New Berlin: Die Kinder der Ikarus - Karsten Krepinsky - E-Book
SONDERANGEBOT

New Berlin: Die Kinder der Ikarus E-Book

Karsten Krepinsky

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Dystopisch." "Packend." "Unerwartet." In der Zukunft. Ein beißender Brandgeruch liegt über New Berlin. Rauch verdunkelt die Sonne. Seit nunmehr zwanzig Jahren befindet sich die Stadt im Belagerungszustand. Bis auf das Zentrum hat der Feind alles unter seine Kontrolle gebracht. Mit repressiven Maßnahmen werden die Eingeschlossenen von der Militärregierung auf Kurs gehalten. Kopfgeldjäger spüren Überläufer und Spione auf. Einer der besten von ihnen ist Max Hofstetter. Von seiner Chefin Charlotte Fleming erhält Hofstetter den Auftrag, den Mörder eines hohen Regierungsbeamten zur Strecke zu bringen. Auf seiner Jagd dringt Hofstetter bis in die Verbotene Zone am Fernsehturm vor. Als er auf das streng gehütete Geheimnis des Regimes stößt, das alles, was er zu wissen glaubt, auf den Kopf stellt, wird aus dem Jäger ein Gejagter … Ein Sci-Fi-Thriller.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



KARSTEN KREPINSKY

New Berlin: Die Kinder der Ikarus

Zum Buch

 

In der Zukunft. Ein beißender Brandgeruch liegt über New Berlin. Rauch verdunkelt die Sonne. Seit nunmehr zwanzig Jahren befindet sich die Stadt im Belagerungszustand. Bis auf das Zentrum hat der Feind alles unter seine Kontrolle gebracht. Mit repressiven Maßnahmen werden die Eingeschlossenen von der Militärregierung auf Kurs gehalten. Kopfgeldjäger spüren Überläufer und Spione auf. Einer der besten von ihnen ist Max Hofstetter. Von seiner Chefin Charlotte Fleming erhält Hofstetter den Auftrag, den Mörder eines hohen Regierungsbeamten zur Strecke zu bringen. Auf seiner Jagd dringt Hofstetter bis in die Verbotene Zone am Fernsehturm vor. Als er auf das streng gehütete Geheimnis des Regimes stößt, das alles, was er zu wissen glaubt, auf den Kopf stellt, wird aus dem Jäger ein Gejagter …

 

Ein Sci-Fi-Thriller.

Zum Autor

 

Dr. Karsten Krepinsky lebt in Berlin und arbeitet dort als Biologe in einem Start-Up-Unternehmen im Bereich Neurowissenschaften. Leidenschaftlich gern schreibt er als freier Autor. Aus der Vielfalt und den Gegensätzen in der Hauptstadt holt er sich die Ideen für seine Thriller, in die er Motive aus den Genres Science-Fiction, Mystery und Horror einfließen lässt.

KARSTEN KREPINSKY

New Berlin: Die Kinder der Ikarus

 

(c) 2022/2023 Dr. Karsten Krepinsky, Berlin

Originalausgabe, Januar 2023

Alle Rechte vorbehalten

Nachdruck und Vervielfältigung aller Art (auch in Auszügen) nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors

Umschlaggestaltung: Ingo Krepinsky, www.typonauten.de

Lektorat: Ursula und Ingo Krepinsky

 

www.karstenkrepinsky.de

 

 

 

 

 

 

 

Für meine Mutter

Prolog

 

Ich muss auf den richtigen Augenblick warten, um zuzuschlagen. Zuerst der Mann, dann die Frau. Wenn ich es richtig anstelle, haben die beiden keine Chance. Viermal werde ich mit meinem Bajonett zustoßen, um den Job zu erledigen. Ich begreife nicht, warum die beiden so ausgelassen sind. Vollkommen unbekümmert sitzen sie am Ufer des Kanals und prosten sich zu. Ihre Gläser sind nicht einmal gefüllt. Was haben sie nur zu feiern? Ich kann es kaum erwarten, ihre kleine Party zu sprengen. Ein wenig Geduld muss ich noch haben. Nur noch ein wenig Geduld.

