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Früher waren Jim und Tommy unzertrennlich. Jim, der Gymnasiast, wuchs bei seiner frommen Mutter ziemlich wohlbehütet auf. Tommy lebte bei einem Pflegevater und arbeitete in der Sägemühle. Nun treffen sie einander nach über dreißig Jahren wieder: Tommy hat es in der Finanzbranche zu Wohlstand gebracht, aber der Job ist ihm zuwider. Jim ist Bibliothekar geworden, seit einem Jahr jedoch ist er krankgeschrieben und angelt am Fluss. In unvergesslichen Szenen schildert Petterson die Freundschaft der beiden Männer, ihre Frauen, ihre Einsamkeit, ihre Wut und ihren Trotz. Wie kein anderer erzählt der vielfach ausgezeichnete Autor aus Norwegen vom ganz Alltäglichen auf ganz ungewöhnliche Weise.
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Seitenzahl: 370
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Hanser E-Book
PER PETTERSON
Nicht mit mir
Roman
Aus dem Norwegischen
von Ina Kronenberger
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-24687-4
© Forlaget Oktober A/S, Oslo 2012
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München 2014
Motto: Oh, Sister
M & L: Bob Dylan, Jacques Levy
© Ram’s Horn Music, Jackelope Publishing Co. Inc.
Mit freundlicher Genehmigung der
Sony/ATV Music Publishing (Germany) GmbH
Umschlag:
Peter-Andreas Hassiepen, München © Claire Morgan / Getty Images
Satz: Gaby Michel, Hamburg
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
Für Øivind
Oh, sister, am I not a brother to you
And one deserving of affection?
BOB DYLAN
I
Dunkel. Es war viereinhalb Stunden nach Mitternacht. Ich kam aus Hauketo und fuhr auf den Herregårdsveien zu. Kurz vor dem Bahnhof Ljan bog ich oberhalb der Eisenbahnbrücke nach links, die Ampel war rot, aber es war niemand zu sehen, darum bog ich einfach ab. Als ich auf der anderen Seite schon ein gutes Stück in der Straße war und den Laden passiert hatte, der sich dort befand und Karusellen hieß, tauchte plötzlich ein Mann aus der Dunkelheit auf, als würde er ins Scheinwerferlicht vor meinen Wagen katapultiert. Er war im Begriff zu fallen, als ich ihn sah. Ich stieg auf die Bremse, die Räder blockierten, und der Wagen rutschte mit einem unangenehm kreischenden Geräusch ein paar Meter seitlich weiter und kam kurz vor dem Mann zum Stehen. Der Motor ging sofort aus. Ich war davon überzeugt, den Mann mit der Stoßstange erwischt zu haben.
Doch dann fiel er gar nicht. Er lehnte sich an die Motorhaube, ging drei Schritte rückwärts, blieb stehen und schwankte, ich sah, wie das Licht in seine Augen strömte. Er starrte auf die Windschutzscheibe, aber er konnte mich nicht sehen, er konnte gar nichts sehen. Seine Haare waren lang, sein Bart war lang, und er hatte einen grauen Rucksack unter den Arm geklemmt. Einen Augenblick lang glaubte ich, es sei mein Vater. Aber es war nicht mein Vater. Ich hatte meinen Vater noch nie gesehen.
Dann verschwand er in der Dunkelheit auf der anderen Seite der Straße, von wo ein steiler Pfad hinunter nach Ljansdalen führte. Ich blieb mit steifen Armen sitzen, die Hände fest gegen das Lenkrad gepresst, das Auto schräg auf dem Herregårdsveien, halb auf der Gegenfahrbahn. Es war nach wie vor dunkel, ja, noch dunkler jetzt. Zwei Scheinwerferlichter kamen die Straße herauf. Ich drehte den Zündschlüssel um, doch der Motor wollte nicht starten, ich versuchte es noch einmal, und diesmal sprang er an. Ich spürte, wie rasch mein Atem ging, ganz oben im Hals, so wie Hunde atmen. Ich setzte zurück in meine eigene Spur, bevor das andere Auto bei mir angelangt war, und fuhr in einer leichten Kurve langsam hinunter zum Mosseveien und bog unten nach rechts, Richtung Oslo.
Ich wohnte damals nordöstlich von Oslo, in Romerike, unter Jens Stoltenbergs erster rotgrüner Regierung, und doch nahm ich immer seltener den einfachen Weg nach Oslo über die E6, sondern fuhr lieber östlich in einem großen Bogen um die Hauptstadt herum, von Lillestrøm über Enebakk nach Hauketo, weil die Strecke schöne Erinnerungen in mir wachrief.
Dieser Weg war sehr viel weiter und dauerte länger, aber das machte nichts, ich war seit einem Jahr krankgeschrieben. Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen würde. Vom Arbeitsamt war ein Brief in der Post gewesen, in dem stand, dass ich dort vorzusprechen hätte, aber ich würde bestimmt nicht so bald wieder an meinen Arbeitsplatz zurückkehren. Solange ich nicht vergaß, meine Pillen zu schlucken, ging ein Tag wunderbar in den nächsten über.
Ich fuhr mit etwas unter sechzig über den Mosseveien zur Hängebrücke, die Ulvøya mit dem Festland verband. Noch immer herrschte kein Verkehr. Ich fuhr über die Brücke, die unter mir ein wenig schaukelte, es war ein schönes Gefühl, wie auf einem Schiffsdeck, das gefiel mir.
In der Kurve dahinter stellte ich das Auto rechts von der Straße in der Parkbucht ab, ich schloss die Augen, blieb sitzen und wartete. Atmete in den Bauch. Dann öffnete ich die Tür und schwang die Füße nach draußen, ging um das Auto herum, öffnete den Kofferraum und nahm die alte schwarze Tasche mit den Angelsachen heraus. Nichts Kompliziertes, eine Handangel mit Schnur, zwanzig Haken und einem Senkblei.
Die meisten anderen standen schon am Geländer, sie standen seit zehn Jahren hier oder noch länger. Ich war der einzige Neue im vermutlich selben Zeitraum, aber keiner fragte mich, warum ich plötzlich hier auftauchte. Seit drei Monaten stand ich mindestens zweimal die Woche hier.
