Nicht ohne Simon - Kari Kälin - E-Book

Nicht ohne Simon E-Book

Kari Kälin

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Beschreibung

In den frühen 1980er-Jahren berichteten Schweizer Medien erstmals von Kindsentführungen durch einen Elternteil. 1981 entführte Anil Jetly den gemein- samen Sohn gegen den Willen seiner Ex-Frau Beatrix Smit nach Indien. In einer spektakulären Aktion im Sommer 1983 holte sie Simon mithilfe des schillernden ehemaligen Fluchthelfers Willy Kantorik zurück. Kari Kälin erzählt diese berührende Geschichte, schildert weitere Beispiele und zeigt, wie sich in der Folge die "Schweizer Gruppe gegen die Entführung von Kindern" bildete. Diese half mit, entführte Kinder wieder zurückzubringen. Das Buch arbeitet die individuellen Schicksale auf und stellt sie in den Zusammenhang der rechtlichen Entwicklung. Es thematisiert das Haager Übereinkommen über internationale Kindsentführung und die medialen Auseinandersetzungen. Der Autor führte ausführliche Interviews mit Beatrix Smit und dem heute erwachsenen Simon Smit sowie mit Monique Werro, die die Gruppe gegen die Entführung von Kindern gründete. Sie zeigen anschaulich, wie kompliziert Fälle von Kindsentführungen - deren es heute in der Schweiz gegen 100 Fälle pro Jahr gibt - oft sind.

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Nicht ohne SimonKindesentführungen aus der Schweiz

Kari Kälin

HIER UND JETZT

Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Mit weiteren Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt:

Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.

Lektorat: Stephanie Mohler, Hier und JetztGestaltung und Satz: Hannes Gloor, ZürichBildbearbeitung: Humm dtp, Matzingen

ISBN Druckausgabe

978-3-03919-485-8

ISBN E-Book

978-3-03919-958-7

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Inhalt

Einleitung

Die Entführung

Beatrix’ Indienreise

Das Ehepaar Jetly in Schwierigkeiten

Irrlauf durch Behörden und Institutionen

Rettungsengel Kantorik

Die Rückholaktion aus Indien

Viel Arbeit für die Schweizer Gruppe gegen die Entführung von Kindern

Die Mühen der Stiftung gegen Kindesentführung

Ein Leben mit Schulden und Angst

Die Kindesrückführungen in der Kritik

Der tragische Abgang eines Helden

Simons Dankbarkeit

Epilog

Nachwort von Beatrix Smit

Nachwort des Autors

Quellen

Bildnachweis

Autor

Anmerkung

Einleitung

Beatrix Smit ist wegen eines Artikels in der Zentralschweiz am Sonntag zum Thema Kindesentführung aufgewühlt. Es geht um eine Schweizerin, die ihrer beiden Söhne beraubt wurde. Ihr Ex-Partner hat diese 2010 in seine Heimat zu seinen Eltern in eine tunesische Kleinstadt verschleppt. Die Chancen, dass die Mutter ihre Söhne bald wieder in die Arme schliessen kann, stehen schlecht. Tunesien hatte damals das Haager Übereinkommen zu internationalen Kindesentführungen noch nicht unterzeichnet. Dies tat der nordafrikanische Staat erst 2018. Das Haager Übereinkommen besagt, dass entführte Kinder möglichst rasch wieder zu jenem Elternteil zurückkehren sollen, bei dem sie vorher gelebt haben. Juristisch sind der Mutter also die Hände gebunden: Das Schweizer Urteil, das ihr die Kinder zuspricht, wird in Tunesien nicht anerkannt.

Beatrix ist dieses Szenario vertraut. 1981 entführte ihr Ex-Mann den damals zweieinhalbjährigen Asheesh nach Indien. Auch sie hatte das Sorgerecht für ihren Sohn erhalten. Auch ihr Ex-Partner, ein Inder, missbrauchte das Besuchsrecht, um mit dem kleinen Buben in seine Heimat zu fliegen. Indien ist dem Haager Übereinkommen bis heute nicht beigetreten. «Das Recht auf mein Kind hört offenbar an der Schweizer Grenze auf»: Diesen Satz schrieb Beatrix 1982 an Bundesrat Kurt Furgler.

