu nehmen.

„Wir könnten auch einfach hier bleiben und die Sonne genießen“, schlug Suzanna vor. „Sobald euer Vater kommt, lasse ich euch allein.“

„Was auch immer“, sagte Joy und zog ihr Smartphone hervor. Wenn sie nicht zeichnete, dann war sie am Handy. Offenbar wollte sie immer über alles, was ihre alten Freundinnen taten, auf dem Laufenden sein. Nur hatte sie sich komischerweise seit dem Unfall nicht mehr mit ihnen getroffen und ich fragte mich, ob sie überhaupt mit ihnen kommunizierte oder sie nur bei TikTok, Snapchat und Instagram stalkte.

Ich zückte ebenfalls mein Handy und schrieb unserem Vater eine Nachricht, dass wir auf dem Kirchplatz der All Saints Church waren. Dann sah ich zu der Gruppe Leute, die sich ein paar Meter weiter gebildet hatte.

„Was ist denn da vorne los?“, fragte ich und deutete in die Richtung.

Joy zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Bestimmt nur irgendein langweiliger Straßenkünstler. Es wird wärmer. Da kommen die doch alle aus ihren Löchern und machen Pantomime oder sowas.“

Wie auf Kommando ertönten die ersten Klänge einer Gitarre und ich ging neugierig auf die Menge zu. Suzanna und Joy folgten mir. Ich war einen Meter neunzig groß und überragte somit die meisten der Menschen. Daher konnte ich das Mädchen gut sehen, das mit ihrer Gitarre vor einer Hauswand stand.

Sie war mit ihrem Outfit alles andere als unauffällig. Sie trug eine knallrote Jacke und eine gelbe Pudelmütze, unter der ihre blonden Haare hervorquollen. Sie war nicht geschminkt und wirkte ein wenig blass. Trotzdem fand ich sie hübsch, doch das war nichts im Vergleich zu ihrer Stimme, denn als sie anfing zu singen, bekam ich eine Gänsehaut.

Sie sang ‚Stitches‘ von Shawn Mendes und Hailee Steinfeld und ihre Stimme ging mir sofort durch Mark und Bein. Sie berührte mich auf eine Art, die ich nicht erwartet hatte.

„Nicht schlecht“, sagte Joy zu meiner Überraschung. „Ich kann nichts sehen. Bring mich näher ran.“

Es war kein Wunder, dass sie nichts sehen konnte. In ihrem Rollstuhl waren ihr vermutlich die Beine der anderen Leute im Weg. Also schob ich Joy nach vorne und Suzanna bat die Leute, etwas Platz für den Rollstuhl zu machen.

Als wir in der ersten Reihe ankamen, konnte ich das Mädchen mit der Gitarre noch besser erkennen.

Ich schätzte sie auf Anfang zwanzig und je näher ich kam, desto interessanter erschien sie mir. Sie hatte ein Muttermal über der Lippe und wirkte so auf ihren Song konzentriert, dass sie kaum etwas um sich herum wahrzunehmen schien.

Sie sang voller Inbrunst und öffnete nur dann die Augen, wenn jemand sich näherte, um Geld in ihren Gitarrenkoffer zu werfen. Mein Herz schlug schneller, als sie weiter sang und jedes ihrer Worte traf mich bis tief ins Innerste. Wahnsinn. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich hatte schon häufig Livemusik gehört, aber noch nie hatte mich die Stimme eines Menschen derart berührt. Es war, als würde dieses Mädchen mir ihre Seele offenbaren.

„Schaut mal, wie niedlich“, rief in diesem Moment Suzanna und deutete nach vorne.

Nur am Rande nahm ich wahr, was sie meinte. Ein Hund tanzte zu dem Lied im Kreis. Es war ein struppiger Terrier mit rotem Halsband. Er machte Kunststückchen, lief auf den Hinterpfoten herum oder rollte sich über den Boden. Passend zur Musik hatte man ihm offenbar einige Dinge beigebracht und die rasselte der Hund herunter wie ein Vollprofi, sodass immer mehr Leute stehenblieben und zusahen. Als die Gitarristin das Lied beendet hatte, nahm der Hund einen kleinen Eimer ins Maul und ging herum. Er lief mit Vorliebe zu den Kindern und machte vor ihnen Männchen, sodass die meisten ihre Eltern regelrecht anbettelten, dem Hund etwas Geld geben zu dürfen. Viele ließen sich erweichen, sodass innerhalb kurzer Zeit eine nette Summe Geld zusammenkam.

