Night School 1. Du sollst keinem trauen - C.J. Daugherty - E-Book
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Night School 1. Du sollst keinem trauen E-Book

C.J. Daugherty

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Beschreibung

Berührende Liebesgeschichte – actiongeladene Spannung. Das spurlose Verschwinden ihres Bruders wirft Allie komplett aus der Bahn. Sie missachtet jede Regel und rebelliert gegen alles und jeden. Als sie schließlich auf dem Polizeirevier landet, reicht es Allies Eltern. Sie schicken ihre Tochter auf das Internat Cimmeria, an dem nicht einmal Handys erlaubt sind. Zum Glück findet Allie dort schnell eine neue Clique und wird von gleich zwei Jungen umschwärmt. Doch auf Cimmeria ereignen sich seltsame Vorfälle und plötzlich gerät Allie selbst in Lebensgefahr. Wem kann sie hier wirklich trauen?

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Inhaltsverzeichnis

TitelseiteWidmungEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigDanksagungQuellenverzeichnisLeseprobe: Night School. Der den Zweifel sät EinsZweiDreiImpressumMehr zum Buch
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...

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Eins

»Beeil dich!«

»Jetzt mach dich mal locker, ich hab’s gleich.«

Mit zusammengebissenen Zähnen hockte Allie im Dunkeln und sprayte das letzte E, während Mark neben ihr kniete und die Taschenlampe hielt. Ihre Stimmen hallten durch den leeren Gang. Mark musste lachen, und der Lichtstrahl, der auf ihr Werk fiel, zitterte.

Ein Klicken ließ sie hochfahren.

Über ihnen flackerten die Lampen auf und tauchten den Gang in gleißendes Licht.

An der Tür standen zwei Uniformierte.

Langsam ließ Allie die Spraydose sinken, und weil sie den Finger nicht vom Drücker nahm, zog sich der Buchstabe in einer bizarren Linie immer länger, über die ganze Tür zum Rektorenzimmer bis hinunter auf den schmutzigen Linoleumfußboden.

»Renn!«

Sie hatte das Wort noch nicht ausgerufen, da flitzte sie bereits den breiten Gang hinunter, und das Gummi ihrer Turnschuhsohlen quietschte hohl in der Leere der Brixton High School. Sie sah sich nicht um, ob Mark ihr folgte.

Sie wusste nicht, wo die anderen waren, aber wenn sie Harry noch mal erwischten, würde sein Vater ihn umbringen. Mit Karacho bog sie um die Ecke in einen dunklen Flur und sah ganz hinten ein Notausgangschild grün glimmen.

Wie elektrisiert rannte sie der Freiheit entgegen. Sie würde ihnen entwischen. Sie würde ungeschoren davonkommen.

Sie prallte gegen die Doppeltür und stemmte sich mit voller Wucht gegen die Griffstange, die ihr den Weg in die Freiheit öffnen sollte.

Die Stange gab nicht nach.

Ungläubig stemmte sie sich noch einmal dagegen, doch die Tür war verschlossen.

Verdammte Scheiße, dachte sie. Wenn ich hier nicht eben rumgeschmiert hätte, würde ich glatt bei der Lokalzeitung anrufen.

Fieberhaft scannte sie den breiten Flur. Zwischen ihr und dem Haupteingang befanden sich die Polizisten. Der einzige Ausgang an diesem Ende war verschlossen.

Es musste einen anderen Ausweg geben.

Sie hielt den Atem an und lauschte. Stimmen und Schritte, die sich näherten.

Sie stützte die Hände auf die Knie und ließ den Kopf langsam zwischen die Schultern sinken. So durfte es einfach nicht enden. Ihre Eltern würden sie in Stücke reißen. Dreimal in einem Jahr von der Polizei festgenommen? Schlimm genug, dass man sie damals in diese gottverlassene Schule gesteckt hatte. Wohin werden die mich jetzt schicken?

Sie rannte zu einer nahen Tür.

Ein, zwei, drei Schritte.

Sie drückte die Klinke.

Zu.

Auf der anderen Seite des Flurs war noch eine.

Ein, zwei, drei, vier Schritte.

Zu.

Jetzt rannte sie den Polizisten entgegen. Der reine Wahnsinn.

Die dritte Tür ließ sich öffnen. Ein Materialraum.

Den Materialraum lassen sie unverschlossen, aber die leeren Klassenzimmer schließen sie ab?! Die haben sie doch nicht mehr alle hier!

Vorsichtig schlüpfte sie zwischen Regale mit Papier, Wischeimern und Elektrokrempel, den sie in der Finsternis nicht identifizieren konnte, schloss die Tür und versuchte, ruhiger zu atmen.

Es war stockfinster. Sie hielt sich die Hand vors Gesicht – direkt vor die Augen – und konnte sie nicht sehen. Sie spürte ihre Hand zwar, wusste, dass sie da war, aber sie konnte sie nicht erkennen, und das raubte ihr die Orientierung. Auf der Suche nach Halt streckte sie die Hände aus, wodurch plötzlich ein kopflastiger Stapel Papier ins Rutschen kam. Ohne den Stapel sehen zu können, versuchte sie verzweifelt, ihn wieder in die Balance zu bringen.

Von draußen waren undeutlich Stimmen zu hören; sie klangen noch sehr fern. Ein paar Minuten, dann sind sie fort, sagte sie sich. Nur noch ein paar Minuten.

Es war heiß und stickig.

Ganz ruhig.

Sie zählte ihre keuchenden Atemzüge … zwölf, dreizehn, vierzehn …

Es passierte trotzdem. Dieses Gefühl, in Beton eingeschlossen zu sein und keine Luft zu kriegen. Ihr Herz begann wie wild zu klopfen, Panik stieg in ihr auf.

Beruhige dich bitte, Allie, flehte sie, in fünf Minuten bist du in Sicherheit. Die anderen werden dich bestimmt nie verpfeifen.

Aber es funktionierte nicht. Ihr wurde schwindelig, und ihr war, als müsste sie ersticken.

Sie musste hier raus.

Während ihr der Schweiß übers Gesicht lief und der Boden unter ihr ins Wanken geriet, streckte sie die Hand nach der Klinke aus.

Nein, nein, nein … Das kann doch nicht sein!

Die Innenseite der Tür war vollkommen glatt.

Panisch tastete sie die unnachgiebige Tür ab, dann die Wand daneben. Nichts. Die Tür ließ sich nicht von innen öffnen.

Sie stemmte sich dagegen, kratzte mit den Nägeln an den Kanten, aber die Tür gab nicht nach. Sie bekam jetzt kaum noch Luft.

Es war so dunkel.

Sie ballte die Fäuste und hämmerte gegen die glatte, unnachgiebige Tür.

»Hilfe! Ich krieg keine Luft! Macht die Tür auf!«

Keine Antwort.

»Helft mir! Ist da jemand?«

Sie hasste den flehentlichen Klang ihrer Stimme. Schluchzend legte sie die Wange an die Tür, schlug gegen das Holz und schnappte nach Luft.

»Bitte.«

Die Tür ging so plötzlich auf, dass sie hilflos nach vorn stolperte, geradewegs in die Arme eines Polizisten.

Er hielt sie auf Armeslänge von sich, leuchtete ihr mit der Taschenlampe in die Augen und musterte ihr wildes Haar und die tränenüberströmten Wangen.

Über ihren Kopf hinweg grinste er seinen Kollegen an. In diesem Augenblick bemerkte Allie Mark, der mit gesenktem Kopf und ohne Baseballcap dastand, den Arm fest im Griff des anderen Polizisten. Und der grinste zurück.

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Zwei

Trotz des konstanten Lärmpegels, der an diesem sommerlichen Freitagabend auf der Polizeiwache herrschte, hörte Allie die Stimme ihres Vaters so deutlich, als stände er vor ihr. Sie unterbrach das Gezwirbel an ihren Haaren und sah besorgt zur Tür.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich das zu schätzen weiß. Es tut mir sehr leid, dass Sie so viel Ärger hatten.« Sie kannte diesen Ton in seiner Stimme nur zu gut: gedemütigt. Durch sie. Sie hörte eine zweite männliche Stimme, die sie aber nicht recht verstand, und dann wieder ihren Vater: »Ja, wir werden etwas unternehmen, ich weiß Ihren Rat sehr zu schätzen. Wir werden das besprechen und morgen eine Entscheidung treffen.«

Entscheidung? Was für eine Entscheidung?

Dann ging die Tür auf, und ihre grauen Augen blickten in seine müden blauen. Ihr Herz zog sich ein kleines bisschen zusammen. Er sah älter aus, so unrasiert und zerknittert, wie er war. Und sehr müde.

Er reichte einer Beamtin mehrere Papiere, die sie achtlos auf den vor ihr liegenden Stapel mit Schreibkram legte. Dann griff sie in eine Schublade, nahm den Umschlag mit Allies Sachen heraus und schob ihn über den Schreibtisch Allies Vater zu. Ohne einen der beiden anzusehen, sagte sie roboterhaft: »Wir übergeben dich hiermit in die Obhut deines Vaters. Du kannst jetzt gehen.«

Allie erhob sich steif und folgte ihrem Vater durch den engen, hell erleuchteten Flur zum Ausgang.

Als sie draußen in der frischen Sommerluft standen, atmete sie tief durch. Die Erleichterung, nicht mehr auf der Polizeiwache zu sein, mischte sich mit Besorgnis über den Gesichtsausdruck ihres Vaters. Schweigend gingen sie zum Wagen.