1

New Berlin, Oberbaumbrücke …

 

Die Fassaden in New Berlin sehen aus, als wären sie von einer Wachsschicht überzogen. Fenster und Türen sind unter einer zähen Masse aus Öl, Dreck und den Flechten eines Pilzes verschwunden. Den ganzen Tag ist der Himmel von Rauchschwaden verdeckt. Die Anwesenheit der Sonne lässt sich nur erahnen. Ich stehe auf der Oberbaumbrücke und lasse meine Blicke über das ausgetrocknete Flussbett schweifen. Die Spree, einmal ein Fluss, der sich träge durch Berlin wand, existiert nur noch als staubige Senke. Vor einem gigantischen Flammenmeer zeichnen sich die Silhouetten der Wolkenkratzer am Alexanderplatz ab. Das ewige Feuer brennt nicht mehr im Olympiastadion, sondern wütet mit aller Vehemenz auf der Museumsinsel. Der Feind hat eins der fünf unterirdischen Treibstoffdepots angesteckt, die wir vor der Belagerung angelegt haben.

 

Wenn man den inneren Stadtring von New Berlin in vier Stücke teilt, gehört uns das Stück im Nordosten. Friedrichshain, Prenzlauer Berg und der östliche Teil von Mitte sind fest in unserer Hand. In Kreuzberg hingegen halten wir nur noch einen Brückenkopf. Der Feind ist bis zum Schlesischen Tor vorgedrungen. Dumpfe Detonationen erinnern mich daran, dass im Sublevel der Krieg tobt. In den unterirdischen Gängen und Korridoren, von denen New Berlin wie ein gigantischer Termitenbau durchzogen ist, liefern wir uns mit dem Feind einen gnadenlosen Kampf.

 

Wir müssen durchhalten, bis Verstärkung kommt. Das weiß ich. Ich bin Patriot und liebe mein Land. Aber ich will die Wahrheit sagen. Das habe ich geschworen, als ich das altertümliche Diktiergerät gefunden habe: dass ich nichts verheimliche und nichts beschönige. An Verrat und Niedertracht gibt es in dieser Stadt, die seit zwanzig Jahren Kampfzone ist, genug. Zuerst wollte ich das Diktiergerät vernichten, wie es vorgeschrieben ist. Aufzeichnungen sind nicht erlaubt. Sie könnten dem Feind in die Hände fallen. Er würde unsere Schwäche erkennen und die Zweifel, von denen wir geplagt sind, zu seinem Vorteil nutzen. Ich bin Patriot. Nichts soll ihm in die Hände fallen. Aber ich bin skeptisch, was unsere Mission betrifft. Wenn wir unsere eigene Vergangenheit vernichten, welche Zukunft haben wir dann?

 

Hier draußen sind nur wenige. Hier gibt es das Ich. Im Sublevel hingegen regiert das Wir. So sehr ich mich nach dem Schutz der Gemeinschaft sehne, so sehr mag ich auch die Momente der Stille. Alles hat seinen Preis. Der Preis, in dieser unwirtlichen Stadtlandschaft zu sitzen und auf ein staubiges Flussbett zu starren, ist hoch. Der Hustenreiz wird stärker. Länger als eine halbe Stunde sollte ich mich nicht im Freien aufhalten. Die Häuser sind versiegelt. Ein ausgeklügeltes Netzwerk von Luken führt in den Sublevel hinab. Der nächste Eingang ist keine fünfzig Meter entfernt. Es sind nur ein paar Soldaten auf Patrouille, sonst begegne ich niemandem.

2

In der U-Bahn, Linie U257.

 

REMEMBER steht an den Türen der U-Bahn. Der Schriftzug ist allgegenwärtig. Jeder weiß, was damit gemeint ist. Erinnere dich daran, wer wir sind. Halte dir vor Augen, wer unser Feinde ist. Und vergiss niemals, wofür wir kämpfen. Ich verberge das Diktiergerät in meiner Jackentasche vor den Blicken der anderen. Alles, was geschieht, hat einen bestimmten Grund. Das ist meine feste Überzeugung. Der Wagen der Magnetschwebebahn beschleunigt auf gerader Strecke. Wie die Fasern eines Muskels ist ganz Berlin von einer Vielzahl von U-Bahn-Linien durchzogen. Wer von einem Ort zum anderen will, ist auf die U-Bahn angewiesen. Es gibt keine andere Form des Transports. Die Führer haben eigene Fahrkabinen, für alle anderen gibt es nur die Enge in den Abteilen. Ein Mann mit einer Narbe auf der Wange starrt mich an. Auf dem Barett trägt er stolz seine Abzeichen: das goldene Kreuz für Tapferkeit und das rote Herz für schwere Verwundungen. Mit seiner Armprothese umklammert der Veteran die Haltestange. Kaum jemand in der U-Bahn, der nicht eine Kriegsverletzung hat. Als einer der wenigen bin ich unversehrt. Zumindest äußerlich. Rein äußerlich ist mir nichts anzusehen. Nur mein Gehirn hat Schaden genommen.

