Nichts wie weg ! - Heimo Zinko - E-Book

Nichts wie weg ! E-Book

Heimo Zinko

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Beschreibung

In einem einleitenden Kapitel reflektiert der Autor über die Entwicklung des Menschen zum "Homo Belli". In den Augen des Autors haben sich die Menschen als Sklaven erst der Götter, später der von Göttern abstammenden Herrscher entwickelt und sich in der Welt verbreitet. Angst und Gewalt beherrschten die geschichtliche Welt bis in die jetzige Zeit. Weder die Kirche noch Jesus konnte eine Abhilfe bringen. Menschen waren zu allen Zeiten gezwungen, vor der Gewalt zu flüchten oder durch sie unterzugehen. Aber wenn auch die Völkerflucht eine Massenbewegung ist, so ist jeder einzelne Flüchtling davon existentiell betroffen. Deswegen sollen in diesem Buch Einzelschicksale beschrieben werden, von Menschen, die Entscheidung zur Flucht getroffen haben, und dann noch dutzendweise andere Entscheidungen, die mit dem Wie und dem Wohin zu tun haben, treffen mussten. Wir begleiten die Menschen auf der Flucht, lernen ihre Schicksale kennen, ihre Entscheidungen, Nöte und Hindernisse, genauso, wie sie dem Autor mündlich oder schriftlich erzählt wurden. Es handelt sich um wahre Geschichten, auch wenn die Namen der Personen und gewisse Details geändert wurden, um eventuell Mitbeteiligte und Fluchthelfer zu schützen. Dabei war der Autor bemüht, Beispiele von verschiedenen Konflikten oder Katastrophen zu bringen, um damit zu zeigen, wie weit verbreitet die Problemherde dieser Welt sind. - Erschütternd und ergreifend ist die Flucht einer Kindersoldatin vor dem blutigen Wüten der Roten Khmer in Kambodscha. - Eine weitere Geschichte beschreibt das Schicksal eines pazifistischen Pfarrers im kommunistischen Ostdeutschland. - Eine andere Geschichte erzählt wiederum die Flucht im Jahre 2014 vor dem blutrünstigen Wahnsinn des noch immer andauernden syrischen Bürgerkrieges. - In einem vierten Beispiel wird die Flucht aus Gründen des Klimawandels beschrieben, ein Fluchtgrund, der zukünftig vorher noch nie gesehene Flüchtlingsströme mit sich führen könnte. - Und zu guter Letzt die Flucht einer ukrainischen Familie vor den Russen zu Beginns des Krieges.

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Danke

Ich möchte vom ganzen Herzen den Protagonisten dieses Buches danken, denjenigen, die mir ihre Fluchtgeschichten erzählten. Ihnen sei dieses Buch an erster Stelle gewidmet. Sie haben mir einen Teil ihres Lebens geschenkt, damit die Welt erfährt, was es heißt, Leib und Leben zu riskieren um eventuell ein erträglicheres, meistens nicht ihr gewohntes, Leben zu finden.

Weiters möchte ich meinen beiden Lektorinnen für ihre Bemühungen danken, ohne deren Eifer und Enthusiasmus aus dem Manuskript niemals ein Buch entstanden wäre:

Frau Elke Vujica, Graz, die mit professionellem literarischen Spürsinn, sowohl inhaltlich wie textlich, dazu beitrug, die richtigen Worte zu finden.

Meiner lieben Frau Britta, die mit unermüdlichen Lehreraugen imstande war, die meisten der Druck- und Schreibfehler aufzuspüren.

Und schließlich ein Dankeschön meinem lieben Freund B.B, der sich sowohl um Rechtschreibung wie auch intensiv um Faktencheck kümmerte.

Heimo Zinko

Lesehinweis

Die Fluchterzählungen in den Kapiteln 2 – 6 sind freistehende Geschichten, die in jeder beliebigen Reihenfolge gelesen werden können.

Inhaltsverzeichnis

Lesehinweis

1. MENSCHEN AUF DER FLUCHT

Rast auf der Flucht nach Ägypten

Flucht als Folge der Versklavung von Menschen

A good run is better than a bad stand

Das Schicksal des Einzelnen

2. VERTREIBUNG

Der Tod des Wolfes

Im Königreich der Khmer

Eine bürgerliche Familie

Die Roten Khmer rücken vor

Leben als „Neue“

Kindersoldaten

Nichts wie weg

Bauernmagd in Vietnam

Saigon

Phnom Penh

Thailand

Auslöschung

3. ZERSETZUNG

Vorwort

Lilo Herrmann – Die Studentin aus Stuttgart

Der Schüler – Selig sind die Sanftmütigen

Der Biologiestudent – Die Einschüchterung

Der Arbeiter – Die Zermürbung

Lehrer auf Probe – Die Ernüchterung

Der Theologe – Die Zersetzung

Der Flüchtling – Aufbruch in den Norden

Nachwort

4. HOFFNUNGSLOSIGKEIT

Ein Spiegel für einen Tyrannen

Keine Zukunft in Syrien

Als Tourist durch die Türkei

Festung Europa

Die Balkanroute

Die Route nach Norden

Asyl in Schweden

Nachwort

5. FLUCHT VOR DER DÜRRE?

O Leiden!

Der Bericht Ibrahims

Leben in der Sahelzone

Ausweichen in den Süden

Unterwegs nach Osten

Weiter nach Khartum

Zwischenstation Khartum

Port Sudan – Das Tor zur Freiheit

Seemannsleben

Im Bauch des Wales

In Schweden

EU, Libyen und die Menschrechte

6. ANGRIFFSKRIEG

Aus: Marienleben

Ein Teil Russlands?

Die Familie S

Einen Tag zu spät

In den Westen der Ukraine

Ins Ungewisse

Warschau

Unterwegs ins gelobte Land

Endlich in Schweden

Nyköping

Nachbemerkung

7. NACHWORT

Flüchtlinge – ein positiver Zugang?

Vermeidung von Flüchtlingsströmen

Flüchtlinge wird es immer geben

Abgesang

Menschen auf der Flucht

1. MENSCHEN AUF DER FLUCHT

Rast auf der Flucht nach Ägypten

Diese, die noch eben atemlos

flohen mitten aus dem Kindermorden:

o wie waren sie unmerklich groß

über ihrer Wanderschaft geworden.

Kaum noch, dass im scheuen Rückwärtsschauen

ihres Schreckens Not zergangen war,

und schon brachten sie auf ihrem grauen

Maultier ganze Städte in Gefahr;

denn so wie sie, klein im großen Land,

– fast ein Nichts – den starken Tempeln nahten,

platzten alle Götzen wie verraten

und verloren völlig den Verstand.

Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)

Flucht als Folge der Versklavung von Menschen

Unser Schreibtischkalender zeigt das Jahr 2020. Eigentlich ist es egal, um welches Jahr es sich handelt. Jahrein, jahraus sind täglich Menschen auf der Flucht. In diesem Jahr werden circa 80 Millionen Flüchtlinge registriert, wobei etwa 60 Prozent in ihrem eigenen Land eine neue Bleibe suchen mussten und als Binnenflüchtlinge gelten. Weitere 30 Millionen sind in einem Fremdland unterwegs, so wie damals die kleine Familie von Maria und Josef mit dem heugeborenen Heiland, der als Gotteskind eigentlich vor niemandem Angst haben sollte.

Wie gut, dass es die Weltflüchtlingsagentur UNHCR1 gibt, die uns mit diesen Zahlen versorgt und Hilfsaktionen weltweit organisiert. Aber sie, die einmal gegründet wurde, um sich für einige Jahre der verheerenden Flüchtlingssituation als Folge des Zweiten Weltkrieges anzunehmen, musste zusehen, wie die Probleme durch fortschreitende Globalisierung, Habgier, Selbstsucht, Rassismus und Fanatismus immer grösser wurden. Gleich einem Tsunami legte sich eine Schlammmasse von staatlicher Korruption über gewisse Länder und begann, normale Menschen, solche wie Sie, werte Leserin und werter Leser, und mich, schlichter Autor, zu unterdrücken, zu massakrieren, zu foltern oder wegzujagen. Oder die Staatsmacht bleibt einfach untätig und versucht, Menschen anderer ethnischer Gruppen, oder sagen wir unbeliebter Volksstämme, auszuhungern, entweder durch Entzug von Lebensmitteln, Kapital oder bebaubarem Boden. Dazu kommen eventuell noch natürliche oder von Menschen verursachte Klimakatastrophen oder andere Verwüstungen der Umwelt, die Menschen in die Flucht jagen, weil sie kein Auskommen für sich sehen. Dass da einige mitkommen, weil sie für sich in einem neuen Land ganz einfach nur eine wirtschaftlich bessere Zukunft erhoffen, ist durchaus verständlich.

Sie werden jetzt sagen, das ist nichts Neues. Nein, neu sind diese Zustände fürwahr nicht. Seit es schriftliche Überlieferungen gibt, finden sich darin Beschreibungen von Herrschergewalt, Unterdrückung, Folter oder Hinrichtung von Gefangenen und von sexuellen Übergriffen auf Frauen. Es herrschte schon immer das Recht des Gewitzteren und Stärkeren. Der Gesättigte hatte schon immer mehr Recht als der Hungrige, und der Begüterte schon immer mehr Recht als der Arme.