Der Erste in der Reihe drehte sich um, als ich mit der Tasche in der Hand auf die Brücke kam, und grüßte mit drei Fingern an der Mütze, wie ein Pfadfinder. Er trug zwei Pullover übereinander, der obere war blau, der darunter weiß, na ja, fast weiß, und beide waren zerschlissen, er wurde Container-Jon genannt. An den Händen hatte er Pulswärmer, vielleicht waren es aber auch normale Fingerhandschuhe, von denen er die Finger abgeschnitten hatte. Das hatte ich bei Zeitungsausträgern gesehen. Seine hier waren überraschend rot, fast rosa.
»Schon was gefangen«, fragte ich.
Er antwortete nicht, sondern lächelte und zeigte auf die Zeitung, die er neben seinen Füßen auf dem Boden ausgebreitet hatte. Dort lagen ein mittelgroßer Dorsch und zwei kleine Makrelen, die eine zappelte noch. Er zwinkerte mir mit dem linken Auge zu, nahm die rechte Hand hoch und zeigte mir dreimal fünf gespreizte Finger.
»In einer Viertelstunde«, sagte ich und pfiff leise.
Eine Plastiktüte hatte sich im Geländer verfangen, von ICA oder COOP, irgendwas in der Art, sie gehörte nicht ihm, das war klar, und zwei Pappbecher lagen zusammengeknüllt auf dem Boden und eine helle Serviette mit Ketchup- und Senfflecken klebte daneben, und außerdem lag etwas weiter weg ein Fischbehälter mit billiger Schnur. Container-Jon hustete ein paar Mal heftig und besorgniserregend hohl mit den Pulswärmern vor dem Mund, drehte sich um und sagte in die Dunkelheit:
»Scheiß-Ausländer. Angeln tagsüber.«
Ich ging an ihm vorbei und stellte mich zwischen zwei Angelruten, die näher am Festland waren, beim neunten Hänger, löste den letzten Haken der Handangel, zog einen halben Meter Schnur heraus und beugte mich über das Geländer. Mit ein paar linkischen Drehungen des Handgelenks ließ ich die Schnur mit dem Senkblei am Ende langsam ins Wasser hinab. Ich hatte jeden Haken oben mit rotglänzendem Tape umwickelt. Als mein Onkel in seiner Hochphase etwas südlich von hier im Bunnefjord direkt vor Roald Amundsens Haus in einem Ruderboot angelte, das er sich kurzerhand ausgeborgt hatte, nahm er stets die Innereien von Miesmuscheln als Köder. Er wollte im Salzwasser fischen, das war Anfang der Sechziger, und so fuhr er mit seinem grauen Volvo PV die weite Strecke zum Anleger Bekkensten, ging in Anglerstiefeln ins Wasser, die spiegelblanke Oberfläche befand sich direkt unter der Stiefelkante, bückte sich mit aufgekrempelten Hemdsärmeln in dem vergeblichen Bemühen, nicht nass zu werden, pflückte Miesmuscheln und legte sie in einen Eimer, den er auf halber Höhe abgeschnitten hatte und der vor ihm im Wasser trieb. Aber mir war das zu kompliziert, und ich legte schon gar nicht so einen weiten Weg zurück, um mir Köder zu beschaffen, und der Fisch biss nicht besser und nicht schlechter an als damals bei meinem Onkel. Du brauchst keinen Köder, sagten die anderen auf der Brücke, der Fisch beißt direkt in den Haken.
Ich befestigte eine Fahrradnabe am Geländer, verhakte die Schutzblechstangen in dem Gestänge, eine solche Vorrichtung nannte man Angelschnurwinde, sie wurde in der Regel am Dollbord eines Fischerboots befestigt, und man konnte sie auch für Geld im Laden kaufen, wenn man wollte, aber das hier war ein selbstgebasteltes Patent. Ich legte die Schnur in die Rille und konnte sie so problemlos vor und zurück bewegen, ohne dass sie sich am Geländer aufscheuerte und dann mit einem Knall riss. Das war schon vorgekommen, zur allgemeinen Belustigung.
Langsam wurde es heller. Ich stand seit mehr als zwei Stunden da und hatte noch nichts an den Haken bekommen. Das ärgerte mich ein wenig, aber offen gestanden hielt sich meine Begeisterung für Fisch in Grenzen. Anders als früher. Was ich fing, schenkte ich weg.
Normalerweise fuhr ich nach Hause, bevor die ersten Wagen über die Brücke rollten, aber heute hatte ich getrödelt. Ich hatte noch nicht einmal angefangen, meine Tasche zu packen, da kamen schon schicke Autos angerollt, teure Autos. Ich kehrte der Straße den Rücken zu, die zerschlissene marineblaue Lotsenjacke hatte ich fest um den Brustkorb gezogen. Die Jacke besaß ich seit meiner Jugend in Mørk, und von den alten Messingknöpfen war nur noch einer intakt, die Strickmütze – auch sie war blau – hatte ich weit über die Ohren gezogen, von hinten sah ich aus wie viele andere.
Ich machte die Handangel am Geländer fest, drehte mich um und ging in die Hocke, um mir aus der Schachtel, die ich in der Tasche hatte, eine Zigarette zu nehmen. Ich sollte unbedingt mit dem Rauchen aufhören, ich hatte angefangen, morgens zu husten, das war ein schlechtes Zeichen, aber in dem Moment hielt neben mir ein Wagen, und das Fenster auf der Fahrerseite befand sich auf Höhe meines Gesichts. Langsam richtete ich mich auf, ich hatte die Zigarette zwischen den Lippen und zündete sie auf dem Weg nach oben in der hohlen Hand mit einem Streichholz an, ich benutzte immer Streichhölzer, ich mochte das viele Plastik nicht.
Es war ein grauer Mercedes, funkelnagelneu, und der Lack glänzte, wie Haut manchmal glänzt, in bestimmten Situationen. Dann glitt die Scheibe lautlos herunter.
»Ist das nicht Jim«, sagte er.
Ich erkannte ihn sofort. Es war Tommy. Er hatte schütteres, fast graues Haar. Aber die waagerechte Narbe über dem linken Auge war immer noch deutlich zu erkennen, weiß und silberglänzend. Er trug einen lila Mantel, den er bis oben zugeknöpft hatte. Der Mantel sah nicht billig aus. Tommy war ganz der Alte, doch zugleich sah er aus wie Jon Voight in Der Staatsfeind Nr.1. Lederhandschuhe. Offener Blick. Eine Spur unfokussiert.