Pro Jahr werden in der Schweiz rund 100 Kindesentführungen durch einen Elternteil registriert. Werden die Kinder in Nichtvertragsstaaten verschleppt, hat das Bundesamt für Justiz keine rechtlichen Möglichkeiten, deren Rückgabe zu verlangen. Betroffene Schweizer Väter und Mütter können zwar das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten einschalten. Die Schweizer Botschaft vor Ort kann zum Beispiel versuchen, den Kontakt zum Entführer herzustellen. Sie kann aber weder Schweizer Gerichtsurteile durchsetzen noch eine Ausreiseerlaubnis für das Kind erwirken. Mit anderen Worten: Wenn der entführende Elternteil nicht kooperiert und die Kinder versteckt, hat der alleingelassene Elternteil praktisch keine Chance, die geliebten Kinder wiederzusehen.

Nach einem langen Marsch durch Behörden und Institutionen stand Beatrix genau an diesem Punkt. Sie resignierte aber nicht, sondern engagierte einen professionellen Kindesrückführer, der eng mit der damals frisch gegründeten Schweizer Gruppe gegen die Entführung von Kindern zusammenarbeitete. Beatrix scheute keinen Aufwand und kämpfte um ihr Kind. Heute will sie betroffene Elternteile ermuntern, es ihr gleichzutun – mit ganzer Kraft und vollem Elternherz. Einige der Kapitel in diesem Buch ergänzt sie mit persönlichen Bemerkungen.

Berichte über betroffene Eltern haben mich stets tief berührt. Ich habe jeweils mitgelitten und mir überlegt, wie ich helfen könnte. Vielleicht kann ich für das Thema sensibilisieren, wenn hier – unter anderen – die abenteuerliche Geschichte von mir und meinem Sohn erzählt wird.

Die Entführung

Samstag, 28. November 1981, 9 Uhr, Moosmattstrasse 56, Luzern: Beatrix Smit fühlt sich unwohl in ihrer Dreizimmerwohnung. Heute ist wieder Besuchstag. Ex-Mann Anil, den sie in Indien geheiratet und einst geliebt hat, ein attraktiver Mann, längeres Haar, voller Bart, holt Asheesh ab. Er hat mehrmals gedroht, ihr den zweieinhalbjährigen Sohn zu entreissen. Auf juristischem Weg versuchte er, einen dreiwöchigen Besuch bei den Grosseltern in Indien zu erzwingen. Die zuständige Justizkommission des Kantons Zug winkte ab: «Es liegt doch wohl nicht im Interesse des Kindes, wenn es bereits als Kleinkind durch Eindrücke aus zwei vollkommen verschiedenen Kulturkreisen verwirrt würde und unter schlechten hygienischen Verhältnissen während seiner Ferien leben müsste.»

Szenenwechsel: Vor vier Tagen ist Irma Samir* auf der Treppe vor dem Bieler Amtshaus in einen Hungerstreik getreten.1 Ihr Mann Mahmoud*, ein Jordanier ägyptischen Ursprungs, ein Anhänger der Muslimbrüder, hat ihre drei Söhne an einem unbekannten Ort in Ägypten untergebracht. Das Zivilgericht Biel hat das Sorgerecht trotzdem dem Entführer zugesprochen. Beatrix verfolgt den Fall, über den die Medien ausführlich berichten, mit Sorge – es könnte auch ihr passieren. Väter, die sich mit ihren Kindern absetzen und sie in ihrer Heimat verstecken, sind kein Hirngespinst hysterischer Mütter, sondern traurige Realität.

