Niemand kümmert sich um uns - Gert Rothberg - E-Book

Niemand kümmert sich um uns E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Im Park von Sophienlust ging es an diesem Tag laut zu. Die großen Kinder hatten einen schulfreien Tag und tobten nun mit den kleinen über den Rasen. Schwester Regine ging lächelnd in das Kinderheim zurück. Sie hatte den Schwestern Angelika und Vicky Langenbach für eine Stunde die Aufsicht im Park überlassen. Sie wusste, dass sie sich auf diese beiden Mädchen verlassen konnte. Für sie selbst gab es im Büro viel Arbeit zu erledigen, denn die Heimleiterin, Frau Rennert, hatte Urlaub genommen. Als Schwester Regine die Freitreppe hinaufging, blieb sie erstaunt stehen. Sie sah ein Kind, das sich hinter dem Stamm einer alten Eiche versteckte. Aber es war kein Kind von Sophienlust. Das Mädchen hatte einen Mantel an, obwohl es an diesem Tag sehr warm war. Schwester Regine ging noch einmal zurück. Als sie vor dem Mädchen stand, erschrak es. »Wer bist du denn?«, fragte Schwester Regine. Sie sah, dass das Mädchen eine abgegriffene Handtasche festhielt. »Ich bin Christa Moeller.« Das Mädchen sprach stockend. Es mochte ungefähr sieben Jahre alt sein. »Ich wollte gar nicht hierher. Ich will zum Rosshof.«

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Seitenzahl: 156

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sophienlust Extra – 138 –Niemand kümmert sich um uns

Unveröffentlichter Roman

Gert Rothberg

Im Park von Sophienlust ging es an diesem Tag laut zu. Die großen Kinder hatten einen schulfreien Tag und tobten nun mit den kleinen über den Rasen.

Schwester Regine ging lächelnd in das Kinderheim zurück. Sie hatte den Schwestern Angelika und Vicky Langenbach für eine Stunde die Aufsicht im Park überlassen. Sie wusste, dass sie sich auf diese beiden Mädchen verlassen konnte. Für sie selbst gab es im Büro viel Arbeit zu erledigen, denn die Heimleiterin, Frau Rennert, hatte Urlaub genommen.

Als Schwester Regine die Freitreppe hinaufging, blieb sie erstaunt stehen. Sie sah ein Kind, das sich hinter dem Stamm einer alten Eiche versteckte. Aber es war kein Kind von Sophienlust. Das Mädchen hatte einen Mantel an, obwohl es an diesem Tag sehr warm war.

Schwester Regine ging noch einmal zurück. Als sie vor dem Mädchen stand, erschrak es. »Wer bist du denn?«, fragte Schwester Regine. Sie sah, dass das Mädchen eine abgegriffene Handtasche festhielt.

»Ich bin Christa Moeller.« Das Mädchen sprach stockend. Es mochte ungefähr sieben Jahre alt sein.

»Ich wollte gar nicht hierher. Ich will zum Rosshof.«

»Ach, dann bist du wegen unserer Kinder in den Park gekommen? Willst du ein Weilchen mit ihnen spielen, Christa?«

»Nein, das kann ich nicht. Ich habe keine Zeit. Ich muss schnell zum Rosshof und dann wieder nach Hause zurück. Um vier Uhr fährt mein Zug.«

»Bist du nicht von Wildmoos oder aus der Umgebung?«, fragte Schwester Regine.

»Ich bin zum ersten Mal hier. Ich habe so viel Angst gehabt, dass ich mich verfahren würde. Dabei brauchte ich bis Maibach gar nicht umzusteigen. Von Maibach bin ich dann mit dem Autobus hierhergefahren. So lange konnte mir niemand genau sagen, wo der Rosshof ist. Dabei stand doch in der Zeitung, dass der Hirt aus Ungarn so gut Pferde heilen kann.«

»Meinst du den alten Janosch, Christa?«

»Ja, so heißt der Pferdehirt. Kennen Sie ihn?«

Schwester Regine lächelte. »Und ob ich Janosch kenne. Wer schickt dich denn zu Janosch?«

Christa wurde verlegen. Sie zuckte mit den Schultern. »Niemand.«

»Was willst du von Janosch, Christa?«, fragte Schwester Regine verwundert.