Vielleicht geht alles auf jene Berichte zurück, die man auf sumerischen Tafeln, in Lehm eingraviert, über den Streit zweier Gottheiten, Enki und Enlil, gefunden hat. Diese Götter sind sich wegen unterschiedlicher Auffassungen bezüglich Zuständigkeiten und Zielen für die Menschheit buchstäblich in den Haaren gelegen. Durch die in Urzeiten vorherrschende gottgewollte Weltordnung: Götter – Priester – Volk – Sklaven kamen so auch die jeweils einem Gott zugehörigen niedrigeren Schichten zum Handkuss und mussten die Streitigkeiten am eigenen Körper und in eigenen Schicksalen ausbaden. Nur wenigen gelang ein Ausbrechen aus ihrer Lebenssituation, entweder durch den Wechsel der Kaste oder durch Flucht in ein anderes Land. Wohin sollte man fliehen, wenn die Umwelt aus Wüste oder karstigem Gebirge bestand? Die Hauptalternativen waren: getötet oder gefangen und in Sklaverei verschleppt zu werden. Aber das war nicht verwunderlich. Studiert man die sumerischen Aufzeichnungen, deren „Mythen“ weit in die Vorgeschichte zurückgreifen, so war es eher so, dass Homo sapiens schon von Anfang an nur als Sklave gedacht war, um dem Göttergeschlecht der Annunaki lästige und schwere Arbeit abzunehmen. Dass die Menschen sich im Laufe der Zeit selbstständiger entwickelten, als den Annunaki lieb war, hat schließlich dazu geführt, dass in der Sintflut ein Großteil aller Menschen, aber eben nicht alle, vernichtet wurden.

Die Geschichten, die sumerische Aufzeichnungen und in der Folge die Bibel berichten, handeln auch nach der Sintflut von Konflikten, deren Ursachen bei denjenigen Göttern zu suchen sind, die die eigentlichen Beschützer der verschiedenen Religionszentren waren. Deren oberste Priester oder Pharaonen waren die Bindeglieder zwischen Mensch und Gott. Die Priester sollten den Menschen den Willen der Götter vermitteln. In jüngerer Vergangenheit kamen die Könige dazu, die die Staatsgewalt über ein Volk verkörperten. Damit war die bis in jüngste Zeiten herrschende Weltordnung der doppelten Gewalt über ein Volk etabliert: die göttliche Macht durch den obersten Priester und die weltliche Macht durch den Staatschef. Beide Mächte komplettierten einander in einer Art Unterdrückungssymbiose, um ihren Willen durchzusetzen. Die christliche Kirche hat diese Gewaltenteilung bis zur Vollendung feingeschliffen und praktiziert: Wollte man sich durch den freiwilligen Tod der Herrschergewalt entziehen, dann gab es auch den angedrohten ewigen Tod, der den Menschen zeitweise noch größere Angst einflößte.

Die Götter, die die Welt des dritten und zweiten vorchristlichen Jahrtausends beherrschten, waren, wie gesagt, uneinig, aber mächtig und konnten die Geschicke einzelner Völker schnell verändern. Wenn es einem Gott gelang, seinen Willen durchzusetzen, war es durchaus möglich, dass ein einem anderen Gott höriges Volk dafür leiden musste oder ausgelöscht wurde. Beinahe könnte man annehmen, dass die Götter eine Variante des Schachspiels erfunden haben, ungefähr mit den gleichen oder ähnlichen Steinen wie im heutigen populären Schach, aber mit Hunderttausenden von Bauern. Man kann sie mit gutem Gewissen als die Erfinder des Völkermordes bezeichnen.

Dies mussten zum Beispiel die Israeliten des Alten Testaments erfahren, die, wie uns in der Bibel berichtet wird, sowohl in Ägypten wie auch später in Babylon für einige hundert Jahre in Gefangenschaft leben mussten. Erst durch umstürzende Ereignisse und Katastrophen im jeweiligen Herrscherland (wobei wiederum ein Gott seine Hand im Spiel hatte), konnte sich diese Situation wieder ändern, sodass der Druck vom Volk wich und es in sein Ursprungsland zurückkehren durfte.

Allen Berichteten zufolge – und davon gibt es Hunderttausende von beschriebenen Tontafeln in den Museen der Welt – hatten die hier erwähnten Götter besondere Waffen, waren technisch und mental den Menschen überlegen – wir brauchen nicht darüber zu spekulieren. Das Ergebnis war Krieg, Unterdrückung und Angst, was alle Klassen betraf (außer die Götter selbst). Jedoch machten sich die Völker immer unabhängiger von den Göttern, allen voran die Könige. Die Götter beklagten sich über die unkontrollierte Verbreitung der Menschen, und zum Schluss gaben die Götter die Erde auf; die Machtgier zwischen den Herrschern der verschiedenen Völker und die Unterdrückung der Untertanen waren jedoch das den Menschen verbliebene Erbe. Wer mehr darüber erfahren will, der kann zum Beispiel bei Zecharia Sitchin2 nachlesen. Aber welche waren die Machtmittel, über die die Götter verfügten?

A good run is better than a bad stand

Was wäre die Überlegenheit der Stärkeren wert, wenn es die Angst der Schwächeren nicht gäbe? Über Jahrmillionen hat die Evolution die Tierwelt gelehrt, dass es für das Überleben vorteilhafter ist, Angst zu haben. Wenn man einsieht, dass man keine Chance hat zu siegen, dann ist es besser, zu fliehen. Beim aus dem Affen entwickelten Menschen ist es nicht anders. Wenn man leben will, und das wollen die meisten Lebewesen, dann ist Flucht besser als der Tod. Nur kommen beim Menschen noch subtilere Nuancierungen vor. Der Mensch ist unter gewissen Bedingungen eine wertvolle Arbeitskraft, kann für manche ein interessantes Spielzeug, für andere ein Testobjekt oder Tauschobjekt sein. Man kann wählen, seinen Feind zu töten oder gefangen zu halten. Ist der Herrscher sadistischer Natur, so kann er seine Gefangenen auch physisch oder psychisch quälen und Gefallen daran finden. Bei den Römern waren Gefangene dankbare Objekte für den Circus Maximus. Für viele Kriegsherren sind die Menschen jedoch reines Kampfmaterial, jederzeit ersetzbar, so lange der Vorrat reicht (das hat sich allerdings mit der modernen Hightech-Kriegsführung in der letzten Zeit etwas geändert). In beiden Weltkriegen wurden Kriegsgefangene zur Waffenproduktion oder zum Bau von Verteidigungsanlagen verwendet und damit gegen ihre eigenen Volksgenossen eingesetzt.

Ein neuer Aspekt im Umgang mit der Angst wurde jedoch durch jene im letzten Jahrtausend vor Christus aufkeimenden Religionen eingebracht, die eher die Gewaltlosigkeit favorisierten.

Jesus lebte selbst die Gewaltlosigkeit und predigte die Verheißung auf ein besseres Leben jenseits des Todes nach der Auferstehung. Dadurch kam bei einer gewissen Menschengruppe die Todessehnsucht als Alternative in Frage, vor allem, wenn sich die Lebensbedingungen als sehr schwierig erweisen sollten, zum Beispiel durch Hunger oder eine gewalttätige Obrigkeit. In der Folge ist das Märtyrertum bei den frühen Christen beinahe eine Volksbewegung geworden.

Im Buddhismus und Hinduismus spielt der Glaube an die Reinkarnation eine zentrale Rolle, der Mensch ist in seinem innersten Wesen eine unsterbliche Seele, die je nach Karma in eine höhere oder niedrigere Existenz wiedergeboren werden kann (mit vielen Nuancen je nach Glaubensvermittler). Dadurch ist auch in den Ländern (zum Beispiel Indien), in denen diese Religionen stark verbreitet sind, eine gewisse Todesbereitschaft der Menschen stärker ausgeprägt, da man im Fall des Todes damit rechnen kann, wieder irgendwo von vorne anfangen zu können. Der Gedanke der Reinkarnation wurde von vielen Denkern und Dichtern der Antike, aber auch der Neuzeit, aufgenommen, und so zieht sich ein weiter Bogen von Pythagoras und Platon übers Mittelalter (Plethon, ein Philosoph der neuplatonischen Schule im 14. Jahrhundert) bis in die Neuzeit (Lessing, Schopenhauer) und in die anthroposophische Schule von Rudolf Steiner. In jüngster Zeit kann in Europa ein erhöhtes Interesse am Buddhismus mit seinen Reinkarnationsgedanken festgestellt werden, wobei westliche wissenschaftliche Forschung bisher Belege von etwa 3000 Fällen von Reinkarnation dokumentieren konnte.3 Der Reinkarnationsgedanke der östlichen Religionen wie auch der speziell christliche Auferstehungsglaube könnten uns Menschen dabei helfen, die Todesangst zu überwinden. Aber dann regt sich auch noch das Gerechtigkeitsgefühl, warum soll man Unrecht ertragen müssen (obwohl auch dies Jesus predigte und vorlebte)? So verblieben also Gewalt und Blutrünstigkeit die Merkmale der Herrscher sowie Angst und Flucht die Reaktionen der Beherrschten. Große Herrscher versetzten die damalige Welt in Schrecken, so zum Beispiel Kyros II., der Große, im 6. Jahrhundert v. Chr. und danach Alexander der Große, der im 4. Jahrhundert v. Chr. von der Adria bis zum Indus (heutiges Pakistan) das gesamte Territorium unter seine Herrschaft brachte, eine beinahe göttliche Leistung.

Allen diesen Widrigkeiten zum Trotz, Kriegen, Seuchen, Hungersnöten: Die Menschheit vermehrte sich weiterhin sehr schnell. Man schätzt, dass es zu Christi Geburt etwa 300 Millionen Menschen gab, wovon 50 Millionen im Römischen Reich und 75 Millionen in China lebten. In den nächsten etwa 1000 Jahren nach Christi Geburt stand die Entwicklung still, und bis zum Ende des Mittelalters war ein relativ langsamer Anstieg (Verdoppelung) der Menschheit bis zum Jahr 1500 zu verzeichnen. 1520 wurde Karl V. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gewählt, und damit kam wieder ein Weltherrscher an die Macht, der im Zusammenspiel mit der Kirche einen neuen Höhepunkt der Unterdrückung von Andersdenkenden und „Ketzern“ setzte. Die Auseinandersetzung mit den Lutheranern begann im 16. Jahrhundert und kulminierte hundert Jahre später im Dreißigjährigen Krieg. Heute schätzt man, dass dieser Krieg die deutsche Bevölkerung etwa um drei bis fünf Millionen Menschen reduziert hat, wobei natürlich, wie bei den meisten Kriegen, die Zivilbevölkerung am schwersten betroffen war. Und weil es mit den europäischen Glaubenskämpfen nicht genug war, fielen auch noch die Osmanen ein und bedrohten das östliche und mittlere Europa über Jahrhunderte. Mit wachsendem Bevölkerungsdruck wuchs auch die Zahl der Kriege stetig an und kulminierte in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, wobei der Erste etwa 20 Millionen Tote verursachte, und der Zweite mit etwa 60 Millionen Toten den absoluten Höhepunkt menschlicher Perversion und Aggression bildete.