Auch ich zückte mein Portemonnaie, da ich dem Mädchen mit der Gitarre ebenfalls etwas Gutes tun wollte. Doch als der Hund uns erreichte, stieß Joy neben mir plötzlich einen Schrei aus.

 „Carla?“, rief sie fassungslos. „Das ist doch nicht möglich. Carla!“

Ich riss die Augen auf und verstummte, als ich sah, wie der Hund mit den braunen Ringen um die Augen innehielt und die Ohren spitzte. Sein ganzer Körper war angespannt und er reckte die Nase in die Luft, bis er den Geruch von Joy wahrnehmen konnte.

Im nächsten Moment ließ er den Eimer fallen, rannte wie ein Blitz auf Joy zu, sprang ihr auf den Schoß und schleckte ihr wie verrückt das Gesicht ab.

Joy lachte; ein Laut, den ich ewig nicht mehr bei ihr gehört hatte, während ich selbst sie nur verständnislos anstarrte. Das sollte Carla sein? Unmöglich. Carla war vor einem Jahr verschwunden und dieser Hund hier gehörte dem Mädchen mit der Gitarre. Oder nicht?

Mein Blick wanderte zu der Fremden. Doch statt Überraschung stand ihr der Schock ins Gesicht geschrieben und das deutete darauf hin, dass Joy sich nicht geirrt hatte. Dieser Hund war Carla und ganz offenbar war sie im letzten Jahr bei dem Mädchen mit der schönen Stimme gewesen. Aber wie um Himmels willen war das überhaupt möglich?

6

Hope

 

Dad hatte Recht gehabt. Ich hätte wegbleiben sollen. Das wurde mir jetzt bewusst, als ich sah, wie Lucky dem Mädchen immer wieder durchs Gesicht leckte.

Nach knapp einem Jahr, in dem ich kein Wort von Luckys alten Besitzern gehört hatte, hatte ich mich in Sicherheit gewiegt und war nach Eastbourne zurückgekehrt. Ein Fehler, wie sich jetzt herausstellte. Ich hätte nach Amerika oder nach Neuseeland gehen sollen. Ja. Neuseeland wäre gut. Hauptsache weg von hier. Warum hatte ich das nicht getan? Eastbourne war viel zu nah an den Seven Sisters.

Doch jetzt war es zu spät für diese Erkenntnis. Das, was niemals hätte passieren dürfen, war eingetroffen. Luckys Besitzerin war hier. Die Jugendliche mit den roten Haaren und den schicken Klamotten saß in einem Rollstuhl und schien sich riesig darüber zu freuen, Lucky wiederzusehen.

Sie würde mir meinen Hund wegnehmen und ich hatte keine Ahnung, was ich dagegen tun sollte. Das war der schlimmste Tag in meinem Leben.

„Carla! Carla!“, rief das Mädchen immer wieder und streichelte Lucky. „Wie ist das möglich? Wie kann das nur sein? Ich dachte, du wärst tot.“

Fragend sah sie zu dem Typen neben sich, der genauso schick gekleidet wie sie und offenbar ziemlich durcheinander war.

„Ich … es tut mir leid, Joy“, hörte ich ihn sagen. „Ich habe dir damals nicht ganz die Wahrheit gesagt. Carla ist bei dem Unfall nicht gestorben, sondern wurde aus dem Auto geschleudert und ist verschwunden. Aber da man sie nicht gefunden hat, bin ich davon ausgegangen, sie wäre tot.“

„Was? Du hast mich angelogen?“ Das Mädchen wirkte kurz verärgert, aber dann überwog offenbar die Wiedersehensfreude. „Unglaublich. Aber Hauptsache, Carla ist wieder da und ich muss sie nie mehr loslassen.“

Sie drückte Lucky eng an sich und mir wurde ganz schlecht, als ich das sah. Das durfte doch nicht wahr sein.

Der Typ neben Luckys Besitzerin sah auf und ich blickte in strahlend blaue Augen, die durch sein rötliches Haar sogar noch hervorgehoben wurden. Nur am Rande nahm ich wahr, dass er unglaublich gut aussah. In einer anderen Situation hätte ich bestimmt seine markanten Gesichtszüge und seine sportliche Figur bewundert, aber im Moment war das vollkommen nebensächlich. Er wollte mir meinen Hund stehlen und das durfte ich auf keinen Fall zulassen.

 „Hi“, sagte er und machte einen Schritt auf mich zu.