Es ist kalt an diesem Wochenende, der Winter hält Einzug, es schneit bis in tiefe Lagen. Der «kalte Geselle», heisst es am Montag im Luzerner Tagblatt, sei wieder mit Urgewalt über die Lande gefegt und habe seine weisse Pracht abgeladen. Und Anil? Wird er, der wie damals, als die Ehe mit Beatrix noch funktionierte, in Zug wohnt, gut zu seinem Sohn schauen, ihn genug warm anziehen, die Windeln wechseln? Schon mehrmals war Asheesh nach dem Besuchstag erkältet, einmal hatte er sogar eine Lungenentzündung. Anil wisse offenbar nicht, wie man zu einem Kleinkind schaue, hielt Beatrix in einem Brief an die Frauenzentrale Zug fest. Sie hat ihn per Brief gebeten, Asheesh mindestens zwei Mal pro Tag zu wickeln, seine Kleidung dem Wetter anzupassen. Anil ereifert sich über die Anweisungen und lässt sich nichts sagen; er wisse schon, wie er mit seinem Sohn umzugehen habe. Eigentlich findet es Beatrix schon lange unverantwortlich, Anil das Kind zu überlassen, allein schon wegen der mangelhaften Pflege. An diesem Samstag, an diesem stürmisch-kalten Novembertag, ist das aber Beatrix’ kleinere Sorge. Die Angst, dass sich Anil mit Asheesh nach Indien absetzen könnte, betäubt Beatrix mit Schlafmittel – wie an vielen anderen Besuchstagen zuvor.

19 Uhr: Jetzt endet das Besuchsrecht. So steht es im Scheidungsurteil. Den gemeinsamen Sohn, ein pflegeleichter, gewiefter Junge, hat Anil schon öfters ein bisschen später zurückgebracht. Beatrix hat ihm das nicht verübelt, sie will ihm Asheesh nicht vorenthalten. Er liebt ihn, ja vergöttert ihn. Ein Kind, denkt Beatrix, ein Kind braucht Mutter und Vater, und Asheesh mag seinen Vater gerne. Jetzt aber, an diesem Abend, wächst die Unruhe, die Furcht, dass Anil seine Drohung wahr machen könnte. Er leidet an Heimweh. Eine kleine Rückversicherung hat Beatrix allerdings: Über Asheeshs Pass wacht sie, ohne Papiere kann er die Schweiz nicht verlassen.

19:30 Uhr: Die Tagesschau des Schweizer Fernsehens berichtet, dass in Genf eine sowjetische Delegation zu Abrüstungsgesprächen eingetroffen ist. Entspannt sich der Kalte Krieg? Für Beatrix verschärft sich die Situation, je länger der Abend dauert. Mit jeder Minute, die Anil überzieht, wandelt sich das ungute Gefühl in ein Stück mehr Gewissheit, dass er es doch getan hat, dass Anil heimlich nach Indien geflogen ist. Mit Sohn. Ohne Mutter. Zur Freude der Schwiegermutter, die sich nach ihrem Enkelkind sehnt und Anil fast täglich Briefe in die Schweiz schickt. Manchmal weint er beim Lesen.

20 Uhr: Asheesh ist immer noch nicht da. Um 21 Uhr auch nicht. Beatrix verständigt jetzt die Zuger Polizei, bittet sie nachzusehen, ob ein Vater mit einem Kind und «Töffli» in einem Strassengraben liege. Anil, der früher abstinent lebte, verfiel in der Schweiz dem Alkohol, holte Asheesh manchmal schon am Morgen betrunken für den Vatertag ab. Sich den Sohn frierend in einem Graben vorzustellen, ist kein angenehmer Gedanke, aber immer noch besser, als sich mit der Entführung Asheeshs zu konfrontieren. Die Zuger Polizei findet niemanden. Beatrix ruft ihre Eltern an und schildert ihre missliche Lage. An Schlafen ist nicht zu denken. Die Mutter bangt um ihr Kind.

Am nächsten Tag erstattet Beatrix beim Polizeiposten Luzern Strafanzeige gegen Anil wegen «Entziehen von Minderjährigen», ein Antragsdelikt, das mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft wird. Die Polizei nimmt den Fall auf und Beatrix’ Sorgen ernst. Sie und ihr Vater realisieren aber bald, dass die Staatsgewalt nichts mehr ausrichten kann. Das Schweizer Recht endet an der Schweizer Grenze, die Anil mit Asheesh bereits überquert hat.

Am Montag ruft Beatrix ihre Ex-Schwiegereltern an. Sie ist aufgeregt, zornig, schreit ins Telefon und erhält die Bestätigung, dass Anil Asheesh tatsächlich nach Indien verschleppt hat. Es dauert eine Weile, bis Anils Familie verrät, dass sich der noch nicht dreijährige Bub jetzt bei seinen Grosseltern befindet. Sie lassen zunächst nicht zu, dass Beatrix am Telefon mit ihrem Sohn sprechen kann. Er sei gerade nicht im Haus, teilen sie mit. Immer wenn Beatrix anruft, ist Anil unterwegs, zu Besuch bei Verwandten in Nordindien oder anderswo. Um Asheesh kümmert sich hauptsächlich die Grossmutter. Die Verantwortung für ein Kleinkind zu übernehmen, das ist Anil zu viel – es genügt ihm, Asheesh nach Indien und unter seine Kontrolle gebracht und ihn seiner Mutter weggenommen zu haben.