Schon von der anderen Straßenseite aus entriegelte ihr Vater mit der Fernbedienung den schwarzen Ford, der mit einem unpassend vergnügten Willkommensgruß antwortete. Als ihr Vater den Motor anließ, wandte sie sich ihm mit einem Blick zu, der ernst war und voller Erklärungen.

»Dad …«

Er spannte den Kiefer an und starrte stur geradeaus.

»Alyson, nicht …«

»Nicht was?«

»Nicht reden. Einfach … dasitzen.«

Die Fahrt verlief schweigsam. Zu Hause stieg er ohne ein Wort aus. Allie schlurfte hinter ihm her, während das ungute Gefühl in der Magengrube anwuchs.

Er wirkte nicht böse. Er wirkte … leer.

Allie ging die Treppe hoch und den Flur entlang, vorbei am verwaisten Zimmer ihres Bruders. In der Sicherheit ihres eigenen Zimmers betrachtete sie sich eingehend im Spiegel. Ihr schulterlanges, hennarotes Haar war strähnig, schwarze Farbe klebte an einer Schläfe, und die Wimperntusche unter den Augen war verschmiert. Sie roch nach altem Schweiß und Angst.

»Na«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, »das hätte auch schlimmer ausgehen können.«

 

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, ging es schon auf Mittag zu. Sie kroch unter der zerknitterten Decke hervor und streifte eine Jeans und ein weißes Trägertop über. Dann öffnete sie vorsichtig die Tür.

Stille.

Auf Zehenspitzen ging sie in die Küche hinunter, wo die Sonne durch große Fenster auf eine saubere Arbeitsplatte aus Holz schien. Jemand hatte ihr Brot hingestellt, die Butter schmolz langsam vor sich hin. Neben dem Wasserkocher stand eine Tasse mit Teebeutel.

Sie hatte einen Bärenhunger. Sie schnitt sich eine Scheibe Brot ab und steckte sie in den Toaster. Dann machte sie das Radio an, um die Stille zu übertönen, schaltete es aber gleich wieder aus.

Sie aß hastig und blätterte dabei die Zeitung von gestern durch, ohne richtig hinzusehen. Erst als sie fertig war, bemerkte sie den Zettel neben der Küchentür.

A-

Bin Nachmittag zurück. NICHT aus dem Haus gehen.

M

Instinktiv wollte sie nach dem Telefon greifen, um Mark anzurufen, aber es lag nicht an seinem üblichen Platz neben dem Kühlschrank.

Sie lehnte sich gegen die Holztheke und trommelte mit den Fingern darauf herum, während sie auf das stete Ticken der großen Uhr über dem Herd lauschte.

Sechsundneunzig Ticks. Oder Tacks? Wo ist der Untersch…?

»Genau!« Sie richtete sich auf und klatschte die Handflächen auf die Arbeitsfläche. »Scheiß doch drauf.«

Sie rannte nach oben in ihr Zimmer und riss die oberste Schreibtischschublade auf, wo sie ihren Laptop aufbewahrte.

Die Schublade war leer.

Allie stand reglos da und sann darüber nach, was das zu bedeuten hatte. Ihre Schultern sackten nach unten.

* * *

Ihre Eltern kamen erst am späten Nachmittag nach Hause. Allie hatte sie bang erwartet und war jedes Mal, wenn eine Autotür schlug, aufgesprungen, um aus dem Fenster zu schauen. Doch als sie endlich da waren, tat sie ganz gleichgültig, blieb zusammengekauert in dem großen Ledersessel sitzen und schaute auf den Fernseher, der mit abgestelltem Ton lief.

Ihre Mutter ließ wie gewohnt die Handtasche auf den Tisch im Flur fallen und folgte dann ihrem Mann in die Küche, um Tee zu machen. Durch die offene Tür sah Allie, wie sie ihm kurz beruhigend die Hand auf die Schulter legte und dann zum Kühlschrank ging, um Milch zu holen.

Sieht gar nicht gut aus.

Ein paar Minuten später saßen sie ihr gegenüber auf dem marineblauen Sofa. Das Haar ihres Vaters war jetzt sorgfältig gekämmt, dafür hatte er Ringe unter den Augen. Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter war ruhig, doch ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengekniffen.

»Alyson …«, begann ihr Vater, doch dann geriet er ins Stocken und rieb sich müde die Augen.

Ihre Mutter übernahm. »Wir haben darüber gesprochen, wie wir dir helfen können.«

Oje.

»Offenbar bist du auf deiner jetzigen Schule nicht glücklich gewesen.« Sie sprach deutlich und langsam. Allies Augen huschten von einem Elternteil zum andern. »Aber nachdem du in die Schule eingebrochen bist, deine Akte angezündet und ›Ross ist eine Fotze‹ an die Tür der Rektorin gesprüht hast, dürfte es dich kaum überraschen, dass man dort auch nicht sehr glücklich mit dir ist.«

Allie kaute an der Nagelhaut ihres kleinen Fingers und kämpfte gegen den Drang, nervös zu kichern. Jetzt kichern wäre wenig hilfreich.

»Das wird nun schon die zweite Schule sein, die uns sehr höflich bittet, dich anderswo zum Lernen hinzuschicken. Wir sind es leid, sehr höfliche Briefe von Schulen zu bekommen.«

Ihr Vater beugte sich vor. Zum ersten Mal, seit er sie von der Polizeiwache abgeholt hatte, sah er Allie in die Augen.

»Wir verstehen, dass du dich abreagieren willst, Alyson«, sagte er. »Wir verstehen, dass du diese Art gewählt hast, um mit dem, was passiert ist, umzugehen, aber es reicht uns jetzt. Graffiti, Schule schwänzen, Vandalismus … Es reicht. Wir haben’s begriffen.«

Allie öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, doch ihre Mutter blitzte sie warnend an. Allie winkelte die Beine an und schlang die Arme um die Knie.

Jetzt sprach wieder ihre Mutter: »Der hilfsbereite Kontaktbeamte bei der Polizei von gestern Abend – der übrigens genau über dich Bescheid wusste – hat vorgeschlagen, dass wir dich auf eine andere Schule schicken. Außerhalb Londons. Weit weg von deinen Freunden.«

Das letzte Wort sprach sie mit bitterer Verachtung aus, dann sagte sie:

»Heute Morgen haben wir mehrere Telefonate geführt, und wir haben …«, hier machte sie eine Pause, in der sie ihrem Mann einen beinahe unsicheren Blick zuwarf, »wir haben einen Ort gefunden, der auf Teenager wie dich spezialisiert ist, …«

Allie zuckte zusammen.

»… und haben ihn uns am Vormittag angeschaut. Wir haben mit der Rektorin gesprochen, …«

»Die absolut reizend war«, warf ihr Vater ein, doch ihre Mutter beachtete ihn nicht.

»… und sie hat zugestimmt, dass du noch diese Woche anfängst.«

»Moment mal … Diese Woche?«, fragte Allie ungläubig. »Aber wir haben doch erst seit zwei Wochen Sommerferien!«

»Du wirst dort auch wohnen, …«, sagte ihr Vater, als hätte er sie nicht gehört.

Allie starrte ihn mit offenem Mund an.

Wohnen?

Das Wort hallte in ihrem Kopf wider.

Das soll wohl ein Scherz sein!

»… was für uns eine große finanzielle Belastung bedeutet, aber wir sind der Meinung, dass es den Versuch wert ist, dich vor dir selbst zu schützen, bevor du dein ganzes Leben wegwirfst. Vor dem Gesetz giltst du jetzt noch als Jugendliche, aber das wird nicht ewig so bleiben.« Er schlug mit der Hand auf die Sofalehne, Allie starrte ihn an. »Du bist fünfzehn, Alyson. Es kann so nicht weitergehen.«

Allie lauschte auf ihren Herzschlag.

Dreizehn Schläge. Vierzehn, fünfzehn …

Das war übel. Unglaublich übel. Geradezu rekordverdächtig übel. Sie beugte sich vor.

»Hört mal, ich weiß, ich hab Mist gebaut. Es ist mir echt peinlich«, sagte sie so aufrichtig sie konnte. Ihre Mutter sah sie ungerührt an, deshalb wandte sie sich flehentlich an ihren Vater. »Aber findet ihr nicht, dass ihr überreagiert? Dad, das ist doch Wahnsinn!«

Erneut warf Allies Mutter ihrem Mann einen Blick zu, gebieterisch diesmal. Er sah Allie traurig an und schüttelte den Kopf.

»Es ist zu spät«, sagte er. »Die Entscheidung ist getroffen. Mittwoch fängst du an. Bis dahin kein Computer, kein Handy, kein iPod. Und keinen Ausgang, du bleibst im Haus.«

Als ihre Eltern aufstanden, kam es Allie so vor, als würde der Richter den Saal verlassen. In der Leere, die sie hinterließen, atmete Allie zitterig aus.

 

Die folgenden Tage verschwammen: Allie fühlte sich isoliert und verwirrt. Sie sollte ihre Sachen packen und sich bereithalten, doch eigentlich war sie die ganze Zeit nur darauf aus, ihren Eltern den verrückten Plan auszureden.

Vergeblich. Sie wechselten kaum ein Wort mit ihr.

Am Mittwochnachmittag überreichte die Mutter ihr einen schmalen, elfenbeinfarbenen Umschlag, auf dem ein aufwendig gestaltetes schwarzes Wappen aufgedruckt war, unter dem die Worte Cimmeria Academy standen. Und darunter hatte jemand in schön geschwungener Handschrift geschrieben: »Informationen für neue Schüler«.