»Das stimmt«, sagte ich.
»Mann, ich glaub’s nicht, wie lange ist das jetzt her. Fünfundzwanzig Jahre. Dreißig.« Und ich sagte:
»Ungefähr. Etwas mehr.«
Er lächelte. »Wir sind damals verschiedene Wege gegangen, stimmt’s.« Er sagte es einfach so, ohne Wertung.
»Das ist wahr«, sagte ich. Er lächelte, er freute sich, mich zu sehen, so kam es mir vor.
»Und jetzt stehst du hier auf dieser Brücke mit dieser Mütze und angelst, und ich komme in dieser Kiste hier an. Die war nicht billig, das kann ich dir sagen. Aber ich kann sie mir leisten. Scheiße, ich könnte mir zwei davon kaufen oder mehr, wenn ich wollte, und bar bezahlen. Ist das nicht komisch.« Er lächelte.
»Was denn.«
»Dass sich die Dinge so entwickeln können. Verkehrt herum.«
Verkehrt herum, dachte ich, War es so. Aber er sagte es nicht, um mich herunterzumachen. Das würde er niemals tun, nicht, wenn er noch derselbe war wie damals, als wir jung waren. Er fand es einfach nur komisch.
»Tja«, sagte ich, »da hast du recht. Es ist schon komisch.«
»Hast du was gefangen«, sagte er.
»Nein«, sagte ich. »Heute ist wohl nicht mein Tag.«
»Aber du brauchst den Fisch doch nicht, ich meine, zum Essen, ja, du verstehst schon.«
»Nein, nein«, sagte ich.
»Denn dann könnte ich dir helfen«, sagte er, und ich sagte nichts, und daraufhin sagte er: »Das war eine bescheuerte Bemerkung, tut mir leid«, und sein Gesicht färbte sich sichtbar rot, und es sah so aus, als würde er zu viel trinken.
»Ist schon in Ordnung«, sagte ich.
Es war nicht in Ordnung, aber er war damals so wichtig für mich gewesen. Wir waren miteinander durch dick und dünn gegangen.
Weitere Autos kamen den Hang herunter zur Brücke, und es gab nur eine Spur, also bildete sich eine Schlange, und in einem der Wagen begann jemand zu hupen.
»Es war jedenfalls schön, dich zu sehen. Bis ein andermal vielleicht, Jim«, sagte er, aber es war ein unbehagliches Gefühl, als er meinen Namen sagte, wie der Schein einer Taschenlampe im Gesicht, und ich wusste nicht, was er mit ein andermal meinte, was dann passieren sollte. Dann glitt die leicht getönte Scheibe nach oben. Er hob die Hand, und das Auto rollte los, nahm auf der Brücke Fahrt auf und blinkte auf der anderen Seite nach links, Richtung Stadt. Mittlerweile war es fast hell. Es klarte auf.
Mit denselben linkischen Bewegungen wickelte ich die Schnur an der Handangel auf, befestigte den letzten Haken an der Rolle, ging mit dem baumelnden Senkblei am Geländer entlang und warf die Zigarette, an der ich kaum Freude gehabt hatte, in einem glühenden Bogen über das Drahtseil ins Wasser, ich packte die Angel in die Tasche und die Tasche in den Kofferraum und schlug den Deckel mit einem Knall zu, ging auf die Beifahrerseite, zu den Büschen, trat ganz dicht heran, fiel auf die Knie und hielt mir mit beiden Armen den Bauch, ich versuchte, langsam zu atmen, schaffte es aber nicht. Ich begann zu heulen. Ich hatte den Mund weit geöffnet, dann war es weniger laut, und die Luft konnte leichter rein und raus, und ich stöhnte nicht sehr heftig. Es war ganz seltsam.
Es dauerte, bis die Attacken nachließen, erst musste ich müde werden. Dann ging alles wie von selbst. Es ist eigenartig, was man nicht alles lernt. Schließlich stand ich auf, stützte mich mit einer Hand auf die Autotür, wischte mir mit der anderen gründlich das Gesicht ab und ging wieder um das Auto herum. Die anderen auf der Brücke waren mit ihren eigenen Sachen beschäftigt. Drei von ihnen machten sich zum Gehen bereit. Ich stieg ein. Ich war der Einzige, der ein Auto hatte. Ich wusste nicht, wo die anderen wohnten, aber vermutlich nicht weit weg, wenn sie zu Fuß gehen konnten. Einmal hatte ich gefragt, ob jemand mitfahren will, und alle hatten abgelehnt.
Als ich die Brücke überquert hatte, entschied ich mich für den kürzesten Weg, Richtung Oslo Zentrum, obwohl der Verkehr auf dem Mosseveien zunahm. Dazu musste ich den Mautring passieren, das kostete zwanzig Kronen, aber wenn ich den einfachsten Weg nahm, über Lørenskog und Furuset, gab es auch auf dieser Seite einen Mautring, es lief also auf das Gleiche hinaus.
Ich verließ den Ort in die entgegengesetzte Richtung, aus der ich vorhin gekommen war, und in meiner Spur, die nach Osten führte, gab es kaum Autos, nur wenige wetteiferten um den Platz. In der anderen Spur befanden sich alle, die ins Ortszentrum wollten, sie standen dicht an dicht, bewegten sich kaum, während ich auf meiner Seite in die Tunnel bei Vålerenga und Etterstad hineinfuhr und wieder hinaus in das morgendliche Licht, weiter über die E6 und dann bei Karihaugen nach rechts Richtung Lillestrøm, und die ganze Kommune Lørenskog wurde erneuert, war dem Erdboden gleichgemacht worden und sollte wieder aufgebaut werden mit Einkaufszentren und Parkhäusern, und überall gab es bodenlose Krater und Kräne und hinter der Solheim-Kreuzung wie Brotscheiben abgeschnittene Höhenzüge. Es war schon Herbst, September, plötzlich waren wir mittendrin, und die wenigen Bäume, die noch in spärlichen Grüppchen auf beiden Seiten der Autobahn standen, leuchteten dunkelgelb und rot, und auf dem Weg zum Rælingstunnel rauschte feuchtkalte Luft durch das offene Wagenfenster.