«Mami, ich Ferie gooh?», hatte Asheesh wenige Wochen vor seiner Entführung gesagt. Dabei waren Mutter und Sohn eben erst in Rimini gewesen. «Nein», sagte Beatrix, «wir fahren nicht schon wieder weg.» Wahrscheinlich hatte Anil Asheesh mit einem Ferienversprechen auf die Entführung vorbereitet. Hätte Beatrix doch reagiert und Asheeshs Frage richtig interpretiert! Dann hätte sich das Drama vielleicht verhindern lassen. Jetzt ist sie Irma Samirs Leidensgenossin.

In der Öffentlichkeit wurde die Problematik internationaler Kindesentführungen durch einen Elternteil vor Samirs Hungerstreik in Biel nicht wahrgenommen. Auch der Bundesrat hatte andere Prioritäten. Die Schweiz hatte zwar schon vor Asheeshs Entführung ein europäisches Abkommen über die Anerkennung und Wiederherstellung des Sorgerechts unterzeichnet. Es besagt, dass ins Ausland entführte Kinder wieder zu jenem Elternteil zurückzubringen sind, der das Sorgerecht innehat. Mit der Inkraftsetzung wartete der Bundesrat aber noch zu, da es nicht sinnvoll sei, die «Ratifikation voranzutreiben, ohne zu wissen, ob andere Staaten – namentlich diejenigen, in denen sich Kindesentführungen am häufigsten ereignen – bereit sind, sich an die Verpflichtungen des Übereinkommens zu halten».

Die Angst, die ich empfand, als ich mit Sicherheit erkannte, dass mein Kind von seinem Vater ohne mein Wissen sehr weit weggebracht worden war, wünsche ich niemandem – es war ein Albtraum. Hinzu kam, dass ich bald merken musste, dass keine rechtlichen Massnahmen griffen. Leider war und ist es bis heute so. Ich fordere von der Politik und den Behörden gesetzliche und politische Vorschläge und Massnahmen, welche den Betroffenen und ihren Kindern helfen. Beratungsstellen für binationale Ehen beispielsweise sollten unbedingt bekannter gemacht und betroffene Personen sensibilisiert werden.

Der Fall Samir

Frühling 1981, Bahnhofplatz 9, Café Brésil in Biel: Irma Samir, 34-jährig, eine bildschöne Frau mit langen, schwarzen Haaren, kommt zum Mittagessen – wie so oft. Sie habe drei Söhne, aber alle, so erzählt sie Monique Werro, der Geschäftsführerin des «Brésil», lebten in Ägypten. Werro ist erstaunt. Im darauffolgenden Sommer, Samir ist wieder zu Gast im «Brésil», sagt sie Werro plötzlich: «Da vorne, auf der Strasse, da läuft mein Mann.» Jetzt klärt Samir Werro über das Drama mit ihren Kindern auf: Vater Mahmoud Samir hält die drei Buben, unterdessen alle im Teenageralter, in Ägypten versteckt, mal bei Familienmitgliedern und Verwandten, dann wieder bei Freunden.

Irma Samir brachte einige Opfer, um die zerrüttete Ehe mit ihrem 18 Jahre älteren Mann zu kitten. Sie konvertierte zum Islam, 1978 zog sie mit Mahmoud nach Ägypten. Doch die Beziehung liess sich nicht retten. Samir kehrte wenige Monate später zurück in die Schweiz, reichte die Scheidung ein und wollte die Söhne nachkommen lassen. Ihr Mann lehnte die Scheidung jedoch ab, die gemeinsamen Kinder gab er nicht her.

