Tausend Farben der Liebe - Hannah Siebern - E-Book
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Hannah Siebern

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Beschreibung

Nells ganze Welt ist bunt, denn sie hat Synästhesie. Sie sieht Töne, Zahlen und Personen in Farben, und liebt fröhliche Klamotten. Doch als sie in der neuen WG auf Zac trifft, ist sie schockiert. Denn der junge Mann sieht mit seinen Tattoos und der düsteren Kleidung nicht nur gefährlich aus, sondern er wirkt für Nell so tiefschwarz wie sie es bisher erst einmal gesehen hat. Und zwar am dunkelsten Tag ihres Lebens. Am liebsten würde Nell Zac nie wiedersehen, doch ausgerechnet er besucht an der Kunsthochschule einen ihrer Kurse. Da hilft nur eins. Entweder muss sie das Seminar wechseln oder dafür sorgen, dass mehr Farbe in Zacs Leben kommt. Doch wie zwingt man jemanden zu seinem Glück, der sich mit aller Macht dagegen sträubt? „Tausend Farben der Liebe“ ist ein in sich abgeschlossener New Adult - Liebesroman

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TAUSEND FARBEN DER LIEBE

HANNAH SIEBERN

Copyright © 2020 by Hannah Siebern

All rights reserved.

No part of this book may be reproduced in any form or by any electronic or mechanical means, including information storage and retrieval systems, without written permission from the author, except for the use of brief quotations in a book review.

Deutsche Erstausgabe 03/2020

© Hannah Siebern

Am Vogelbusch 18

48301 Nottuln

Lektorat/Korrektorat: Nadine D’Arachart und Sarah Wedler

Satz: Hannah Siebern

Impressum

Hannah Siebern 48268 Greven

ISBN: 9783757965648

Erstellt mit Vellum

INHALT

Über den Autor

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Epilog

Danksagung

Bücher von Hannah Siebern

ÜBER DEN AUTOR

Hannah Siebern wurde 1986 in Münster (NRW) geboren und studierte an der Uni Dortmund Erziehungswissenschaft. Geschichten schrieb sie schon als Kind leidenschaftlich gerne. Ihre ersten Werke handelten von fiktiven Abenteuern, die sie mit ihren Freundinnen erlebte. Jahre später entdeckte sie dann ihre Liebe zu Fantasyromanen und schrieb mit 23 ihr erstes komplettes Buch. Inzwischen schreibt sie in verschiedenen Genres und ist immer mit ganzem Herzen dabei.

Sie lebt mit ihrem Freund und ihrem Hund in der Nähe von Münster (NRW) und arbeitet schon wieder an ihrem nächsten Romanprojekt.

Foto: Guido Karp www.p41d.com

www.hannahsiebern.de

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PROLOG

Nell

„Welche Farbe hat die Liebe?“, fragte mein Bruder Leon und legte die Stirn in Falten.

„Hm“, machte ich.

Wir lagen zusammen auf der Wiese in unserem Garten und sahen in den Himmel. Dieses Spiel spielten wir schon, solange ich denken konnte und es machte mir viel Spaß. Das würde es bestimmt immer tun. Auch wenn wir mal groß wären.

Welche Farbe hatte die Liebe? Die meisten Leute würden bestimmt rot sagen. „Rot wie die Liebe“. Herzen waren meistens rot oder rosa. Zumindest malten die Kinder im Kindergarten sie immer so. Aber für mich sah die Liebe anders aus.

„Für mich ist die Liebe bunt“, erklärte ich und nickte bekräftigend. „Je nachdem, zu wem, sieht sie anders aus. Die Liebe zu Mama ist eher grün. Die zu Papa ist orange und meine Liebe zu dir ist ganz klar blau. Aber das Wort Liebe ist für mich bunt. In allen Farben des Regenbogens. Und für dich? Wie schmeckt die Liebe?“

Mein Bruder schloss die Augen. Ich fand es lustig, ihn so konzentriert zu sehen. Er war der Einzige, der das mit den Farben ernst nahm. Er verstand, was ich meinte, weil er selber was ganz Ähnliches konnte. Ich sah Dinge in Farben und er konnte sie schmecken.

„Liebe schmeckt … wie Obstsalat“, sagte mein Bruder und öffnete schließlich die Augen. „Sie schmeckt nach Erdbeeren oder nach Zitronen. Manchmal schmeckt sie auch nach Banane oder nach Apfel. Deine Liebe schmeckt nach Orange und die von Malte nach Kiwi.“

Unser großer Bruder schien sich nie ganz sicher zu sein, ob er uns liebhaben oder hassen sollte. Daher passte das gut. Immerhin waren wir die Bösen. Malte sagte immer, dass es ohne uns viel schöner gewesen war, weil unsere Eltern da noch mehr Zeit für ihn gehabt hatten.

„Was denkst du, welche Farben richtige Liebe hat?“, fragte Leon nachdenklich.

Erstaunt sah ich ihn an. „Was meinst du damit? Richtige Liebe?“

„Na die Liebe, über die immer in den Büchern geschrieben wird. Wie beim Prinz und der Prinzessin. So eine ganz besondere Liebe wie zwischen Mama und Papa.“

Ich richtete mich auf und sah meine Eltern, die einige Meter weiter zusammen im Garten am Frühstückstisch saßen. Meine Mutter beugte sich gerade vor und gab meinem Vater einen Kuss auf den Mund. Zwischen den beiden schienen unzählige Farben zu schillern, die dafür sorgten, dass mir ganz warm ums Herz wurde.

„Sie hat tausend Farben“, sagte ich daher und lächelte glücklich. „Die wahre Liebe hat tausend Farben. Und sie endet nie. Da bin ich mir ganz sicher.“

KAPITEL1

13 JAHRE SPÄTER

Nell

Verdammt. Ich kam zu spät. Dabei war ich im Grunde meines Herzens eine sehr zuverlässige Person.

Eigentlich.

Denn heute sah es leider anders aus. Ich hatte gestern viel zu lange gemalt und dabei Musik gehört. Leider sah man das meinen Händen auch immer noch an.

„Mist, Mist, Mist“, murmelte ich und sprang aus dem Bett.

In Windeseile zog ich mich an und war froh, dass ich mir mein Outfit schon am Vortag zurechtgelegt hatte. Dann putzte ich mir die Zähne und band meine Haare zu einem ordentlichen Zopf. Auf Schminke verzichtete ich sowieso fast immer, was mir heute sehr gelegen kam. Das hätte nun wirklich zu viel Zeit in Anspruch genommen. In der Küche lag ein Zettel von meinem Vater für mich, den ich schnell überflog.

Bin vorausgefahren, stand dort. Wir treffen uns da.

Na, vielen Dank auch. Er hätte mich genauso gut wecken können. Doch mein Vater schien der Meinung zu sein, dass ich alt genug war, um meine Termine selbst zu koordinieren. Da hatte er natürlich recht. Ich war neunzehn und würde bald studieren gehen. Aber ärgern tat es mich trotzdem.

Schlüssel. Wo war mein Schlüssel? Ich suchte verzweifelt die Küche ab, sah ihn aber nicht. Wo hatte ich das doofe Ding nur hingetan?

Der Pieper. Mein Vater wusste genau, wie schusselig ich war und hatte mir daher vor über einem Jahr einen Pieper geschenkt, den ich an meinem Schlüsselbund angebracht hatte und der sich meldete, wenn ich auf dem Handy danach suchte. Mein Handy war zum Glück ein Gegenstand, den ich so gut wie nie verlegte, weil ich es immer sofort in meine Hosentasche steckte.

Schnell zog ich es hervor, drückte auf die entsprechende App und lauschte. Im ersten Moment hörte ich nichts. Zumindest nicht wirklich. Stattdessen sah ich eine leicht rötliche Farbe vor meinem inneren Auge, die jedes Mal erschien, wenn der Pieper ertönte. Die Frequenz war nervtötend. Und während mein Gehör sich nicht sicher zu sein schien, ob es den Ton wirklich wahrnahm oder nicht, waren meine anderen Sinne umso überzeugter. Ich sah eine langgezogene Form vor meinem inneren Auge, die wie ein Halstuch wirkte. Ja. Das war genau der Ton, den ich suchte. Ich folgte dem Gebilde und nun wurde der Ton auch in meinem Ohr lauter. Mein Weg führte mich in die Küche und ich sah mich irritiert um. Hier hatte ich doch schon gesucht. Aber die rote Farbe führte mich ganz klar in Richtung Kühlschrank.

Ich seufzte und öffnete ihn. Tatsächlich. Mein Schlüssel lag neben der Wurst und dem Käse im zweiten Ablagefach. Kopfschüttelnd griff ich danach und stellte den grellen Piepton aus, weil er mich sonst noch um den Verstand bringen würde.

Schnell stopfte ich den Schlüssel in meine Handtasche, schaltete noch das Licht im Flur aus und verließ dann das Haus meines Vaters. Ich freute mich schon riesig darauf, endlich auszuziehen. Es wurde einfach Zeit. Ich liebte meinen Vater zwar, aber in meinem letzten Jahr in Frankreich hatte ich mich von ihm entfremdet. Hinzu kam, dass ich es kaum erwarten konnte, mit dem Studium zu beginnen.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle klingelte mein Handy und ich ging ran.