Es ist ein Paradoxon der Wissenschaftsgeschichte, dass man unsere Menschenrasse als „Homo sapiens“ bezeichnet. Wenn man eine Auflistung aller Kriege durchblättert, die auf Erden geführt wurden und weiterhin geführt werden, erkennt man, dass die Ursache der meisten Kriege Herrscher mit ausgeprägtem Egoismus und mangelnder sozialer Kompetenz sind. Wahrscheinlich sind sie auch deswegen zum Herrscher aufgestiegen. „Homo bellicus“ würde besser zur Beschreibung der Menschenrasse passen. Kriege sind eines der Charakteristika irdischen Zusammenlebens. Kriegsfolgen zählen daher zu den größten Hindernissen für eine ungehemmte Entwicklung der Menschheit. (Allerdings streiten sich die Wissenschafter über das Ausmaß der Behinderungen durch Kriege, da Kriegsforschung und Kriegstechnik auch viele Entwicklungssprünge mit sich führten, wie die Beispiele Kernenergie und Informationstechnik in der jüngsten Zeit beweisen.)

Eine der weitest verbreiteten Kriegsfolgen ist die Angst. Angst vor Kriegshandlungen, Verfolgung, sexueller Gewalt und Folter. Es gibt aber noch weitere Ängste, aufgrund derer Menschen fliehen, zum Beispiel Diskriminierung aus ethnischen, genderbedingten oder politischen Gründen.

Da jedes Kriegsgeschehen seine eigene Dynamik entfaltet, die weder auf Umwelt noch Einwohner Rücksicht nimmt, so ist es natürlich, dass diejenigen, die nicht zum Kämpfen gezwungen sind, aus der tödlichen Frontzone fliehen wollen. Wer will schon in den unmenschlichen Kriegslärm, das Gemetzel, das Feuer, die Not der kämpfenden Soldaten verwickelt werden und darin umkommen? Möglicherweise gibt es in Westernfilmen solche Art „Helden“. Aber der Zweite Weltkrieg war voll von Beispielen, wie die Zivilbevölkerung eines Feindeslandes systematisch verfolgt, das heißt, getötet, vertrieben oder gefangen genommen wurde. So war es das Ziel der Nationalsozialisten, Lebensraum zu schaffen und die jüdische Bevölkerung zu eliminieren. Als Kriegsfolgen sind dann weitere Umsiedlungen vorgenommen worden, wie es das Beispiel der Sudeten- und Banatdeutschen zeigt. Wer konnte, begab sich auf die Flucht. In vielen Ländern sind noch heute Homosexuelle oder einzelne ethnische Gruppen auf der Flucht vor korrupten, autoritären Regimen, wobei einige Länder besonders hervorstechen:

Die syrische Regierung hat mit Unterstützung anderer Mächte ihr Militär gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt und etwa die halbe Bevölkerung (zwölf Millionen) zu obdachlosen Flüchtlingen gemacht, wovon etwa 5,5 Millionen ins Ausland geflohen sind. Flüchtlinge haben von verbrannten Äckern, getöteten Weidetieren und Hinrichtungen der Zivilbevölkerung berichtet. Eine der Rebellengruppen, der Islamische Staat, ging mit ähnlicher Grausamkeit vor.

In Afghanistan fliehen die meisten Menschen vor dem Terror der Taliban und der Al-Qaida Rebellen, die sich nach dem sowjetischen Einmarsch in den 1970er Jahren (unter anderem mit Unterstützung der CIA) etabliert haben. Nachdem sich die Sowjetunion 1992 zurückgezogen hatte, haben die USA eine ihnen genehme Regierung eingesetzt, gegen den Willen der Taliban, die seither das Land durch Terror gegen die Zivilbevölkerung in Atem halten. Auch wenn nach heutigen Schätzungen die Zahl der Toten nach 2001 mit weniger als 100.000 anzunehmen ist, ist die Zahl der Flüchtlinge mit etwa 2,5 Millionen Menschen aufgrund von Unsicherheit und schlechten Wirtschaftsaussichten sehr hoch.

Zwei Jahre nach der Staatsgründung war der Südsudan (nach Abspaltung vom Sudan 2011) in einen verheerenden Bürgerkrieg verwickelt. Ein Machtkampf zwischen den beiden Hauptführern des Landes löste den Konflikt aus. 2014 wurde ein Friedensabkommen unterzeichnet. Bis dahin waren Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende, getötet worden, mehr als zwei Millionen waren infolge des Krieges obdachlos geworden und 1,5 Millionen Menschen ins Ausland (die meisten in den Sudan) geflüchtet.

Rohingya heißt eine muslimische Volksgruppe im buddhistischen Myanmar (vormals Burma). Sie leben wie Staatenlose ohne Grundrechte und sind Verfolgung und willkürlicher Gewalt ausgesetzt. Das Volk der Rohingya ist nach Angaben der Vereinten Nationen eine der meist verfolgten Volksgruppen der Welt. Etwa eine Million Menschen dieser Gruppe leben in Flüchtlingslagern in Bangladesch.

Auch wenn viele der Flüchtlinge in den hier angeführten Beispielen Menschen sind, bei denen die früher zitierten Kriterien wie Angst vor Tod und Verfolgung sicher zutreffen, so gibt es doch viele andere, deren Motive in unseren Augen genauso gültig sind, aber, wohlgemerkt, nicht in den Augen der Migrationsbehörden: Wirtschafts- und Klimaflüchtlinge. Ein Beispiel dafür sind die Flüchtlingsströme von Mittelamerika über Mexiko in die USA, die zum pikanten Streit zwischen Präsident Donald Trump und Kongress führten. Etwa 350.000 Flüchtlinge pro Jahr werden als Begründung dafür angegeben, dass eine Mauer oder ein Zaun von 3000 Kilometern Länge gebaut wird. Die Geister scheiden sich darüber, ob die Flüchtlinge einen Gewinn oder eine Belastung für die USA darstellen.

Das vorläufig letzte Beispiel von Flüchtlingsströmen hat uns Russland beschert. Der militärische Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 hat einen Flüchtlingsstrom von vor allem Familien mit Kindern ausgelöst, der sich in erster Linie in die Nachbarländer Polen, Ungarn, Rumänien und Moldawien ergoss. Die Schätzungen der Vereinten Nationen liegen im Juni 2022 bei ca. 7 Millionen Kriegsflüchtlingen, mit denen bis vor kurzem noch niemand gerechnet hatte. Hierbei handelt es sich jedoch um Menschen, die nichts lieber wollen, als sobald wie möglich wieder in ihre Heimat zurückzukehren.

Das Schicksal des Einzelnen

Wie auch immer, Tatsache ist, dass jeder Flüchtling mit seinem eigenen Schicksal fertig werden muss, einem Schicksal, das unsere Menschenrasse als Homo sapiens Lügen straft. Ob als einsamer Kriegsflüchtling oder Deserteur, ob in der Masse der Flüchtlinge vor einer näher rückenden Kriegsfront oder als Zwangsumsiedler, ob als Wirtschafts- oder Klimaflüchtling, ob als politisch oder durch angedrohte sexuelle Gewalt Verfolgter, auf jedem betroffenen Menschen lastet ein Schicksal, das es zu bewältigen gilt. Manchmal muss es die betroffene Person allein tragen, in vielen Fällen kann es dagegen mit anderen geteilt werden. Aber deswegen sind die Nöte nicht geringer, die Entbehrungen nicht weniger, die Traumen nicht leichter zu ertragen und der Anspruch auf einen Neubeginn nicht weniger berechtigt. Das trifft auf Millionen Menschen zu, auch wenn sie im Einzelfall nur ein statistisches Pixel bedeuten.

Jeder Flüchtling muss seinen Entschluss zur Flucht selbst fassen. Jeder muss für sich die Grenze erkennen, vor der es für ihn kein Aushalten und hinter der es kein Zurück mehr gibt. Manche müssen ihre Entschlüsse in Blitzeseile fassen, andere haben genug Zeit, um vorausschauend und raffiniert ihre Flucht vorzubereiten. Bei allen grünt jedoch die Hoffnung, es irgendwann einmal besser zu haben. Hoffnung auf Überleben, auf mehr Geborgenheit, Hoffnung auf ein lebenswertes Leben. Auf einmal haben alle Beschlüsse existenzielle Bedeutung: Was ist möglich mitzunehmen? Wo verwahre ich meine Wertsachen? Wohin soll es gehen? Wer kommt mit? Wem kann ich mich anvertrauen? Die Anforderungen an jeden Einzelnen, was Entschlusskraft betrifft, sind sehr hoch geworden, die meisten der Flüchtlinge waren früher wahrscheinlich nur sehr selten mit ähnlich wichtigen Fragestellungen in Berührung gekommen.