Von der Tiefgarage aus erklomm ich mühsam die zwei Treppenabsätze ins Erdgeschoss und schloss die Tür zu meiner Dreizimmerwohnung auf, die ich allein bewohnte. Ich war müde. Ich streckte den Hals und ließ den Kopf mehrmals kreisen, zog meine Schuhe aus und stellte sie mit dem Absatz an die Fußleiste unter den Jacken, die an der Wand darüber hingen, hängte die Lotsenjacke an einen der Haken und packte die Angelsachen in eine große Metalldose, auf deren Deckel ein schöner Hahn abgebildet war und die einmal eine Keksmischung der Keksfabrik Sætre enthalten hatte, stellte sie in ein Regal im Abstellraum, ging ins Bad, füllte die Hände mit Wasser und wusch mir gründlich das Gesicht. Ich betrachtete mich im Spiegel. Ich hatte dunkle Ringe unter den Augen, und die Augen waren innen an der Nasenwurzel rot, ich war sicher mit Promille gefahren. Das wurde mir erst jetzt bewusst.
Lange rieb ich das Gesicht mit dem Handtuch trocken und ging leise auf Socken durch das Wohnzimmer zum Schlafzimmer und schaute hinein. Sie schlief noch. Die dunklen Haare auf dem Kissen. Die fremden Lippen. Ich blieb in der Tür stehen und wartete. Eine Minute, zwei Minuten, dann machte ich kehrt und ging zum Sofa, setzte mich an den Wohnzimmertisch und zündete mir eine Zigarette an. Ich schaffte sie nur zur Hälfte. Ich sollte damit aufhören. Diese Woche könnte ich es probieren.
Ich drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, stand auf, ging in die Diele und holte mir eine Decke aus der Abstellkammer, ging zurück und legte mich aufs Sofa. Meine Augen brannten. Die Lider ließen sich nur widerwillig öffnen und schließen, und die Haut im Gesicht scheuerte maskenhaft steif und trocken an den Wangenknochen. Ich war mir sicher, dass ich nicht einschlafen würde. Doch ich schlief ein, und als ich aufwachte, war sie gegangen. Ich versuchte mich an ihren Namen zu erinnern, aber er war weg.
Tommy, Tommy! Beeil dich, Tommy!
Es war Tya, die schrie, meine Mutter, ich hörte sie sehr deutlich, daran kann ich mich erinnern, aber heute weiß ich nicht mehr, was ihre Stimme zu ihrer Stimme machte, wodurch sie sich von anderen unterschied. Die Erinnerung ist seit langem verschwunden.
Ich bin es, Tommy Berggren, der sich daran erinnert, wie kalt es damals war, wie die Temperaturen unter null Grad lagen und ich an dem Tag, als sie nach mir rief, zehn geworden war. Tommy, Tommy! Beeil dich, Tommy, rief sie, und ich rannte über den Plattenweg zum Briefkasten und auf die Straße, wo ich sah, wie die Laken steif an den Wäscheleinen hingen, als hätte man vor jedem Haus eine Leinwand aufgespannt, und sie waren genauso steif, wenn die Frauen sie abnahmen, hingen wie Fahnen im Wind, wie weiße Fahnen, ich ergebe mich, sagten sie.
Ich rannte um mein Leben, als ich hörte, wie sie nach mir rief, Tommy! Tommy!, rief sie, aber ich konnte sie nicht sehen, konnte nicht hören, woher ihre Stimme kam. Ich rannte im Kreis, rannte auf der Straße im Kreis, sah die Straße hinauf und wieder hinunter, aber draußen war kein Mensch unterwegs, und ich rannte über den Pfad zwischen unserem Haus und dem Nachbarhaus und über die Wiese hinter der Senke, und wir spielten oft in dieser Senke, Jim und ich, dann konnten sie uns vom Fenster aus nicht sehen. Und dort war sie auch, auf dem kahlen Hügel zwischen den Birken stand meine Mutter in ihrem grauen Mantel, in ihrem warmen Mantel stand sie im Birkenwäldchen, so wurde es von uns allen genannt, und die knorrige Kiefer war der höchste Baum und war vom Wipfel bis nach unten in der Mitte geteilt, und von dort wuchs sie weiter, als wären es zwei verschiedene Bäume und als wüsste der eine nicht, was der andere tat. Am Abend meiner Geburt habe der Blitz in die Kiefer eingeschlagen, hatte jemand erzählt, vielleicht mein Vater, aber das glaubte ich nicht, Blitze an meinem Geburtstag, dass ich nicht lache, um diese Jahreszeit gab es keine Blitze, und nachher wollte Jim zu mir kommen, er wollte nach dem Essen auf ein Stück Kuchen vorbeischauen.
Hinter dem Birkenwäldchen zog sich die Wiese den Hang hinauf, und ich rannte, so schnell ich konnte, und unsere Schule lag hinter dem Berg in Mørk, und wir fuhren jeden Morgen mit dem Schulbus dorthin, Tag für Tag außer am Sonntag. Im Birkenwäldchen hatte es früher einen Bauernhof gegeben, der Bjørkerud hieß, aber der war jetzt fort mitsamt Scheune und Hühnerstall und allem, was zu einem Bauernhof dazugehörte, auch der Traktor war verschwunden, und der Pflug hinter dem Stall und das Sattelzeug an der Wand im Stall und das Laufseil für den Hund und das Vorratshaus waren verschwunden und das schon, seit ich auf der Welt war, kein Stein war mehr da. Dort befand sich auch ein Teich, der früher zu dem Bauernhof gehört hatte, und in diesem Teich gab es Enten, hatte mein Vater erzählt, sie hatten im Wasser sogar ein Haus auf Pfählen gehabt, ein kleines Häuschen, tja, damals hatte es also Enten gegeben, als der Bauernhof noch ein Bauernhof war. Außerdem nutzten die Leute, die auf dem Bauernhof lebten, das nahezu grüne Wasser des Teichs zum Trinken, behauptete mein Vater, und es klang so ekelhaft, dass jemand dieses Wasser trinken konnte bei all den Enten, die in dem grünen Wasser herumschwammen und ihr Geschäft darin verrichteten.