„Na? Verschlafen?“, fragte mein Zwillingsbruder Leon und ich verdrehte die Augen.

„Nein. Ich habe mir gedacht, ich komme absichtlich zu spät zur Taufe. Bist du schon da?“

„Vor der Tür. Es geht gleich los. Ich wollte nur mal hören, ob es sich lohnt, auf dich zu warten.“

„Wohl kaum. Ich bin gerade erst auf dem Weg zur Bushaltestelle. Ich komme einfach nach.“

„Du könntest auch die Bahn nehmen. Das ginge schneller.“

Ich schluckte und sah zu der U-Bahn-Station, die nur ein paar Schritte weiter lag. Die Treppe in den Untergrund wirkte auf mich ungefähr so einladend wie der Schlund zur Hölle. Daher zog ich das gar nicht erst in Erwägung.

„Keine Chance“, sagte ich. „Da komme ich lieber zu spät. Lina wird das schon verstehen.“

Lina war unsere Cousine und ihr Kind wurde heute getauft. Daher waren selbst meine Brüder aus Frankfurt nach Berlin gekommen, um mit ihr zu feiern. Doch obwohl ich nicht weit weg wohnte, würde ich es nicht pünktlich schaffen. Das war allerdings kein Grund für mich, in eine U-Bahn zu steigen. Züge und jede andere Art von Bahn waren mir ein Graus und ich hielt so viel Abstand von ihnen wie nur möglich.

„Unglaublich, dass du ein Jahr in Paris gelebt hast, ohne dort mit der Metro zu fahren“, bemerkte mein Bruder. „Das ist wirklich nicht normal.“

„Ich weiß. Aber das ist mir egal. In Paris gibt es wunderbare Busse. So habe ich viel mehr von der Umgebung gesehen.“

Leon lachte leise. „Also gut. Ich gehe dann jetzt mal rein und entschuldige dich bei allen. Bis später.“

„Bis später“, sagte ich und ging schnellen Schrittes an der Bahnstation vorbei. In so ein Gefährt würden mich keine zehn Pferde kriegen. Nie wieder. Und wenn ich tausend Mal zu spät kommen sollte.

* * *

„Und ihr beide könnt wirklich Töne fühlen?“, fragte mit Sicherheit schon die dritte Person und ich musste mich zusammenreißen, um nicht die Augen zu verdrehen.

Wohin mein Bruder und ich auch kamen, unsere Synästhesie war immer ein großes Thema.

„Das ist so nicht ganz richtig“, widersprach Leon und sah Frau Drescher nachsichtig an. Sie war die Schwiegermutter unserer Cousine und hatte offenbar von unserer Besonderheit gehört.

„Ich kann Töne schmecken. Nell hingegen kann sie eher sehen, nicht wahr, Schwesterlein?“

Er zwinkerte mir zu und schien froh zu sein, den Kelch an mich weitergeben zu können. Leon war kaum größer als ich, hatte dasselbe braune Haar und die warmen Augen, die wir beide von unserer Mutter geerbt hatten. Generell sah man uns auf den ersten Blick an, dass wir Zwillinge waren.

Seit in der Grundschule bei uns festgestellt worden war, dass wir Synästhesie hatten, gab es kaum einen Tag, an dem wir sie nicht irgendjemandem erklären mussten. Im Kindergarten hatte man es noch für so ein Zwillingsding gehalten. Unsere Erzieherinnen waren davon ausgegangen, dass wir uns die besonderen Sinneswahrnehmungen nur ausdachten, aber eine unserer Lehrerinnen hatte schon von dem Phänomen gehört und unserem Vater geraten, mit uns zum Arzt zu gehen. Nach einigen Tests war nachgewiesen worden, dass wir nicht simulierten. Wir hatten beide Synästhesie, auch wenn sie sich bei uns unterschiedlich äußerte.

„Das stimmt“, bestätigte ich.

„Und wie funktioniert das?“, fragte die ältere Frau.

„Nun. Synästhesie ist ein Phänomen, bei dem Sinne miteinander verknüpft werden, die zwar jeder kennt, aber die normale Menschen unabhängig voneinander empfinden“, zitierte ich den Arzt, der uns damals erklärt hatte, warum wir anders empfanden als die meisten Menschen. „Das kann sich auf unterschiedliche Arten äußern. Und nicht jeder Mensch, der Synästhesie hat, sieht und fühlt dasselbe. Leon und ich sehen zum Beispiel Zahlen farbig. Die Sieben ist für uns beide rot, aber während mein Bruder die Acht in Gelb sieht, ist sie für mich eindeutig blau. Ich habe auch eine Personen-Farb-Synästhesie, das bedeutet, ich ordne Personen automatisch eine bestimmte Farbe zu. Das ist eher selten und Leon hat das nicht.“

„Das ist ja spannend“, sagte die alte Frau. „Und wie äußert sich dieses Syndikat noch?“

„Synästhesie“, korrigierte Leon sie. „Nicht Syndikat. Ein Syndikat ist eine Gruppierung von Personen oder Unternehmen.“

„Lass es gut sein“, sagte ich zu meinem Bruder und lächelte die ältere Frau freundlich an. „Es äußert sich in verschiedenen Bereichen. Unsere Sinne sind auf ungewöhnliche Art miteinander verknüpft, sodass wir zum Beispiel gleichzeitig etwas hören und sehen oder schmecken, obwohl nur ein Sinn angesprochen wurde. Für mich ist der Ton A zum Beispiel rot, ein B blau und ein C grün. Wenn ich eine schöne Melodie höre, dann sehe ich also lauter Farben vor meinem inneren Auge.“

Die ältere Frau mit der Dauerwelle nickte fasziniert und sah dann zu meinem Bruder. „Aha. Und bei Ihnen ist das nicht so, Leon?“

Mein Bruder schüttelte den Kopf. „Nein. Für mich schmeckt ein A nach Tomate, ein B nach Schokolade und ein C nach Hundehaufen.“

Die Frau sah meinen Bruder konsterniert an und wir brachen beide in Gelächter aus.

„Woher willst du denn wissen, wie ein Hundehaufen schmeckt?“, fragte ich und schlug meinem Bruder gegen den Arm. „Keine Sorge. Er veräppelt Sie nur.“

Die alte Dame nickte und nahm einen großen Schluck von ihrem Drink. Dann wandte sie sich von uns ab und suchte sich Gesprächspartner, die sie weniger auf den Arm nahmen. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Immerhin klang diese Vermischung der Sinne für die meisten Leute einfach nach Fantasy und es fiel ihnen schwer zu glauben, dass so etwas wirklich existierte und keine Einbildung war.

„Das war nicht nett“, sagte ich zu meinem Bruder. „Wenn Papa das erfährt, dann …“

„Ach. Papa kommt schon klar. Ich hatte einfach keine Lust auf jedes Mal dieselbe Leier. Findest du es hier nicht auch sterbenslangweilig?“

Er trank einen großen Schluck alkoholfreien Sekt und ich zuckte die Achseln.

„Es geht. Abgesehen von den lästigen Fragen ist es doch eigentlich ganz nett. Es gibt leckeres Essen und gute Livemusik. Allein deswegen bin ich gerne hier.“

Ich lauschte auf die Frau am Klavier und fand es schade, dass ich mich den Sinneseindrücken der Musik gerade nicht hingeben konnte. Immerhin hatte unsere Cousine mich nicht zur Taufe eingeladen, damit ich die ganze Zeit mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl saß und die bunten Bilder genoss, die in meinem Inneren entstanden, wenn ich zuhörte.

„Hm. Schon klar. Ich bin trotzdem froh, wenn das Studium wieder losgeht. Freust du dich auch schon?“

„Und wie.“ Ich strahlte ihn an.

Für mich war es das erste Jahr an der Uni, während Leon bereits ein Jahr dabei war, was ich ziemlich ungerecht fand. Nach dem Abitur hatte mein Vater mich dazu überredet, ein Jahr als Au-pair-Mädchen nach Frankreich zu gehen, während mein Bruder bereits mit dem Studium begonnen hatte.

Am liebsten hätte ich mich damals geweigert, aber mein Vater hatte darauf bestanden, dass mein Bruder und ich Abstand zueinander gewannen. Seiner Meinung nach war es nicht normal, dass Geschwister ein dermaßen enges Verhältnis hatten wie Leon und ich. Meinem Vater gehörte die Wohnung in der Nähe von Frankfurt, in der wir während des Studiums leben konnten und ich hatte Angst gehabt, mir eine eigene Bude nicht leisten zu können. Und da ich wusste, wie wichtig es Leon war, mit dem Studium zu beginnen, war ich gegangen. Allerdings hatte das mit der Entfremdung nicht so gut geklappt, wie mein Vater sich das erhofft hatte, denn Leon und ich hatten trotzdem fast jeden Tag geschrieben oder telefoniert. Und sobald ich zu ihm nach Frankfurt zog, würden wir fast genauso viel Zeit miteinander verbringen wie zuvor. Der Plan meines Vaters, uns voneinander zu trennen, war also grandios gescheitert.