Obwohl wir heute Fluchtsituationen gern als ein statistisches Phänomen betrachten, interessieren uns in diesem Buch die Einzelschicksale am meisten. Das Fernsehen bringt uns mit seiner Berichterstattung die Situation der Flüchtlingslager in der Türkei und in Griechenland mit Millionen von Flüchtlingen nahe. Es schildert uns, die auf dem Sofa sitzen, in aller Eindringlichkeit und mit vielschichtigem Farbenreichtum die Nöte und Unzumutbarkeiten des Lagerlebens in der Türkei. Es zeigt uns die mittelamerikanischen Flüchtlinge beim Klettern über den Zaun in der Hoffnung auf ein besseres Leben in den USA. Es zeigt uns die schaukelnden übervollen Gummiboote im Mittelmeer, gefüllt mit afrikanischen Flüchtlingen, auf dem Weg nach Europa, sowie ans Land geschwemmte Körper Ertrunkener, deren Hoffnung auf eine neue Heimat von den Meereswogen weggespült wurde. Das Fernsehen berichtet aber auch über den Rücktransport zum Beispiel von afghanischen Flüchtlingen, denen in Europa kein Asyl geboten werden kann. Und wir schlürfen sinnierend ein Glas Bier vor dem Schaukasten und denken: „Ach wie tragisch.“

Das Fernsehen erinnert uns aber auch mit aller Deutlichkeit daran, welcher Sinneswandel sich in einigen Ländern innerhalb von nur kurzer Zeit abgespielt hat: Vom solidarischen „Wir schaffen das“ (2015) bis zur mit eisernen Zäunen verschlossenen „Festung Europa“ in nur knapp drei Jahren. Als ob die Situation für die Flüchtlinge sich geändert hätte. Der Verfolgte ist heute genauso verfolgt, der Hungrige genauso hungrig und der Diskriminierte genauso diskriminiert wie früher. Die verzweifelten Gesichter der Lagerbewohner sprechen Bände. Angela Merkel hatte kurze Zeit intuitiv das Richtige vorgehabt, musste sich jedoch der Realität und den Ängsten der Völker Europas beugen.

Der deutsche Philosoph Wolfram Eilenberger meint dazu, dass ab jetzt die Situation nur noch schlimmer werden wird: „Der Migrationsschub des Jahres 2015 bedeutet perspektivisch erst den Anfang, nicht das Ende einer Entwicklung. Angesichts der schieren Anzahl von bereits heute konkret Wanderungswilligen wird der Unterscheidung zwischen Kriegs, Wirtschafts- oder Klimaflüchtlingen in den kommenden Dekaden allenfalls noch akademischer Wert zukommen“.4 Zurzeit schätzt der UNHCR, dass etwa 7 Millionen Menschen aus Klimagründen auf der Flucht sind, davon etwa die Hälfte nicht im eigenen Land.

Wir sehen vor uns also ein Europa, dass sich seine Paradies-Stellung nur durch zusätzliche Festungselemente wird sichern können. Haben wir früher den Eisernen Vorhang und Ostdeutschland als Verdeutlichung von Diktaturen angesehen, die „Landesflucht“ verhindern wollen, so wird die „Festung Europa“ in ihrer ganzen Konsequenz notwendig werden, wenn wir die Migrationswilligen von uns fern halten wollen. Eine Alternative wäre ein wirklich substanzielles Investieren in die heutigen Fluchtländer zwecks Erhöhung des Lebensstandards und in Klimaschutzmaßnahmen, im Zusammenspiel mit der Förderung der demokratischen Entwicklung in diesen Ländern. Dies ist aus wirtschaftlichen und politischen Gründen ein viel zu langsamer Prozess, viel langsamer, als uns das Klima zu schaffen machen wird. Durch die zu befürchtende Verschärfung der Lebensbedingungen in tropischen und subtropischen Ländern durch den Klimawandel können schon bald Auswanderungswogen auf Europa zukommen, die vergleichsweise die Flüchtlingsspitze von 2015 nur wie ein Getümmel auf einer Strandpromenade erscheinen lassen.

Aber wie dem auch sei, jeder Flüchtling trägt sein Schicksal mit sich herum. Manche wollen es am liebsten vergessen, manche möchten gern darüber reden. Über das Fluchtschicksal zu reden, gehört heute zu den Standards der Therapie, um Flüchtlinge zu enttraumatisieren. Einige möchten sogar, dass über ihr Schicksal geschrieben wird, sodass es alle wissen und verstehen können, um womöglich Aufklärungsarbeit, aber auch Prävention zu betreiben. Über einige wenige dieser Einzelschicksale soll im Folgenden berichtet werden. Über die Zwänge, die Not, die Gewissensbisse bis hin zum Entschluss zu fliehen. Dann aber auch über die Erlebnisse, die unwahrscheinlichen Zufälle, die schnellen Entscheidungen, die zu treffen waren. Und natürlich auch über die tatkräftige Hilfe oder das Mitleid derjenigen, die zu einer geglückten Flucht beitragen konnten.

Die Auswahl der Geschichten mag zufällig erscheinen. Zufall ist dagegen nicht, dass im Leben des Autors so viele Begegnungen mit Flüchtlingen stattgefunden haben, dass sogar eine Auswahl möglich wurde. Alle hier beschriebenen Schicksale beruhen auf authentischen Berichten, auch wenn Namen und manchmal auch Fakten aus erzähltechnischen Gründen geändert wurden, um zu vermeiden, einzelnen Flüchtlingen und ihren Helfern zu schaden. Die hier wiedergegebenen Geschichten beschreiben Vorgänge, die für die jeweiligen Protagonisten die fluchtauslösenden Faktoren waren, und die vielen Entscheidungen, die in jedem Moment des Fluchtgeschehens zu treffen waren. In ihrer Gesamtheit sind sie beispielgebend für die psychischen und mentalen Eigenschaften, die von Flüchtenden verlangt werden, sodass ihre Flucht erfolgreich verläuft. Wenn man diesem Buch einen Vorwurf machen kann, dann den, dass es keine Misserfolge behandelt. Diese hätten in den meisten Fällen nicht authentisch berichtet werden können.

Um welche Eigenschaften handelt es sich, die hier beispielhaft beschrieben werden?

Anpassungsfähigkeit und Ausnützen von zufälligen Chancen im

Kapitel 2

Sorgfältige Planung und lange Entschlusswege im

Kap. 3

Unterstützung durch die Familie vor kriegerischen oder politischen Verfolgungen im

Kapitel 4

Hoffnung auf Veränderungen in dem Land, aus dem man flieht im

Kapitel 5

Flucht vor Kriegsgräuel und Hoffnung auf baldige Heimkehr im

Kapitel 6

Und zum Schluss: Was können wir aus den Berichten lernen, welche Erfahrungen können wir uns zunutze machen? Die Berichte stellen kein Fluchthandbuch dar, bieten keine Tipps für eine erfolgreiche, gelingende Flucht. Ich hoffe eher, dass sie einen abschreckenden Einfluss verbreiten. Sie sollen uns als einzelne Repräsentanten von Homo sapiens nachdenklich machen, wie es möglich ist, dass in einer modernen, wohlhabenden und humanistisch angehauchten Welt Zustände herrschen, die zunehmend mehr Menschen zu Flüchtlingen machen. Dass Stellvertreterkriege auf dem Rücken von friedlichen Völkern ausgefochten werden, dass die Machtstrukturen so verteilt sind, dass globale Ausbeutung und anthropogene Klimakatastrophen immer mehr Menschen in die Flucht treiben. Und natürlich, dass das Gespenst des Kalten Krieges und einer Konfrontation zwischen West und Ost auch in einer globalisierten Welt ein realistisches Scenario sein kann. Das Buch will uns andererseits auch zeigen, dass Flüchtlinge Überlebenskünstler sind und Fähigkeiten entwickeln, um die wir sie nur beneiden können. Und vor allem: dass sie unsere Nächsten sind!

1 United Nations High Commissioner for Refugees (UN Flüchtlingskommissariat)

2 Zecharia Sitchin: The Wars of God and Men1985. Bear Company, Rochester Vermont. Siehe auch eine Reihe von weiteren Büchern über das Wirken der Anunnaki auf der Erde vom gleichen Autor.