 

Manchmal sehe ich mich am Ufer der Spree sitzen. Ich denke, es ist ein Picknick. Zwei Weingläser stehen vor mir, an einem klebt Lippenstift. Aus welcher Zeit diese Erinnerung wohl stammt? Ich weiß es nicht. Der dichte Nebel, der über meiner Vergangenheit liegt, lichtet sich nie. Der Wagen der U-Bahn stoppt abrupt. Ich bin am Ziel angekommen. Der Rollstuhlfahrer, der vor mir aussteigt, erinnert mich daran, dass es kein Picknick an der Spree mehr geben wird. Heute nicht und morgen auch nicht.

 

Das U-Atrium Helmholtzplatz ist das schönste, das wir haben. Die Konstrukteure dieser öffentlichen Versammlungsorte haben gute Arbeit geleistet. Die städtische Realität wurde unter der Erde neu erschaffen. Vom zentralen Springbrunnen aus führen strahlenförmig Wasserkanäle zu den Geschäften der Shopping-Mall. Das Plätschern des Wassers beruhigt die Menschen. Wasser ist eine Kostbarkeit. Einmal im Jahr, zur Regenzeit, fangen wir die Niederschläge auf und zehren davon in den langen Monaten der Trockenheit.

 

Ich muss mir die Hand vors Gesicht halten, als ich zur Kuppel des U-Atriums hinaufsehe. Die Helligkeit der Scheinwerfer und Lichter, die an der Decke befestigt sind, blendet mich. Nichts geschieht aus Zufall. Ist das Diktiergerät nicht wie eine Aufforderung an mich, meine Gedanken festzuhalten? Staub hat sich über die Häuser New Berlins gelegt, und die Vergangenheit liegt darunter verborgen. Wie ein lebender Organismus ist die Stadt ständiger Veränderung unterworfen. Die Kulisse ist verändert, der Mensch darin ist die Konstante. REMEMBER. Erinnere dich, wer wir sind. Wofür wir kämpfen. Und wer unsere Feinde sind. Wir müssen uns erinnern. Ich muss mich erinnern.

3

Café »Spreeblick« auf der Galerie der Shopping-Mall, U-Atrium Helmholtzplatz, Sublevel -1.

 

»Warst du wieder draußen?« Charlotte kommt zur mir an den Tisch. Der Schmutz auf meinem Mantel fällt ihr gleich auf. »Was suchst du da oben nur?«, fragt sie und setzt sich neben mich. Die Soldaten am Nachbartisch unterhalten sich laut und ausgelassen. Die frischen Bandagen an ihren Armen und Beinen deuten darauf hin, dass sie gerade von der Front kommen. »Diese dreckige Luft … wie kannst du das nur aushalten?« Charlotte verzieht ihr Gesicht. »Der menschliche Körper ist einfach nicht dafür gemacht.« Die Schminke in ihrem Gesicht kann die tiefen Falten nicht verbergen. Charlotte Fleming war einmal eine schöne Frau, aber die Jahrzehnte des Krieges haben sie vorzeitig altern lassen. Sie trägt ein Stützkorsett. Wenn sie denkt, dass ich nicht hinsehe, rückt sie es zurecht. Charlotte schüttelt den Kopf. »Dir kann der Krieg wohl gar nichts anhaben, Brick.« Ihre Feststellung klingt wie ein Vorwurf. Mein Spitzname ist Brick, Backstein. Seit dem Unfall werde ich so genannt. Dabei war es gar kein Backstein, der mich am Kopf getroffen hat.

 

Charlotte ist die Chefin der Geheimpolizei, und ich bin ihr wichtigster Kopfgeldjäger. Zumindest behauptet sie immer, dass ich ihr bester Spürhund bin. Ob es stimmt, weiß ich nicht. Vielleicht will Charlotte mir auch nur schmeicheln.

»Was darf ich euch bringen?« Die Bedienung blickt zu uns hinab. Mit der Hand wischt sie sich die Haare aus ihrem makellosen Gesicht. »Felicitas« steht auf ihrem Namensschild. Felicitas heißt die Glückliche. Der Name ist Programm. Sie hat ihren Körper gut gepflegt. Ihre Wangen erröten, als sie mich sieht.

Charlotte beäugt die Bedienung kritisch. »Tageskarte«, sagt sie schroff.