Wir waren ein Herz und eine Seele und ich war sicher, dass das auch immer so bleiben würde.

„Hey. Schwesterchen“, sagte in diesem Moment mein zweiter Bruder Malte und legte mir eine Hand auf die Schulter. Er war einen Kopf größer als ich, blond und braungebrannt. Außerdem wog er mit all seinen Muskeln sicherlich zwanzig Kilo mehr als Leon. „Ein unauffälligeres Outfit hast du in deinem Schrank wohl nicht gefunden, was?“

Ich sah an mir herunter. Ich trug ein pinkfarbenes Etuikleid und dazu eine blaue Strumpfhose und gelbe Schuhe. Möglich, dass es etwas schrill aussah, aber in meinem Kopf hörte es sich harmonisch an und passte absolut zu meinem Gemütszustand.

Da Leon von uns beiden den besseren „Geschmack“ hatte, trug er normale Jeans und dazu ein schwarzes Hemd. Vielleicht tat er das aber auch nur mir zuliebe, da er wusste, dass dunkle Farben meine Sinne weniger durcheinanderbrachten. Mein älterer Bruder Malte hingegen nahm darauf wenig Rücksicht. Er trug zwar auch Jeans, aber dazu ein buntes Hawaiihemd, das so konfus war, dass es mir mit seinen Mustern in den Augen stach. Ich selbst besaß nur einfarbige Kleidung, die ich dann so miteinander kombinierte, dass es sich für mich richtig anhörte. Aber Malte schien so etwas völlig egal zu sein.

„Das sagt der Richtige“, fand auch Leon und deutete auf das bunte Hemd unseres großen Bruders. „Dein Oberteil schmeckt für mich wie Ratatouille. Allerdings keines von der leckeren Sorte.“

Malte zog eine Grimasse. „Ihr zwei seid solche Freaks. Peinlich, dass ich überhaupt mit euch verwandt bin. Wehe, du blamierst mich vor meinen Freunden, wenn du bei mir wohnst, Nell. Es reicht mir, dass ich jedes Mal erklären muss, warum mein kleiner Bruder so seltsam ist.“

Malte war vier Jahre älter als Leon und ich und studierte bereits seit fünf Jahren in Frankfurt Architektur. Eigentlich hätte er schon fast fertig sein müssen, aber da er ständig auf Partys war, anstatt für die Uni zu lernen, hing er ganz schön hinterher.

Da mein Vater nicht einsah, eine weitere Wohnung in Frankfurt zu finanzieren, hatte er Malte dazu gezwungen, seinen Mitbewohner rauszuwerfen, um mir Platz zu machen. Das Ganze würde also in Zukunft eine richtig schöne Familien-WG werden. Mir eine Wohnung mit Leon zu teilen, war für mich überhaupt kein Problem. Das hatten wir ohnehin von Anfang an so geplant gehabt. Aber mit Malte? Würg. Ich liebte meinen großen Bruder. Wirklich. Aber er und seine Freunde waren einfach … anstrengend.

„Keine Sorge. Nell wird sicherlich genauso Abstand zu deinen Kumpels halten wie ich“, versicherte Leon und verschränkte die Arme vor der Brust. „Hauptsache, du machst ihnen klar, dass unsere Schwester für sie tabu ist.“

Malte nahm seinen Arm von meiner Schulter und baute sich vor Leon auf. „Darauf kannst du dich verlassen“, sagte er. „Mag sein, dass es mir gegen den Strich geht, dass ihr bei mir wohnt, aber auf Nell werde ich trotzdem gut achtgeben. Genau wie auf dich.“

Er grinste und Leon verzog den Mund. Er hasste es, von unserem älteren Bruder bevormundet zu werden. Genau wie ich. Immer waren wir in der Familie „die Kleinen“ gewesen und Malte hatte alles früher gedurft als wir. Er hatte länger fernsehen können, hatte auf Partys gedurft, während wir zu Hause bleiben mussten und vor uns ein Handy und einen eigenen Fernseher gehabt. Natürlich war das nicht ungewöhnlich, aber als Kinder hatten Leon und ich uns trotzdem darüber geärgert.

„Danke. Aber ich denke, wir kommen zurecht“, sagte Leon.

„Da sind ja alle meine Kinder“, rief in diesem Moment unser Vater, dem Malte wie aus dem Gesicht geschnitten war. Der einzige Unterschied waren die Falten um die Augen und der leicht ergraute Bart unseres Vaters. „Es ist so schön, euch alle zusammen zu sehen. Und? Meint ihr, dass es mit der Wohnung klappt, ohne dass ihr euch gegenseitig zerfleischt?“

Malte verzog das Gesicht. „Du kennst ja meine Meinung dazu.“

Malte fand, dass Leon und ich besser in der Nähe von unserem Heimatort Berlin hätten studieren sollen, um weiterhin zu Hause zu wohnen. Aber Frankfurt war uns als die bessere Alternative erschienen.

„Wir werden das schon schaffen“, sagte ich. „Ich freue mich sogar darauf.“

„Das solltest du vielleicht besser nicht“, sagte Malte. „Mein Mitbewohner hatte es nicht so mit Ordnung und ich fürchte, dass an deinem Zimmer noch so einiges getan werden muss, bis du einziehen kannst.“

Mein Vater runzelte die Stirn. „Hatte ich nicht gesagt, dass der Kerl das Zimmer ordentlich hinterlassen muss? Hat er das etwa nicht getan?“

„Tja. Du hast Zac einfach so rausgeworfen und jetzt steht er mehr oder weniger auf der Straße. Also darf man wohl nicht allzu viel erwarten.“

„Er sitzt auf der Straße?“, fragte ich geschockt. „Wieso hat er sich denn keine neue Bleibe gesucht.“

„Sagen wir mal, er ist knapp bei Kasse“, erklärte Malte mit einem Schulterzucken. „Und in Frankfurt ist es leider nicht so einfach, eine bezahlbare WG zu finden.“

„Das tut mir leid. Das wusste ich nicht“, sagte ich betrübt.

Doch Leon legte mir eine Hand auf die Schulter. „Keine Sorge. Zac ist taff. Der findet schon was Neues.“

„Das will ich ihm auch geraten haben“, pflichtete mein Vater ihm bei. „Immerhin wusste er lange genug, dass wir das Zimmer brauchen.“

Malte erwiderte nichts, aber ich sah ihm auch so an, dass er unglücklich über die Situation war. Offenbar war er mit diesem Zac befreundet und bedauerte es, dass ich ihm das Zimmer wegnahm. Das machte mir ein schlechtes Gewissen. Ich wollte niemanden vertreiben, aber mein Vater hatte recht. Es war lange genug klar gewesen, dass ich früher oder später einziehen würde. Die Frage war nur, warum dieser Zac es dann bisher nicht geschafft hatte, etwas Neues zu finden. Ob mit ihm irgendetwas nicht stimmte?

KAPITEL2

Zac

Mein Schädel dröhnte, als ich den dritten Treffer hintereinander abbekam und meine Sicht verschwamm leicht, sodass ich die Boxhalle, in der ich mich befand, kaum noch erkennen konnte. Ich sah nur die hellen Lichter, die den Ring beleuchteten und hörte die Anfeuerungsrufe der Zuschauer, die bei dem Fight auf mich und meinen Gegner wetteten.

„Zac! Nicht nachlassen!“, schrie jemand und ich blinzelte.

Mein Bruder stand in meiner Ecke des Rings und feuerte mich an. Er war drei Jahre jünger als ich und hatte genau wie ich die hellbraune Haut unseres Vaters geerbt.

Ein weiterer Schlag traf meinen Oberkörper und ich taumelte zurück. Scheiße. Ich hasste boxen. Normalerweise prügelte ich mich nur, wenn ich keine andere Möglichkeit sah, aber seit der Besitzer des Clubs vor einem Jahr gesehen hatte, wie gut ich war, ließ er mir keine andere Wahl mehr.

„Zac! Konzentrier dich“, schrie Devin und ich wusste, dass er recht hatte. Wenn ich mich nicht konzentrierte, dann würde mein Gegner mich fertigmachen.

Sein Name war Hakim und er war um einiges größer und kräftiger als ich. Außerdem kämpfte er im Gegensatz zu mir freiwillig und das machte einiges aus. Ich hatte noch nie gegen ihn gewonnen und würde das wohl auch in Zukunft nicht schaffen, aber da mir so oder so Geld für den Kampf angerechnet wurde, störte mich das nicht besonders.

Ich mochte diesen Sport einfach nicht. Jedes Mal, wenn die Menge mir zubrüllte, dass ich härter zuschlagen sollte, war das wie ein Strudel, der mich in die Dunkelheit zu ziehen drohte und nicht mehr losließ. Aber es gab gute Gründe für mich, hier zu sein und an die musste ich mich dringend erinnern.