Werro ist empört über das Gehörte und schlägt vor, den Beobachter über den Skandal zu orientieren. Samir will ihren Fall aber noch nicht an die Öffentlichkeit bringen, sondern das Gerichtsurteil abwarten. Am Mittwochmorgen, 25. November, ist es so weit: Für Samir ist das Urteil eine Katastrophe. Das Bieler Amtsgericht spricht das Sorgerecht dem Vater zu, einem Islamisten, der gemäss Medienberichten in dubiose Geschäfte verstrickt ist und fürchtet, bei seiner Frau würden die Kinder nicht im muslimischen Glauben erzogen. Samir hat sich in den letzten Jahren emanzipiert und arbeitet ganztägig. Diese Tatsache scheine ihr nun, stellte der Tages-Anzeiger fest, in den Scheidungsverhandlungen zum Verhängnis geworden zu sein. Der Vater versteckt die Kinder in einem fremden Land, ohne sich um sie zu kümmern. Dennoch attestiert ihm das Gericht mehr pädagogische Kompetenz als der werktätigen Mutter. Nach diesem Verdikt verliert Samir den Glauben in die Justiz. Um 11 Uhr installiert sie sich, eingehüllt in Wolldecken, auf der Treppe des Bieler Amtshauses und beginnt ihren Hungerstreik. «Ich will meine Kinder zurück, ich will, dass sie in die Schweiz kommen» heisst es auf zwei Tafeln, die links und rechts von ihr stehen.

Von der Telefonzelle aus, die neben dem Amtshaus steht, informiert Werro die Medien. Am gleichen Abend berichtet die Tagesschau über den Fall Samir, in den nächsten Tagen erscheinen schweizweit Dutzende Zeitungsartikel über das Schicksal der jungen Frau. Mit aller Wucht dringt die Problematik internationaler Kindesentführungen durch einen Elternteil ins öffentliche Bewusstsein. Die Schweiz solidarisiert sich mit der Mutter, sie erhält unzählige Briefe und Postkarten mit Sympathiebekundungen, niemand kann den Richterspruch nachvollziehen. Innert kürzester Zeit unterschreiben 2000 Bürgerinnen und Bürger eine Petition, in der die Bieler Behörden aufgefordert werden, für die Rückführung der Kinder in die Schweiz zu sorgen. Mahmoud Samirs Versuch, seine Frau als eine Verrückte zu diskreditieren, der man die Kinder nicht anvertrauen könne, misslingt.

Prominente Personen schalten sich in die Affäre ein. Edmond Kaiser, Gründer des Kinderhilfswerks Terre des hommes, der 1971 selbst in einen Hungerstreik trat, um vom Hungertod bedrohten Kindern in Bangladesch zu helfen, bezeichnet Samir in einem Brief an Bundesrat Kurt Furgler als Opfer einer «Betonjustiz». Kaiser appelliert an den Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD), auf die Richter einzuwirken, damit die Kinder von Samir in die Schweiz zurückkehren können. Das EJPD weist die Aufforderung als unbotmässigen Eingriff in die Gewaltentrennung zurück. Doch der Druck auf die Bieler Justiz steigt auch ohne bundesrätliche Einmischung, je länger Samir die Nahrungsaufnahme verweigert. Am 3. Dezember, Samir hat ihre Protestaktion unterdessen in die Kapelle der französischen reformierten Kirche in Biel verlagert, kippt das Bieler Amtsgericht sein Urteil. Es entscheidet, die Kinder seien in die Schweiz zurückzuführen, unter Vormundschaft zu stellen und in einem Kinderheim in Langenthal unterzubringen. Damit beendet Samir ihren Hungerstreik. Die Kinder aber kehren erst rund ein Jahr später definitiv in die Schweiz zurück. Samir und ihr Mann treffen folgende Vereinbarung: Sie überlässt ihm das Sorgerecht, im Gegenzug erhält sie ein Besuchsrecht.