Und daran dachte ich, als ich geradezu über den Boden flog, dass jemand das grässliche grüne Wasser getrunken hatte. Ich sah es deutlich vor mir, während ich rannte, wie sie davon tranken, ich sah, wie sich ihre Münder öffneten und den Gläsern entgegenstreckten, und unten an diesem Tümpel stand meine Mutter und rief nach mir, Tommy! Tommy!, rief sie, beeil dich! Beeil dich! Er ertrinkt gleich! Und daraufhin rannte ich noch schneller, und ich spürte nicht einmal mehr, wie meine Füße den Boden berührten, obwohl sie das taten, meine Füße, sie berührten den Boden, ich konnte schließlich nicht fliegen, aber sie verschwanden auf dem Pfad hinunter zum See, weil jemand am Ertrinken war und meine Mutter nicht schwimmen konnte.
Es war ein Hund. Es war Lobo, der im Wasser kämpfte. Ich sah seinen dunklen Kopf und den grauen Schnauzbart, der gerade noch herausschaute, und er reckte den Hals mit allem, was er an Kraft noch aufbringen konnte. Er sah erschöpft aus, er war alt und seine Beine so voller Gicht, dass sie sich in den Gelenken nicht krümmen wollten, und er schleppte sich jeden Tag auf vier steifen Beinen zu Sletten, um aus nächster Nähe zu riechen, ob seine Hündin läufig war. Er brauchte zwanzig Minuten für den Hinweg und zwanzig für den Rückweg, und die Hündin war auch läufig, etwa zweimal im Jahr zur exakt selben Zeit war sie läufig, das galt wohl für alle Hündinnen im richtigen Alter, aber Lobo schaffte es nur mit knapper Not, sie zu bespringen, und es sah keineswegs elegant aus, nein, überhaupt nicht. Außerdem war er leer, das wussten alle, und darum brachte es keiner übers Herz, ihn zu verjagen, warum sollten sie das tun. Lasst dem Köter in Gottes Namen seinen Spaß, sagte Sletten, er hat nicht mehr viel Zeit vor sich.
Er hatte eine Pistole in der Küchenschublade, sagte mein Vater. Sletten.
Sie konnte nicht schwimmen, aber das konnte Lobo auch nicht mit diesen Krücken, die ihm als Beine dienten, und ich rannte einfach an ihr vorbei, wie sie in ihrem grauen Mantel dort stand, und stürzte mich in den Teich. Eine dünne Eisschicht hatte sich in der Nacht über den Teich gelegt und lag immer noch da, und es knirschte um mich herum wie Knäckebrot, als ich sie durchschlug, und das Wasser war eiskalt. Mit einer Hand bekam ich das Halsband zu fassen, während ich durch das grüne Wasser strampelte, und leicht war es nicht, sich mit Schuhen an den Füßen und Kleidern am Leib zu bewegen, und Lobo konnte den Boden nicht berühren im Bjørkerudteich, und ich auch nicht. Es war glitschig, ja, und schmierig, und ich musste ihn beim Schwimmen hinter mir herziehen, und hin und wieder versuchte ich, mich mit der Schuhspitze vom Boden abzustoßen, wie damals beim Schwimmabzeichen, aber ich kam nicht bis auf den Boden, und Lobo konnte mir nicht helfen. Er versuchte es, aber sein Körper war wie ein Anker, wie ein kleiner Draggen, den ich durch das Wasser ziehen musste, und sein schwarzes Fell war kurz, er muss steifgefroren gewesen sein, Lobo, zusätzlich zu allem anderen, was an dem Köter steif war. Ich war damals noch ein Kind, er war älter als ich, aber enge Freunde waren wir nie gewesen. Ich hielt ihn für einen Schmarotzer, einen Arschkriecher, der immerzu ficken wollte, und was hattest du verdammt noch mal in diesem Tümpel zu suchen, sagte ich, hattest du Durst, Lobo, und eigentlich hatte ich den Hund sehr lieb, wollte ihn nicht einen Tag missen, und warum bist du zum Trinken hierhergekommen, Lobo, sagte ich, hattest du einen solchen Durst, war der Weg nach Hause zu weit.
Schließlich hatte ich festen Boden unter den Füßen und zog Lobo auf den glatten Felsen am Ende des Teichs, an dem sich die doppelte Kiefer mit ihren knorrigen langen Wurzeln festhielt, und meine Zähne begannen heftig zu klappern, sie wuchsen in meinem Mund, und Lobo kippte schwerfällig ins Gras, als wäre er aus Holz, aus einem Brett geschnitzt. Er atmete schwer in langen Zügen und hatte eine Pfeife im Hals. Bald würde er seinen letzten Atemzug tun, noch ein paar Japser, dann wäre er fertig, keine Frage. Doch dann atmete er weiter, und ich rappelte mich in meinen durchnässten Kleidern auf. Es war so kalt. Alles war schmieriggrün, auf dem nassen blauen Pullover waren schmieriggrüne Streifen, und in meinem Mund hätte kein weiterer Zahn mehr Platz, und meine Mutter sagte, das hast du gut gemacht, Tommy.
Das Telefon klingelte in meinem Büro. Ich war gerade aus der Garage gekommen und mit dem Fahrstuhl in den neunten Stock des neuen Hochhauses in Oslo gefahren, das fast direkt am Kai stand. Meine Gedanken waren immer noch bei Jim. Der zerschlissenen Tasche. Der Lotsenjacke. Der dunklen Wollmütze. Früher war er so elegant gekleidet gewesen, der Erste mit langen Haaren bei uns im Ort, der Erste mit Schlaghose bis zur Hüfte, Lotsenjacke und Tuch um den Hals. Ein langhaariger Seemann an Land. Er sah damals fantastisch aus.
Es war jemand vom Polizeidistrikt Øvre Romerike. Ich sagte:
»Ja. Hier Tommy Berggren.«
Ich war etwas atemlos, ich war nicht einen Meter gerannt. Ich trank zu viel, das war der Grund.
»Können Sie vorbeikommen und Ihren Vater bei uns abholen.«
»Ich glaube nicht, dass mein Vater noch lebt«, sagte ich, und daraufhin sagte der Polizist:
»Er ist im Moment zwar nicht sehr fit, aber tot ist er nicht.«
»Sind Sie sicher, dass es mein Vater ist«, sagte ich, »woher wollen Sie das wissen«, und der Polizist antwortete:
»Wer sollte es sonst sein.«
Ich war mir sicher gewesen, dass er nicht mehr lebte. Ich versuchte auszurechnen, wie alt er wohl war. Fünfundsiebzig vielleicht. Vielleicht auch mehr. Dann lebte er also noch. Es war schwer, mir das vorzustellen.