Die beiden Blatt Papier waren offenbar mit Schreibmaschine getippt worden. Allie war sich zwar nicht sicher – sie hatte noch nie maschinenbeschriebenes Papier gesehen –, doch die kleinen eckigen Buchstaben hatten sich sichtbar in das dicke, altweiße Papier eingegraben. Der Schrieb enthielt nicht viel Text; die erste Seite war ein Brief der Rektorin, einer gewissen Isabelle le Fanult, die ihrer Freude Ausdruck verlieh, Allie im Internat begrüßen zu dürfen.

Na toll, dachte Allie und schleuderte den Brief beiseite. Die zweite Seite gab mehr her. Füller, Bleistifte und Papier würden von der Schule gestellt werden, teilte man ihr mit, ebenso die Schuluniform. In alle Kleidungsstücke, die sie mitbringen wollte, sollte sie ihre Initialen entweder mit wasserfestem Stift schreiben oder »aufsticken«. Und sie sollte Gummistiefel und eine Regenjacke mitbringen, weil »das Schulgelände weitläufig und ländlich« sei.

Sie überflog den restlichen Brief auf der Suche nach dem ominösen Wort »Schulregeln« – und richtig, da stand es, fett gedruckt:

Das vollständige Regelwerk für das Verhalten auf dem Schulgelände wird dir bei deinem Eintreffen ausgehändigt. Lies es bitte durch und halte dich strikt daran. Jede Verletzung der Internatsordnung wird streng geahndet.

Und damit der schlechten Nachrichten noch nicht genug:

Den Schülern ist es nicht gestattet, ohne Erlaubnis ihrer Eltern oder der Internatsleitung das Schulgelände zu verlassen. Eine Erlaubnis wird nur in Ausnahmefällen erteilt.

Allies Hand zitterte, als sie die erste Seite vom Boden aufhob, den Brief zurück in den Umschlag steckte und auf ihren Schreibtisch legte.

Was ist das, eine Schule oder ein Gefängnis?

Dann polterte sie die Treppe hinunter in die Küche, wo ihre Mutter Mittagessen machte.

»Ich rufe Mark an«, verkündete sie herausfordernd und nahm das Küchentelefon, das jedes Mal, wenn ihre Eltern zu Hause waren, wie durch Zauberei an seinen Platz zurückkehrte.

»Ach ja?« Ihre Mutter legte das Messer hin.

»Wenn ich schon ins Gefängnis muss, habe ich ja wohl das Recht auf einen Anruf, oder?«, sagte Allie mit einer Stimme, als wäre ihr schreiendes Unrecht geschehen. Das alles ging nun wirklich zu weit.

Ihre Mutter musterte sie eine Weile, dann griff sie achselzuckend wieder nach dem Messer und machte sich daran, eine Tomate in dünne Scheiben zu schneiden.

»Dann ruf ihn halt an.«

Allie musste kurz nachdenken, bevor sie wählte. Marks Nummer war in ihrem Handy eingespeichert, deshalb hatte sie sie eigentlich nie auswendig können müssen.

Es klingelte ein paarmal.

»Yo.« Seine Stimme klang so beruhigend vertraut und normal, dass Allie hätte losheulen können.

»Hi. Hier ist Allie.«

»Allie! Verdammte Scheiße. Wo hast du gesteckt?« Er klang so erleichtert, wie sie sich fühlte.

Wütend starrte Allie auf den Rücken ihrer Mutter. »In Sicherheitsverwahrung. Sie haben mir mein Handy und meinen Computer weggenommen. Raus darf ich auch nicht. Und wie läuft’s bei dir?«

»Ach, wie immer.« Er lachte. »Meine Alten sind angepisst, die Schule ist extrem angepisst, aber ich werd’s überstehen.«

»Fliegst du auch?«

»Was? Von der Schule? Nee. Fliegst du denn?«

»Sieht so aus. Meine Eltern wollen mich in ein Straflager schicken, von dem sie steif und fest behaupten, es wäre eine Schule. Irgendwo in der Äußeren Mongolei.«

»Im Ernst?« Er klang aufrichtig bestürzt. »Wie ätzend! Die sind doch bekloppt. Niemand ist verletzt worden, und die Ross wird es schon verwinden. Ich muss irgendwelche Sozialstunden leisten und mich bei allen entschuldigen, und dann geht die ganz normale Schulhölle wieder weiter. Ich kann’s nicht glauben, dass deine Eltern so antiquiert sind.«

»Ich auch nicht. Hör zu, die Antiquierten sagen, dass ich dich nicht mehr anrufen darf, wenn ich erst mal in dieser Sträflingsschule bin. Aber wenn du wissen willst, wo du mich findest, der Ort heißt Cimmer…«

Die Verbindung brach ab. Allie schaute auf und sah, dass ihre Mutter den Stecker aus der Wand gezogen hatte. Ihr Gesicht war ausdruckslos.

»Das reicht«, sagte sie, nahm Allie sanft das Telefon aus der Hand und wandte sich wieder dem Tomatenschneiden zu.

Allie stand stocksteif da und starrte sie an. Ihr Gesicht wurde erst bleich und dann rot, sie musste mit den Tränen kämpfen. Schließlich drehte sie sich abrupt um und rannte aus der Küche.

»Ihr. Spinnt. Doch. Total!« Ihre Worte, erst leise, steigerten sich zu einem Schrei, während sie die Treppe hinaufstampfte. Sie knallte die Tür hinter sich zu, blieb mitten im Zimmer stehen und blickte fassungslos um sich.

Dieser Ort war nicht länger ihr Zuhause.

 

Der Mittwochmorgen begann heiß und strahlend, und zu ihrer Überraschung stellte Allie fest, dass sie irgendwie erleichtert war. Wenigstens hatte sie diese Phase ihrer Bestrafung jetzt hinter sich.

Eine halbe Stunde schaute sie in den Kleiderschrank und überlegte, was sie anziehen sollte. Schließlich entschied sie sich für enge schwarze Jeans und ein langes schwarzes Top, auf dem in glitzernden Silberbuchstaben quer das Wort »Trouble« stand.

Sie betrachtete sich im Spiegel und fand sich blass. Ängstlich.

Da geht doch noch was.

Sie schnappte sich den Flüssigkajal, malte einen dicken Strich auf ihre Lider und tuschte sich reichlich die Wimpern. Dann langte sie unter das Bett und zog ein Paar kniehohe, dunkelrote Doc Martens hervor, die sie über die Jeans zog. Als sie kurz darauf die Treppe hinunterging, sah sie aus wie ein Rockstar, fand sie. Ihr Gesichtsausdruck war rebellisch.

Beim Anblick ihres Outfits seufzte ihre Mutter dramatisch, sagte aber nichts. Das Frühstück verlief in eisigem Schweigen, danach ließen ihre Eltern sie allein, damit sie fertig packte. Sie stapelte ihre Klamotten auf dem Bett, setzte sich, den Kopf zwischen den Knien, mitten hinein und zählte ihre Atemzüge, bis sie sich beruhigt hatte.

Als sie am Nachmittag zum Wagen gingen, drehte Allie sich noch mal um, schaute auf ihr stinknormales Reihenhaus zurück und versuchte, sich den Anblick einzuprägen. Es war nichts Besonderes, aber es war immer ihr Zuhause gewesen, mit all den schönen Empfindungen, die dieses Wort auslöste.

Jetzt sah es einfach nur aus wie alle anderen Häuser in der Straße.

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Drei

Die Autofahrt war eine Qual. Normalerweise wäre sie froh gewesen, an einem strahlend schönen Sommertag wie diesem aus der Stadt rauszukommen, doch als die verstopften Straßen Londons sanft geschwungenen grünen Wiesen wichen, mit wie hingetupften weißen Schafen, die in der Sonne dösten, befiel sie ein Gefühl von Einsamkeit. Die Stimmung im Auto tat ein Übriges. Die Eltern nahmen Allies Anwesenheit kaum zur Kenntnis. Ihre Mutter hielt die Landkarte und gab ab und zu Anweisungen, wie sie zu fahren hatten.

In den Rücksitz gekauert, starrte Allie böse auf die Hinterköpfe ihrer Eltern. Wieso kaufen die sich kein Navi wie jeder normale Mensch?

Diese Frage hatte sie ihnen schon oft gestellt, aber ihr Vater sagte immer nur, sie ständen zu ihrer Technikfeindlichkeit und dass »jeder Karten lesen können sollte«.

Dann eben nicht.

Ohne Karte blieb Allie nichts anderes übrig, als selbst herauszufinden, wohin genau die Reise ging.

Die Eltern hatten ihr noch nicht verraten, wo das Internat lag, und so rauschten die Städtenamen an ihnen vorbei: Guildford, Camberley, Farnham … Irgendwann verließen sie die Fernstraßen und schlichen auf winzigen Landstraßen zwischen hohen Hecken, die jede Aussicht versperrten, hügelauf, hügelab durch die Dörfer: Well, Dippenhall, Frensham … Nach zwei Stunden bogen sie schließlich in einen schmalen Feldweg ein, der in einen dichten Wald führte, wo es kühl und ruhig war. Ihr Vater fuhr jetzt im Schneckentempo und versuchte, so gut es ging, den Schlaglöchern auszuweichen. Nach ein paar Minuten Geruckel und Gerumpel erreichten sie ein hohes, schmiedeeisernes Tor.

Sie hielten an. Nur das Tuckern des Motors war zu hören.

Eine halbe Ewigkeit passierte gar nichts.