»Wir haben ein krankes Pferd. Einen Traber. Er heißt Tassilo. Mein Vater ist Trabrennfahrer. Haben Sie noch nie von ihm gehört? Er ist ganz bekannt. Er heißt Rudolf Moeller.«

Schwester Regine sah etwas ratlos aus. »Vielleicht habe ich den Namen deines Vaters schon einmal gehört, Christa, und kann mich jetzt nur nicht daran erinnern.« Dass sie sich für Trabrennen nicht sonderlich interessierte, sagte Schwester Regine lieber nicht. Sie sah, dass Christas Augen vor Stolz glänzten. Aber gleich darauf wurde ihr Gesicht wieder ernst.

Christa zuckte die Schultern und sah Schwester Regine traurig an. »Aber mein Vater kann ja keine Trabrennen mehr fahren. Tassilo war sein einziges Pferd.«

»Was fehlt denn Tassilo, Christa?«

»Er hat kranke Fesseln und kann kaum noch laufen. Kein Tierarzt konnte ihm helfen. Alle sagen, wir sollen Tassilo töten lassen.« Christa schluckte. Aber plötzlich machte sie ein entschlossenes Gesicht. »Ich muss jetzt zum Rosshof.«

Schwester Regine zögerte einige Sekunden, dann meinte sie: »Weißt du was, Christa? Ich bringe dich zu Janosch. Über die Felder könntest du leicht den Weg zum Rosshof verfehlen. Das wäre schlimm, wenn du so wenig Zeit hast. Warte, bitte, ein paar Minuten. Ich sage nur den Kindern Bescheid.«

Schwester Regine ging zu den großen Mädchen zurück. Es machte ihr jetzt nichts aus, dass ihre Arbeit im Büro noch einmal liegen blieb. Sie war sicher, dass das fremde Mädchen sie nötiger brauchte. Es hatte manchmal so verzweifelt ausgesehen.

Als Schwester Regine mit Christa zum Rosshof ging, blieben die beiden an der Hecke stehen. Christa sah noch einmal in den Park und seufzte: »Haben die Kinder es schön.« Aus ihrer Stimme klang große Sehnsucht. Langsam ging sie weiter. Sie sah zu Schwester Regine empor. »Jockel würde sich auch freuen, wenn er einmal mit so vielen Kindern spielen könnte. Jockel ist mein Bruder. Er ist erst vier. Ich muss mich um ihn kümmern, weil unsere Mutti vor einem Jahr gestorben ist.« Jetzt blieb Christa schon wieder stehen. Aber sie sah nicht mehr nach Sophienlust zurück. Ihr Blick ging in die Ferne. Leise fuhr sie fort: »Seit Mutti gestorben ist, haben wir kein Glück mehr. Das sagt Vati.«

Schwester Regine wollte das Mädchen jetzt nicht ausfragen. Sie sagte: »Komm, Christa. Sobald wir dort oben sind, können wir den Rosshof sehen.«

»Wird der Pferdepfleger auch zu Hause sein?«, fragte Christa ängstlich.

»Ganz sicher, Christa. Janosch ist die meiste Zeit auf dem Rosshof. Er hat dort viel Arbeit mit seinen Pferden. Ilona hilft ihm dabei.«

»Wer ist Ilona?«

»Ein sehr liebes junges Mädchen. Ilona stammt auch aus Ungarn. Sie wird dir gefallen. Vor allem, weil sie Pferde genauso liebt wie du.«

»Kann Ilona auch Pferde heilen, Schwester Regine?« Das fragte Christa sehr erwartungsvoll.