Eine Mutter kettet sich an die italienische Botschaft

Kaum hat sich die Situation in der Affäre Samir entspannt, sieht sich die Schweiz mit dem nächsten Hungerstreik einer alleingelassenen Mutter konfrontiert. Am 15. Dezember 1981 kettet sich Monica Ranieri* an die italienische Botschaft in Bern. Ihr italienischer Ehemann, von dem sie seit acht Jahren getrennt lebt, hat den 14-jährigen Sohn und die 10-jährige Tochter Ende August nicht aus Florenz zurückgebracht. Trotz mehreren schweizerischen und italienischen Gerichtsurteilen zu ihren Gunsten weigert sich die italienische Polizei, Ranieris Recht durchzusetzen. Ein Unterstützungskomitee, dem Monique Werro, Irma Samir und Edmond Kaiser angehören, kümmert sich um den Fall. Kurz vor Weihnachten fahren Samir, Werro und Ranieri nach Florenz, um die Kinder eigenhändig in die Schweiz zurückzuholen, da es die Justiz nicht schafft. Als Ranieri ihre Kinder erblickt, rennt sie sofort auf sie zu, herzt und umarmt sie – unglücklicherweise vor den Augen des Vaters, der die Kinder packt, mit ihnen davonrennt und im Vorbeigehen die Fotokameras der Frauen zertrümmert. Was tun? In diesem schäbigen Florentiner Hotel übernachten und zurückfahren in die Schweiz, mit leeren Händen? Nein. Edmond Kaiser bietet einen protestantischen Pfarrer zur Unterstützung auf. Der Gottesmann und die Frauen schalten die italienische Presse ein, harren so lange bei der Nachrichtenagentur Ansa aus, bis sich der Chefredaktor des Falls annimmt. Der Journalist fragt, wer die Frauen überhaupt seien. Der Pfarrer antwortet ohne zu zögern: «Queste sono donne del ‹movimento svizzero contro il ratto dei minori›.» («Das sind Frauen der ‹Schweizer Gruppe gegen die Entführung von Kindern›.») Am nächsten Tag, am 24. Dezember, beherrschen die «Schweizer Gruppe gegen die Entführung von Kindern» und der Fall Ranieri die Schlagzeilen in der italienischen Presse. Danach fahren die Frauen zurück, ohne Kinder. Weihnachten verbringen sie in einem Hotel in Brig, weil sie bei dem dichten Schneetreiben mit Sommerpneus den Kanton Bern nicht mehr erreichen.

Die Schweizer Medien interessieren sich nun für die Gruppe. Werro und Samir sehen sich quasi genötigt, die Erfindung des Pfarrers real werden zu lassen. Am 24. Januar 1982 wird der Verein mit dem Namen «Schweizer Gruppe gegen die Entführung von Kindern» offiziell gegründet. Das Westschweizer Fernsehen begleitet den Akt mit einer Livesendung aus Werros Wohnung. Wenn die Schweiz nicht fähig ist, heisst es in den Statuten, die entführten Kinder zurückzuholen, dann sorgt die Gruppe dafür. Im Wochenrhythmus dringen jetzt neue Kindesentführungen an die Öffentlichkeit. Ein Jahr nach der Gründung des Vereins stapeln sich bei Werro 150 Dossiers – meist von betroffenen Müttern – auf dem Tisch. Im Juli 1982 bietet Willy Kantorik, ein tschechoslowakischer Flüchtling und Pilot, seine Dienste als Kindesrückführer an. Mit seiner Hilfe führt die Gruppe im ersten Jahr ihres Bestehens dreissig Kinder zurück in die Schweiz. In Aktion tritt sie nur, wenn ein Gericht dem zurückgebliebenen Elternteil das Sorgerecht zugesprochen hat.