„Na? Gibst du auf?“, fragte Hakim und grinste mich an. Seine Muskeln waren beeindruckend, aber das Tribal an seinem rechten Arm war im Vergleich zu meinen eigenen Tattoos eindeutig schlecht gestochen. Es war stark vernarbt und unsauber gearbeitet.

Dass ich bessere Tattoos hatte als er, würde Hakim allerdings nicht davon abhalten, mich zu Hackfleisch zu verarbeiten, wenn ich nicht endlich Ernst machte. Die Kämpfe waren nicht ganz legal. Der Ringrichter schritt nur selten ein, daher kam es immer wieder zu schweren Verletzungen. Bisher hatte ich allerdings Glück gehabt und war jedes Mal mit blauen Flecken davongekommen.

„Verpass ihm eine!“, rief mein Bruder und ich nickte.

Es war mir zwar egal, ob ich verlor oder gewann, aber ich wollte bei der Arbeit nicht zu gruselig aussehen, sonst würde meine Chefin mir die Ohren langziehen.

Also riss ich mich zusammen, duckte mich unter dem nächsten Schlag von Hakim weg und schlug mit meiner Faust genau auf seine Mundpartie. Sein Zahnschutz flog raus und ich schlug ein weiteres Mal zu.

Blut schoss ihm aus der Nase und die Glocke erklang.

„Der Kampf ist beendet.“, sagte der Schiedsrichter und die Leute applaudierten verhalten. Ich wusste, dass es ihnen besser gefiel, wenn ein Duell mit einem klaren K. o. endete, weil das beim Wetten mehr Geld gab. Aber das würde heute nicht passieren.

Stattdessen winkte der Schiedsrichter uns beide zu sich und hielt meinen rechten und Hakims linken Arm fest.

„Sieger nach Punkten ist … Hakim!“

Er riss Hakims Arm in die Höhe und dieser grinste, wobei ihm Blut aus dem Mund tropfte. Shit. Ich hatte ihn wohl ganz schön erwischt, denn als er sich zu mir drehte, erkannte ich, dass die Hälfte seines Schneidezahns abgebrochen war.

„Das wirst du mir noch büßen“, zischte Hakim, als ich an ihm vorbeiging.

Darauf erwiderte ich nichts, sondern sah zu, dass ich zu den Umkleiden kam. Es wunderte mich nicht weiter, dass mein Bruder mich dort schon erwartete.

„Mann“, sagte er. „In der letzten Minute warst du nochmal richtig gut. Krass. Ich dachte echt, Hakim geht noch k. o. Schade, dass es dafür nicht gereicht hat. Gut, dass ich heute nicht gewettet habe.“

„Mit welchem Geld auch?“, fragte ich und verdrehte die Augen.

Geldmangel war immerhin der Grund, warum ich überhaupt hier war. Ich streckte meinem Bruder meine Hände entgegen und er löste meine Boxhandschuhe. Sobald meine Hände frei waren, bewegte ich versuchsweise meine Finger. Verdammt. Sie hatten einiges abbekommen. Das war gar nicht gut. Immerhin brauchte ich sie für die Arbeit. Aber wie es aussah, war nichts gebrochen, sondern nur stark beansprucht. Ein Mittelhandbruch hätte mich für mehrere Monate außer Gefecht gesetzt und wäre somit eine Katastrophe gewesen.

„Ich habe Hakim einen Zahn abgebrochen“, sagte ich. „Das fand er offenbar nicht lustig.“

„Ach. Sowas kommt vor bei einem Kampf. Er wird schon nicht nachtragend sein.“

„Da bin ich mir nicht so sicher. Aber eigentlich ist es auch scheißegal. Ich bin immerhin nicht hier, um mir Freunde zu machen, nicht wahr?“

Ich sah Devin an und der zog schuldbewusst den Kopf ein.

„Mann. Ich weiß, dass du nicht gerne kämpfst. Ich habe dir schon zigmal angeboten, dass ich es selber mache, aber …“

„Auf gar keinen Fall“, schnitt ich ihm das Wort ab und sah ihn grimmig an. „Sieh du lieber zu, dass du einen Job findest.“

Devin nickte. „Ich versuch’s ja. Aber wenn man vorbestraft ist, ist das gar nicht so einfach.“

Ich seufzte und ging zum Waschbecken, um mir das Gesicht abzuwaschen. Leider hatte Devin recht. Wenn man einmal Mist gebaut hatte, dann wurde man das sein Leben lang nicht mehr los und ich wusste nicht, wie ich Devin helfen sollte, abgesehen von dem, was ich schon tat.

Vor drei Jahren war unser Vater gestorben und daraufhin war Devin an die falschen Leute geraten. Er hatte für einen Mann namens Popeye ein paar Drogen geschmuggelt, aber man hatte ihn erwischt und ihm den Stoff abgenommen. Da er zu dem Zeitpunkt noch minderjährig und nicht vorbestraft gewesen war, war das Ganze auf Bewährung ausgesetzt worden. Nur leider hatte Popeye es Devin übelgenommen, dass die Drogen fort waren und von ihm verlangt, seine Schulden abzuarbeiten.

Um zu verhindern, dass Devin wieder dealte, hatte ich mich auf offener Straße mit einem von Popeyes Männern geprügelt. Er hatte vor, Devin mitzunehmen, damit dieser seine Schulden abbezahlte, und das konnte ich keinesfalls zulassen. Obwohl der Kerl regelmäßig boxte, gewann ich gegen ihn. Als Popeye davon erfuhr, hatte er mir angeboten, Devins Schulden auf andere Art abzuarbeiten. Und zwar mit Boxen.

In diesem Moment kam Popeye in die Umkleide und sah von meinem Bruder zu mir. Er war ein kräftiger Mann um die fünfzig, mit militärisch kurzem grauem Haar und aufrechter Haltung. Er trug immer einen Anzug und wirkte sehr furchteinflößend.

„Kein schlechter Kampf“, sagte er. „Aber wenn du nicht bald mal wieder gewinnst, kann ich von den Schulden deines Bruders nicht mehr so viel abziehen wie bisher. Ich wollte dich immerhin nicht als Punchingball, sondern als Champion.“

Ich biss mir auf die Unterlippe und sah in den Spiegel. Das würde ein blaues Auge geben. Damit waren meine Chancen, später bei der Besichtigung eine neue Wohnung zu finden, gleich noch etwas geringer. Wenn ich aussah, als hätte ich mich geprügelt, wirkte ich sicherlich nicht vertrauenswürdiger. Außerdem sollte ich dringend etwas mit langen Ärmeln tragen, auch wenn es dafür eigentlich zu heiß war. Doch sonst sah man zu viele von meinen Tattoos und darauf stand leider nicht jeder. Im Gegenteil. Es gab immer noch Leute, die davon ausgingen, dass nur Verbrecher sich tätowieren ließen und das war so ziemlich der größte Blödsinn, den man sich vorstellen konnte, wie ich aus eigener Erfahrung wusste.

„Ich habe mein Bestes gegeben“, sagte ich und drehte mich zu Popeye um.

Er hatte seinen Spitznamen daher, dass er gerne Spinat aß und natürlich von seinen beeindruckenden Muskeln. Soweit ich wusste, hatte er früher auch im Ring gekämpft, aber dafür war er inzwischen zu alt.

„Das glaube ich kaum“, widersprach er. „Ich weiß, dass du es besser kannst und ich will beim nächsten Mal Ergebnisse sehen. Ich weiß genau, dass du Hakim fertigmachen kannst, wenn du es wirklich willst. Du brauchst nur die richtige Motivation. Vielleicht sollte ich beim nächsten Mal Devin in den Ring lassen. Immerhin ist er jetzt volljährig.“

Wut wallte in mir auf und ich ballte die Fäuste.

„Nur über meine Leiche“, zischte ich.

Devin war kein Schwächling, aber er hatte keine Erfahrung und war viel schlechter trainiert als ich. Er hätte gegen jemanden wie Hakim keine fünf Minuten durchgehalten.

„Ich sehe, wir verstehen uns“, sagte Popeye mit einem angedeuteten Lächeln. „Also streng dich beim nächsten Mal wieder mehr an.“

Ich knirschte mit den Zähnen, widersprach aber nicht, sondern war froh, als Popeye ohne ein weiteres Wort den Umkleideraum verließ.

„Oh Mann. Der Kerl erinnert mich immer ein bisschen an Jason Statham“, sagte Devin. „Ich hätte mich nie auf ihn einlassen sollen. Tut mir echt leid, Zac.“

„Scheiß drauf. Was geschehen ist, ist geschehen. Aber jetzt muss ich los. Ich habe noch einen Besichtigungstermin.“

„Für eine neue Wohnung? Cool. Ich drück dir die Daumen. Vielleicht kann ich ja mit einziehen.“

„Solange du gratis bei Elisabeth wohnen kannst, ziehst du nirgendwohin“, widersprach ich.

Devin lebte seit über zwei Jahren bei einer Pflegemutter, weil unsere Stiefmutter nach dem Tod unseres Vaters komplett mit ihm überfordert gewesen war.