Schwester Regine lachte. »Nein, das kann nur Janosch. Weißt du, so ein alter Csikos aus der Puszta will auch gar nicht, dass ihm jemand hineinredet. Janosch kommt selbst mit unserem Tierarzt oft in Konflikt. Und Wunder darfst du natürlich von Janosch nicht erwarten. Sag mal, weiß dein Vater wirklich nicht, dass du hierhergefahren bist?«

»Nein, er weiß es nicht. Ich beschwindle ihn sonst nie, aber jetzt muss ich es tun. Wenn Vati nur nicht merkt, dass ich so lange fort bin.« Christa seufzte tief. »Es hat lange gedauert, bis ich endlich hierherfahren konnte. Vati ist jetzt so viel zu Hause. Seit er keine Trabrennen mehr fahren kann, arbeitet er nur manchmal bei den Bauern im Ort. Da musste ich immer befürchten, dass er gerade zu Hause war, wenn ich fahren wollte. Und dann musste ich Jockel ja meiner Freundin Ursel bringen. Nur sie weiß, dass ich weggefahren bin. Ich gehe mit ihr in einer Klasse. Wir sind beide sieben Jahre alt.«

»Und heute passte es gut, weil ihr schulfrei habt«, meinte Schwester Regine.

»Ja, morgen wäre es schon wieder nicht gegangen.« Christa nagte an der Unterlippe und sah Schwester Regine immer wieder scheu an. Endlich nahm sie sich ein Herz und erklärte: »Sie sind sehr lieb zu mir, Schwester Regine. Dabei kennen Sie mich gar nicht.«

»Aber du gefällst mir, Christa. Ich wünschte, ich könnte dir helfen.«

»Vati sagt, uns hilft niemand.« Mit gesenktem Kopf ging Christa weiter.

Es war für die Kinderschwester nicht schwer zu erraten, dass Christas Vater sehr verbittert war. Darunter musste das Mädchen zweifellos leiden.

In diesen Minuten dachte Schwester Regine daran, wie viele Kinder es gab, die Hilfe benötigten und keine fanden. Sophienlust hätte um vieles größer sein können und hätte doch noch immer nicht ausgereicht, um all das Kinderleid zu mildern, das es gab. Jeden Tag hätte man Kinder finden können, die Geborgenheit suchten. Auch die kleine Christa Moeller schien zu diesen Kindern zu gehören. Und sicher auch ihr Bruder Jockel.

»Da unten in der Senke steht der Rosshof, Christa.« Schwester Regine zeigte auf das alte Haus und den Stall.

»Es sind Pferde auf der Koppel«, erwiderte Christa erregt. »Vier Pferde.«

»Ja, eins gehört Ilona, eins Janosch. Die beiden anderen Pferde sind schon sehr alt. Sie wären getötet worden, wenn sie nicht im Rosshof einen Platz gefunden hätten.«

»Ich könnte unseren Tassilo nicht bis hierherbringen, damit er nicht getötet wird. So viel Geld hätte ich.«

»Aber wenn Janosch vielleicht meint, dass er euren Tassilo heilen kann? Er würde das sicher nur auf dem Rosshof tun können, Christa.«

Das Mädchen erschrak. Dann beruhigte es sich selbst. »Janosch wird mir sicher seine Wundermedizin mitgeben können. Ich kann unser Pferd behandeln und pflegen. Das verstehe ich gut. Ich habe ja auch immer das gemacht, was die Tierärzte angeordnet haben. Wenn Vati nicht zu Hause war, musste ich es tun.«

Schwester Regine winkte jetzt, weil sie Ilona auf der Schwelle des Rosshofes stehen sah. Ilona winkte zurück und kam den beiden Besucherinnen entgegen. Sie hatte wieder die Reithose, eine bunte Bluse und die ärmellose Filzweste an.

»Das ist aber ein schönes Mädchen«, meinte Christa bewundernd.

Ilona und Schwester Regine begrüßten einander. »Ich habe schon immerzu auf Sie gewartet, Schwester Regine. Ich dachte, Sie würden am Abend mal ein Stündchen zu uns in den Rosshof kommen«, sagte Ilona, blickte dabei aber schon neugierig auf Christa.

»Ich habe jetzt viel Arbeit, da Frau Rennert in Urlaub ist. Eigentlich hätte ich auch im Augenblick in Sophienlust bleiben müssen, aber ich wollte das Mädchen hier nicht allein gehen lassen. Christa Moeller kommt aus Eichenau. Das ist ein kleiner Ort bei Augsburg.«

Schwester Regine erzählte schnell, warum Christa gekommen war. Weil darüber ein Weilchen verging und die drei stehen blieben, kam Janosch ihnen entgegen. Er hatte sie von der Koppel aus gesehen.