»Und was möchten Sie?« Felicitas lächelt mich erwartungsfroh an, während sie eine ihrer blonden Locken zwirbelt.

Ich überlege nur kurz. »Gelb, wenn’s recht ist.«

»Wir haben blaue Wochen, Variation grün«, sagt Felicitas.

»Ach, wie dumm … ich vergaß.« Wir können zwischen blauem, roten und gelben Gel wählen. Und verschiedenen Mischungen. »Dann für mich blau wie der Ozean.«

»Für mich grün«, sagt Charlotte.

Die Bedienung wirft mir ein Lächeln zu, bevor sie geht.

Ich sehe ihr kurz hinterher. »Hast du was für mich?«

Charlotte räuspert sich. »Kennst du den Antiquitätenladen ›Vor unserer Zeit‹ im U-Atrium Frankfurter Tor?«

»Natürlich. Ich wohne ja ganz in der Nähe.«

»Es gab dort einen Mord.«

»Einen Mord?« Ich werde hellhörig.

»Kennst du den Besitzer?«

»Flüchtig.«

Die Bedienung kommt mit unserer Bestellung. Charlotte scheint nicht zu wissen, ob sie ihre Verachtung der bildschönen Felicitas zukommen lassen soll oder der grünen Götterspeise, die auf ihrem Teller wabbelt. Der Bote wird verantwortlich gemacht für die schlechte Nachricht. Das Gleiche gilt für das Essen, das eine Bedienung zum Tisch bringt. Selbst wenn sie Felicitas heißt.

Charlotte stochert lustlos mit der Gabel in ihrer Götterspeise herum. »Was machst du in einem Antiquitätenladen?«

»Mich nach Antiquitäten umsehen.«

»Ich verstehe nicht, wonach du da suchst.«

»Nach meiner Vergangenheit.«

»So alt bist du nicht.«

»Einundvierzig Jahre. Wie du.«

Charlotte legt die Gabel auf den Teller und lehnt sich zurück. »Immer noch Probleme mit dem Gedächtnis?«

»Der Arzt meint, ich sollte mich ablenken. Dann würden meine Erinnerungen irgendwann schon von selbst kommen.«

»Wie wär’s mit Paul Bull?«

»Was?«

»Du sollst dich ablenken und ich geb dir einen Namen. Paul Bull, der Besitzer von ›Vor unserer Zeit‹.«

»Ich weiß, wer Paul Bull ist. Warum erwähnst du seinen Namen?«

»Schätz mal …«

»Hat es Bull erwischt?«

»So sieht es aus.« Charlotte wendet den Blick von mir ab. Sie hat mich die ganze Zeit gemustert. »Wir müssen wissen, wer ihn liquidiert hat.«

Ich sträube mich, den Fall anzunehmen. Die Vorstellung, dass wir den Antiquitätenladen auf den Kopf stellen, gefällt mir nicht. »War es überhaupt Mord?«

»Einschusslöcher zieht man sich nicht beim Sturz zu«, erwidert Charlotte mit sarkastischem Unterton. »Geh zum Laden und sieh dich um. Wenn dich der Fall dann immer noch nicht interessiert, ziehe ich dich ab.«

»Sind deine Leute noch da?«

»Mach dir keine Gedanken um meine Jungs.«

»Ich bin Kopfgeldjäger, kein Ermittler.«

»Meine Männer haben einfach nicht deine Fähigkeiten, Brick. Sie sind gut ausgebildet, ja, aber du … du hast Instinkt. Du musst für mich den Fall lösen.«

»50.000 Credits.«

»Du machst Späße.«

»Ich brauch aber so viel.«

»Wofür?«

»Das weißt du.«

Charlotte lacht verächtlich auf. »Für deine Behandlung?«

»Ich muss meine Erinnerungen wiederfinden.« Ich reibe mir in kreisenden Bewegungen über die Schläfen. »Irgendwo in meinem Kopf sind die Antworten auf meine Fragen.«

Charlotte schlingt die Götterspeise in Sekundenschnelle herunter. Essen als Mittel zum Zweck, die Lebensfunktionen aufrechtzuerhalten. »Finde für uns den Mörder, dann sehe ich, was ich für dich machen kann.«

»Ich werde mein Bestes geben.«

»Ich verstehe wirklich nicht, was du in deiner Vergangenheit suchst.« Charlotte blickt mich nachdenklich an. »Vielleicht wird dir gar nicht gefallen, was du da findest.«

 

Die Soldaten an den Nachbartischen verlassen fluchtartig das Café. Gegröle dringt aus dem Atrium. Charlotte und ich folgen den Soldaten auf die Galerie der Mall. Beim Verlassen des Cafés lässt Charlotte ihre Augen vom Interkom scannen. In privaten und öffentlichen Räumen gibt es solche Konsolen, die mit dem Zentralcomputer verbunden sind. »Du bist eingeladen.« Zwei Credits werden von Charlottes Konto abgebucht. Sie kann es sich leisten.