3 Reinkarnation; Stevenson, Ian. - Bielefeld: Aurum, 2003, 8. Auflage., überarbeitet und erweitert.

4 Wolfram Eilenberger: „Was tun?“ Philosophie Magazin, 2, 2016.

Vertreibung

2. VERTREIBUNG

Kambodscha war ein asiatisches Königreich mit allem, was ein solches Reich kennzeichnete: Eine beinahe unkontrollierte Macht des Königs, königliche Beamte, deren Einnahmen in erster Linie aus Bestechungsgeldern bestanden, eine untere Mittelschicht von Geschäftsleuten und Fabrikanten, und die breite Masse eines sehr armen Volkes, das unter Sklaverei ähnlichen Bedingungen von der Landwirtschaft lebte. 1863 ließ sich Kambodscha unter das Protektorat Frankreichs stellen, um zu verhindern, dass es auf die Nachbarländer aufgeteilt werde. Mit Frankreichs Hilfe wurde eine moderne Administration eingeführt und die Sklaverei abgeschafft. Eisenbahnen wurden gebaut, Kautschuk-, Obst- und Reisplantagen schafften dem Land Exporteinkommen. Was nicht abgeschafft werden konnte, war die Korruption, ein Überbleibsel der königlichen Machtstrukturen des Landes. Jede Leistung von Beamten musste erkauft werden, Einsprüche und Klagen waren kontraproduktiv. Die Beamtenschaft wurde durch eine feste Struktur von gegenseitigen Abhängigkeiten getragen, was dem System eine Stabilität gab. Die Systemgegner wussten andrerseits, dass eine eventuelle Änderung nur durch brutalste Gewalt möglich wäre. Der Zweite Weltkrieg brachte neue Akteure ins Land, neben dem geschwächten Frankreich breitete sich Japan immer mehr aus, alle forderten Tribute und Steuern, was wiederum sowohl demokratische als auch kommunistische Parteizellen aktivierte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt Kambodscha 1954 seine vollständige staatliche Unabhängigkeit. Der König war Norodom Suramarit, der Vater von Prinz Sihanouk, der schon von 1941 an mit Hilfe der Franzosen regiert hatte. Sihanouk verblieb Regent und wurde 1955 Regierungschef in einer Art „Buddhistischer Sozialismus“. Er war ein autokratischer Herrscher und bekämpfte sowohl die bürgerliche wie die kommunistische Opposition, unterstützte jedoch die Mittelklasse der Geschäftsleute und Intellektuellen, und versuchte dadurch, dem Land einen gewissen Wohlstand zu bewahren. Die Kommunisten suchten ihre Zuflucht teils in Vietnam und teils in Frankreich, wo sich Angehörige der späteren Elite der Roten Khmer sammelten, um sich im theoretischen Kommunismus ausbilden zu lassen. Sie wurden aktiv von Vietnam unterstützt. 1960 wurde die Kommunistische Partei Kambodschas gegründet. Sihanouk wandte sich immer mehr China zu, da er zu erkennen glaubte, dass China und nicht die Vereinigten Staaten von Amerika bald die Vormachtstellung in der Region haben wird. Aber die Bedrohung Kambodschas durch Vietnam wurde immer grösser, vor allem verwendete der Vietcong Ostkambodscha als Nachschubbasis und Durchzugsroute nach Südvietnam, wo sie die von USA unterstützten südvietnamesischen Truppen bekämpften. Noch gelang es dem proamerikanischen Verteidigungsminister General Lon Nol die Kommunisten zu besiegen, aber durch ungünstige Verträge wurde die wirtschaftliche Situation im Lande immer schlechter: Es musste immer mehr Reis zu niedrigen Preisen an Vietnam und China verkauft werden. Sihanouk verlor bei der mittelständischen Bevölkerung an Beliebtheit. Bei den ersten freien Wahlen 1967 wurde der USA-nahestehende Nationalist Lon Nol Premierminister, was wiederum die Kommunisten veranlasste, stärker gegen die Regierung vorzugehen. Vor allem schlossen sich in der Reisprovinz Battambang viele Bauern den Kommunisten an, um gegen die Großgrundbesitzer aufzubegehren. 1967 bildete sich eine kommunistische Guerillabewegung gegen die Regierung, die bei der armen Landbevölkerung viel Unterstützung fand. Es kam mit etwa 800 Guerilla Soldaten und der Teilnahme von etwa 10.000 Bauern zum ersten Aufstand der Roten Khmer bei Samlaut. Lon Nol konnte den Aufstand zwar niederschlagen, trieb aber durch unmäßige Brutalität weiterhin viele der ärmeren Bauern in die Arme der Roten Khmer. Da Sihanouk von China keine Unterstützung bekam, nahm er wieder normale Beziehungen mit den USA auf und setzte eine Regierung der Nationalen Befreiung mit Lon Nol als Premierminister ein. Diese machte die Vietnamesische Volksarmee und die in Kambodscha agierenden Vietcong für alle Probleme Kambodschas verantwortlich, was wiederum den USA in die Hände spielte. Eine intensive Bombardierung Ostkambodschas war die Folge. Die Roten Khmer zogen sich unterdessen in die Berge im Nord-Osten des Landes zurück und widmeten sich der Neuorientierung und Verstärkung ihrer Truppen, der „Revolutionären Armee Kampucheas“. Sihanouk versuchte, sich den Rothen Khmer anzunähern, um eine breite Basis für eine Front gegen die USA zu schaffen, wurde aber 1970 von Lon Nol gestürzt und musste nach Peking fliehen.

Fluchtweg: Phnom Penh – Saigon – Phnom Penh – Bangkok – Schweden

Der Tod des Wolfes

Jammern, weinen, klagen ist gleichermaßen feige.

Tu entschlossen, was dir aufgetragen, lang und schwer.

Auf dem Wege, den das Schicksal dir bestimmt.

Um danach zu leiden und zu sterben, stumm wie ich.

Dann packte er mit seinem glühenden Fang

Die hechelnde Kehle des kühnsten der Hunde

Und ließ nicht mehr los mit eisernen Kiefern…

Bis zum letzten Moment, da der Hund erwürgt

Und lange zuvor verendet, ihm vor die Füße gerollt.

Aus „Der Tod des Wolfes“. Alfred de Vigny (1797-1863)

Im Königreich der Khmer

„Nennen Sie mich bitte einfach Chou. Ich wurde 1960 in Phnom Penh in eine wohlhabende buddhistische Familie hineingeboren. Unser Unglück war, dass wir in einem friedlichen Land lebten, von dessen Königen gesagt wird, dass sie von Gott stammten. Die Hauptstadt des alten Khmer-Reiches, das sich von Malaysia bis Vietnam erstreckte, war Angkor. Es gab neben dem König zwei Klassen: Die adelige Klasse, im königlichen Glanz, und die Bauern, die das fruchtbare Land versorgten. Die Könige liebten ihre Macht mit Reichtum und religiöser Würde zu demonstrieren. Sie erbauten die göttliche Stadt Angkor und viele Tempelbezirke, wovon einer das berühmte Angkor Wat ist, der über Südostasien herrschende Tempel, geweiht dem Hindu-Gott Vishnu. Am Ende des 12. Jahrhunderts lebten etwa eine Million Einwohner rund um Angkor, und die Stadt gehörte zu den größten der damaligen Welt.

Ihren Untertanen gegenüber wussten die Könige ihre glanzvolle Macht zu demonstrieren, verlangten Unterwürfigkeit und Arbeit. Sie waren hervorragende Organisatoren und Bauherren. Es gab genug Nahrungsmittel für alle, und die Menschen konnten gegen die Einfälle der Cham aus dem Osten (dem heutigen Vietnam) geschützt werden. Durch die Verbreitung des friedliebenden Buddhismus wurde jedoch die göttliche Autorität des Königs geschwächt, schon Ende des 12. Jahrhunderts war der Buddhismus die vorherrschende Religion in der Tempelstadt. Im 14. und 15. Jahrhundert wurde Angkor von Nachbarvölkern erobert, sodass die Hauptstadt der Khmer in den Süden nach Phnom Penh verlegt wurde. Es kam in der Folge immer wieder zu Streitigkeiten mit Thai und Vietnamesen, und im 18. Jahrhundert waren die südlichen Teile Kambodschas von Vietnam und die nördlichen von Thailand besetzt. Eine starke Militärmacht aufzubauen, war offensichtlich nicht mit der buddhistischen Mentalität zu vereinen.“

So beginnt die Erzählung von Frau Chou, die nach einer dramatischen Flucht den Roten Khmer entkam und schließlich in Nyköping, Schweden, eine neue Heimat fand. Im Laufe eines Projekts der Dokumentation von Flüchtlingen und ihren Erlebnissen, aber auch der gerichtlichen Verfolgung von Khmer-Verbrechen, wurde ihre Geschichte aufgezeichnet. Das Gespräch wurde in Form eines Interviews mit Hilfe eines Dolmetschers auf Vietnamesisch geführt, es erstreckte sich über mehrere Tage. Chou (die in Wirklichkeit einen anderen Namen hat) war sehr angegriffen und musste immer wieder pausieren, um Hassgedanken abzuschütteln und Erinnerungen aufleben zu lassen. Der in diesem Buch niedergeschriebenen Erzählung liegt eine Dokumentation des Interviews zugrunde.

Eine bürgerliche Familie

Chou war Teil einer großen Kinderschar in einer sehr wohlhabenden Familie. Der Papa besaß zwei gut gehende Restaurants in Phnom Penh und war glücklich verheiratet mit seiner Hauptfrau Phae, mit der er vier Kinder hatte. Daneben gab es noch eine zweite Frau Liah, wohl seine erste Liebe, die mit Papa sechs Kinder hatte. Chou war die Jüngste dieser Kinder, 1970 gerade zehn Jahre alt. Liah wohnte mit drei Geschwistern von Chou in einem Haus im Zentrum dieser Riesenstadt, zwei ältere Brüder waren schon Studenten und wohnten für sich. Der eine studierte Sprachen, der andere ging aufs Konservatorium und wollte Konzertpianist werden. Liah führte Papas zweites Restaurant in der Innenstadt und hatte nicht sehr viel Zeit, sich um das jüngste Kind zu kümmern. Deswegen war es einfacher, dass Chou zusammen mit den Halbgeschwistern bei ihrem Papa wohnte.

Papas Familie (und ein Adoptivkind) wohnten in Phnom Penh in einem großen Haus am Rand eines Parks, nicht weit weg vom Flugplatz Pochentong. Im Erdgeschoss befand sich ein vornehmes Restaurant, das gern von Regierungsbeamten, Lehrern und Ärzten besucht wurde. Die zwei Obergeschosse dienten der Familie als Wohnung. Küche, Wohnzimmer, das Schlafzimmer der Eltern waren im ersten Obergeschoss, die Kinderzimmer ein Stockwerk darüber. Phae kümmerte sich um die Familie, sie arbeitete abends aber auch im Restaurant mit. Sie war vor allem für die Küche verantwortlich und sah zu, dass nur allerbeste Speisen, zugerichtet aus den frischesten Produkten, die man am Markt kaufen konnte, auf den Tisch kamen. Deswegen war das Restaurant auch so geschätzt, und entsprechend gut waren die Einkünfte der Familie. Chou war ein quirliges Kind und liebte es, abends im Restaurant zwischen den Tischen herumzuspringen und mit den Gästen freundliche Worte zu wechseln. Sie hatte oft ein rotes Kleid und weiße Schuhe an und konnte kaum eine Sekunde stillstehen. Die Restaurantgäste bewunderten Chous große Mandelaugen und ihre etwas hellere Haut im Kontrast zu ihrem schwarzen Haar. Ihre Mutter Liah stammte nämlich aus Vietnam, was sich im Aussehen von Chou widerspiegelte.