Das war zwar scheiße, aber Devin hatte wirklich Glück mit Elisabeth. Natürlich war er oft genervt von ihr, doch sie half ihm bei seinen Bewerbungen und unterstützte ihn bei der Arbeitssuche. Mit all ihren Kontakten war sie vermutlich seine beste Chance, doch noch irgendwie Fuß zu fassen.

„Ich bin achtzehn“, erinnerte Devin mich. „Du kannst mir gar nichts vorschreiben.“

Das war mir zu viel. Ich packte Devin am Schlafittchen und zog ihn nah an mich. Er überragte mich inzwischen um ein paar Zentimeter, obwohl ich mit 1,87 Metern nicht unbedingt klein war. Doch jetzt gerade schrumpfte er vor meinen Augen in sich zusammen.

„Seit über zwei Jahren gehe ich fast jede Woche boxen, nur um deinen Scheiß abzuarbeiten“, sagte ich wütend. „Also sag mir verdammt nochmal nicht, was ich kann und was nicht.“

„Ist ja gut, ist ja gut“, erwiderte Devin kleinlaut. „Du hast ja recht. Es tut mir leid, Zac.“

Ich ließ ihn los und machte mich dann daran, mich auszuziehen, um unter die Dusche zu gehen. Nicht, dass ich am Ende zu spät zur Wohnungsbesichtigung kam.

KAPITEL3

Nell

Malte hatte nicht übertrieben. Das große Zimmer seines Mitbewohners sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Er hatte es nicht mal für nötig gehalten, seinen ganzen Kram mitzunehmen, denn im Zimmer standen immer noch ein altes Regal mit einigen Büchern, ein klappriger Schrank, ein Bett ohne Matratze und eine Lampe.

Auf dem Boden lagen jede Menge alte Zeitschriften herum. Aber das Schlimmste waren die Wände. Sie waren regelrecht zugepflastert mit irgendwelchen Bildern von Autos und Models mit allen möglichen Tattoos. Darauf war offenbar das größte Augenmerk gerichtet. Die Tattoos. Es waren einige sehr kunstvolle dabei, die mich beeindruckten, auch wenn ich selbst mit Tätowierungen nie viel hatte anfangen können. Ich fand es unnatürlich, die eigene Haut zu verschandeln. Außerdem waren die Wände stark in Mitleidenschaft gezogen. Offenbar hatte der alte Mitbewohner von Malte die Wand als Zielscheibe fürs Dartwerfen missbraucht.

„Wow“, sagte auch Leon, als er hereinkam. „Ich war hier noch nie drin. Das Zimmer schmeckt wie ein großer Haufen Matsche.“

„Und es klingt wie der Schmerzensschrei einer Frau in den Wehen“, erwiderte ich, obwohl das nicht ganz stimmte. Es war eher ein düsterer Schrei. Auf jeden Fall war er nicht angenehm.

„Na ja. Groß genug ist das Zimmer auf jeden Fall. Das ist schon mal gut. Bei deinem riesigen Kleiderschrank brauchst du auf jeden Fall Platz.“

Er grinste und ich seufzte tief. Das mit der Größe stimmte, aber dafür war das hier mit Sicherheit auch mehr Arbeit, als ich angenommen hatte. Ich musste die Wände neu tapezieren und es musste eindeutig ein neuer Boden rein. Der Teppich war so abgewetzt, dass es schon unappetitlich war. Außerdem wollte ich ohnehin lieber Laminat. Das war pflegeleichter und ich musste mir nicht ständig Sorgen machen, wenn ich etwas verschüttete.

„Na gut“, sagte ich. „Dann lass uns mal an die Arbeit gehen.“

* * *

Die nächsten Tage verbrachten Leon und ich damit, das Zimmer auszuräumen und zu meiner Erleichterung half auch Malte mir dabei, alles auf Vordermann zu bringen. Mein älterer Bruder war zwar ein Idiot, aber er war kräftig und außerdem handwerklich begabt. Dadurch schafften wir es innerhalb von zwei Tagen, mein komplettes Zimmer mit Raufaser zu tapezieren und Laminat zu verlegen. Nur das Anstreichen sollte ich selbst erledigen. Nicht, weil meine Brüder mir nicht helfen wollten, sondern weil ich für die Farben meine ganz eigenen Vorstellungen hatte. Der Großteil des Raumes blieb weiß, aber eine Wand malte ich genau so an, dass es für mich nach einer harmonischen Melodie klang. Ich kombinierte dabei blaue, grüne, gelbe und rote Farben, die teilweise ineinander übergingen und unterschiedliche Formen hatten. Ich war erst zufrieden, als die komplette Wand bunt war.

„Wow“, sagte Malte, als er am Ende mein Werk betrachtete. „Und du meintest, mein Hawaiihemd wäre chaotisch. Was bitte schön ist das?“

„Davon verstehst du nichts. Wenn ich das hier ansehe, klingt das für mich genauso wie ‚Eine kleine Nachtmusik‘ von Mozart.“

„Aha. Und das ist was Positives?“

„Ganz bestimmt sogar“, sagte Leon, der ebenfalls in mein Zimmer gekommen war, um mein Kunstwerk zu betrachten. „Interessant“, sagte er. „Schmeckt wie ein guter Salat.“

„Seit wann ist denn in Salat was Blaues?“, fragte Malte irritiert.

„Darum geht es doch gar nicht“, winkte ich ab.

Malte verdrehte die Augen. „Ich werde die Regeln, nach denen euer Gehirn funktioniert, wohl nie verstehen.“

„Das kannst du auch nicht“, sagte ich beschwichtigend. „Niemand kann das, der nicht selbst Synästhesie hat. Also mach dir nichts draus, Bruderherz.“

„Na gut. Und was kommt an die andere Wand?“

„Das Gemälde von Mama“, erklärte ich und Malte verzog den Mund, als hätte er auf eine Zitrone gebissen.

„Bist du sicher, dass du es nicht lieber verkaufen willst? Dafür könntest du eine Stange Geld bekommen. Ihr Fan würde sich ganz bestimmt freuen.“

Ich schüttelte den Kopf. Meine Mutter war viel zu jung gestorben und hatte uns Kindern nichts hinterlassen bis auf ihre außergewöhnliche Kunst. Zu Lebzeiten hatte die keiner haben wollen, aber vor ein paar Jahren hatte Malte im Internet jemanden gefunden, der ganz verliebt in die Gemälde meiner Mutter war. Er stammte aus Frankfurt und hatte uns die meisten davon abgekauft, doch das Selbstporträt meiner Mutter hatte ich unbedingt behalten wollen. Auf dem Bild hatte sie sich als Wölfin dargestellt, die ihren Welpen über die Köpfchen leckte. Es war leicht verstörend, aber ich wusste, dass sie es aus Liebe zu mir und meinen Brüdern gemalt hatte und wollte es deswegen nicht abgeben.

„Ich werde es nicht verkaufen“, sagte ich ernst. „Es ist okay, dass ihr kein Interesse an Mamas Kunst habt. Aber das letzte Bild bleibt definitiv bei mir.“

Leon wich meinem Blick aus. Ich wusste, dass er seine Bilder verkauft hatte, um sich ein richtig gutes Piano holen zu können, während Malte sich davon ein Auto geholt hatte. Es war in Ordnung, dass sie Mamas Kunst nicht zu würdigen wussten, aber für mich kam es überhaupt nicht in Frage, mein Bild herzugeben.

In diesem Moment klingelte es und ich verließ das Zimmer.

„Das ist bestimmt Papa“, sagte ich und riss die Tür auf. Doch davor stand nicht mein Vater, sondern ein Mann, bei dessen Anblick sich mir alle Härchen auf den Armen aufstellten, denn seine Aura war so dermaßen tiefschwarz, dass es mir regelrecht die Sprache verschlug.

KAPITEL4

Zac

Ich staunte nicht schlecht, als mir die Tür geöffnet wurde und mir ein Mädchen gegenüberstand, das ich nicht kannte. Das musste Maltes kleine Schwester sein. Obwohl klein wohl übertrieben war. Denn nach seinen Geschichten hatte ich sie für sechzehn gehalten. In Wahrheit musste sie mindestens neunzehn sein. Sie war hübsch, auf eine sehr natürliche Art. Sie hatte braunes Haar, das sie zu einem Dutt nach hinten gebunden trug, eine schlanke Figur, ohne übertrieben sportlich zu wirken und ein angenehmes Gesicht. Sie trug Jeans und ein weißes Shirt. Beides war von oben bis unten mit Farbklecksen voll, was ziemlich verrückt aussah. Offenbar hatte sie gerade mein altes Zimmer gestrichen.

„Hey“, sagte ich mies gelaunt. „Ist Malte da?“

Das Mädchen starrte mich an, als hätte sie einen Geist gesehen und ich erkannte, dass mein Anblick sie schockierte. Ob das an dem Veilchen lag, das ich mir beim letzten Fight zugezogen hatte? Möglich wäre es.

„Hallo? Jemand zu Hause da oben?“, fragte ich, als sie nicht reagierte und deutete auf ihren Kopf. Ich machte einen Schritt nach vorne und sie wich schreckhaft zurück.