 

»Schweine!«, grölt jemand. Die Menschenmenge vor dem Café ist aufgebracht. »Diese Mistkerle!« Ein Soldat erhebt drohend die Faust. Ich sehe, was der Grund für den Aufruhr ist. Jemand hat an das Café mit roter Farbe ein »C« gesprüht. Keine gute Idee. Die Kameras erfassen jeden Winkel der Mall. Die Observatoren im Kontrollzentrum dürften keine Mühe haben, den Täter zu identifizieren. »U! U! U!«, skandiert die aufgebrachte Menge. Ein Soldat spuckt auf die Schmiererei. »Universals!«, schreit er. »Wir sind Universals!«. Mit der Faust schlägt er auf seine Brust. Charlotte ergreift meine Hand. Es ist, als bekäme ich einen elektrischen Schlag. Charlotte lächelt. Zum ersten Mal seit unserem Treffen. Die Menschen fassen sich an den Händen. Innerhalb von Sekunden entsteht so eine Menschenkette. »U! U! U!!« Ich rufe mit. Es spielt keine Rolle, dass ich mich nicht erinnern kann. Ich stehe an der Seite dieser Menschen. Für meine Kameradinnen und Kameraden kämpfe ich. »Unity! Unity! Unity!« Das rote »C« symbolisiert die anderen. Hier sind wir, dort steht der Feind. Die Colonials wollen nicht akzeptieren, wie wir leben. Sie sind es, die den Krieg begonnen haben. »U! U! U!!«, rufen wir alle zusammen. Den Colonials wird es nicht gelingen, unsere Einheit zu zerstören. Es ist eine Mischung aus Hass und Glückseligkeit, die mich erfüllt. »U! U! U!«

4

Antiquitätenladen »Vor unserer Zeit«, U-Atrium Frankfurter Tor, Sublevel -1.

 

Da, wo Bulls Leiche gelegen hat, ist nur noch eine Schmiere auf dem Teppich. Es sieht so aus, als wäre der Körper schon im Zustand der Verwesung gewesen. Drei Projektile stecken in der Wand des Antiquariats. Die Mordwaffe war eine Schusswaffe. Das ist von Bedeutung. Pistolen und Gewehre sind schwer zu bekommen. Messer, Hämmer und Äxte sind für gewöhnlich die Tatwaffen der Spione und Attentäter. Ich frage mich, warum der Mörder nicht den leisen Weg der Tötung gewählt hat. Ist es als Botschaft zu verstehen? Ich begutachte das Gitter, das den Laden vom Thekenbereich trennt. Die Schussrichtung quer durch das Antiquariat zeigt, dass sich der Täter im Laden aufgehalten haben muss. In den Verkaufsbereich kommt nur derjenige, den Bull hereinlässt. Wenn ich die Spuren auf dem Teppich richtig deute, war Bull nicht sofort tot, sondern ist noch einige Meter über den Boden gekrochen, bevor er sein Leben aushauchte.

 

»Was suchst du hier, Brick?« Der Vize-Chef der Geheimpolizei steckt die Hände in die Taschen seines Mantels. Wie ich befürchtet habe, ist Jeremiah Glass mit seinen Leuten noch am Tatort. Die Abkürzung P.I.D. steht auf der Rückseite ihrer schwarzen Trenchcoats: Police for Inner Defense. Glass ist eine lebende Legende. Durch die langen Haare seiner Perücke schimmert eine Gesichtsprothese hindurch. Das halbe Gesicht wurde ihm von einer Sprengbombe weggerissen. Am Tag der großen Frühjahrsoffensive wurde er entstellt, bei der die West-City an die Colonials verloren ging. Glass soll den Angriff des Feindes im U-Atrium Schlesisches Tor zum Halt gebracht haben, indem er allein dem Feind die Stirn bot, bis Verstärkung eintraf. Im Kampf Mann gegen Mann hat er angeblich mehr als dreißig Feinde niedergemetzelt. So lautet jedenfalls die Legende. Die Frühjahrsoffensive der Colonials ist fünf Jahre her. Dann und wann springt die Prothese, die Glass eingepasst wurde, aus der Verankerung, und es hört sich so an, als würde Toastbrot ausgeworfen. Toaster ist daher sein Spitzname.