Wir wohnten damals in Mørk, 1966. Mein Vater war Müllmann. Sein Arbeitsplatz war der Müllwagen. Er war derjenige, der auf dem Trittbrett stand mit den Händen in den Handschuhen und den Handschuhen um die Stange hinten bei der Öffnung, wo die glänzende, gebogene Jalousietür wie an einem riesigen Schreibtisch nach unten sauste, wenn der Müllwagen losfuhr, und knirschend wieder nach oben ging, wenn mein Vater während der Fahrt vom Trittbrett sprang und in die Unterstände rannte oder am Straßenrand entlanglief, wo viele Mülleimer standen. Er hob die viereckigen hundert Liter fassenden Metallkästen heraus oder zog sie über den Schotter, nahm sie auf die Schulter, schüttete den Müll hinten in den Wagen und rannte mit den Tonnen zurück, um neue zu holen. Manchmal nahm er zwei auf einmal, einen in jede Hand, hievte sie in einer parallelen Bewegung auf die Schultern, ging zum Wagen und verbeugte sich stolz, so dass der Müll neben seinem Kopf aus den Tonnen rutschte. Das hatte ich häufig gesehen. Ich fand, es sah schrecklich aus.
Mein Vater brachte es nie zu einem der Fahrer, die hoch oben in ihren blankpolierten Führerhäusern saßen und nicht einmal aus dem Fenster schauten, wenn er sich über die Straße quälte, und sie sahen ihm auch dann nicht zu, wenn er mit den beiden Tonnen prahlte, ohne Publikum hob er sie hoch, eine auf jede Schulter, und war der stärkste Mann weit und breit. Nein, nicht einmal dann drehten sie sich um und sahen aus dem Fenster, sondern hingen lieber mit den Händen auf den Knien halb dösend über dem Lenkrad und warteten, bis mein Vater die Tonnen zurückgebracht hatte und wieder auf dem Trittbrett stand und hart auf das glänzende Blech schlug, um dann die fünfzig oder hundert oder zweihundert Meter bis zu den nächsten Mülleimern zu fahren. Er hatte den Führerschein, mein Vater, durfte aber nicht fahren. So weit brachte er es nie.
Sein Oberkörper war unfassbar stark. Wenn die erwachsenen Männer abends draußen standen und um die Wette Gewichte stemmten, wenn sie alles Mögliche stemmten, Milchkannen und Autoreifen, mehrere auf einmal, Steinplatten und Metallschrott, und alle Kraft nach oben pumpten, bis die Bizepsmuskeln fast die Haut sprengten, konnte ihn keiner schlagen. Und so gesehen war es schon seltsam, dass er nicht die Arme, nicht die Fäuste benutzte, wenn er uns verprügelte. Das tat er nicht, er benutzte die Beine, und die waren ebenfalls stark genug, seine Beine, und im Grunde war es auch logisch, wenn man ein wenig nachdachte, so viel wie er zwischen den Tonnen hin- und hersauste, dass er auch kräftige Beine hatte.
Er benutzte die Stiefel. Er trat uns. Er verpasste uns Tritte in den Hintern, und manchmal tat es verdammt weh, und für Siri und die Zwillinge war es besonders schlimm. Sie konnten nicht so viel wegstecken wie ich, und ihre Muskeln waren dort hinten nicht so stark, um seine Stiefel abzufangen. Aber er diskriminierte niemanden und machte keinen Unterschied im Geschlecht. Er trat uns alle vier.
Abends, wenn mein Vater im Sessel vor dem Fernseher eingeschlafen war, versammelten wir uns oben in dem Zimmer, das wir miteinander teilten, zogen uns gegenseitig die Hosen herunter und legten uns nacheinander aufs Bett, streckten den Hintern in die Luft und zeigten einander die roten und blauen Flecken und die harten Krusten, wenn die Haut gerissen und noch nicht wieder verheilt war, und wir verglichen die Größe und die Farbe, um herauszufinden, wer am meisten abbekommen hatte an diesem Tag oder an anderen Tagen, wenn er in entsprechender Stimmung war, was oft vorkam, und wir hatten alle den Stiefel zu spüren bekommen, aber ich kriegte in der Regel am meisten ab, weil ich der Älteste und ein Junge war.
Es war traurig zu sehen, wie meine Schwestern aussahen, und ich tröstete sie und sagte die schönsten Dinge über ihren Po und sagte, dass es bestimmt nicht so schlimm war, wie es sich anfühlte, dass sie bald wieder gut aussehen würden, wenn das ihre Angst wäre. Und das war ihre Angst. Sie fürchteten, nicht schnell genug wieder gut auszusehen, weil es schwierig war, sich nach dem Schulsport im Seitwärtsgang in die Dusche zu bewegen, sich niemals umdrehen zu können, immerzu mit dem Rücken zur Wand zu gehen und nicht zu wissen, was sie sagen sollten, wenn jemand fragte, warum sie so aussahen, wie sie aussahen. Mir selbst war es scheißegal, und ich hätte gesagt, wie es sich verhielt, wenn mich jemand gefragt hätte, aber das passierte nicht. Sie trauten sich nicht. Ich war ihnen nicht geheuer.
Aber für meine Schwestern war es nicht so leicht.