Tagsüber ging Chou ins französische Gymnasium, wie es viele Kinder der Oberschicht taten. Der Besuch dieser Schule war Kindern aus privilegierten Familien vorbehalten und dementsprechend teuer. Sie ging in die erste Klasse und lernte auch Französisch. Sie hatte im Geschichtsunterricht schon einiges über das alte Khmer-Reich gehört und über die ruhmvolle kulturelle Vergangenheit und den großen Palast Angkor Wat, gebaut in früheren Zeiten. Sie wusste auch, wer der Landesvater war und aus welchem Geschlecht seine Vorväter stammten. Chou konnte wunderbar das Khmer-Alphabet schreiben und auch das große Einmaleins auswendig hersagen. Sie war als neugierige Schülerin bekannt oder man könnte sagen, bei den Lehrern sogar gefürchtet. So konnte sie im Geschichtsunterricht zum Beispiel fragen:

„Wenn unser Prinz Sihanouk so ein göttlich-guter Mensch und Herrscher ist, warum gibt es dann so viele bettelnde Kinder in Phnom Penh?“ Und ein andermal: „Mein Papa hat gesagt, die Amerikaner hätten schon wieder Bomben auf die Menschen im Osten geworfen und viele Leute getötet, warum lässt denn unser Prinz das zu?“

Die Lehrerin hatte Mühe, eine verständliche Antwort zu geben und hatte etwas über die verschiedenen Länder gemurmelt, die daran Interesse hätten, dass es nicht allen gleich gut geht und dass der König nicht überall gleichzeitig sein könne, um einzugreifen. Chou bekam von der Klassenlehrerin einen Brief mit nach Hause, in dem um eine Aussprache mit einem Elternteil gebeten wurde. Papa machte sich auf den Weg in die Schule und wurde eindringlich gebeten, auf die Tochter einzuwirken, dass sie Fragen, die Prinz Sihanouk betreffe, unterlasse, da diese von anderen Personen als Majestätsbeleidigung aufgefasst werden könnten, was Folgen für die ganze Familie haben oder zu Chous Ausschluss von der Schule führen könnte.

Papa liebte Chou, gerade wegen ihrer Lebhaftigkeit und Schlagfertigkeit, und weil sie meistens das letzte Wort haben musste. Natürlich liebte er auch die Ehefrau Phae, die etwa 20 Jahre jünger war als er selbst, der mitten in den Fünfzigern stand. Er liebte ihre schlanke, wendige Figur, wie eine Lotusblume im Winde sich biegend, weshalb er sie oft auch so nannte. Phae hat nach etwa zwanzig Jahren ganz einfach die Rolle der Lieblingsfrau Papas übernommen und Liah zur Zweitfrau degradiert. Aber Papa hatte die Versorgungspflicht für beide Frauen und die Kinder aus beiden Ehen. Religiöse Feierlichkeiten sowie Familienfeste wurden gemeinsam mit beiden Ehefrauen gefeiert. Phae war nicht so sehr einverstanden mit Chous Vorlautsein (natürlich auch, weil Chou nicht ihr Kind war), aber Papa ließ keine Kritik über sein „Äffchen“ kommen.

Die vier Halbgeschwister von Chou waren alle jünger: Die Halbschwester Sol war acht Jahre, der Halbbruder Kim zweiJahre. Die Mädchen Panny und Kean waren Zwillinge und lagen im Alter dazwischen (fünf Jahre). Das von einem entfernten Verwandten adoptierte Mädchen Ay (ihre Mutter war gestorben und ihr Vater konnte das Kind nicht versorgen) war mit 12 Jahren die älteste der Kinderschar in Papas Heim. Bei sechs Kindern im Haushalt gab es schon eine Menge Arbeit, und es war üblich, dass alle nach Möglichkeit zu Hause mithalfen. Und natürlich, wie in allen Familien, gab es Sehnsüchte, Vorlieben, Eifersucht und Streit. Phae hatte voll zu tun, um für Ordnung zu sorgen, im Haus wie unter den Kindern. Weiters war es auch ihre Aufgabe, die Lebensmittel für das Restaurant zu besorgen. Chou, Ay und Sol gingen am Morgen in die Schule, Phae konnte diese Zeit nützen, um am Markt die Einkäufe zu machen. Oft nahm sie alle Kleinkinder mit, das war immer ein Fest für diese, dann gab es nämlich meistens etwas zu naschen. Die in eine Papiertüte abgefüllten gegrillten Heuschrecken waren eine Delikatesse, auf die sich die Kinder schon im Voraus freuten. Für den Fall, dass die Kinder nicht mitfuhren, musste Ay von der Schule zu Hause bleiben, um auf die Kinder aufzupassen. Das war durchaus eine zumutbare Aufgabe für ein Adoptivkind.

Bevor sie dann in der warmen Mittagszeit nach Hause zurückkehrten, blieben sie noch bei einem Fruchtstand stehen. und kauften saftige Mangos oder Tamarillos. Zu Hause angekommen, wurden die Waren sortiert, Fleisch und andere verderbliche Sachen in die Kühlkammer des Restaurants gebracht, die mithilfe von Eisblöcken auf etwa drei Grad über null gehalten wurde. Nachmittags wurden mit dem Küchenchef die Speisen des nächsten Tages besprochen. Die Anzahl der Gerichte, die auf der Speisetafel aufgeschrieben sind, ist sehr groß, aber meistens gibt es von Tag zu Tag das gleiche Grundangebot, mit nur geringen saisonbedingten Variationen. Papa und Phae legen ihren Ehrgeiz darein, dass alles, selbst die Nudeln, hausgemacht und frisch sind. Dementsprechend gibt es in der Restaurantküche viel Personal, über das Papa herrscht. Eine Spezialität des Hauses sind Phnom Penh Nudeln und gekochtes Hühnchen à la Phae mit Spitzkohl. Als Nachspeise gibt es oft Pariser Küchlein, eine Art Schokoladenkuchen mit einer Vanille-Mango-Soße.

Das Restaurant war von sieben Uhr früh bis vierundzwanzig Uhr durchgehend geöffnet, da es aber genug Personal gab, hatten auch Papa und Phae Zeit für Gemeinsamkeit und Familie. Das Restaurant blühte, es kam Geld herein, es gab genug Lebensmittel zum Einkaufen, und das Wichtigste, es gab genug Gäste, die das Essen schätzten. Papa traf wichtige Personen der Regierung und der Verwaltung, der Polizei und des Militärs, es kamen Ärzte und Rechtsanwälte, und auch Akademiker von Schulen und Universitäten. Und dazu natürlich viele Geschäftsleute, die wiederum ihre Kunden zum Essen einluden, um weitere Geschäfte zu machen. Papa kannte viele und hielt sich immer auf dem neuesten Stand politischer und wirtschaftlicher Informationen.

Normalerweise war der spätere Nachmittag zwischen 16 und 18 Uhr die Zeit, in der man in Chous Familie gemeinsam die Hauptmahlzeit einnahm, den Tag besprach und die Zukunft plante, und wo Papa sein Wissen über das Leben im Land an die Familie weitergab oder notwendige Erziehungsmaßnahmen besprach. Sein Wort war gewichtig, nur manchmal musste Phae eingreifen, um gewisse übereifrige Maßnahmen zu beschwichtigen oder erzieherische Fehlentscheidungen zu reparieren. Vor allem musste sie dafür sorgen, dass sein Äffchen Chou nicht immer bevorzugt wurde.

Eines Nachmittags im März 1970 setzte sich Papa zu Tisch und erzählte, dass das Militär einen Aufstand gemacht und kurzerhand den Präsidenten Sihanouk abgesetzt hatte, da dieser zu sehr mit den Kommunisten liebäugelte, Sihanouk soll seinem Wissen nach ins Ausland geflohen sein. Der neue Präsident sei der General Lon Nol, der schon in den Jahren vorher Verteidigungs- und Premierminister gewesen war. Er ist als Nationalist bekannt und ein großer Freund der Amerikaner. – „Das wird viele Bomben und viele Tote mit sich bringen, da Lon Nol mit den Kommunisten kein großes Federlesen machen wird. Wir können nur hoffen, dass danach der Krieg endgültig vorbei sein wird.“ Chou fragte sofort, warum immer so viele Menschen dabei sterben müssen, aber Papa hatte nur ein Achselzucken als Antwort.

„Werden die Bomben auch zu uns kommen?“ fragte Chou weiter.

„Phnom Penh liegt weit weg von der Grenze zu den Nachbarländern, die die Amerikaner eigentlich bombardieren wollen, weil dort die kommunistischen Truppen sich bewegen. Ich hoffe nicht.“

„Werden wir noch genug Gäste in unser Restaurant bekommen?“ fragte Phae nachdenklich. Nach langer Pause antwortete Papa:

„Wir wollen‘s hoffen.“

Im Herbst des gleichen Jahres, nach den Sommerferien, als Chou gerade die zweite Klasse begonnen hatte, besuchte sie ihre Mama Liah. Chou kam manchmal zu ihr auf Besuch, und freute sich natürlich auch, ihre Geschwister wieder zu sehen. Die Mama strahlte übers ganze Gesicht, offenbar sah sie, dass Chou ihr jetzt immer ähnlicher wurde, groß gewachsen und mit heller Haut. Sie freute sich auch darüber, dass es ihr bei Papa gut ging (so wie sie sich selbst freute, trotz ihres Alters von Papa noch manchmal besucht zu werden). Mama berichtete, dass der älteste Bruder Keng sich freiwillig zur kambodschanischen Nationalarmee gemeldet hat. Es könnte sein, dass er gegen die (nord-) vietnamesische Volksarmee kämpfen wird müssen.

„Es ist eine Tragödie“, sagte sie, „dass das Land meiner Eltern zwei sich befeindende Teile hat, wo wir doch alle Brüder und Schwestern aus dem gleichen Volk sind. Nur weil der Norden von China und der Süden von Amerika unterstützt wird, die sich wiederum nicht leiden können. Warum können wir nicht so leben, wie wir wollen?“

„Und schlimmer noch“, kommentierte Chous Papa dies am Tag darauf, als Chou berichtete, was sie von Liah gehört hatte. –

„Es wird auch in unserem Land zum Bürgerkrieg kommen. Die radikalen Kommunisten, die ‚Roten Khmer‘, wie sie jetzt genannt werden, sammeln sich in den Wäldern des Ostens und warten darauf, unsere Regierungstruppen und damit vielleicht auch Keng anzugreifen.“

Die Nationalisten ließen ihren Hass zunächst an den Vietnamesen aus, unter denen es vor allem viele Geschäftsleute in Phnom Penh, aber auch anderswo gab (man sagte früher oft, es waren die Vietnamesen, die das Land noch in Gang hielten). Liahs Leben war nicht mehr sicher, und Papa entschied, dass sie zu Hause bei den Kindern bleiben sollte, und ließ das Stadt-Restaurant von einem Angestellten führen. Liah war dankbar dafür und lebte in einer Art Hausarrest, betreute ihre drei zu Hause wohnenden Kinder, denn es war nicht lange her, dass die Leichen von 800 Vietnamesen im Mekong-Delta angeschwemmt worden waren.