»Vielleicht muss man hupen oder irgendwo klingeln«, flüsterte Allie. Sie ließ den abweisenden schwarzen Zaun auf sich wirken, der sich schier endlos hinzog und dann irgendwo zwischen den Bäumen verlor.

»Nein.« Ihr Vater dämpfte ebenfalls die Stimme. »Die haben bestimmt eine Überwachungskamera oder so was. Die sehen das, wenn jemand kommt. Beim letzten Mal haben wir auch nur ein paar …«

Zitternd setzte sich das Tor in Bewegung und schwenkte mit einem metallischen Scheppern langsam nach innen. Dahinter ging der Wald weiter; durch das dichte Geäst sickerte kaum noch Sonnenlicht.

Allie starrte in den Schatten.

Willkommen in deiner neuen Schule, Allie. Willkommen in deinem neuen Leben.

Während das Tor aufging, zählte sie ihre Herzschläge. Bumm-bumm-bumm … Dreizehn Schläge, dann sah sie die Straße vor sich. Ihr Herz pochte nun so laut, dass sie verstohlen überprüfte, ob ihre Eltern es bemerkt hatten. Aber die warteten ergeben. Ihr Vater trommelte mit den Fingern gegen das Lenkrad.

Bei fünfundzwanzig war das Tor mit einem neuerlichen Zittern wieder eingerastet.

Ihr Vater legte den Gang ein.

Sie fuhren los.

Allie spürte, wie es ihr den Hals zuschnürte, und konzentrierte sich aufs Atmen. Eine Panikattacke war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Doch die Angst, die sie plötzlich übermannte, ließ sich nicht abschütteln.

Flipp jetzt nicht aus, sagte sie sich. Das hier ist auch bloß eine Schule. Konzentrier dich.

Es klappte. Ihr Atem beruhigte sich etwas.

Allies Vater lenkte den Wagen auf einen gepflegten Kiesweg, der dicht von Bäumen gesäumt war. Nach der Holperstrecke vorher war der Weg nun so gleichmäßig eben, dass der Wagen geradewegs zu schweben schien.

Allie achtete noch immer genau auf ihren Herzschlag. 123 Schläge lang nichts außer Bäumen und Schatten, dann ein koronarer Trommelwirbel, als sie wieder ins Helle kamen und sie ein Gebäude vor sich sah.

Und schon hatte sie sich verzählt.

Es war schlimmer, als sie befürchtet hatte. Ein gewaltiges, dreigeschossiges Bauwerk aus dunkelrotem Klinker erstreckte sich zu Füßen eines steilen, bewaldeten Hügels. Im grellen Sonnenlicht wirkte es besonders deplatziert. Der Bau sah aus, als hätte man ihn einer anderen Zeit und einem anderen Ort entrissen und hier abgeworfen, in … wo auch immer sie hier waren. Aus dem zerklüfteten Dach ragten Türmchen, deren scharfe Spitzen wie schmiedeeiserne Dolche in den Himmel stachen.

Heiliger Bimbam.

»Ein beeindruckendes Gebäude«, sagte ihr Vater.

Ihre Mutter schnaubte. »Auf beeindruckende Weise gruselig.«

Furcht einflößend. Der Ausdruck, nach dem sie suchen, ist »Furcht einflößend«.

Als wollte sie einen Kontrast zu dem einschüchternden Bauwerk schaffen, hatte die Sonne den Kiesweg in einen strahlend weißen Pfad verwandelt, der wie ein sanft geschwungener Elefantenzahn zu einer großen Mahagonitür führte. Davor, im Schatten des Gebäudes, ließ Allies Vater den Wagen langsam ausrollen.

Sie waren kaum zum Stehen gekommen, als die Tür aufschwang und eine schlanke Frau lächelnd und leichtfüßig die Treppe heruntersprang. Ihre dichten, dunkelblonden Haare wurden lose von einer Spange gehalten und lockten sich an den Enden, als wären sie froh, da zu sein. Allie war erleichtert, dass die Frau so normal aussah: Sie hatte sich die Brille ins Haar geschoben und trug eine cremefarbene Strickjacke über ihrem blassblauen Kleid.

Allies Eltern stiegen aus und gingen auf die Frau zu, um sie zu begrüßen. Allie blieb unbeachtet sitzen. Schließlich öffnete sie die Tür und kletterte widerwillig aus dem Ford, der ihr mit einem Male so freundlich und vertraut vorkam. Sie ließ die Tür offen.

Statt ihren Eltern zu folgen, lehnte sie sich lieber gegen den Wagen und beobachtete argwöhnisch die Szene. Wartete. Siebenundzwanzig Herzschläge.

Achtundzwanzig. Neunundzwanzig.

»Mr und Mrs Sheridan. Schön, Sie wiederzusehen!« Die Frau hatte eine warme, trällernde Stimme und lächelte ungezwungen. »Ich hoffe, die Fahrt war nicht allzu anstrengend. Zwischen London und hier ist manchmal ein furchtbarer Verkehr. Aber wenigstens haben wir heute herrliches Wetter, nicht wahr?«

Allie bemerkte, dass sie einen ganz leichten Akzent hatte, konnte ihn aber nicht genau bestimmen. Schottisch vielleicht? Er verlieh ihren Worten jedenfalls etwas Besonderes, Vielschichtiges, ließ sie filigraner wirken.

Nach dem Austausch weiterer Höflichkeiten geriet das Gespräch etwas ins Stocken, und die drei wandten sich Allie zu. Das höfliche Lächeln war nun aus dem Gesicht ihrer Eltern verschwunden, und an seine Stelle war wieder jene kultivierte Ausdruckslosigkeit getreten, die ihr so unangenehm vertraut war. Dafür schenkte die Rektorin ihr ein warmes Lächeln.

»Und du bist bestimmt Allie?«

Eindeutig schottisch, der Akzent. Aber ziemlich ungewöhnlich – kaum wahrnehmbar.

»Ich heiße Isabelle le Fanult und bin die Rektorin der Cimmeria Academy. Du kannst Isabelle zu mir sagen. Herzlich willkommen, Allie.«

Allie war ein wenig erstaunt, mit ihrem Spitznamen angesprochen zu werden und nicht mit »Alyson«, wie von ihren Eltern. Und dass sie die Internatsleiterin mit Vornamen ansprechen sollte, kam ihr ebenfalls komisch vor.

Aber ziemlich cool.

Isabelle streckte ihr eine schlanke, blasse Hand entgegen. Sie hatte eigenartig schöne goldbraune Augen und sah aus der Nähe jünger aus, als man auf den ersten Blick dachte.

Allie wollte nichts mit diesem Ort zu tun haben – und nichts mit dieser Frau –, und doch ertappte sie sich dabei, wie sie ihr die Hand entgegenstreckte. Isabelles Händedruck war überraschend kräftig und kühl. Sie schüttelte ihr die Hand und ließ sie dann sanft wieder los. Allie entspannte sich etwas.

Isabelle hielt ihren Blick noch eine Sekunde länger, und Allie meinte, so etwas wie Wohlwollen in ihrem Ausdruck zu sehen, ehe sie sich wieder an die Eltern wandte und mit einem bedauernden Schulterzucken lächelnd sagte: »Die Regeln unseres Hauses verlangen leider, dass sich die Eltern hier von ihren Kindern verabschieden. Sobald ein Schüler unsere Türschwelle überquert hat, fängt er sein neues Leben in der Cimmeria Academy an, und wir möchten, dass er diesen Schritt selbstständig tut.«

Sie wandte sich wieder an Allie: »Hast du viel Gepäck? Das werden wir ja hoffentlich zu zweit schaffen. Unsere Mitarbeiter haben gerade fast alle zu tun, deshalb müssen wir, fürchte ich, allein zurande kommen.«

Zum ersten Mal antwortete Allie: »Ist nicht besonders viel.«

Und das stimmte auch. Das Internat stellte so viele Dinge und erlaubte einem so wenig mitzubringen, dass sie letztlich nur zwei mittelgroße Taschen mitgenommen hatte, die überwiegend mit Büchern und Notizblöcken gefüllt waren. Allies Vater holte sie aus dem Kofferraum. Mit erstaunlicher Leichtigkeit hob Isabelle die größere der beiden Taschen an, tauschte noch ein paar abschließende Nettigkeiten mit Allies Eltern aus und entfernte sich dann.

»Streng dich an und schreib uns ab und zu mal«, sagte ihr Vater. Er war immer noch etwas distanziert, wirkte aber traurig. Hastig umarmte er sie.

Die Mutter strich Allie eine Strähne aus dem Gesicht. »Bitte gib dieser Schule eine Chance. Und ruf an, wenn du uns brauchst.« Sie umarmte Allie kurz und fest, dann ließ sie los und ging zum Auto, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Die Hände neben dem Körper, stand Allie still da und sah zu, wie der Wagen wendete und den gepflegten Kiesweg zurückfuhr. Sie spürte Tränen aufsteigen und schüttelte heftig den Kopf, um sie abzuwehren.

»Beim ersten Mal ist es immer schwer«, sagte Isabelle mit sanfter Stimme. »Aber es wird leichter.«

Schwungvoll wandte sie sich in Richtung Treppe und sagte über die Schulter: »Wir haben leider noch ein gutes Stück zu laufen. Du wirst sehen, dieses Haus hört gar nicht mehr auf.«

Ihre Stimme verlor sich im Innern des Gebäudes. Nach kurzem Zögern folgte Allie ihr.