Werros Büro im obersten Stock des Café Brésil avanciert zur ersten Anlaufstelle für Opfer von Kindesentführungen. Während sie kaum noch dazu kommt, ihr Geschäft zu führen, reagiert jetzt auch der Bundesrat. Er beschleunigt die Ratifikation von zwei internationalen Abkommen zu Kindesentführungen, weil die Öffentlichkeit durch medienwirksame Fälle für das Thema sensibilisiert worden sei. Die Schweizer Gruppe gegen die Entführung von Kindern, hält der Bundesrat fest, habe das Bewusstsein für das Problem geschärft. Seine früheren Vorbehalte wischt er beiseite, auch, weil immer mehr Direktbetroffene bei den Behörden um Hilfe bitten. Ergänzend zum Europäischen Sorgerechtsabkommen schlägt der Bundesrat dem Parlament deshalb vor, auch das Haager Übereinkommen zu Kindesentführungen zu unterzeichnen. Das Haager Übereinkommen ist inhaltlich fast deckungsgleich mit dem Europäischen Abkommen, beschränkt sich aber nicht auf Europa. Die unterzeichnenden Staaten verpflichten sich, die Kinder dem sorgeberechtigten Elternteil zurückzugeben und für eine gütliche Konfliktlösung zu sorgen. Ein Kernpunkt lautet: Die zuständigen Gerichte und Behörden müssen die Rückführung eines Kindes so rasch als möglich anordnen, sofern der sorgeberechtigte Elternteil weniger als ein Jahr nach der Entführung die Rückführung verlangt. Der Bundesrat betont in der Botschaft, wie wichtig eine schnelle Reaktion sei, denn: «Bei allzulanger Frist könnte derjenige, der das Kind entführt hat, in Ruhe nach einer Möglichkeit suchen, sich der Anwendung des Übereinkommens zu entziehen.» Zwar kann ein Kind dem sorgeberechtigten Elternteil auch dann zurückgegeben werden, wenn der Antrag später als ein Jahr nach der Entführung erfolgt. Der Bundesrat wies aber darauf hin, dass solch spät gestellte Anträge auch abgelehnt werden können, weil sich das Kind in der neuen Umgebung vielleicht schon eingelebt habe. Die Zeit spielt also dem Entführer oder der Entführerin in die Hände.

Der Bundesrat stellt klar, dass er den Einsatz von Privatdetektiven nicht unterstütze. Er setzt auf die Rechtshilfe und schreibt in der Botschaft: «Das beste Abschreckungsmittel besteht darin, demjenigen Elternteil, der eine Entführung plant, zu beweisen, dass eine Entführung nicht die erhofften Vorteile mit sich bringt, weil die Behörden des Zufluchtstaates das Kind umgehend in seinen früheren Aufenthaltsstaat zurückschicken.» Für die Zunahme der Kindesentführungen macht er die wachsende Zahl der geschiedenen binationalen Ehen, die guten internationalen Verkehrsverbindungen und die Lockerung der Grenzkontrollen verantwortlich. Auch würden Gastarbeiter, die in ihre Heimat zurückkehrten, oft die Kinder mitnehmen. Dieses Problem habe sich wegen der steigenden Arbeitslosigkeit verschärft. Als erste Opfer der Entführungen bezeichnet der Bundesrat die Kinder. Die zerstrittenen Eheleute würden diese missbrauchen, um einander aus Rache oder reiner Bösartigkeit zu schaden. Der Bundesrat betont, mit den beiden Abkommen verfüge die Schweiz über eine umfassende Handhabe, «um die durch internationale Kindesentführungen entstandenen Probleme zu lösen». In der Parlamentsdebatte warnt die damalige Schwyzer CVP-Nationalrätin Elisabeth Blunschy vor übertriebenen Hoffnungen. Bundesrat Rudolf Friedrich räumt ein, man dürfe von den Abkommen keine Wunder erwarten. Mit gutem Grund. Als sie am 1. Januar 1984 in der Schweiz in Kraft treten, haben sie erst eine Handvoll Staaten, darunter Frankreich und Portugal, ratifiziert. Für die Wunder ist weiterhin die Schweizer Gruppe gegen die Entführung von Kindern zuständig. Der Bundesrat schafft zwar beim Bundesamt für Justiz eine Zentralbehörde für Kindesentführungen durch einen Elternteil. Doch er hält sie sehr schlank. Eine einzige Person, Jurist Bernard Deschenaux, kümmert sich um alle Fälle. Monique Werro begrüsst die beiden Abkommen, glaubt, sie würden betroffenen Eltern Halt geben. Sie habe sich aber gewünscht, dass der Bund die Zentralbehörde mit mehr Geld und mehr Personal ausstatten würde. Dem Tages-Anzeiger sagt sie: «Eine private Organisation wie die unsere schafft es auf die Dauer nicht, den Betroffenen, deren Zahl weit grösser ist, als wir ursprünglich gedacht haben, die erforderliche Hilfe zukommen zu lassen.» Werro wird sich später auch um Beatrix Smit kümmern.