Eines Abends, als wir uns in unserem gemeinsamen Zimmer versammelten und ich sie tätscheln und ihnen den Po streicheln wollte, wie ich es immer tat, um sie zu trösten und ihnen zu sagen, dass sie trotzdem hübsch waren, egal wie sie aussahen, verspürte ich plötzlich eine große Lust, sie so zu trösten und sie dort zu streicheln, wo es am meisten wehtat, und es kam einfach angeschossen, dieses Gefühl, und übermannte mich. Und ich tätschelte sie und streichelte sie noch einmal, ich streichelte sie nacheinander alle drei, und dann drehte ich mich um und sah aus dem Fenster und hatte einen Kloß im Hals, und draußen lag hoch der Osterschnee und leuchtete gelb im Licht der Lampe vor der Tür, ansonsten war alles dunkel. Es sah wirklich schön aus, das ist wahr, ich habe Schnee, der so aussah, schon immer gemocht, gelb und behaglich wie in einem Film mit Licht und Schnee, einem Weihnachtsfilm, den sich alle gern zusammen anschauten, der jedes Jahr am ersten Weihnachtsfeiertag gezeigt wurde. Aber im Zimmer brannten die Lampen, und ich streichelte meine drei Schwestern erneut, sie waren so hübsch da hinten, egal wie sie aussahen, und ich verspürte plötzlich weitaus größere Lust denn je, sie so zu trösten, und ich sah mich selbst auf der Bettkante sitzen und sie mit der Hand streicheln, vor und zurück, und in dem Moment ging mir auf, dass ich damit nicht mehr weitermachen konnte. Und ich sagte es laut, dass ich sie so nicht mehr trösten könnte, und die Zwillinge begriffen nicht, warum, und begannen zu weinen. Sie brauchten diesen Trost, sagten sie, du musst das machen, was du immer gemacht hast, sagten sie, sonst wird es nur noch schlimmer, und ich verstand ja, dass sie diesen Trost brauchten, aber es war zu spät. Es war zu spät, weil ich plötzlich unten im Bauch ganz warm gespürt hatte, wie gern ich ihren Po noch länger streicheln würde, und ihn an diesem Abend schon zu oft gestreichelt hatte. Ich spürte an den Handflächen, wie gut es mir gefiel. Und das veränderte alles, und es konnte nie mehr so sein wie zuvor. Nur Siri drehte sich um und sah mich an, und ich wusste, dass sie begriffen hatte, was ich begriffen hatte. Dass sie nicht länger meinen Po streicheln könnte und ich nicht ihren.
In diesem Moment hasste ich meinen Vater, weil er es war, der mich in dieses Zimmer mit den Mädchen hineingetreten hatte, in unser Geheimzimmer, das es gab und doch nicht gab, das ich jetzt widerstrebend verlassen musste, weil es zu spät war, weil ich mich selbst im Spiegel gesehen hatte, meine braune Hand auf der weißen Haut der Mädchen mit den roten und blauen Flecken vom Stiefel meines Vaters, und auf diese Weise trat er mich auch wieder hinaus. So fühlte es sich an, und dafür hasste ich ihn auch.
Ich hasste meinen Vater. Alle wussten, dass ich meinen Vater hasste. Jonsen, mein einziger erwachsener Freund in der Gegend, wusste es. Alle Nachbarn bis ans Ende der Straße wussten, dass ich meinen Vater hasste, und sie warfen mir vorsichtige Blicke zu und kamen abends aus ihren Häusern, und manche von ihnen standen bei meinem Vater und stemmten Metallschrott mit ihm und waren feige Idioten, liefen wieder hinein und sahen fern oder gingen am Morgen zur Arbeit und kamen zurück, während sie die ganze Zeit darauf warteten, dass kam, was kommen musste. Und die wenigen Freunde, die ich hatte, fuhren mit dem Bus zur Schule und wieder zurück, genau wie ich, und sie kamen wieder nach Hause und machten die Hausaufgaben oder sahen um halb acht High Chaparral im schwedischen Fernsehen, genau wie ich, wenn es meinem Vater passte, und sie alle warteten auf das, was kommen musste. Aber ich war noch nicht so weit.
Nachts lag ich wach und dachte mir Methoden aus, wie ich ihn umbringen könnte, und ich nahm sie mit, jede einzige, weit hinein in meine Träume, in denen alles aufs Übelste verzerrt und verdreht wurde. Umso besser. Dachte ich. Umso besser. Ich hatte immer noch Angst vor ihm, aber das wäre bald vorbei. In einem Jahr oder einem halben vielleicht. Und so lief auch ich wartend durch die Gegend.
Und der Tag sollte kommen mit einem blendenden Licht am Himmel. Und die Wolken sollten auseinandergerissen werden von mächtigen Händen zu einem gewaltigen Riss, und so kam dieser Tag aus heiterem Himmel und öffnete sich zu allen Seiten. Und alles fügte sich. Die Sonne strahlte perfekt aus einem weißen Himmel und funkelte in den Fenstern beiderseits der Straße und blendete mich, der ich auf die Treppe trat, am Dienstag nach Pfingsten. Ich fuhr mit dem Bus zur Schule und wusste, dass es ein besonderer Tag war. Ich war schon rastlos gewesen, bevor ich das Haus verlassen hatte, bevor mein Vater zur Arbeit ging. Er musste an diesem Tag erst später los und lag noch im Bett, und die Stunden, die ich im Klassenzimmer saß, zogen sich wie Kaugummi. Als ich bei unserem Briefkasten endlich aus dem Schulbus stieg, die letzte Stufe nach draußen nahm, war ich guter Dinge und voller Ungeduld.
Außer mir stiegen noch zwei andere an dieser Haltestelle aus. Wir verabschiedeten uns und hoben die rechte Hand zum Gruß, und sie gingen zu ihren jeweiligen kleinen Häusern, eins weiter unten in der Straße und eins weiter oben, und keiner von ihnen hatte Angst vor mir. Willy nicht, ihm fehlte es an der nötigen Fantasie. Und auch Jim nicht. Nein, Jim auf keinen Fall, er kannte mich in- und auswendig, er war mein bester Freund. Er ging ein paar Meter rückwärts und warf mir einen langen Blick zu. Er war mir mit Blicken gefolgt, seit ich den Schulhof betreten hatte, und wusste, dass an diesem Tag etwas passieren würde, aber er wusste nicht was und nicht wie.
»Wolltest du mir noch was erzählen«, sagte er.
»Nein«, sagte ich, aber ich hätte ihm vielleicht ein Zeichen geben sollen, ein winziges Zeichen, das er verstehen und mitnehmen konnte, die Straße hinauf, wie eine kleine Ameise im Kopf, er war schließlich Jim, aber ich gab ihm nichts.
»Na gut«, sagte er und wirkte etwas enttäuscht und drehte sich mit der Tasche in der Hand um, wir hatten keine Ranzen mehr, ein Ranzen auf dem Rücken war peinlich, und er ging zu dem Haus, in dem er zusammen mit seiner Mutter wohnte. Sie war Lehrerin an der Schule, für Norwegisch und Religion und war von Westnorwegen hierhergezogen und sprach das R anders aus als wir hier, sie konnte es sich nicht abgewöhnen. Seinen Vater hatte ich noch nie gesehen.
»Jim«, sagte ich laut. Er blieb stehen und drehte sich um, und ich lächelte und sagte: »Es wird schon schiefgehen. Denk nicht darüber nach.«
Er sah mich an. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Wange. Es sah merkwürdig aus. Als wären seine Handflächen voller Wunden.