»Ich geb dir unterwegs eine Blitzführung …«, sagte Isabelle, aber Allie hörte es kaum. Mit offenem Mund starrte sie in die riesige Eingangshalle.

Drinnen war es düster und kalt. Ein Bleiglasfenster hoch über ihrem Kopf brach das helle Sonnenlicht und verwandelte es in ein vielfarbiges Halbdunkel. Die Decken waren mindestens sechs Meter hoch und wurden von einem mächtigen Bogengewölbe aus Stein gehalten. Der Steinboden war über die Jahrhunderte von Tausenden Füßen glatt poliert worden. Mannshohe Kerzenständer standen wie Wachposten in allen Ecken. Einige Wände waren mit alten Gobelins bedeckt, doch Allie hatte keine Zeit, sie näher zu betrachten, weil sie der Rektorin hinterherhetzen musste.

Von der Eingangshalle ging es weiter in einen breiten Gang mit dunklem Holzboden. Isabelle betrat den ersten Raum zur Rechten. Darin befanden sich über ein Dutzend große, runde Holztische, um die jeweils acht Stühle gruppiert waren. An der einen Wand gab es einen gewaltigen Kamin, der sie deutlich überragte.

»Das ist der Speisesaal. Hier wirst du sämtliche Mahlzeiten einnehmen«, sagte Isabelle und hielt einen Moment inne, damit Allie den Raum auf sich wirken lassen konnte, bevor sie sich umdrehte und weiter den Gang entlangmarschierte.

Kurz darauf durchquerte sie eine weitere, überwölbte Tür, diesmal auf der anderen Seite des Ganges. Der riesige, weitgehend leere Raum hatte einen abgeschliffenen Holzboden, und die Decke, von der gewaltige Kandelaber aus Metall hingen, war fast so hoch wie die im Eingangsbereich. Neben dem Kamin sah Isabelle wie eine Zwergin aus.

»Das ist der Rittersaal. Hier finden unsere Veranstaltungen statt, Bälle, Versammlungen und so weiter. Das ist der älteste Teil des Gebäudes. Viel älter als die Fassade. Sogar noch älter, als er aussieht.«

Sie machte kehrt und folgte weiter dem Gang. Allie hatte Mühe, Schritt zu halten, und schnaufte leicht vor Anstrengung. Isabelle war überraschend schnell. Sie deutete auf eine weitere Tür zu ihrer Rechten. Der Aufenthaltsraum, erklärte sie. Dann kamen sie an eine breite Holztreppe mit einem imposanten Geländer aus Mahagoni. Isabelles Espadrilles schlappten gedämpft, als sie die Treppe hinaufeilte und dabei die ganze Zeit Fakten und Zahlen zum Gebäude herunterratterte. Allie schwirrte der Kopf. Das Treppenhaus war edwardianisch, oder hatte sie »viktorianisch« gesagt? Der Speisesaal war aus der Reformationszeit – oder war es doch die Tudor-Zeit? Die meisten Klassenzimmer lagen im Ostflügel – aber was war noch mal im Westflügel?

Zwei Treppen höher wandte sich Isabelle nach links, ging einen breiten Flur entlang und stieg eine etwas schmalere Treppe hinauf, die zu einem lang gezogenen, dunklen Gang führte, der von weiß gestrichenen Holztüren gesäumt war.

»Das ist der Schlaftrakt für die Mädchen. Moment, du hast die 329.« Sie eilte den Flur entlang, bis sie die entsprechende Nummer gefunden hatte, und riss die Tür auf.

Das Zimmer war dunkel und klein. Es gab ein nacktes Einzelbett, eine Frisierkommode und einen Schreibtisch aus Holz sowie einen Kleiderschrank – allesamt im selben makellosen Weißton. Isabelle ging durchs Zimmer und fummelte an einem Riegel, den Allie nicht sehen konnte, worauf ein Holzfensterladen aufschwang, der ein kleines Bogenfenster verdeckt hatte. Schlagartig wurde der Raum vom goldenen Licht der Nachmittagssonnne erhellt.

»Hier muss nur mal ein bisschen gelüftet werden«, sagte Isabelle fröhlich und ging Richtung Tür. »Deine Schuluniformen sind im Kleiderschrank, die Größe haben uns deine Eltern durchgegeben. Sag Bescheid, falls irgendwas nicht passt. Es müsste eigentlich alles da sein, was du brauchst. Ich lass dich jetzt mal in Ruhe auspacken. Abendessen ist um sieben. Wo der Speisesaal ist, weißt du ja. Ach, und übrigens …«

Sie drehte sich noch einmal um. »Ich habe gesehen, dass du in letzter Zeit etwas Schwierigkeiten in Englisch hattest, deswegen habe ich dich zu mir in den Kurs gesteckt. Das ist ein Ergänzungskurs für eine kleinere Gruppe. Ich hoffe, der ist interessant für dich.«

Überwältigt von der Flut der Informationen, konnte Allie nur stumm nicken, ehe ihr klar wurde, dass sie etwas erwidern musste. Stockend sagte sie: »Ich … komm schon zurecht.«

Isabelle legte den Kopf schief und musterte einen Moment lang ihr Gesicht, dann nickte sie. »In dem Umschlag da sind jede Menge Informationen über die Schule und deine Kurse«, sagte sie und deutete auf den Schreibtisch. Allie war der große Umschlag mit ihrem Namen darauf noch gar nicht aufgefallen, und nun fragte sie sich, wie sie ihn hatte übersehen können.

»Noch irgendwelche Fragen?«

Allie wollte schon den Kopf schütteln, hielt dann aber inne. Sie sah auf ihre Füße und zupfte am Saum ihres T-Shirts. Dann schaute sie auf und sagte zögernd: »Sie sind doch die Internatsleiterin, oder?«

Isabelle sah sie leicht verdutzt an und nickte.

»Und wieso machen Sie dann das alles?« Allie machte eine ausholende Geste.

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Isabelle perplex. »Wieso mache ich was?«

Allie versuchte eine Erklärung. »Mich an der Tür abholen, mir mein Zimmer zeigen, mich durchs Haus führen …«

Isabelle zögerte mit der Antwort. Sie hatte die Arme locker vor der Brust verschränkt. Mit sanfter Stimme sagte sie: »Allie, deine Eltern haben mir eine ganze Menge über dich erzählt. Ich weiß, was passiert ist, und die Sache mit deinem Bruder tut mir sehr leid. Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren, der einem nahesteht, und mir ist klar, wie leicht man sich in dieser … scheußlichen Situation verfangen kann und nie wieder rauskommt. Aber du darfst nicht zulassen, dass das, was dir passiert ist, dein Leben zerstört. Du hast eine Menge drauf, und meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass dir das bewusst wird, und dir dabei zu helfen, wieder zu dir selbst zu finden.«

Sie ging zur Tür und ließ für kurze Zeit ihre Hand auf der Klinke ruhen.

Dreimal aus- und zweimal einatmen.

»Ich schicke die Vertrauensschülerin zu dir hoch, damit sie sich vorstellt und alle deine Fragen beantwortet«, sagte Isabelle. »Um sechs, da bleibt euch noch genügend Zeit vor dem Abendessen, um alles zu regeln. Die Essenszeiten hier sind streng – bitte sei pünktlich!«

Behutsam machte sie die Tür hinter sich zu, dann rauschte sie mit dem ihr eigenen Tempo ab. Allie atmete tief durch.

Nun, da sie den Raum für sich hatte, kam sie endlich zum Nachdenken. Wieso hatten ihre Eltern Isabelle von Christopher erzählt? Das war doch immer eine reine Familienangelegenheit gewesen. Und was für eine seltsame Schule war das? Wieso war ihnen auf dem Weg hierher kein einziger Schüler begegnet? Das Gebäude wirkte wie ausgestorben.

Sehr merkwürdig.

Sie wuchtete ihre Tasche aufs Bett, machte den Reißverschluss auf und begann ihre Sachen auszuräumen. Die Bücher ließen sich in dem schmalen Regal neben dem Schreibtisch verstauen, die Klamotten kamen in die Kommode. Doch als sie die Schubladen aufmachte, stellte sie fest, dass darin schon jede Menge T-Shirts, Shorts und Pullover lagen. Sie waren entweder weiß oder nachtblau und hatten das Cimmeria-Wappen auf der Brust.

Neugierig öffnete Allie ihren Kleiderschrank und fand lauter Röcke, Blusen und Jacken, alle im Stil der Schuluniform. Ganz hinten bekamen ihre Finger etwas Leichtes und Hauchdünnes zu fassen. Als sie die Kleiderbügel herauszog, kamen fein gewirkte Kleider in verschiedensten Farben zum Vorschein. Isabelle hatte etwas von Bällen erwähnt, aber sie hatte nicht dazugesagt, dass das Internat die Abendgarderobe dafür stellen würde. Sie hielt ein dunkelblaues Seidenkleid in die Höhe – es sah sehr edel aus, reichte bis zum Knie und hatte einen raffinierten, perlenbesetzten V-Ausschnitt.

Verdutzt starrte sie das Kleid an. Was hatte so was hier zu suchen?

Sie war noch nie auf einer richtigen Tanzveranstaltung gewesen – an ihren bisherigen Schulen hatte es derlei nicht gegeben. Die Vorstellung, ein teures Abendkleid zu tragen und damit auf einen richtigen Ball zu gehen, jagte ihr einen nervösen Schauer über den Rücken. Sie konnte ja nicht mal tanzen.

Sie strich über den geschmeidigen Stoff und versuchte sich vorzustellen, wie sie an Canapés knabberte und dabei Small Talk machte. Sie lachte bitter.