Fuck. Was sollte das denn? Hatte ich ihr irgendwas getan? Ich konnte mich nicht erinnern, sie schon mal gesehen zu haben und so schrecklich sah ich nun auch wieder nicht aus, oder etwa doch? Ich wusste, dass nicht jeder auf meinen Kleidungsstil stand. Abgesehen von den Wohnungsbesichtigungen trug ich grundsätzlich Schwarz. Meine Haare waren von Natur aus sehr dunkel, weil mein Vater aus Portugal stammte. Aber vielleicht lag es auch an dem Veilchen und an den düsteren Tattoos, die sich meine Arme entlang schlängelten und gut sichtbar waren, weil ich nur ein T-Shirt anhatte. Doch das war mir egal. Das Wichtigste war immerhin, dass ich mich selbst damit wohlfühlte. Der Stil gehörte zu mir und passte wie die Faust aufs Auge.

Dass ich gerade heute in besonders mieser Stimmung war, konnte das Mädchen ja wohl kaum wissen.

„Hey! Zac. Da bist du ja, altes Haus“, rief Malte, der aus meinem früheren Zimmer kam und mir die Hand entgegenstreckte. „Uuuuh. Was hast du denn wieder gemacht?“

Ich rang mir ein Lächeln ab.

„Das Übliche. Du kennst das ja“, sagte ich und wich dem Blick von Maltes Schwester aus.

So eine Scheiße. Ich hatte mich immer wohl in dieser Wohnung gefühlt. Es war praktisch gewesen, hier zu wohnen und jetzt hatte ich keine Ahnung, was ich machen sollte. Ich würde auf keinen Fall meine Stiefmutter um Hilfe bitten. So weit durfte ich es nicht kommen lassen, auch wenn es meiner Halbschwester sicher gefallen hätte, wenn ich zurück nach Hause kam.

„Schön, dich zu sehen“, behauptete Malte. „Ich hab schon befürchtet, ich müsste dein restliches Zeug aus dem Fenster schmeißen, wenn du nicht kommst.“

Ich gab ein Grummeln von mir und ging an dem Mädchen vorbei, das offenbar immer noch nicht die Augen von mir lassen konnte.

Meistens waren es bewundernde Blicke, die die Frauen in ihrem Alter mir zuwarfen. Immerhin sah ich nicht schlecht aus. Zumindest für Frauen, die auf den düsteren Typ Mann standen. Doch Maltes Schwester sah mich eher an, als wäre ich Satan persönlich und selbst mir war das in gewisser Weise unangenehm.

„Wo ist denn mein Zeug?“, fragte ich und Malte winkte mich hinter sich her zu seinem Zimmer. Auf dem Weg dorthin, konnte ich einen Blick in mein altes Reich werfen. Die Kleine hatte offenbar ganze Arbeit geleistet. Es war komplett neu tapeziert und die linke Wand war knallbunt. Ich konnte keinerlei Ordnung in den Farben erkennen und hätte vermutlich die Krise bekommen, wenn ich so eine Wand jeden Tag hätte ansehen müssen. Aber wie es aussah, hatte Maltes Schwester einen außergewöhnlichen Geschmack.

„Hi, Zac“, sagte in diesem Moment auch Leon und winkte.

„Hi“, sagte ich nur.

„Hör mal. Tut mir echt leid, dass du hier raus musstest. Aber unsere Schwester …“

„Ja, ja. Das weiß er alles längst“, sagte Malte und brachte Leon damit zum Schweigen. Wie immer ließ dieser sich das gefallen und versuchte gar nicht, weiter mit mir zu reden. Stattdessen blieb er einfach im Flur stehen, während ich Malte zu seinem Zimmer folgte.

Ich fühlte, wie der Blick des Mädchens mir folgte, aber sah mich nicht mehr zu ihr um. Im nächsten Moment hörte ich die Tür meines alten Zimmers zuknallen.

„Nell?!“, rief Leon und klopfte. „Nell. Was ist denn los? Was …“

Mehr hörte ich nicht, denn Malte schloss die Tür hinter uns und schüttelte den Kopf.

„Beachte meine Schwester gar nicht“, riet er mir. „Sie hat genauso einen an der Waffel wie Leon.“

Ich nickte nur, auch wenn ich zu gerne gewusst hätte, was seiner Schwester für eine Laus über die Leber gelaufen war. Ich sah mich um. Hier war es vollkommen überfüllt, weil Malte all meine Sachen zu sich rüber genommen hatte.

„Hier ist alles, was noch brauchbar aussah“, erklärte Malte und deutete auf einen Haufen Zeug, der in der Ecke lag.

„Danke Mann“, sagte ich und kniete mich hin, um die Sachen durchzusehen.

Ich schob ein paar Bücher hin und her und überlegte. Mir war klar, dass unmöglich alles in meinen Wagen passen würde. Trotzdem war es scheiße, die Bücher wegzuwerfen.

„Hast du vielleicht noch Platz im Keller?“, fragte ich.

Malte runzelte die Stirn. „Hattest du nicht letztens eine Wohnungsbesichtigung? Ist das wieder nichts geworden?“

Ich schüttelte den Kopf. „Die Frau hat mich nicht mal reingelassen, sondern mir schon im Flur gesagt, dass sie sich einen Mitbewohner vorgestellt hat, der etwas unauffälliger ist als ich.“

„Ach, Scheiße. Tut mir leid, Mann. Das ist echt Mist. Im Keller hat Nell sich schon breitgemacht. Aber die Frau nebenan nutzt ihren Keller doch eh nie. Der steht immer offen und es ist nie was drin. Du könntest die Sachen also erstmal da rein tun.“

Ich nickte. Das war immer noch besser, als sie wegzuschmeißen.

„Gute Idee“, sagte ich daher und stand wieder auf.

Ich sah zur Tür, hinter der man immer noch Leons Klopfen hörte.

„Ist deine Schwester irgendwie … zurückgeblieben?“, fragte ich vorsichtig, weil ich Malte nicht vor den Kopf stoßen wollte. Er war ein guter Kumpel, der mich hier die letzten Jahre für eine kleine Miete hatte wohnen lassen und das würde ich ihm nie vergessen.

Doch Malte schnaubte nur amüsiert.

„Ist das so offensichtlich, ja?“, fragte er. Bevor ich antworten konnte, schüttelte er den Kopf und winkte ab. „Sie ist nicht schwachsinnig. Sie ist sogar verdammt klug, hat viel Empathie und ist künstlerisch begabt. Sie wird ab nächste Woche hier in Bad Homburg Kunst studieren. Vielleicht trefft ihr euch ja sogar mal.“

Ich verzog den Mund. Ich studierte nicht Kunst, hatte es aber über Connections geschafft, als Gasthörer in den Zeichenkurs zu kommen, um mich zu verbessern. Die Aussicht darauf, Nell dort zu begegnen, gefiel mir allerdings nicht besonders.

„Hat sie irgendein Problem mit mir?“, fragte ich.

„Nell hat höchstens ein Problem mit sich selbst. Bei ihr ist das sogar noch schlimmer als bei Leon, obwohl sie beide totale Freaks sind. Aber scheiß auf meine Schwester. Ist nicht so wichtig. Lass uns lieber deine Sachen nach unten bringen.“

Ich zuckte mit den Schultern und machte mich dann an die Arbeit, obwohl ich wirklich gerne gewusst hätte, was dieses Theater sollte. Diese Nell hatte mich noch nie gesehen und keine Ahnung, wer ich war oder was in meinem Leben schon alles schiefgegangen war. Warum zur Hölle hatte ich dann das Gefühl, als hätte sie genau in meine Seele geschaut und auf den ersten Blick erkannt, wie verrottet es in mir drin aussah?

KAPITEL5

Nell

„Nell. Er ist weg. Also mach bitte auf“, rief Leon und ich trat näher an die Tür.

„Ist er wirklich weg?“, fragte ich so laut, dass mein Bruder es hören konnte.

„Ja. Alles in Ordnung.“

Ich öffnete die Tür und fiel Leon um den Hals. Ich zitterte am ganzen Körper und versuchte gar nicht erst, die Tränen zu verstecken, die mir über die Wangen liefen. Malte stand nur ein paar Meter weiter und schien meinen Gefühlsausbruch absolut lächerlich zu finden.

„Scheiße. Was ist denn los?“, fragte Leon. „Kanntest du Zac schon irgendwoher? Hat er dir was getan?“

„Quatsch“, sagte Malte und sah abfällig auf mich hinunter. Er hielt ein Bier in der Hand und hatte sich an die Wand gelehnt. „Die beiden sind sich nie begegnet. Sie war doch noch nie hier und Zac hatte keine Ahnung, was das Theater soll. Ich wette, Nell sieht nur mal wieder Gespenster. Wundert mich eigentlich, dass ich ausgerechnet dir das erklären muss, Leon.“

Er trank einen großen Schluck von seinem Bier und ich funkelte ihn böse an.