Der alte Csikos war immer neugierig. Ilona hänselte ihn deshalb gern. Jetzt hakte sie sich bei ihm ein und berichtete: »Das Mädchen heißt Christa, Janosch. Es ist ganz allein zu dir gekommen. Aber darüber sprechen wir im Haus. So lange musst du dich gedulden.«

»Zu mir ist das Mädchen gekommen?« Janosch musterte Christa.

Der kleinen Besucherin wurde unter diesem Blick etwas ängstlich zumute. Der alte Mann wirkte so fremd auf sie durch seine Kleidung und durch den Bart. Sie war froh, dass er wenigstens gut Deutsch sprach. Sie hatte ja vor, ihm zu erzählen, wie nötig der Traber Tassilo seine Hilfe brauchte.

Das tat Christa, während Ilona in die Küche gegangen war, um Kaffee aufzugießen.

Noch einmal hörte Schwester Regine die Leidensgeschichte eines einst berühmten Pferdes.

Janosch hatte sich in den feinen Ohrenlehnstuhl gesetzt, den Andrea von Lehn ihm geschenkt hatte. Freilich legte er immer ein Tuch auf den Sitz, wenn er in Arbeitskleidung war. »Was ist denn euer Tassilo für ein Pferd, Christa?«, fragte er jetzt.

»Tassilo ist ein Ardenner.« Das sagte Christa sehr stolz.

»Ardenner sind doch sonst von harter Konstitution. Es gibt wenig Kaltblutpferde, die so arbeitsfreudig und widerstandsfähig sind, wie die Ardenner«, erwiderte Janosch aus seinen Gedanken heraus.

»Und sie sind die geborenen Traber. Das sagt mein Vati immer. Unser Tassilo war auch nie krank, aber auf einmal fing er zu lahmen an und hielt kein Rennen mehr durch. Vati konnte auch nicht mehr mit ihm trainieren, weil er Tassilo nicht schinden wollte. Mein Vati ist ganz bestimmt nicht schuld daran, dass die Entzündung in Tassilos Fesseln immer schlimmer wurde.« Christa sprach voller Eifer. Dann beugte sie sich vor und sah in Janoschs Gesicht. »Bitte, bitte, helfen Sie unserem Tassilo, damit er nicht getötet werden muss. Sie könnten bestimmt etwas für ihn tun.« Sie richtete sich wieder auf. »Und wenn mein Vati sieht, dass Tassilo gesund wird, sagt er bestimmt nicht mehr, dass Sie nur ein Quacksalber sind.«

Schwester Regine erschrak. Sie wusste, wie empfindlich Janosch war, wenn man ihn so titulierte. Er wollte in seinem Bemühen, kranke Pferde zu heilen, ernst genommen werden. Diesen Gefallen tat ihm inzwischen auch der junge Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn. Er hatte längst erkannt, was für gute Mittel der alte Janosch anwendete.

»So, dein Vater nennt mich also einen Quacksalber. Aber das hat gewiss nicht in der Zeitung gestanden.« Janosch machte ein beleidigtes Gesicht.

»Nein, das hat nicht in der Zeitung gestanden. Aber Vati glaubt eben nicht mehr daran, dass jemand Tassilo noch helfen kann. Es waren schon mehrere Tierärzte bei uns. Sie haben Tassilo behandelt, aber er ist nicht gesund geworden. Sie sagen jetzt, dass Tassilo nicht mehr gerettet werden kann. Dabei haben wir alles Geld, das wir hatten, ausgegeben, damit er gesund wird. Jetzt sind wir ganz arm, weil Vati ja auch nicht mehr Trabrennen fahren kann.«

Christa standen die Tränen in den Augen. Das bewog Janosch, ihr den Quacksalber zu verzeihen. Schließlich hatte das Kind nur das nachgeplappert, was der Vater in seinem Ingrimm gesagt hatte. Janosch wünschte sich jetzt nichts mehr, als diesen Mann davon überzeugen zu können, wie unrecht er ihm tat.

Jetzt öffnete Christa ihre pralle Handtasche. Zur Verwunderung aller nahm sie ein Sparschwein aus Ton heraus. »Ich habe nur das Fahrgeld herausgeschüttelt«, gestand sie verlegen. »Aber es ist noch etwas Geld drin. Wird es für die Medizin reichen?« Sie sah Janosch erregt an.