Zum Glück verteilten die anderen Leute sich mehr und mehr, denn dieses Gespräch könnte hässlich werden.

„Ich bin David Beaufort“, sagte er und streckte mir die Hand entgegen. „Und du?“

„Ho- Hope Evans“, stotterte ich und starrte seine Hand an, ohne zu wissen, was ich damit tun sollte.

David zog seine Hand zurück und betrachtete mich eingehend. „Hallo, Hope. Hast du dich das letzte Jahr um Carla gekümmert?“

„Um wen?“ Ich war völlig verwirrt und David deutete auf Lucky.

„Um den Hund. Carla.“

„Ihr … ihr Name ist Lucky“, berichtigte ich ihn, doch David schüttelte den Kopf.

„Nein. Ihr Name ist Carla und sie gehört meiner Schwester Joy“, erklärte er und fixierte mich mit seinem Blick, damit ich ihn auch ganz sicher verstand. „Wir haben sie vor anderthalb Jahren von einem Züchter in Brighton gekauft und haben auch die entsprechenden Papiere dafür.“

„Aber …“, begann ich und schüttelte den Kopf, weil ich es nicht wahrhaben wollte. „Das kann nicht sein. Ich habe wochenlang nach Luckys Besitzern gesucht. Sie wurde ausgesetzt und niemand wollte sie haben.“

 „Wir haben sie nicht ausgesetzt“, widersprach David vehement und schüttelte den Kopf. „Es … gab einen Unfall. Carla wurde dabei aus dem Auto geschleudert und wir dachten … wir dachten, sie wäre tot. In den ersten Wochen lag meine Schwester Joy im Koma und auch ich war schwer verletzt. Wir hatten zu dem Zeitpunkt also anderes zu tun, als nach Carla zu suchen. Als es Joy endlich besser ging, haben wir beim Tierheim angerufen, aber dort war kein Hund abgegeben worden, auf den die Beschreibung passte.“

Oh Gott. Das erklärte einiges. Tränen stiegen mir in die Augen.

 „Aber …“, begann ich. „Man sagte mir, ich könne den Hund behalten. Niemand hat sich gemeldet. Sie gehört jetzt mir!“

Als hätte sie das gehört, kam in diesem Moment Lucky an, hüpfte fröhlich um mich herum und dann wieder zu dem Teenagermädchen, das offenbar Joy hieß. Lucky schien völlig aus dem Häuschen zu sein und sprang wieder auf den Schoß der jungen Rollstuhlfahrerin.

„Ich kann nicht glauben, dass sie wieder da ist“, sagte Joy und strahlte mit der Sonne um die Wette. „Ich dachte, ich würde sie nie wiedersehen, aber jetzt habe ich sie zurück.“

Schmerz fuhr durch meinen Körper und mir wurde übel. Das durfte doch alles nicht wahr sein.

David seufzte und sah von seiner Schwester zu mir.

„Joy. Das ist Hope. Sie ist Carlas neue Besitzerin.“

Joy erbleichte. „Aber … was soll das heißen? Carla gehört doch immer noch mir!“

David rieb sich nachdenklich das Kinn. „Rein rechtlich schon, nehme ich an, aber … bist du sicher, dass du sie zurückhaben willst?“

„Natürlich will ich sie zurück!“, rief das Mädchen empört. „Mum hat sie mir geschenkt! Und wenn ich schon nicht mehr reiten kann, dann will ich wenigstens meinen Hund zurück.“

„Ich weiß. Aber … Wie es aussieht, hat Carla jetzt ein neues Frauchen.“

Ich nickte schnell. „Das stimmt. Lucky gehört mir und ich liebe sie von ganzem Herzen.“

„Aber ich doch auch!“, rief Joy. „Nur, weil du sie gefunden hast, kannst du sie noch lange nicht behalten!“

„Aber … aber sie hängt an mir.“

„Und warum hat sie sich dann so über mich gefreut? Ganz offensichtlich will sie bei mir sein!“

Das war ein Argument, das ich schwer entkräften konnte. Lucky war generell ein fröhlicher Hund und freute sich über die meisten Menschen, aber dieses Mädchen schien sie tatsächlich in guter Erinnerung zu haben.

„Wie wäre es, wenn wir herausfinden, wo der Hund leben möchte?“, schlug die ältere Frau vor, die dabei war. Ich ging nicht davon aus, dass sie Joys Mutter war, denn sie hatte deutlich dunklere Haut und war komplett anders gekleidet. Eher wie eine Angestellte. Trotzdem schien sie etwas zu sagen zu haben und mein Herz schlug bei dem Vorschlag höher.