„Das sind keine Gespenster“, fauchte ich. „Es ist nur so, dass … Es ist seine Farbe. Für mich war er schwarz“, erklärte ich dann. „Tiefschwarz. Und du erinnerst dich sicher daran, wer die letzte Person war, die ich in dieser Farbe gesehen habe.“

„Du meinst …“

„Ganz genau. Ich habe damals gewusst, dass dieser Mann etwas Schlimmes vorhatte, aber Mama wollte nicht auf mich hören und dann …“

Meine Stimme versagte und ich brach wieder in Tränen aus. Erneut nahm Leon mich in den Arm und ich war ihm dankbar dafür. Er verstand mich, während Malte nur die Augen verdrehte und mich kopfschüttelnd ansah.

„Zac ist nicht böse“, stellte er klar. „Er war drei Jahre lang mein Mitbewohner und ich kenne ihn. Okay. Er trinkt gerne, hat sich schon ein paarmal geprügelt und ist nicht unbedingt der freundlichste Geselle, aber er ist auch kein schlechter Mensch. Er ist ein harter Kerl, aber wenn das schon ein Grund ist, ihm zu unterstellen der Satan persönlich zu sein, dann hast du wirklich einen an der Klatsche, Nell. Weißt du was er mich gefragt hat? Er wollte wissen, ob du zurückgeblieben bist. So wirkte es nämlich, als du ihn einfach nur angestarrt hast, ohne ein Wort zu sagen. Du wirkst schwachsinnig, Schwesterchen. Ist dir das eigentlich klar?“

Ich brachte kein Wort hervor, aber das war auch gar nicht nötig, weil Leon sofort zu meiner Verteidigung einsprang. Er ließ mich los und baute sich, so gut er konnte, vor Malte auf.

„Nun mach aber mal halblang“, sagte er. „Nur weil du und Zac und all die anderen Menschen nicht versteht, was Nell und ich sehen oder fühlen, heißt das noch lange nicht, dass es nicht existiert. Stell dir mal vor, du wärst die einzige Person auf der Welt, die riechen kann und alle anderen wären ohne Nase geboren. Wie wäre es dann wohl für dich, wenn niemand nachvollziehen könnte, wie gut leckeres Essen riecht oder wie sehr es stinkt, wenn Gülle gespritzt wird?“

„Wenn ich der Einzige mit einer Nase wäre, dann würde ich sie mir wegoperieren lassen“, erklärte Malte trocken. „Sonst würden mich ja alle auslachen und für einen Freak halten. Genau wie euch.“

Leon schüttelte den Kopf. „Kein Wunder, dass du uns nicht verstehst. Du versuchst es ja noch nicht einmal.“

Malte winkte ab und sah mich dann an. „Bevor du einen Menschen verurteilst, den du gar nicht kennst, solltest du lieber daran denken, dass Zac deinetwegen jetzt auf der Straße sitzt. Papa hat ihn rausgeworfen, obwohl er noch keine neue Wohnung hat. Er schläft also im Moment in seinem Auto.“

Ich schluckte. Auch wenn Zac mir Angst machte, tat mir das leid. Aber ich konnte nicht gegen meine Gefühle an und Malte verstand mich einfach nicht. Daher war ich froh, als er aus der Küche ging und mich in Ruhe ließ. Erschöpft setzte ich mich auf einen Stuhl.

„Was immer du denkst, Zac ist nicht er“, stellte Leon klar und suchte meinen Blick. „Dieser Typ sitzt in der Geschlossenen und kann niemandem mehr etwas tun.“

Ich nickte. Das wusste ich, aber trotzdem strahlte Zac dieselbe Dunkelheit aus wie der Mann, der unser ganzes Leben zerstört hatte. Damals hatte ich gedacht, dass es keinen zweiten Menschen geben könnte, der so eine Aura besaß, aber jetzt musste ich feststellen, dass ich mich getäuscht hatte. Es gab noch andere Menschen, die mit Dunkelheit erfüllt waren und ich konnte nur hoffen, dass Malte recht behielt und Zac im Grunde seines Herzens ein netter Kerl war. Auch wenn er noch so finster auf mich wirkte.

KAPITEL6

Zac

Tränen flossen dem Mädchen über die Wangen und sie schrie auf. Es gefiel mir nicht, ihr Schmerzen zuzufügen, aber daran führte kein Weg vorbei. Immerhin hatten wir mit dieser Sache begonnen und es konnte nicht in ihrem Interesse sein, jetzt kurz vor dem Ziel abzubrechen.

„Ich kann nicht mehr“, schluchzte sie. „Bitte. Können wir eine Pause machen?“

Schwarze Mascara lief ihre Wangen hinunter und ihr hübsches Gesicht war vor Pein verzogen. Doch es brachte nichts, es aufzuschieben.

„Nur noch fünf Minuten“, versprach ich. „Dann sind wir fertig. Schaffst du das noch?“

Sie nickte. „Kann ich auf irgendwas draufbeißen?“

„Sowas habe ich leider nicht, aber ich kann dir das hier geben.“

Ich zog eine Schublade auf und holte ein Knautschtier heraus, das ich ihr reichte.

„Das kannst du richtig fest drücken“, erklärte ich ihr und sie nahm es dankbar entgegen.

Ich senkte die Tätowiernadel wieder auf die Oberseite ihres Fußes und spannte die Haut mit der freien Hand, damit ich besser arbeiten konnte. Erneut stöhnte sie auf. Ich hatte ihr gleich gesagt, dass diese Stelle empfindlich war. Aber sie hatte ja nicht auf mich hören wollen. Sie schrie gedämpft auf, aber zumindest sorgte das Knautschtier dafür, dass sie stillhielt und mir ihren Fuß nicht entzog.

„Nicht mehr lange“, redete ihre Freundin beruhigend auf sie ein. „Du hast es fast geschafft. Wäre doch scheiße, wenn du nur ein halbes Einhorn hättest, oder?“

Das wäre wirklich scheiße. Auch wenn ich vermutete, dass sie es sich zweimal überlegen würde, ob sie es wirklich kolorieren lassen wollte.

„Wir haben es gleich“, redete ich ihr gut zu und zog die letzten Linien. Natürlich musste das Mädchen nochmal wiederkommen, damit ich das Tattoo nachstechen konnte, aber vorerst hatten wir es geschafft.

„So. Das war’s erstmal“, sagte ich und säuberte den Fuß. Ich ließ die frische Tätowierung eine Weile trocknen und legte dann eine Folie darüber.

Danach zog ich mir die Gummihandschuhe von den Fingern, die ich aus hygienischen Gründen trug. Ich achtete immer darauf, dass ich die Farbtöpfe jedes Mal wechselte und alle Arbeitsmaterialien desinfizierte. Mein allererstes Tattoo hatte ich mir damals in der Türkei stechen lassen und es hatte sich übel entzündet, daher achtete ich umso mehr auf Hygiene. Vermutlich konnte ich froh sein, dass ich mir damals keine schlimme Krankheit eingefangen hatte.

„Oh, Gott sei Dank“, schluchzte das Mädchen. „Ich dachte, ich sterbe.“

Sie war gerade achtzehn und hatte die Schmerzen eines Tattoos am Fuß offenbar unterschätzt.

„Von einem Tattoo ist noch niemand gestorben“, behauptete die Freundin und ich verbiss mir die Bemerkung, dass das so nicht stimmte. Immerhin wurden im Ausland durch verschmutzte Nadeln häufig Krankheiten wie Hepatitis oder Aids übertragen und die konnten durchaus tödlich enden. Aber das würde ich dem Mädchen mit dem verheulten Gesicht jetzt bestimmt nicht sagen.

„Hier.“ Ich reichte ihr ein Taschentuch, damit sie sich die Tränen abwischen konnte. „Tut mir leid, aber es ist gut, dass wir das durchgezogen haben.“

„Ja.“ Sie rang sich ein Lächeln ab. „Wer schön sein will, muss halt leiden.“

Ob man das Einhorn wirklich als schön bezeichnen konnte, war fraglich. Aber sie hatte es selbst gezeichnet und wollte unbedingt genau diese Scheußlichkeit auf der Oberseite ihres Fußes haben. Was hätte ich da schon tun können? Ich hatte ihr angeboten, selbst etwas zu zeichnen, aber meine Fähigkeiten waren begrenzt, was der Grund war, warum ich ab nächster Woche den Zeichenkurs an der Academy of Fine Art belegen würde. Das war absolut notwendig, damit ich meinen Kunden auch individuellere Vorschläge machen konnte.

Ich war gut. Das wusste ich. Aber leider nur dann, wenn ich eine Vorlage hatte. Wenn jemand mit spezielleren Wünschen kam, musste ich denjenigen immer an meine Chefin Jessy verweisen, und das frustrierte mich.

Immerhin konnte man mit individuellen Tattoos und mit Cover-ups mehr verdienen. Denn dann berechnete man den Aufwand für die Zeichnung mit. Hinzu kam, dass Cover-ups meistens größer waren, um das alte Tattoo zu überdecken und daher auch mehr Zeit in Anspruch nahmen. So etwas konnte man aber nur dann gut machen, wenn man zeichnen konnte. Eine Zwickmühle.