Nicht meine Welt.

Allie hängte die Kleider zurück in den Schrank, schloss die hölzerne Tür und setzte sich an den kleinen Holzschreibtisch vor dem Fenster. Von ihrem Stuhl aus sah sie blauen Himmel und grüne Baumwipfel. Jetzt am Nachmittag war es etwas kühler, und die Luft roch nach Kiefer und Sommer. Sie öffnete den Umschlag und zog ein Bündel Papiere hervor. Isabelle hatte keinen Scherz gemacht, als sie von »jede Menge Informationen« sprach.

Das erste Blatt war ein Gebäudeplan, auf dem die Lage der Schlaftrakte, Klassenzimmer, Speisesäle und Lehrerunterkünfte skizziert war. Auf dem zweiten Blatt stand ihr Stundenplan: Englisch, Geschichte, Biologie, Algebra, Französisch – die üblichen Verdächtigen.

Schließlich stieß sie auf einen schwarzen Hefter mit der Aufschrift

 

Internatsordnung.

 

Er enthielt jede Menge Blätter, die jemand in einer wunderschön altmodischen Schrift von Hand beschrieben hatte. Doch bevor Allie sie durchlesen konnte, klopfte es.

Die Tür ging auf, und ein hübsches Mädchen in einer Cimmeria-Uniform – weiße, kurzärmlige Bluse mit Wappen zu dunkelblauem, knielangen Faltenrock – betrat das Zimmer. Sie hatte ein ernstes Gesicht, fand Allie. Die glatten, weißblonden Haare streiften gerade so ihre Schultern, und an den Füßen trug sie rosa Birkenstock. Der Nagellack passte farblich perfekt zu den Sandalen, bemerkte Allie, und sie kam sich mit einem Mal unbeholfen und jungenhaft vor.

Wann habe ich mir das letzte Mal die Nägel lackiert?

Sie hatte das Gefühl, dass die andere sich Mühe gab, sie nicht anzustarren.

»Allie?« Die heisere Stimme wollte nicht recht zu ihrem Äußeren passen.

Allie nickte und erhob sich von ihrem Schreibtisch.

»Ich heiße Jules und bin Vertrauensschülerin in deiner neuen Klasse. Isabelle hat mich gebeten, bei dir vorbeizuschauen.«

»Äh, danke.« Allie zupfte nervös am Saum ihres Oberteils und fragte sich, ob sie sich hätte umziehen sollen.

Eine kurze Pause entstand. Jules zog fragend die Augenbrauen hoch und versuchte es noch einmal. »Sie dachte, du hättest vielleicht Fragen, bei denen ich dir helfen könnte.«

Allie überlegte fieberhaft, welche interessante Frage sie stellen könnte. Doch ihr fiel keine ein. »Müssen wir wirklich jeden Tag Uniform tragen? Die ganze Zeit?«

Jules nickte. »Wann immer wir uns irgendwo auf dem Schulgelände aufhalten, müssen wir die Schuluniform tragen. Steht alles in den Unterlagen, die Isabelle dir dagelassen hat.«

»Ich war irgendwie gerade dabei, sie zu lesen.« Allie wünschte sich, sie würde nicht immer über ihre Worte stolpern. Jules wirkte so selbstbewusst. »Ist ja ganz schön viel zu lesen.«

»Für den ersten Tag ist es ziemlich viel«, gab Jules zu. »Mein erster Tag wäre sicher genauso schrecklich gewesen, wenn mein Bruder mir nicht geholfen hätte. Viele von uns haben Verwandte, die auch schon hier waren – du auch?«

Allie schüttelte den Kopf. »Bis vor ein paar Tagen hatte ich noch nie von der Schule gehört.«

Jules schien überrascht, doch sie sagte nur: »Na, dann zeige ich dir lieber noch ein bisschen unseren Schlaftrakt, obwohl es da, ehrlich gesagt, nicht viel zu sehen gibt.«

Allie machte einen Schritt in Richtung Tür, doch Jules warf einen bedeutungsvollen Blick auf ihr Outfit.

»Willst du nicht erst deine Uniform anziehen?«

Allie errötete und verschränkte die Arme vor der Brust, aber Jules schien es nicht zu bemerken.

»Ich warte draußen«, sagte Jules und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, aus dem Zimmer.

Kaum war die Tür hinter ihr zu, riss Allie den Kleiderschrank auf, zog eine gefällige Kombi aus weißer Bluse und blauem Rock hervor, wie Jules sie trug, und warf sie aufs Bett. Hatte sich Jules über ihre Klamotten lustig gemacht? Sie war sich nicht ganz sicher, aber Jules war so … perfekt.

Natürlich hat sie sich über mich lustig gemacht, dachte Allie bitter. Mädchen wie sie machen das so. Mädchen mit perfekt lackierten Fußnägeln … Wütend schnürte sie ihre Stiefel auf und kickte sie unters Bett.

Mädchen mit perfekter Frisur …

Sie stöberte im Kleiderschrank nach akzeptablen Schuhen, fand aber nur ein paar praktische schwarze Oxford-Schuhe mit Gummisohlen und adrette weiße Schulmädchensocken. Allie schnitt eine Grimasse und zog sie an.

Blöde perfekte Mädchen.

Sie überprüfte ihr Aussehen im Spiegel auf der Rückseite der Tür und fühlte sich etwas unbehaglich wegen ihres kräftigen Make-ups – Jules hatte nur Lipgloss aufgetragen. Aber da war auf die Schnelle nichts zu machen.

Sie strich sich mit den Händen die Haare glatt und spazierte zur Tür hinaus. Jules lehnte an der Wand.

»Jetzt siehst du aus wie eine von uns«, sagte sie beifällig, als sie den schmalen Flur entlangliefen.

Allie wusste nicht, was sie davon halten sollte.

»Hier waren früher die Bediensteten untergebracht«, erklärte Jules. Sie schien den Ärger, der in Allie brodelte, nicht wahrzunehmen. »Das Gebäude wurde aber über die Jahre immer wieder erweitert, sodass es heute viel größer ist als früher. Hier«, sagte sie und wies auf eine Tür, die keine Nummer trug, »ist das Bad. Es wird von allen gemeinsam benutzt, weshalb man besser früh oder spät hingeht oder eben Wartezeit einplanen muss.«

Sie wandten sich wieder Richtung Treppe. Das Gebäude wirkte nun belebter, überall waren uniformierte Schüler, die sich unterhielten und lachten.

»Den Speisesaal hat dir Isabelle vermutlich schon gezeigt«, sagte Jules. »Den Aufenthaltsraum auch?«

Allie schüttelte den Kopf.

»Das ist der wichtigste Raum in der ganzen Schule«, sagte Jules und führte sie durchs Treppenhaus. »Die meisten Schüler verbringen nach dem Unterricht hier die Zeit, wenn sie nicht gerade Prep machen.«

»Prep?«, fragte Allie.

Jules sah sie an, als könnte sie nicht glauben, dass Allie danach fragen musste.

»Hausaufgaben«, erklärte sie und öffnete eine Tür am Fuß der Treppe.

Sie betraten einen gemütlichen Raum mit Ledersofas. Auf dem Boden lagen Orientteppiche, in der Ecke stand ein Klavier, und es gab Bücherregale, die bis zur Decke reichten und voll mit Büchern und Spielen waren. Bei einigen der Tische waren Schachbretter auf die Platte gemalt. Der Raum war menschenleer, bis auf einen Jungen, der ganz hinten in einem tiefen Sessel saß und sie über den Rand eines uralt aussehenden Buchs hinweg beobachtete. Er hatte glattes, schwarzes Haar, einen festen Mund und riesige, dunkle Augen, die von dichten Wimpern umstanden waren; die Füße hatte er locker auf einen Schachtisch gestützt. Ihre Blicke begegneten sich, und Allie hatte das seltsame Gefühl, dass er wusste, wer sie war. Er lächelte nicht und sagte kein Wort, schaute sie nur unverwandt an. Als sie es nicht mehr aushielt, riss sie ihren Blick los und wandte sich wieder Jules zu, die sie erwartungsvoll ansah.

Sag was.

»Und, äh, es gibt hier … keinen Fernseher? Oder … eine Stereoanlage?« Sie meinte, von der anderen Seite des Raums ein unterdrücktes Glucksen zu hören, doch sie verkniff sich, noch einmal zu dem Jungen hinzuschauen.

Wieder machte Jules dieses verblüffte Gesicht, so als hätte Allie gefragt, was es eigentlich mit dieser golden leuchtenden Kugel am Himmel auf sich hatte.

»Nein, nichts dergleichen.« Jules’ Stimme klang streng. »Keinen Fernseher, keinen iPod, keine Laptops, keine Handys … Eigentlich gar kein einundzwanzigstes Jahrhundert. Das haben dir deine Eltern doch sicher gesagt?«

Bei jedem verbotenen Gerät, das Jules aufzählte, wurde Allies Herz schwerer. Statt einer Antwort schüttelte sie nur stumm den Kopf.

Jules holte tief Luft, um es ihr zu erklären.

»Von uns wird erwartet, dass wir lernen, uns auf traditionelle Weise zu beschäftigen. Zum Beispiel mit Konversation und Lesen. Glaub mir, du wirst hier so mit Hausaufgaben auf Trab gehalten, dass du sowieso keine Zeit zum Fernsehen hast.« Jules wandte sich zum Gehen. »Das steht auch alles in dem Hefter …«

Dieser blöde Hefter. Bis ich den ganzen Mist gelesen habe, ist die halbe Nacht rum, und das alles nur, damit ich genau Bescheid weiß, was für ein bescheuerter Ort das ist.