Das war eine gute Idee. Ich wusste, wie sehr Lucky mich liebte und war sicher, dass sie bei mir sein wollte.

„Und wie soll das gehen, Suzanna?“, fragte David skeptisch. „Wir können Carla ja wohl kaum fragen, bei wem sie leben möchte, oder?“

Suzanna schüttelte den Kopf. „Nein. Aber man könnte Carla in die Mitte setzen und dann gleichzeitig rufen. Je nachdem, wohin sie läuft, haben wir unsere Antwort.“

„Einverstanden“, sagte ich. „Das klingt fair.“

Joy nickte ebenfalls. „Also gut. Dann los.“

„Ich halte das für keine gute Idee“, sagte David. „Carla ist ein Hund und Hunde können nicht selbst entscheiden, wo sie leben möchten.“

„Hab doch mal mehr Vertrauen in Carla“, sagte Joy beleidigt. „Ich bin sicher, dass sie weiß, wo sie hingehört. Schau doch, wie sie sich über mich gefreut hat. Sie erinnert sich an mich und sie weiß genau, dass sie früher heimlich in meinem Bett schlafen durfte. Ich bin sicher, dass sie zu mir kommen wird.“

Ich schluckte, weil ich nun plötzlich Bedenken hatte, was Lucky tun würde. Hatte sie dieses Mädchen lieber als mich? Oder reichte die Zeit, die wir zusammen verbracht hatten, um sie auf mich zu prägen? Eher widerwillig gab ich sie an die ältere Frau ab, die sie ein paar Meter weiter trug.

„Also gut“, rief Suzanna. „Joy. Komm du hier rüber. Und Hope da rüber.“

Sie deutete nach rechts und ich nahm meinen Platz ein, während Joy mit ihrem Rollstuhl auf die andere Seite fuhr. Wir waren nun beide ungefähr fünf Meter von Lucky entfernt und erneut waren einige Passanten stehengeblieben, um das Schauspiel zu beobachten. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals.

„Sobald ich den Arm hebe, ruft ihr beide den Hund“, sagte Suzanna.

Ich schwitzte und fühlte die Angst in mir hochkriechen. Lucky musste zu mir kommen. Sie musste einfach. Etwas anderes war undenkbar und ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte, falls sie es nicht tat.

Ich sah, wie Suzanna in der Mitte Lucky losließ und eine Hand in die Höhe hob.

„Lucky!“, rief ich im selben Moment, wie Joy „Carla!“ schrie. Beide riefen wir immer wieder und versuchten, den Hund zu uns zu locken.

„Komm, Lucky. Komm“, rief ich, ging in die Hocke und klatschte die Hände auf die Oberschenkel. „Komm zu mir, mein Liebling!“

Für gewöhnlich wäre Lucky in so einem Moment sofort zu mir geflitzt und mir in die Arme gesprungen. Doch heute war alles anders.

„Carla!“, rief Joy gleichzeitig und wurde offenbar ungeduldig. „Komm sofort her! Hierhin!“

Lucky rührte sich nicht. Sie spitzte die Ohren und sah abwechselnd von mir zu Joy, als wüsste sie nicht, was sie tun sollte. Offenbar verunsicherte Joys strenger Tonfall sie, weil sie als Welpe darauf trainiert worden war, darauf zu hören. Es war herzerweichend. Als wir sie immer weiter riefen, schien sie den Druck nicht mehr zu ertragen, denn sie verkroch sich unter Suzannas Beinen, die immer noch in der Hocke saß.

Ein kollektives „Oooooh“ der Zuschauer ertönte und mir liefen ein paar Tränen über die Wangen. Lucky war zwar nicht zu mir gekommen, aber auch nicht zu Joy. Es war also immer noch alles offen.

„Das ist unentschieden“, rief einer der Zuschauer.

„Ja. Unentschieden“, fügte ein anderer hinzu.

Besonders hilfreich war das allerdings nicht.

„Ach ja?“, fragte David aufgebracht, der das offenbar genauso sah. „Und was sollen wir jetzt Ihrer Meinung nach tun? Den Hund in zwei Hälften teilen?“

Ein älterer Mann mit Schnurrbart lachte. „Das wäre zumindest fair.“

Sofort erhielt er einen Schlag seiner Frau gegen die Brust.

„Was denn?“, fragte er.

„Sag sowas nicht“, zischte sie.