Der alte Csikos musste seine Rührung verbergen. Er griff nach dem Sparschwein. »Mach deine Tasche auf«, befahl er streng. So war er immer, wenn er über eine Sache nicht lange reden wollte. »So, und jetzt lässt du dein Sparschwein wieder verschwinden.«

»Wollen Sie mir keine Medizin für Tassilo geben?«, fragte Christa erschrocken. Hilfeflehend sah sie zu Ilona, die eben mit dem Kaffee und mit einem Teller Kuchen in die Wohnstube kam.

Ilona setzte beides ab und legte den Arm um Christas Schultern. »Janosch will nur kein Geld von dir nehmen, Christa.«

»Ja, so ist es«, raunzte Janosch. Dann lachte er. »Du brauchst dich nicht zu kränken, Christa, weil du nicht viel Geld hast. Ilona und ich haben auch keins, aber es geht immer weiter. Schau, ich kann dir nicht irgendeine Medizin mitgeben, wenn ich Tassilo gar nicht gesehen habe. Dann könnte mich dein Vater mit Recht einen Quacksalber nennen.«

»Sprich doch nicht schon wieder davon, Janosch«, bat Ilona.

»Misch dich jetzt nicht ein, Ilona. Soviel ich weiß, ist das kleine Mädchen nur zu mir gekommen. Also, Christa, ich muss deinen Tassilo sehen. Am besten wäre es, wenn ich ihn hier im Rosshof hätte. Ich glaube, dass er doch wieder gesund werden könnte. Nur, so eine Entzündung der Fesseln ist sehr langwierig. Man muss viel Geduld haben.« Er sah Ilona an. »Wie könnten wir den Traber denn auf den Rosshof bekommen?«

»Aha, jetzt brauchst du mich doch wieder.« Ilona sah Schwester Regine an. »So springt Janosch mit mir um.«

Christa verstand diese Neckereien nicht. Sie machte ein sehr unglückliches und ängstliches Gesicht. »Vati und ich haben kein Geld mehr, um den Transport von Tassilo bezahlen zu können. Außerdem würde Vati das Pferd sicher auch nicht hergeben. Er ist jetzt immer so traurig. Und manchmal ist er böse mit mir. Aber das kommt nur daher, dass er so viele Sorgen hat, seit meine Mutti gestorben ist.«

Ilona ertrug die Klagen des Kindes nicht mehr. »Was sprechen wir so lange hin und her?«, fragte sie. »Trinkt Kaffee und esst Kuchen. Christa kann wohl nicht lange verweilen. Deshalb müssen wir uns ein bisschen beeilen. Ich komme mit nach Sophienlust. Ist Frau von Schoenecker um diese Zeit dort?«

»Ich glaube, sie wird inzwischen zurück sein. Sie war nach Maibach gefahren«, antwortete Schwester Regine.

»Willst du Frau von Schoenecker bitten, dafür zu sorgen, dass das Pferd geholt wird?«, fragte Janosch.

»Ich will mit ihr über diesen Fall sprechen. Sie weiß am ehesten Rat. So einfach ist das ja nicht, dass Herr von Schoenecker mit dem Pferdeanhänger nach Eichenau fährt und Tassilo abholt. Christa sagt doch, dass ihr Vater das Pferd gar nicht hergeben würde.«

»Ja, weil er mich für einen Quacksalber hält.« Janosch stand auf. »Wie soll man jemandem helfen, der sich gar nicht helfen lassen will?«

»Darüber muss ich eben mit Frau von Schoenecker sprechen. Ich sattle Sissy inzwischen.« Ilona verließ die Wohnstube.