Ohne sich noch einmal nach dem Jungen im Sessel umzudrehen, folgte sie Jules über den Flur. Im Vorbeigehen strich Jules mit der Hand über eine Tür. »Das ist die Bibliothek – die wirst du bald zur Genüge kennenlernen.«

Sie durchquerten den Hauptflur, Jules drückte eine schwere Tür auf, durch die sie in den Ostflügel des Gebäudes gelangten.

»Hier sind die Klassenzimmer. Du findest dich am einfachsten zurecht, wenn du dir erst mal die Nummern merkst. Hinter jedem deiner Kurse steht eine Raumnummer. Wir merken uns die Klassenzimmer nach Lehrern, aber das wird dir am Anfang nicht viel bringen, weil die Namen nicht an der Tür stehen. Die Räume mit den Nummern eins bis zwanzig sind im Erdgeschoss, hundert bis hundertzwanzig im ersten Stock, und alles darüber hinaus ist für dich tabu.«

Allie warf ihr einen überraschten Blick zu, doch ehe sie nach dem Grund fragen konnte, sagte Jules: »Also, du hast jetzt noch ungefähr zwanzig Minuten bis zum Abendessen, und ich schlage vor, dass du dir in der Zeit noch mal die Unterlagen durchliest. Das ist wirklich wichtig. Sonst stehst du morgen ein bisschen verloren da. Die Bücher kriegst du übrigens im Klassenzimmer von den Lehrern, du brauchst also nur Papier und Stifte mitzubringen. Davon sollte es ausreichend in deinem Schreibtisch geben.«

Sie waren mittlerweile wieder auf der Haupttreppe angelangt und gingen hinauf zum Schlaftrakt. »Ich bin in Zimmer 335, wenn du mich brauchst. Aber falls du dich verläufst, wird dir jeder hier helfen. Okay?«

Sie winkte und verschwand über den Flur, während Allie in ihr Zimmer zurückkehrte.

Die komischen Regeln schob sie erst einmal beiseite und blätterte stattdessen den Stapel Papiere auf ihrem Schreibtisch durch. Sie versuchte, sich auf die Unterrichtshinweise zu konzentrieren (»Die Schüler haben sich auf ihren Plätzen einzufinden, bevor die Lehrkraft mit dem Unterricht beginnt …«), doch ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem Jungen im Ledersessel zurück. Sie kramte in ihrer Erinnerung, konnte sich aber nicht entsinnen, ihm schon einmal begegnet zu sein. Dabei schien er sie eindeutig zu kennen oder zumindest zu wissen, wer sie war. Sie zwirbelte ihren Bleistift zwischen den Fingern und dachte daran, wie er sie mit seinen dunklen Augen gemustert hatte.

Sie blätterte um und sah dabei auf ihre Uhr.

Scheiße.

Es war schon eine Minute vor sieben. Wohin waren die zwanzig Minuten verschwunden? Gleich gab es Abendessen.

Sie raste zur Tür hinaus und wäre beinahe mit einer kurzhaarigen Blondine kollidiert, die an ihr vorbei durch den Flur schoss.

»Aufpassen!«, rief das Mädchen, ohne anzuhalten. Allie heftete sich an ihre Fersen.

»Sorry! Hab dich nicht gesehen!«

Hintereinander rannten sie die Treppe hinunter und kamen schlitternd vor dem Speisesaal zum Stehen. Ohne sich abzusprechen, spazierten sie beide betont unbekümmert zur Tür herein, als hätten sie auf dem Weg nach unten die ganze Zeit entspannt geplaudert. Die Blondine zwinkerte ihr kurz zu und setzte sich dann an einen Tisch, an dem sie offenbar regelmäßig saß, was man aus der Art und Weise schließen konnte, wie sie begrüßt wurde.

Gegenüber heute Nachmittag, als sie mit Isabelle durchgerauscht war, wirkte der Raum nun ganz anders. Auf den Tischen, die in weißes Leinen eingeschlagen waren, standen Kerzen und vor jedem Sitzplatz glitzernde Kristallgläser nebst Tellern in den Schulfarben. Allie erspähte einen leeren Stuhl und setzte sich rasch. Als hätte jemand auf die Stummtaste gedrückt, kamen die Gespräche am Tisch schlagartig zum Erliegen. Sieben Augenpaare richteten sich neugierig auf sie.

»Ist es okay, wenn ich mich, äh … hier hinsetze?« Sie blickte nervös in die Runde.

Noch ehe jemand antworten konnte, ging die Küchentür auf und schwarz gekleidete Bedienstete trugen das Essen auf. Jemand stellte einen schlichten Glaskrug vor Allies Ellbogen. Da erst merkte sie, wie durstig sie war, und hätte sich gern etwas eingeschenkt, doch sie wartete lieber ab, was die anderen machten. Keiner rührte sich.

»Ich bitte darum.«

Sie folgte der Stimme, die einen französischen Akzent verriet. Zu ihrer Linken saß ein braun gebrannter Junge mit dichtem, dunklem Haar, der sie aus außerordentlich blauen Augen ansah.

»Wie bitte?«

»Setz dich zu uns. Bitte.«

Sie lächelte ihn erleichtert an. »Danke.«

Als er ihr Lächeln erwiderte, dachte sie, gleich schmelze ich dahin und hinterlasse eine Pfütze auf dem Boden. Er war hinreißend.

»Gern geschehen. Wärst du so freundlich und würdest mir den Wasserkrug reichen?«

Sie reichte ihm den Krug, und zu ihrer großen Erleichterung füllte er erst ihr Glas, bevor er sich selber einschenkte. Sie stürzte die Hälfte des Glases hinunter und nahm sich dann von der Platte mit dem Rindfleisch und den Kartoffeln, die er ihr anbot. Wieder wurde es still, und sie sah zu ihm hinüber.

Sie räusperte sich. »Ich heiße Allie«, sagte sie.

Irgendetwas sagte ihr, dass er das bereits wusste. »Ich bin Sylvain. Willkommen auf Cimmeria!«

»Danke«, sagte sie und war für den Augenblick froh, hier zu sein.

Das Essen war köstlich. Sie hatte seit dem schrecklich krampfigen Frühstück nichts mehr gegessen und aß deshalb wie ein Scheunendrescher. Als sie sich das letzte Stück Kartoffel in den Mund schob und aufblickte, stellte sie fest, dass alle sie anschauten. Plötzlich kam ihr die Kartoffel gewaltig vor, und das Kauen bereitete ihr Mühe. Sie griff zum Wasserglas und merkte zu spät, dass es leer war.

Gewandt nahm Sylvain das Glas in die Hand und schenkte ihr ein. Seine Miene war verständnisvoll, und seine hellen Augen glitzerten im Kerzenlicht. Allie überlegte, was sie Interessantes sagen könnte, doch ihre Gedanken wurden unterbrochen.

»Du bist aus London.« Die barsche Stimme kam von einer Rothaarigen, die an der gegenüberliegenden Seite des Tisches saß.

»Ja. Woher …?«

»Man hat uns erzählt, dass wir eine neue Schülerin kriegen. Du bist Allie Sheridan«, sagte die Rothaarige in nüchternem Tonfall, so als würde sie die Nachrichten des Tages vorlesen.

»Soweit ich weiß, ja«, erwiderte Allie zurückhaltend. »Und wer bist du?«

»Katie.« Keiner von den anderen sagte seinen Namen.

Allie wand sich unter den Blicken ihrer Tischgenossen und fühlte sich genötigt, die peinlichen Gesprächspausen zu füllen. Aber Small Talk war noch nie ihre große Stärke gewesen.

»Die Schule ist ja echt … riesig«, stöpselte sie herum. »Und das Gebäude find ich irgendwie gruselig.«

»Ach ja?«, fragte Katie. Sie klang verblüfft. »Ich finde es schön. Meine ganze Familie ist hier zur Schule gegangen. Waren deine Eltern auch hier?«

Allie schüttelte den Kopf. Katie zog ihre perfekten Augenbrauen hoch, und die beiden Mädchen, die neben ihr saßen, tuschelten miteinander.

»Das ist ja seltsam.«

»Wieso ist das seltsam?«, fragte Allie.

»Die meisten von uns sind schon in der x-ten Generation hier, zum Beispiel ich und Sylvain, und Jo auch – wir gehören alle zum Schuladel.«

Allie war verwirrt. »Wer ist Jo?«

Katie sah sie irritiert an. »Das Mädchen, mit dem du reingekommen bist.«

»Miss Sheridan.« Eine dröhnende Stimme schnitt Katie das Wort ab. Allie fuhr herum. Die Stimme gehörte einem Mann mit schütterem Haar, der in etwa so alt aussah wie ihr Vater. Er war ziemlich groß – deutlich über eins achtzig –, und trotz seines schlabbrigen Anzugs stand er mit beinahe militärischer Haltung da. Unwillkürlich setzte Allie sich aufrechter hin. Im Saal wurde es still.

»Sind Ihnen die hiesigen Regeln hinsichtlich der Mahlzeiten erklärt worden?« Der Blick, mit dem er sie ansah, grenzte an Verachtung.

»Ja.« Allies Stimme zitterte leicht. Wie sie das hasste.