 

Toaster pflegt das Image des Creeps; weniger, um bei Verhören zu punkten, als sich Respekt bei seinen Leuten zu verschaffen. Und wenn ich die Männer mustere, die ihn zum Tatort begleitet haben, bemerke ich, wie sie gebührend Abstand zu ihrem Chef halten. Ehrfurcht liegt in ihren Blicken. Toaster hat schon mehrere Attentate überlebt. Immer wieder flicken ihn die Ärzte zusammen.

Ich wische mir über die trockenen Lippen. »Wo ist Bulls Leiche?«

»Sagen wir mal, wir haben das, was von ihm übrig ist, mit Schaufeln aufgelesen und in einem Sack zur Leichenhalle transportiert.«

»Mit Schaufeln? Wie soll ich mir das vorstellen?«

Toaster lächelt finster. Nur der rechte Mundwinkel hebt sich dabei. Eine Antwort bleibt er mir schuldig. Ich knie mich hin, um die Flecken auf dem Teppich zu begutachten. Die Umrisse entsprechen denen eines korpulenten, groß gewachsenen Mannes. Passend zu Bulls Statur. »Die Leiche muss tagelang hier gelegen haben«, sage ich. Ich vernehme ein Klicken, als ob Brot aus dem Toaster ausgeworfen wird. Es riecht nach Karamell. Wann habe ich das letzte Mal Toastbrot gegessen? Es muss eine Ewigkeit her sein. Mein Verstand spielt mir etwas aus der Vergangenheit vor. Eine süße Täuschung. Das Geruchsgedächtnis ist das mächtigste Gedächtnis, das wir haben.

Toaster rastet seine Gesichtsprothese wieder ein. Der Spalt zwischen seiner rechten und linken Gesichtshälfte verschwindet. Toaster genießt die Aufmerksamkeit, die ihm bei diesem Ritual zuteil wird. »Der Mord ist keine fünf Stunden her.«

»Unmöglich.« Ich deute mit dem Finger auf die Verwesungsflüssigkeit, die tief in das Baumwollgewebe des Teppichs eingedrungen ist.

»Keine falschen Schlussfolgerungen.« Toaster lächelt, und es ist wiederum nur der rechte Mundwinkel, den er nach oben verzieht. Die Asymmetrie in seinem Antlitz wirkt verstörend. »Es war ein Speedy.«

»Speedy …«, wiederhole ich, ohne Toasters Feststellung Glauben zu schenken. Immer wieder gibt es Gerüchte von Menschen, die innerhalb von Stunden verwesen. »Speedies« werden diese Toten genannt, die sich innerhalb kurzer Zeit aufzulösen scheinen. Eine Verflüssigung im Schnelldurchgang sozusagen. Ich schenke solcherlei urbanen Mythen keinerlei Aufmerksamkeit. Für mich zählen alleinig Fakten. Ich mustere das Pistolenholster von Toaster. Auch Geheimpolizisten tragen Schusswaffen.

Toaster zieht seinen Trenchcoat über die Gürtelschnalle, um seine Dienstwaffe zu verbergen. Ein Spion in den Reihen der P.I.D. muss auch für Toaster eine Horrorvorstellung sein. »Bull hat das Interkom vor sechs Stunden bedient«, sagt Toaster.

»Bist du sicher, dass es Bull war?« Ich gehe zum Interkom und aktiviere die Konsole über den Iris-Scanner. Die Kommunikationsplattform öffnet sich. Das Interkom scheint einwandfrei zu funktionieren. »Vielleicht hat jemand das Interkom mit Bulls Auge aktiviert? Ich meine, nur mit seinem Auge?«

»Du solltest wissen, dass der Scanner tote von lebenden Augen unterscheiden kann.«

»Ja, die Arterienüberwachung. Aber die kann man austricksen.« Ich habe schon von Fällen gehört, dass der Irisscanner mit Augen ausgelöst wurde, die vom Körper getrennt waren. Jedes Sicherheitssystem lässt sich umgehen. »Was ist mit den Überwachungskameras im Laden?«, hake ich nach.

»Der Mörder war ein Profi.« Toaster deutet auf die Kamera über der Theke.

Ich bemerke, dass jemand Farbe auf die Linse der Kamera gesprüht hat. Es ist rote Farbe. Rot, wie das Graffito-C vorm Café Spreeblick im U-Atrium Helmholtzplatz.