»Okay«, sagte er.
Ich lächelte wieder. »Alles wird gut«, sagte ich.
»Okay.« Er nickte kaum merklich, drehte sich um, warf die Tasche über die Schulter und ging weiter zu seinem Haus.
Ich lief über den kurzen Plattenweg zur Tür, und die Tür stand einen Spaltbreit offen, und ich ging in die Diele und ließ die Tasche auf den Boden fallen und sah, dass seine Arbeitsklamotten unter der Hutablage am Haken hingen, so wie sie dort gehangen hatten, als ich am Morgen das Haus verließ. Sie waren abgetragen und frisch gewaschen, rochen aber immer noch nach Müll. Den Geruch wurde er niemals los, keiner von uns wurde ihn los, er fraß sich in alles hinein, was wir besaßen, und hinter unserem Rücken wurde darüber getuschelt, er hatte sich für immer im Haus festgesetzt. Ich weiß nicht, woran ich erkennen konnte, dass sie noch genau so dort hingen, der Overall und die Jacke, wie sie gehangen hatten, als ich das Haus verließ. Ich konnte wohl hellsehen.
Die Zwillinge saßen mit den Händen zwischen den Knien auf der Treppe und warteten, sie rührten sich nicht. Vielleicht war während meiner Abwesenheit etwas passiert, was ihnen Angst eingejagt hatte. Ich hoffte es nicht. Aber vielleicht wussten auch sie, dass etwas passieren würde.
Also sagte ich zu ihnen:
»Geht rüber zu Lien und klopft an seine Tür.« Und sie taten sofort, was ich sagte.
Ich ging quer durch das Erdgeschoss, den kurzen Weg durch Flur und Wohnzimmer, und die Tür zu dem kleinen Rasen hinter dem Haus stand weit offen. Er saß auf einem zerschlissenen Gartenstuhl mit dem Rücken zur Tür, die Ellbogen hatte er auf den Knien, die Hände hingen schlaff herab und zeigten auf die viereckige Steinplatte darunter. Er hatte sich eine Selbstgedrehte zwischen die Lippen geschoben, die, so wie es aussah, leicht gebogen und etwas nachlässig gerollt war, etwas trompetenhaft, aber er rauchte nicht. Die Zigarette hing einfach herunter.
Er drehte sich nicht um, als er mich kommen hörte, obwohl er mich todsicher kommen hörte. Ich blieb dicht hinter ihm stehen und sagte:
»Scheiße. Haben sie dich gefeuert.«
Das hätte ich besser nicht gesagt, ein Hammer fiel und traf auf einen Riegel, der Riegel verkantete und bewegte sich nicht mehr vor und nicht zurück, und es war zu spät, um umzukehren. Langsam stand er auf. Ich blieb stehen. Ich atmete schnell mit offenem Mund, ein und aus, ich war außer Atem, ich war zwei Jahre lang gerannt, seit meine Mutter verschwunden war. Jetzt blieb ich stehen. Er drehte sich um, und etwas überraschend Blindes und Verwirrtes legte sich über das weiße Gesicht, was mich in jeder anderen Situation und bei jedem anderen Gesicht berührt hätte. Das ist wahr, es lag eine Hoffnungslosigkeit darin, die ich bei meinem Vater noch nie gesehen hatte.
Er packte mich fast zärtlich am Oberarm und führte mich in die Stube. Dann schloss er vorsichtig hinter uns die Tür, drehte sich um und fing an, mich durch das Zimmer zu schicken, zwischen den wenigen Möbeln hindurch, die wir besaßen, und jedes Mal, wenn ich davonflog, kam er hinter mir her und hämmerte auf meine Schulter und meinen Hals ein, er schleuderte mich an die Wand, dass mein Kopf gegen die Holzpaneele knallte, und es war ein Schock für mich, dass er die Beine nicht zu Hilfe nahm. Darauf war ich nicht vorbereitet, ich dachte nur, na, so was, und dann dachte ich, dass ich es überstehen würde, wenn ich so tat, als täte es nicht weh, als passierte das, was mir passierte, einem anderen Menschen. Ich hatte gehört, dass das möglich war, und er schrie mich an:
»Ich werde dir das Maul stopfen, verdammt noch mal«, und er ging mit einer Härte gegen mich vor, die ich noch nie erlebt hatte. Völlig enthemmt war er und schleuderte mich an die Wand, dass es krachte, und die Luft entwich mit einem Stöhnen aus meinem Mund, wurde von den entferntesten Stellen meines Körpers angesaugt, aber ich wollte nichts spüren, und ich wollte nichts hören, und ich füllte den Kopf mit einem Traum, den mein Vater nicht sehen konnte, und es funktionierte, das ist wahr. Ich entschwand in diesen Traum, während er glaubte, dass ich mich im selben Zimmer befand wie er, im selben Haus, aber ich war völlig woanders, und ich tat so, als gäbe es keinen Schmerz, weder im Gesicht noch in den Armen oder in der Brust, und ich flog davon und träumte mich weg, und im Traum fegte ein Wind durch das Zimmer, er fegte über die Wiese, er fegte durch den Wald, und er rauschte so stark, dass sich kein anderes Geräusch hereinzudrängen vermochte, das nicht Wind war, und im Wind kam Jim angeflogen. Er sang für mich im Wind, so dass Wind und Lied eins wurden, und dies ist kein Scherz, er sang:
Geh aufGottesWegen mutig stets voran
und andere Lieder, die er von seiner Mutter gelernt hatte, Choräle über singende Engel, und durch den Wind wurde meine Haut gefühllos und lauwarm, nicht kalt, nicht heiß, wie man vielleicht meinen würde, und ich hätte das eine nicht vom anderen unterscheiden können, hätte keinen Unterschied gespürt. Und er, der immer die Füße benutzte, wenn er uns verprügelte, der nie etwas anderes benutzt hatte, benutzte jetzt die Fäuste, aber ich spürte wie im Rausch, dass ich keine Angst mehr vor ihm hatte. Ich jubilierte. Er konnte schlagen, so viel er wollte, alles, wovor ich Angst hatte, wäre bald vorbei, und dann hatte er nichts mehr, was er benutzen könnte, falls er nicht auf die Idee verfiele, mich zu töten.