Beatrix’ Indienreise

Im Sommer 1971 verliebte sich Beatrix zum ersten Mal. Die 19-jährige Absolventin einer kaufmännischen Lehre bei der Firma Landis & Gyr AG besuchte ihren Freund, einen Arbeitskollegen aus Altdorf, der bei einer Schlummermutter in der Stadt Zug ein Zimmer gemietet hatte. Lediger Mann empfängt ledige Frau, das verstiess gegen das Sittenempfinden der Hausherrin. Diese witterte die Schandtat, durchsuchte das Zimmer des Lehrlings, fand aber nichts, auch nicht im Estrich, wohin Beatrix geflüchtet war und in einem Schrank ausharrte. Später entwischte sie über die Treppe des Nachbarhauses auf die Strasse.

In den 1970er-Jahren galt noch in mehr als in der Hälfte der Schweizer Kantone das Konkubinatsverbot, so auch in Zug. Die Polizei setzte es zwar kaum oder gar nicht mehr durch, aber ein klandestines Rendez-vous zweier Unverheirateter bedeutete damals einen Bruch gesellschaftlicher Normen. Das passte zu Beatrix, der Tochter einer Zürcherin und eines Holländers, die mit zwei Brüdern in der Stadt Luzern aufgewachsen war. Sie war als Teenager rebellisch, progressiv und fasziniert von der Hippiekultur, ein Kind der 1968er-Bewegung, das in der damals gegründeten «Frauenbefreiungsbewegung» (FBB) gegen die Benachteiligung der Frauen kämpfte und an Demonstrationen für das Frauenstimmrecht teilnahm. «Nein, nein, nein, das geht doch nicht», ärgerte sich Beatrix. Es geht doch nicht, dass in der Schweiz, dieser Musterdemokratie, eine politische Geschlechterapartheid herrscht. Es geht doch nicht, dass junge Frauen nicht die gleichen Ausbildungschancen haben wie junge Männer. Es geht doch nicht, dass das Eherecht den Männern allerlei Vorrechte einräumt und zum Beispiel Ehefrauen verpflichtet, den Haushalt zu führen und die Kinder zu betreuen. Ohne den Segen des Ehemanns durften die Frauen theoretisch nicht einmal einen Beruf ausüben. Die Frauen hatten Anrecht auf Haushalts- und ein bisschen Taschengeld, mehr nicht. Das liberale Prinzip der Gleichheit der Individuen, eine Errungenschaft des neuen Bundesstaates von 1848, galt nur für Männer. Erst seit 1981 spricht die Verfassung Mann und Frau die gleichen Rechte zu. Erst 1988 trat das revidierte Eherecht in Kraft, das die Frauen formal vom Gängelband ihrer Gatten befreite.

Beatrix trat aktiv für Frauenrechte ein, beteiligte sich aber später nicht mehr an den Aktivitäten der FBB, die für ihr Empfinden zu stark von Männerhass getrieben war. Das Interesse für die Hippie- und die 68er-Kultur hingegen blieb. Nach der kaufmännischen Lehre und einem Sprachaufenthalt in England betätigte sie sich zunächst als Glasmalerin, später erweiterte sie ihren beruflichen Horizont als Hilfserzieherin in einem Heim für schwerstbehinderte Kinder in Monthey im Kanton Wallis und in einer Sonderschule für Taubblinde in Zürich. Beatrix zog von Luzern nach Wald in den Kanton Appenzell Ausserrhoden, in eine ländliche Gegend, in der sie «ziemlich alternativ» lebte, wie sie sagt. Geld verdiente sie zum Beispiel, indem sie selbst genähte Kleider und «Chriesisäckli» am Rosenhofmarkt in Zürich verkaufte.

In der Mitte der 1970er-Jahre entdeckte Beatrix das Meditieren, eine Leidenschaft, der sie in einer Gruppe von Kolleginnen und Kollegen nachging. Die Gruppenleiter führten auch Meditationen von Bhagwan (1931–1990) durch. Der indische Philosoph, der sich kurz vor seinem Tod in Osho umbenannte, war zeitlebens eine umstrittene Figur. Der charismatische, belesene Mann mit langem, grauem Bart gründete 1974 in der Millionenstadt Pune im Villenviertel Koregaon Park einen Ashram, ein Meditationszentrum, das Zehntausende Europäer nach Indien lockte. Bhagwan hatte realisiert, dass die Menschen im Westen etwas anderes brauchten als die traditionellen Formen der Meditation, um sich aus ihrem von Leistungsdenken geprägten Alltag herauszulösen. Er wollte ihnen bei der Sinnsuche