Die Zeit scheint in Phnom Penh still zu stehen. Die Tage sind alle etwa gleich warm, nur dass es in den Sommermonaten mehr regnet als im Winter, und dass diese Zeit schwüler ist. Von April an wölbt sich der Himmel bleiern über die Stadt, es ist schwül, und schwere tropische Regengüsse binden den Staub und reinigen die Straßen.

Im Fernsehen konnte man von erfolgreichen Operationen der Nationalarmee hören, die mit Unterstützung der Amerikaner das Vorrücken der Nordvietnamesen nach Phnom Penh verhindert haben sollen. Der gesamte Nordosten des Landes war jedoch unter Kontrolle der Roten Khmer, die damit begannen, die Bauern zu enteignen und zentralistisch-kollektive Landwirtschaft in Art von Kooperativen einzuführen.

Im Herbst 1971, als Papa Geburtstag hatte und die ganze Großfamilie (auch Liah und ihre Kinder mit Ausnahme Kengs) in seinem Hause zum Geburtstagsfest versammelt war, ergriff Papa das Wort:

„Meine Lieben! Ich bin so froh, euch alle hier bei mir versammelt zu sehen. Wer weiß, vielleicht ist es zum letzten Mal überhaupt, dass wir uns in dieser großen Schar treffen können. Vielleicht ist es sogar so, dass wir bald nicht mehr vereint sein können, oder gar, dass wir nicht alle die kommenden schweren Tage überleben werden. Die Zeiten haben sich sehr geändert, die Zeichen stehen auf schlecht und für die Zukunft auf noch schlechter! Unser Prinz hat sich von China aus mit den Roten Khmer verbündet und bildet die Königliche Regierung der Nationalen Union von Kampuchea (GRUNK). Viele Leute, die den Prinzen lieben, schließen sich der Bewegung an und ziehen in die Wälder, um dort zusammen mit den einheimischen Bauern ein neues – kommunistisches – Leben zu beginnen. Gleichzeitig sammeln die Roten Khmer auch viele Arme und Kleinbauern, um eine eigene Armee aufzubauen. Es soll da einen Führer geben, den niemand kennt, der heißt Pol Pot und ist ein Scharfmacher der Roten Khmer. Auf der anderen Seite stehen die Nationalen Khmer Streitkräfte der Regierung unter Lon Nol, die sich auch verstärken, wie wir am Beispiel von Keng wissen. Die werden gegeneinander Krieg führen, und es kann sein, dass auch wir von hier weg müssen. Noch ist es nicht so weit, aber ich habe unter meinen Restaurantgästen Leute, die besser darüber informiert sind, was uns erwarten kann. Ich habe in der letzten Zeit begonnen, meine Bankkonten aufzulösen, um damit Schmuckstücke in Gold zu kaufen. Ich habe für jeden von euch etwas Wertvolles mitgebracht. Hebt es gut auf und vor allem, tragt es jetzt noch einmal, und wenn die Zeit gekommen ist, versteckt den Schmuck in euren Gewändern. Näht ihn in Taschen, Säumen, Futter ein, sodass er schwer zu entdecken ist. Wenn es keine notwendige Maßnahme war, dann seid froh darüber. Wenn sich herausstellt, dass es eine kluge Vorsichtsmaßnahme war, könnt ihr noch mehr froh darüber sein. Geht aber klug mit dem Gold um, ihr müsst selbst wissen, was ihr damit anfangen werdet, euer Leben kann daran hängen.“

Er packte kleine Schächtelchen aus und gab seiner Phae wertvolle Rubin-Ohrgehänge und Liah einen Ring mit vielen mittelgroßen Diamanten. Für die größeren Kinder inklusive Chou hatte er goldene Armbänder, für die älteren Jungen Uhren mit Goldarmbändern und für die jüngsten, Kim und die Zwillinge Panny und Kean, gab es Goldmünzen. Es entstand ein lautes Gemurmel, eine Mischung von Freude, Bestürzung, Lachen und Fragen nach wo, wann, wie, was ist los? Ist Papa verrückt geworden?

Er musste erklären: „Ich meine es ernst. Das hier ist nur der Anfang. Aber plötzlich kann der Tag kommen, an dem das Geld wertlos ist, und dann sind wir froh, den wertvollen Schmuck zu haben. Ich kann euch, meinen Angetrauten – damit wandte er sich an Phae und Liah – nur raten, macht es mir nach und nehmt die Hälfte eurer Ersparnisse und kauft euch damit weitere Preziosen. Und merkt euch vor allem: Gold ist nur was wert, solange man lebt!“

„Und noch etwas. Wir, die unsere Heimat und unser gewesenes Königreich lieben und unsere Ahnen verehren, wir sollten einmal im Leben das größte Heiligtum der Vorzeit, Angkor Wat, gesehen haben. Ich möchte hiermit vorschlagen, dass wir sobald wie möglich die Reise dorthin unternehmen und uns dazu den nötigen Urlaub gönnen. Unsere Restaurants können solange von unseren Vertretern geführt werden. Ich habe gedacht, dass wir für die Reise einen Bus mit Chauffeur mieten, da können wir alle beisammen bleiben und auch unser Gepäck mitnehmen. Ich nehme an, dass alle mitkommen wollen, die Schulkinder werde ich freibitten. Ich denke, wir könnten in einer Woche fahren. Die Reise wird etwa eine Woche dauern.“

Noch war es sicher, sich im zentralen Teil des Landes zu bewegen. Auch waren noch einige Touristen unterwegs, um Angkor Wat oder andere Heiligtümer zu besuchen. Der Tag der Abreise kam Anfang Dezember, und eine fröhliche Familie, insgesamt dreizehn Personen (es fehlte der Soldat Keng), machte es sich bequem im Bus, der Platz für etwa dreißig Passagiere hatte. Obwohl die Straße nicht im besten Zustand war, konnte man damit rechnen, einige Pausen inbegriffen, die etwa 250 Kilometer von Phnom Penh bis Angkor bequem an einem Tag zu schaffen. Je weiter sie nach Norden kamen, desto mehr Kontrollen der Nationalen Armee mussten sie passieren. Nach dem Reiseziel gefragt, bekamen sie die Auskunft, dass es nicht sicher sei, ob sie auch nur in die Nähe von Angkor Wat kommen können. Ausländische Touristen durften noch passieren, aber die Kontrolle über Angkor Wat haben die Roten Khmer übernommen und die würden sie nicht hineinlassen oder eventuell als Angehörige der kambodschanischen Bourgeoisie sogar festnehmen. Wenn sie Glück hätten, könnten sie aber Angkor Wat von der Ferne sehen. Papa beschloss, in einem Hotel am Nordufer des großen Sees Boeng Tonte Sab, etwa 20 Kilometer von Angkor Wat entfernt, halt zu machen und zu übernachten, um dort, wenn möglich, nähere Erkundigungen einzuziehen. Er hoffte vom gleichgesinnten Hotelbesitzer verlässliche Informationen zu bekommen.

Die Familie sammelte sich zum Abendessen, außer ihnen gab es einige Ausländer, einige Offiziere der Nationalen Armee und noch zwei Geschäftsleute aus Kambodscha. Die Kinder waren gewohnt, im Restaurant zu essen, das Aufregende für sie war, dass sie an einem neuen Ort waren, mit eigenen Zimmern und Aussicht auf einen See. In Papas Restaurants waren sie oft genug. Papa ließ sich nicht lumpen und so durfte jeder seine Lieblingsspeise bestellen. Chou und die Zwillinge bestellten scharfe Shanghai-Nudeln mit Rinderkutteln. Ansonsten war Hühnerfleisch in verschiedenen Varianten sehr gefragt, meistensmit Chilisauce kombiniert, oft waren auch Nudeln in irgendwelcher Form als Beilagen bei jedem Gericht, aber auch Sojabohnen, Reis und Limonenspalten. Als Nachtisch wurde gekühlte Mangocreme und grüner Tee gereicht. Auch der Chauffeur, der im Bus übernachtete, war zum Essen geladen. Papa setzte sich nach dem Essen mit einer Zigarre zusammen mit dem Hotelier etwas abseits auf die Veranda und sie unterhielten sich zuerst über die allgemeine Lage und danach über Angkor Wat. Der Hotelier berichtete, dass in der Tat die Roten Khmer die gesamte Anlage unter Kontrolle haben. Sie haben diese aber den Mönchen überlassen, mit dem Auftrag, Touristen zu führen, um Geld zu verdienen. Touristen, die in Dollar zahlen sind sehr willkommen. Ob das eine offizielle Politik sei, oder nur eine lokale Eigenart, könne er nicht sagen. Er würde ihm empfehlen, den Besuch auf einen Tag zu beschränken, denn die Politik könnte sich jeder Zeit ändern, sie könnten morgen schon von einer radikalen Khmer-Gruppe verhaftet werden. Die Regierungstruppen sind zu schwach, um dagegen einzuschreiten. Er selbst habe Vorkehrungen getroffen, jederzeit von hier wegziehen zu können. Bis die Roten Khmer nach Phnom Penh kommen werden, ist, so leid es ihm täte, nur eine Frage der Zeit. Weiters sagte der Hotelier, er könnte ihm einen Guide vermitteln, der sich bis jetzt als zuverlässig erwiesen hat und der die Familie begleiten könnte. Sie sollten leichte und unauffällige Gewänder tragen, keinen Schmuck und sich wie gewöhnliche Touristen verhalten. Das würde am wenigsten provozieren. Papa verlangte, den Guide zu treffen und ihn persönlich zu sprechen.