„Hast du Flip-Flops dabei, wie ich dir gesagt habe?“, fragte ich und das Mädchen nickte.

„Ja, klar.“ Sie zog welche aus ihrer Handtasche und zog sie an.

„Sehr gut. Am Tattoo darf nichts scheuern, sonst entzündet es sich. Zieh am besten in den nächsten Tagen keine festen Schuhe an.“

Ich ging nach vorne zur Kasse und notierte den Betrag für die erste Session. „So. Das wären dann sechzig Euro für heute. Brauchst du eine Quittung?“, fragte ich und das Mädchen sah mich mit großen Augen an.

„Ääääh. So viel habe ich nicht dabei. Ich dachte, ich zahle erst am Ende.“

Ich ballte die Fäuste, weil das wieder so typisch war, aber zwang mich dann dazu, sie wieder locker zu lassen. „Normalerweise zahlt man nach jeder Session die Arbeitszeit. Nicht, dass du am Ende nicht mehr wiederkommst.“

„Doch. Klar komme ich wieder. Ich will doch, dass das Einhorn noch bunt wird.“

Natürlich. Was auch sonst?

„Wie viel Geld hast du denn dabei?“

„Zwanzig Euro.“

„Und was ist mit dir?“ Ich sah ihre Freundin an.

Sie kramte ihr Portemonnaie heraus und schaute hinein. „Ich habe auch zwanzig Euro dabei, aber wir brauchen noch was für den Bus.“

„Okay. Dann gebt mir dreißig Euro und bringt beim nächsten Mal gefälligst den Rest mit, klar?“

Die Mädchen sahen mich erschrocken an und streckten mir das Geld entgegen.

„Klar“, sagten sie unisono und ich machte die Rechnung fertig.

Irgendwie hätte ich mir denken können, dass der Tag so beschissen weitergehen würde, wie er angefangen hatte. Die Nacht im Van war mies gewesen und ich hatte die ganze Zeit Sorge gehabt, dass mich jemand beim Übernachten auf dem Parkplatz vor dem Tattoostudio erwischen würde. Da musste ich mir wirklich etwas überlegen.

Sobald die beiden weg waren, kam Jessy aus dem zweiten Raum und sah mich verschmitzt an. Mehr noch als ich erfüllte sie alle Klischees eines Tätowierers. Sie hatte einen Sidecut, rotblau gefärbte Haare und ein Nasenpiercing. Außerdem waren ihre Arme und Beine noch mehr mit Tattoos überzogen als meine eigenen. Ich hatte bisher immer darauf geachtet, dass ich mit einem langärmeligen Hemd und einer langen Hose die meisten Tattoos verdecken konnte, aber ihre Bilder gingen bis zu den Fingern und sogar die Wange entlang. Sie hatte auch einen kleinen Stern an ihrer linken Schläfe, den ich ihr gestochen hatte.

„Na? Schlechter Tag?“, fragte sie mich und setzte sich breitbeinig auf unseren Tisch. Sie trug nur kurze Shorts und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, sie wollte mich anmachen, obwohl sie locker zehn Jahre älter war als ich. Doch ich wusste genau, dass sie verheiratet war. Und zwar mit einer Frau. Wenn sie mit mir flirtete, dann war das also nicht ernst gemeint.

„Du hast ja keine Ahnung“, murrte ich und machte die Kasse wieder zu.

„Willst du mir davon erzählen?“

„Besser nicht.“

„Warum denn nicht? Komm schon. Erheitere mich.“

„Mein Vermieter hat mich vor drei Tagen rausgeworfen.“

„Was?“ Mit großen Augen sah sie mich an. „Darf er das denn einfach? Es gibt doch sowas wie Kündigungsschutz, oder?“

„Er hat es drei Monate vorher angekündigt. Wegen Eigenbedarf. Da kann ich einen Scheiß gegen machen.“

„Eigenbedarf? Für wen denn?“

„Für seine Tochter. Ist also alles rechtens.“

„Mist. Und jetzt?“

„Tja. Ich habe versucht, eine Wohnung zu finden, aber bisher ohne Erfolg. Ich wohne also gerade in meinem Van.“

„Oh Mann. Das ist ja scheiße. Warum hast du denn nichts gesagt? Ich hätte dir bei der Suche helfen können. Mit einem Aushang oder so.“

Auf die Idee war ich noch gar nicht gekommen. Immerhin war Jessy meine Chefin und nicht meine beste Freundin und ich wollte sie mit so etwas nicht belästigen.

„Tja. Dafür ist es jetzt wohl zu spät. Die bezahlbaren Zimmer sind alle weg.“

„Könntest du nicht zu deiner Stiefmutter ziehen? Sie wohnt doch in Frankfurt, oder?“

„Ja. Aber das kommt nicht in Frage.“

„Warum nicht?“

„Meine Stiefmutter und ich haben nicht unbedingt das beste Verhältnis.“

Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Die Beziehung zwischen Ariane und mir war seit drei Jahren so frostig, dass es mich wunderte, dass das Wasser nicht in unseren Trinkgläsern gefror, wenn wir uns sahen.

„Also gut. Aber du kannst doch nicht dauerhaft in deinem Auto schlafen.“

„Bis ich was Erschwingliches gefunden habe, bleibt mir leider nichts anderes übrig. Ich habe mir ein paar Wohnungen angesehen. Aber wie es aussieht, wirke ich nicht besonders vertrauenserweckend.“

„Hm. Woran das wohl liegt? Ich würde dir sofort ein Zimmer anbieten, aber leider hält Silke nichts davon, wenn ich Männer mit nach Hause bringe.“

Sie sagte das, als würde sie es wirklich bedauern, was ich faszinierend fand. War sie vielleicht doch eher bisexuell als lesbisch? Aber im Grunde ging mich das nichts an. Sie war meine Chefin und überhaupt nicht mein Typ. Denn obwohl ich selbst Tattoos am ganzen Körper trug, mochte ich tatsächlich Frauen, die weniger angemalt waren. Scheinheilig? Vielleicht. War aber trotzdem so.

„Ich komme schon klar. So schlimm ist der Van gar nicht.“

Theoretisch wäre er auch groß genug, um mich darin hinzulegen, aber mit meinem ganzen Zeug im Wagen konnte ich nicht mal den Sitz richtig nach hinten klappen. Auf die Dauer war das wirklich kein Zustand.

„Oh Mann. Ich würde dich ja hier im Studio schlafen lassen, aber …“

Sie sah mich entschuldigend an und ich nickte.

„Schon gut. Ich versteh schon. Das findet Silke wahrscheinlich auch nicht so toll.“

„Sorry. Sie ist echt ein eifersüchtiges Weibsstück.“

„Ist schon gut. Mach dir nix draus. Ich werde schon was finden. Erstmal muss ich nur sehen, wo ich den Wagen nachts stehen lasse.“

„Warum gehst du nicht auf den Campingplatz?“

„Ich habe kein Zelt. Aber zwischendurch wird mir trotzdem nichts anderes übrigbleiben, wenn ich mal duschen will.“

„Ich könnte dir ein Zelt leihen. Es liegt sowieso seit Jahren ungenutzt auf dem Dachboden. Ich bringe es dir morgen mit.“

Überrascht sah ich sie an. „Ist das dein Ernst?“

„Klar. Sonst würde ich es doch nicht anbieten.“

„Toll“, sagte ich nach kurzem Zögern. Denn besser als der Van war es allemal. Zumindest, solange es noch so warm war wie im Moment. In ein paar Wochen würde das sicher schon anders aussehen. „Das ist nett von dir.“

„Glaub nicht, dass ich das aus Nächstenliebe tue. Immerhin musst du zwischendurch mal duschen. Sonst vergraulst du uns die Kunden.“

Ich verzog den Mund. War ja klar gewesen, dass es einen Hintergedanken gab.

„Gut“, sagte ich dann. „Das sollte ich hinbekommen.“

Es war ja nur vorübergehend. So lange konnte es immerhin nicht dauern, bis ich eine neue Bleibe gefunden hatte.

KAPITEL7

Nell

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir nicht dasselbe studieren“, sagte ich betrübt zu Leon, als wir zusammen beim Frühstück saßen. Wir waren extra beide früh aufgestanden, um nicht hetzen zu müssen, was mir allerdings nur gelungen war, weil Leon mich gnadenlos aus dem Bett geschmissen hatte.

Doch während ich nur ein paar Straßen weiter zur Academy of Fine Art laufen musste, würde Leon noch eine halbe Stunde mit der Bahn nach Frankfurt zur Musikschule fahren. Allein bei dem Gedanken daran grauste es mich.

„Ist ja nicht meine Schuld, dass du dich gegen die Musik entschieden hast. Sie hätten dich mit Handkuss genommen, auch wenn dein Kleidungsstil etwas eigenwillig ist“, sagte Leon schulterzuckend und betrachtete skeptisch mein Outfit von oben bis unten. Ich ignorierte seinen Blick und griff nach dem Müsli.