»Lassen wir Brick allein. Vielleicht findet er ja was raus.« Toaster lacht verächtlich auf. Er gibt seinen Männern ein Handzeichen. »Abmarsch!« Die Männer der P.I.D. folgen wortlos dem Befehl. Ich weiß, dass Toaster die Aufzeichnungen der Kameras in der Umgebung analysieren wird, um herauszufinden, wer den Laden betreten hat. Und das könnte für mich zum Problem werden.

 

Das Diktiergerät, in das ich hineinspreche, habe ich im Antiquariat gekauft. Ich gehe in einen Nebenraum, der sich, verdeckt von einem Vorhang, an den Laden anschließt. Hier hat Bull seine kostbarsten Stücke gelagert. Früher oder später wird Toaster herausfinden, dass ich allzu oft im Antiquariat war. Möglich, dass ich schon längst zu den Verdächtigen zähle. Charlottes misstrauischer Blick bei unserem Treffen im Café ist mir aufgefallen. Viel Zeit bleibt mir nicht, den Mörder zu finden, bevor ich selbst auf der Abschussliste stehe.

 

Ich ziehe einen dreckigen Lappen von der Truhe, die in der Ecke der Abstellkammer steht. »Ikarus« steht auf der Truhe. Bull sagte, er hätte die Truhe von einem der Digger erworben, die für ihn arbeiten. Digger sind Schatzsucher. Wie Kopfgeldjäger arbeiten sie auf eigene Rechnung. Als Einzige wagen sich Digger in die verfallenen Sublevel, die tief unter der Stadt liegen, dort, wo die wertvollsten Artefakte zu finden sind. Nur wenige Digger, die sich in die Unterwelt begeben, kehren zurück.

 

Ein pochendes Geräusch lässt mich aufhorchen. Ich luge in den Verkaufsraum und realisiere, was vor sich geht. Jemand steckt im Schacht der Klimaanlage. Mit einem Ruck reiße ich das Lüftungsgitter ab. Blaue Augen starren mich an. Ich reagiere zu spät.

 

Meine Brust schmerzt, als ich zu mir komme. Ich taste über meinen Mantel und ziehe eine Spritze aus meinem Brustkorb. Die Flüssigkeit, die mir injiziert wurde, muss mich innerhalb von Sekundenbruchteilen paralysiert haben. Ich versuche zu verstehen, was passiert ist. Eine Frau hat mich außer Gefecht gesetzt. Sie muss mein Gespräch mit Toaster belauscht haben. Wer weiß, wie lange sie schon im Schacht der Klimaanlage gesteckt hat. Ich taumele zur Vorratskammer. Das Betäubungsmittel macht mir noch zu schaffen. Warum hat die Frau mich am Leben gelassen? Die Kiste, die in der Abstellkammer stand, ist geöffnet, das Artefakt, das darin aufbewahrt wurde, ist verschwunden. Die Frau hat das Artefakt geraubt. Hat sie auch Bull ermordet? Ich blicke zum Interkom. Meine Sicht ist verschwommen, und ich habe Mühe, mich zu konzentrieren. Ich reibe mir über die Augenlider und fokussiere meinen Blick. Mir ist übel, als hätte ich einen Kater. Laut der Uhr auf dem Interkom war ich zwanzig Minuten weggetreten. Ich überprüfe meine Taschenlampe. Der Akku ist aufgeladen. Ich leuchte in den Schacht. Steigeisen führen in die Tiefe. Im Rostbelag sind frische Trittspuren zu erkennen. Es war eine blonde Frau mit blauen Augen und hohen Wangenknochen. Auf dem Kinn hatte sie eine Narbe. Ich darf keine Zeit mehr verlieren und nehme die Verfolgung auf.

5

U-Atrium RAW, Sublevel -1.

 

Die Clubs und Bordelle im U-Atrium RAW sind mit zwielichtigen Gestalten bevölkert. Bis zur Spree ist es nicht weit, und dahinter steht der Feind. Eine merkwürdige Mischung aus Hedonismus und Apokalypse, hier, so nahe an der Front. Gut möglich, dass die Frau versucht, in diesem unübersichtlichen Gewimmel von Menschen unterzutauchen. Den Spuren nach zu urteilen, muss sie den Lüftungsschacht im Club Cassiopeia verlassen haben.