Christa aß ein Stück Kuchen, aber sie war mit ihren Gedanken schon zu Hause. »Wenn ich Vati sehr bitte, wird er vielleicht doch einverstanden sein. Es macht nichts, dass ich ihm dann gestehen muss, wo ich heute war. Wenn nur Tassilo wieder gesund wird. Wir haben ihn doch alle so gern. Jockel würde auch weinen, wenn Tassilo getötet werden müsste.« Christa ließ ihre Blicke nicht von dem alten Janosch. Sehr leise versicherte sie: »Ich glaube, Sie könnten unseren Tassilo wieder gesund machen.«

Janosch neigte sich zu dem kleinen Mädchen. »Vielleicht würden wir es schaffen, wenn wir beide ganz fest daran glauben, Christa. Das muss man nämlich tun, wenn man etwas erreichen will.«

*

Denise von Schoenecker war der Trabrennfahrer Rudolf Moeller und sein Traber Tassilo bekannt. Sie und ihr Mann interessierten sich sehr für diesen Sport.

Denise war erschüttert, als sie von Christas großen Sorgen hörte. Sie bewunderte das siebenjährige Mädchen, das zu Hause Mutterstelle an dem kleinen Bruder vertrat und an den Sorgen des Vaters so großen Anteil nahm. Noch mehr aber staunte sie, dass Christa es fertig gebracht hatte, heimlich nach Wildmoos zu fahren.

Denise fragte das kleine Mädchen: »Wenn ich deinen Vater besuchen würde, um mit ihm zu sprechen, meinst du, dass ich ihn dazu überreden könnte, Janosch sein Pferd anzuvertrauen?«

Christa machte ein skeptisches Gesicht, sah aber bald etwas zuversichtlicher drein. »Ich glaube, Sie könnten Vati überreden«, meinte sie, und darin lag ihre ganze Bewunderung für Denise. »Aber heute ist mein Vati nicht zu Hause. Er bewirbt sich auf einem Gestüt. Dort suchen sie einen Trabrennfahrer. Aber das Gestüt ist bei Crailsheim. Vati sagt, wenn er die Stelle bekommt, dann könnte er nur noch manchmal bei uns in Eichenau sein. Vielleicht müssten wir dann übersiedeln. Wir sind aber so gern in unserem Haus und möchten dortbleiben. Wenn Tassilo wieder gesund wäre, könnte Vati wieder mit ihm Rennen fahren. Dann könnten wir in Eichenau wohnen.«

Denise erhob sich. Sie hatte auf die Uhr gesehen. »Christa, du musst ans Aufbrechen denken. Ich werde dich mit dem Wagen nach Maibach zum Zug bringen. Und in den nächsten Tagen komme ich nach Eichenau. Vielleicht schon übermorgen.«

Vor dem Kinderheim verabschiedete sich Christa von Ilona. »Bitte, sagen Sie Janosch, dass er kein Quacksalber ist. Ich habe das ja auch nie geglaubt. Er ist ein ganz lieber alter Mann.«

»Ja, das ist Janosch wirklich, Christa.« Ilona beugte sich zu dem Mädchen hinab und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Verliere nicht den Mut, Christa. Ich habe um meine Sissy auch schon einmal große Angst ausstehen müssen.« Sie klopfte ihrer Lipizzanerstute den Hals.

»War Sissy ebenfalls krank?«, fragte Christa.

»Das nicht, aber wir waren lange voneinander getrennt. Ich erzähle dir vielleicht später einmal alles. Ich bin ganz sicher, dass wir uns bald wiedersehen.«

Ilonas Blicke lagen voll Vertrauen auf Denise von Schoenecker. Auch Christa klammerte sich an die Hilfe dieser lieben und verständnisvollen Frau. Als sie hörte, dass die Kinder von Sophienlust sie ›Tante Isi‹ nannten, hätte sie das auch gern getan. Aber sie getraute es sich nicht.

*

Die Bahnfahrt dauerte Christa viel zu lange. Sie hatte Angst, dass ihr Vater früher zu Hause sein könnte als sie. Vielleicht würde er dann zu ihrer Freundin Ursel gehen, um sie dort abzuholen, denn er glaubte doch, sie sei bei Ursel. Aber dort würde er nur Jockel antreffen.

Erst knapp vor Eichenau beruhigte sich Christa etwas. Sie wusste, dass sie aus ihrer Reise kein Geheimnis mehr machen konnte. Sie musste dem Vater alles beichten, denn Frau von Schoenecker wollte ihn ja besuchen. Spätestens dann musste alles aufkommen. Besser aber war es, den Vater auf diesen Besuch vorzubereiten.