Nach etwa einer Stunde kam ein dunkelhäutiger Mann mit aufrechtem Gang und herausforderndem Blick, eingehüllt in ein oranges Mönchsgewand. Er setzte sich zu Papa und erklärte ihm, dass er Mönch sei, als solcher von den Roten Khmer geduldet und als Touristenführer eingesetzt sei. Er gehe ein hohes Risiko ein, da er nicht wisse, wie lange die Khmer die Mönche dulden werden. Außerdem müsse er den Großteil des Geldes für die Führung an die Khmer abliefern. Im Gegenzug könne er die Touristen überall herumführen und sie brauchen keine Angst zu haben. Papa schlug vor, dass er gerne mitkomme unter der Bedingung, dass er die Familie teilen und er selbst zweimal mitgehen werde. Er würde also den Guide an zwei Tagen beanspruchen, was diesem nur recht war (jeder Tag kostete hundert Dollar). Außerdem fragte Papa die im Hotel wohnenden Ausländer, ob sie Angkor Wat besuchen wollten, er würde sie gerne einladen (Papa dachte, die Teilnahme von Ausländern könnte vor eventuellen Attacken schützen). Diese nahmen das Angebot gerne an. Papa wollte nicht die ganze Familie gleichzeitig aufs Spiel setzen und so bestimmte er, dass am nächsten Morgen Liah und ihr erwachsener Sohn Nuon, und eine seiner Schwestern, Koy, an der Reihe waren, sowie von Phaes Kindern die Zwillinge Panny und Kean und auch Ay. Phae, Kim, Chou, Sol und Chous übrige Geschwister Hul und In waren am Tag danach an der Reihe. Jede Gruppe fährt jeweils mit dem Bus, der Rest bleibt beim Hotel und vergnügt sich am See. Die Familie hat noch nie geschlossen in einem Hotel gewohnt, und alle hatten die Absicht, diesen Luxus voll auszukosten.

Die Zuhausegebliebenen vergnügten sich am Wasser (schwimmen konnten sie nicht) und freuten sich darüber, einmal so richtig ausgelassen sein zu können. Es gab einen Ball, einige Schwimmreifen und Luftmatratzen, an Angkor Wat verschwendeten sie keine Gedanken. Kambodscha konnte nirgends schöner sein als an diesem Seeufer.

Die Gruppe mit Liah und Papa, fünf Kindern und zwei Ausländern aus Kanada fuhren am nächsten Morgen um sieben Uhr früh ab. Sie passierten zwei Kontrollpunkte der Nationalarmee und kamen zuletzt an eine Kontrolle, wo Mönche und einige junge schwarzuniformierte Soldaten mit rot-weiß-karierten Halstüchern standen. Die Soldaten hielten sich im Hintergrund, die Mönche kontrollierten, sprachen mit dem Mönch-Guide und wünschten einen erlebnisreichen Tag. Papas Augen leuchteten vor Freude und er war in bester Stimmung. Dem Rest der Familie gingen die Augen über. Obwohl die Schulkinder schon etliches über Angkor Wat gehört hatten, die Wirklichkeit war überwältigend. Der Führer schlug vor, bis zu Mittag eine Rundwanderung zu machen, dann ein Essen einzu-nehmen, um am Nachmittag mit dem Bus eine Rundfahrt zu machen, um die Gebiete des alten Angkors zu sehen, soweit dies eben jetzt möglich sei. Sie wanderten durch die Höfe, betrachteten die Türme, betraten einige Gebäude und suchten Schutz im Schatten von Statuen. Sie betrachteten die riesigen Reliefs, die der Guide im Detail erklärte. Papa wiederum erklärte den Kleinsten, was die Figuren bedeuteten und warum sie sich hier befänden, für welche Götter die Anlage gedacht war, und wer hier und in der Umgebung gewohnt hatte. Die Kinder waren tapfer und hielten bis Mittag durch, da man unterwegs auch gegrillte Heuschrecken und gezuckerte Melonen kaufen konnte. Die Mittagsrast war dennoch sehr willkommen, und sie ließen sich in einem Restaurant nieder, wo alle Nudelsuppe essen durften. Der begleitende Mönch-Guide zeigte sich als sehr belesen und konnte die meisten Fragen seiner Gruppe befriedigend beantworten. Die Busfahrt am Nachmittag währte jedoch nicht sehr lange, da die meisten Wege und viele der übrigen Gebäude und Heiligtümer abgesperrt waren. Schwarz Uniformierte patrouillierten auf den meisten Fahrwegen. Alle waren sehr erschöpft, als sie zurück ins Hotel kamen. Es gab viel zu erzählen, sie nahmen eine leichte Mahlzeit ein, die Angkor-Wat-Gruppe war aus sehr verständlichen Gründen ziemlich müde und ging bald zur Ruhe. Nur der Guide wollte noch mit Papa sprechen.

Er berichtete, dass sich einige der Soldaten während der Mittagspause sehr eindringlich nach ihm, Papa, erkundigt hatten. Wer er sei, welchen Beruf er ausübte, wo genau er lebte, wie groß seine Familie wäre. Er (der Guide) konnte nicht viel Auskunft geben, aber es wäre nicht unmöglich, dass sie sogar hier im Hotel über Mittelsmänner noch weitere Auskünfte einholten. Er würdeihm abraten, morgen mit dem zweiten Teil seiner Familie auf die Tour zu fahren. Er würde ihm sogar raten, noch heute Nacht abzureisen. Papa dachte eine Zeitlang nach. Man hatte bisher wohl von Übergriffen der Roten Khmer gehört, das heißt, Leute waren ganz einfach verschwunden und niemand wusste wohin. Aber er hatte noch nie gehört, dass die Roten Khmer kidnappen, um Geld zu erpressen. Das ist unter ihrer Würde. Könnten sie es also auf ihn politisch abgesehen haben, weil er Kapitalist ist? Und das vor den Augen der Nationalarmee? Haben sie herausgefunden, dass nur die halbe Familie Angkor Wat besichtigte und der Rest noch kommen wird? War dies provozierend? Oder hielten sie ihn für einen mächtigeren Kapitalisten, als er wirklich war? Er musste sich mit Phae beraten. Papa dankte dem Guide für seine Aufrichtigkeit und sagte ihm: „Wir sehen uns morgen um sieben Uhr, da werde ich eine Antwort haben.“

„Meine liebe Phae“, begann Papa mit ernster Stimme oben im Schlafzimmer, „du bist noch jung. Du wirst wahrscheinlich noch öfter als ich Gelegenheit haben, Angkor Wat zu besuchen. Was mir der Guide erzählte, ist schwer zu deuten, aber es bedeutet wahrscheinlich nichts Gutes. Ich möchte uns nicht unnötig in Gefahr bringen.“ Und so berichtete er, was der Guide ihm erzählt hatte und bat Phae um ihre Meinung. Sie küsste ihn innig und sagte dann: „Ich habe nur dich und unsere Kinder, ich möchte euch nicht verlieren.“ Sie besprachen dann, wie am besten vorzugehen wäre. „Für die Roten Khmer sind wir Kapitalisten, die das Land ausbeuten. Deswegen ist wahrscheinlich, dass diese, wenn möglich, die ganze Familie liquidieren wollen, da wir zu den Unverbesserlichen gehören. In Phnom Penh sind wir auf jeden Fall (noch) sicherer aufgehoben als hier. Andrerseits scheint ja die Umgebung unter Kontrolle der Nationalarmee zu sein. Ein nächtlicher Überfall im Hotel ist daher unwahrscheinlich. Wir fahren morgen um fünf Uhr früh ab. Wir tun heute nichts mehr dergleichen und wecken die Familie und den Chauffeur erst morgen um vier.“ Und so legten sie sich schlafen, konnten aber keine Ruhe finden und hielten sich deswegen sehr lange in den Armen.

Eine enttäuschte und müde Familie trat am Morgen ohne Frühstück die Heimreise an, nachdem Papa noch für den Guide die 200 Dollar Gage hinterlegt hatte. Die Stimmung war gedrückt. Chou saß die halbe Strecke lang auf Papas Knien und weinte vor sich hin, mehr vor Enttäuschung darüber, dass sie schon wieder heimfuhren, als dass sie Angkor Wat nicht besuchen durfte.

Die Roten Khmer rücken vor

Im Jahre 1972 wurde der Krieg intensiver, die Roten Khmer kamen immer näher an Phnom Penh heran. Die nationalen Regierungstruppen hatten dort einen Stützpunkt und wurden von amerikanischen Kampfflugzeugen und Bombern unterstützt. Die Roten Khmer hatten die umgebenden Wälder und ländlichen Gebiete unter Kontrolle und versuchten nun, den Flugplatz auszuschalten. Ein Korridor vom Südosten Kambodschas nach Nordwesten, entlang des Mekong- und Saptales, mit den Großstädten Phnom Penh und Kampong Thom, war noch unter Kontrolle der Nationalarmee. Ein strategisches Ziel der Kommunisten war der Flugplatz der Hauptstadt, Pochentong. Das bereitete Papa große Sorgen, denn sein Restaurant war mitten in einer eventuellen Kampflinie. Der Krieg bedeutete, dass auch immer weniger Gäste kamen, da sich die bürgerlichen Gäste nicht mehr so frei und sorglos bewegen konnten. Papa plante, sein Restaurant aufzugeben.

Im November 1972 waren die Kampfhandlungen so nah, dass man die Explosionen von Bomben und Artilleriegranaten hörte. Aus diesem Grunde fuhr Papa mit einem seiner zwei Lieferautos ins Zentrum von Phnom Penh, um mit Liah die Lage und die Weiterführung des Stadtrestaurants zu besprechen. Phae blieb mit den Kindern allein zu Hause. Der Jüngste, Kim, war jetzt vier Jahre alt, Chou war zwölf und Ay vierzehn. Papa