 

Die Räume in der oberen Etage des Cassiopeia sind in ein diffuses Licht getaucht. Ich gehe an Sofas vorbei, in denen Männer und Frauen vor sich hindämmern. Apathisch starren sie mit halb geöffneten Augen in die Ferne. In einem Seitenzimmer wirft eine rotierende Illuminationskugel tausende von Lichtpunkten an die Decke. Keiner, der nicht durch irgendeine Substanz betäubt ist. Manche schnüffeln an billigem Klebstoff, andere haben noch genug Credits, um sich Illusion zu spritzen. Verlorene Seelen allesamt. Die meiste Zeit lassen wir diese Outsider unbehelligt. Früh genug müssen sie ihren Tribut leisten. Stehen Offensiven an, werden Outsider als Kanonenfutter in die vordersten Reihen geschickt, um Sprengfallen auszulösen.

 

»Hey, Brick, wo hast du dich rumgetrieben? Bist ja total verschwitzt und verdreckt.« Der Manager des Cassiopeia kommt auf mich zu. Claus Schwarzkopf, von allen Cassio genannt. Cassio hat sich unser »U« auf Hals und Stirn tätowieren lassen. Und wer weiß, wohin sonst noch. Mir liegen derlei äußerliche Bekundungen der Zugehörigkeit nicht. Patriotismus trägt man im Herzen. »Du solltest den Lüftungsschacht mal säubern«, sage ich mit ironischem Unterton.

»Lüftungsschacht?« Cassio runzelt die Stirn. »Meinst du etwa, dass … bist du …? Ist dir der Vordereingang nicht mehr gut genug oder was?«

»Nach der Erfahrung vom letzten Mal wollte ich deinen Türstehern aus dem Weg gehen.«

Cassio lacht auf. Dann verfinstert sich seine Miene von einem Augenblick zum anderen. »Weshalb bist du hier, Brick?«

»Ich suche eine Frau.«

»Eine Frau? Du hättest nur zu fragen brauchen.«

»Ich suche eine blonde Frau.«

»Fast alle meine Frauen sind blond.«

»Und wie sieht es mit einer Narbe aus?«

»Narbe?«

»Ich suche eine Blondine mit einer Narbe auf dem Kinn. Einer etwa sechs Zentimeter langen Narbe.«

Cassio blickt mich misstrauisch an. »Ich lasse es dich wissen, wenn mir eine Frau mit einer Narbe über den Weg läuft.«

Ich werde aus dem Club geworfen, ohne die Frau gefunden zu haben. Ich frage mich, warum sie gerade ins RAW geflüchtet ist. Die Frau sitzt hier in der Falle. Fast alle U-Bahn-Tunnel sind verbarrikadiert. Die einzige Linie, die noch in Betrieb ist, führt zu unserem letzten Außenposten in Kreuzberg.

 

Zwei Kompanien Marines warten auf dem Bahnsteig. Es ist die Ablösung für die Fronttruppe. Die U-Bahn fährt ein, und die Elitesoldaten verladen hastig ihre Ausrüstung. Im Augenwinkel sehe ich einen Schatten über den Bahnsteig huschen. Es ist eine Frau. Sie hat sich die Kapuze ihres Anoraks tief ins Gesicht gezogen. Die Warnsignale der U-Bahn gehen an. Ist es die Frau mit der Narbe? Ich muss mich entscheiden. Im Moment, als sich die Türen schließen, springe ich in die U-Bahn.

 

Die Marines stehen in der Passagierkabine dicht an dicht. Die Frau muss etwa fünf Türen entfernt sein. Diesmal bin ich vorbereitet. Ich greife nach meiner Harpunen-Pistole im Schulterholster, während ich mich an den Soldaten vorbeidränge. Die Marines murren, lassen mich aber passieren. Das Licht in der U-Bahn flackert. Die Fahrt verlangsamt sich, dann bleibt die U-Bahn stehen. Wir sind noch nicht im U-Atrium Schlesisches Tor eingefahren. Im Pulk der Soldaten sehe ich eine Frau im Anorak. Mit aller Gewalt versucht sie, eine der Türen aufzuschieben. Ich ziehe meine Pistole aus dem Schulterholster und ziele. Die Fangschlaufe der Waffe ist aufgerollt, der Harpunenpfeil ist geladen. Es wird mein 98. Fang. Die Frau dreht sich um und sieht mir in die Augen. Ich erkenne die Narbe auf ihrer Wange. Jetzt oder nie. Ich schieße.

 

Das Licht geht aus. »Sie sind durch«, flüstert ein Unteroffizier neben mir.

---ENDE DER LESEPROBE---