»Sämtliche Schüler haben vor Beginn der Mahlzeiten im Saal zu sein. Sie sind ein bisschen sehr knapp dran gewesen. Das gilt auch für Sie, Miss Arringford.« Er wirbelte herum und deutete auf Jo, die seinen Blick furchtlos erwiderte. Dann wandte er sich wieder Allie zu. »Dass mir das nicht wieder vorkommt. Wenn Sie das nächste Mal zu spät kommen, gibt es Arrest.«

Mit diesen Worten marschierte er davon. Im Saal war es so still, dass man seine Absätze klackern hören konnte. Allie starrte auf ihren leeren Teller. Sie spürte, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Ihre Wangen brannten vor Wut. Sie war zwei Sekunden zu spät gekommen. Er hatte kein Recht, sie deswegen vor der ganzen Schule zu demütigen.

Sie konnte es nicht glauben. Gerade erst angekommen, steckte sie schon wieder in Schwierigkeiten.

Als sie zu den Nebentischen schaute, bemerkte sie, dass Jo sie ansah. Ihre Blicke trafen sich kurz, Jo lächelte frech und zwinkerte ihr abermals zu, ehe sie sich wieder ihrem Gespräch zuwandte und lachte, als wäre nichts passiert. Allie beobachtete, wie ein Junge Jo über den Arm strich, worauf Jo ihren Kopf kurz an seine Schulter lehnte und dabei über irgendetwas lächelte, das er gesagt hatte.

Allie fühlte sich zugleich besser und schlechter.

Die anderen an ihrem Tisch unterhielten sich emsig miteinander und ignorierten sie demonstrativ. Bis auf Sylvain, der besorgt dreinsah.

»Wer war denn das?«, fragte sie und faltete ihre Leinenserviette, als wäre das Geschehene nicht weiter tragisch.

»Mr Zelazny«, sagte er. »Geschichtslehrer. Ein ganz Hundertprozentiger, hast du ja gesehen. Er sieht sich als Zuchtmeister der Schule. Ich würde gern sagen, dass du dir keine Sorgen machen musst, aber, ehrlich gesagt, solltest du es dir mit ihm nicht verscherzen. Er kann dir das Leben … sehr schwer machen. Wenn ich du wäre, würde ich in den nächsten paar Tagen früh zum Essen da sein. Er hat dich jetzt bestimmt auf dem Kieker.«

»Na toll«, sagte Allie resigniert.

Ich bin echt ein Glückspilz.

Ringsum erhoben sich die Schüler von den Tischen und verließen den Saal. Teller und Gläser ließen sie einfach stehen.

»Müssen wir nicht beim Abräumen helfen?«, fragte Allie überrascht.

Die Mädchen um Katie kicherten.

Katie sah verdutzt drein. »Natürlich nicht. Das macht das Personal.«

Allie wollte sich Sylvain zuwenden, doch der war schon weg. Das hatte noch mehr Gekicher und Geflüster von gegenüber zur Folge, aber davon hatte sie für heute wirklich genug, weshalb sie sich wortlos denen anschloss, die zur Tür gingen.

Sie fühlte sich müde und abgeschlagen. Was hätte sie nicht dafür gegeben, jetzt auf ihr Zimmer gehen zu können, ihren MP3-Player anzumachen und Mark und Harry per SMS von all den komischen Typen zu erzählen, denen sie heute begegnet war. Aber diese Welt erschien ihr auf einmal sehr weit entfernt von der stickigen, antiquierten Welt der Cimmeria Academy, wo es keine technischen Geräte gab und die Leute zu verwöhnt waren, um ihre Teller in die Küche zu tragen.

Auf dem Hauptflur sah sie die Schüler in unterschiedliche Richtungen gehen. Manche gingen nach draußen, andere in den Aufenthaltsraum oder in die Bibliothek. Doch immer waren sie grüppchenweise unterwegs, und alles redete und lachte dabei.

Allein stieg Allie die Treppe zum Mädchentrakt hoch.

Vierundzwanzig Stufen bis zum ersten Stock und noch mal zwanzig bis zum zweiten, und dann noch mal siebzehn Schritte über den Flur bis zu ihrem Zimmer.

Sie sah sofort, dass jemand in ihrem Zimmer aufgeräumt hatte, während sie beim Essen gewesen war. Der Fensterladen stand zwar noch offen, aber das Fenster selbst war zu. Das Bett war nun mit frischen weißen Laken und einem flauschigen weißen Federbett bezogen; über dem Fußbrett hing eine sorgsam gefaltete blaue Decke. Die Kleider, die sie auf den Boden geworfen hatte, waren verschwunden und durch ein Paar weiche, weiße Hausschuhe ersetzt worden. Zwei weiße Handtücher lagen gefaltet auf ihrem Stuhl, mit einem Stück Seife obendrauf. Die Papiere auf dem Schreibtisch waren zu einem ordentlichen Stapel sortiert worden.

Irgendjemand hier hat einen Ordnungsfimmel.

Sie streifte die Schuhe ab, nahm die Unterlagen vom Schreibtisch und warf sich aufs Bett. Während allmählich das letzte Dämmerlicht vom Himmel verschwand, hatte sie gerade mal die Hälfte geschafft.

Sie gähnte in ihren Stundenplan.

Dann schlüpfte sie in die Pantoffeln, schnappte sich die Zahnbürste und machte sich auf in Richtung Badezimmer. Leicht beklommen öffnete sie die Tür, doch der Raum war leer. Während sie die Zähne putzte, betrachtete sie sich im Spiegel. Sah sie heute älter aus als vor einer Woche? Zumindest fühlte sie sich so.

Zurück in ihrem Zimmer, machte sie den Fensterladen zu und legte sich ins Bett. Als sie die Schreibtischlampe löschte, war es im ganzen Raum mit einem Mal zappenduster. Eindeutig zu dunkel. Sie tastete nach der Lampe auf dem Schreibtisch und stieß dabei ihren Wecker um.

Sie sprang aus dem Bett und öffnete den Fensterladen. Das letzte Leuchten des Sommertags tauchte den Raum in ein sanftes Licht.

Schon besser.

Sie machte die Lampe wieder aus, legte sich wieder hin und sah zu, wie die Sonnenstrahlen verglommen und die Sterne aufgingen. Sie hatte einhundertsiebenundvierzig Atemzüge gezählt, als sie einschlief.

»Allie, renn!«

Der Schrei kam irgendwo aus der Dunkelheit vor ihr. Allie wusste nicht, wieso jemand es für nötig hielt, das zu sagen – sie rannte doch schon, so schnell sie konnte. Die Haare flogen ihr hinterher, und obwohl sie die Bäume nicht richtig sehen konnte, sondern nur ihre Umrisse, spürte sie, wie die Äste nach ihrer Kleidung griffen und die Zweige an ihrem Fleisch zerrten. Der Waldboden war uneben, früher oder später würde sie stolpern. Man kann nicht einfach blindlings im Dunkeln durch den Wald laufen. Das ist unmöglich.

Plötzlich hörte sie direkt hinter sich Schritte und spürte einen Luftzug, als würde jemand …

Tief bohrten sich die Finger in ihre linke Schulter. Sie schrie auf und schlug mit den Händen um sich, damit, wer auch immer es war, von ihr abließ.

Dann hörte sie direkt hinter sich ein verächtliches Lachen, und Hände, die sie nicht sehen konnte, zogen ihr die Beine weg. Sie schrie.

Allie saß senkrecht im Bett. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war, und flüchtete sich in die hinterste Ecke ihres Betts, die Wand im Rücken und die Arme schützend um ihre Knie geschlungen.

Dann erinnerte sie sich. Cimmeria. Internat.

Schon wieder dieser Traum. Seit Wochen träumte sie ihn regelmäßig. Und jedes Mal wachte sie schwitzend auf.

Im Zimmer war es immer noch dunkel – die Uhr zeigte an, dass es gerade mal kurz nach halb eins war. Sie fühlte sich hellwach und unruhig und zugleich auch etwas belämmert, als wäre nichts von all dem real.

Sie stieg aus dem Bett und beugte sich über den Schreibtisch, um nach draußen zu sehen. Der Mond tauchte die Welt in ein unheimliches blaues Licht. Sie kletterte auf den Schreibtisch und öffnete das Fenster. Als sie das Kinn auf die Arme legte und ins Dunkel hinausstarrte, spürte sie einen kalten Lufthauch. Sie lauschte den Rufen der Nachtvögel und atmete tief die frische Luft ein. Sie liebte diesen Geruch von Kiefernnadeln und Lehmboden. Er hatte etwas Tröstliches.

Plötzlich hörte sie Schritte … über ihr? War das möglich?

Sie versuchte zu erkennen, was über ihrem Fenster war, und hätte schwören können, dass sich auf dem Dach ein Schatten bewegte.

Einen Augenblick lang verharrte sie still, lauschte und meinte, sehr undeutlich, flüsternde Stimmen hören zu können.

Sie machte das Fenster wieder zu, überprüfte den Riegel, um sicherzugehen, dass er ordentlich geschlossen war, und legte sich wieder ins Bett. Binnen Minuten hatte sie der Schlaf übermannt.

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C.J. Daugherty, Autorin und Redakteurin, arbeitete zunächst als Gerichtsreporterin, u.a. für die New York Times und als Redakteurin für Reuters. Daneben veröffentlichte sie Reiseführer, zum Teil zusammen mit ihrem Mann, dem Autor und Filmproduzenten Jack Jewers. Zu NIGHT SCHOOL wurde sie durch den Besuch eines alten Internats angeregt. Du darfst keinem trauen ist der Auftakt ihrer insgesamt aus fünf Bänden bestehenden Reihe.

 

Mehr zu C.J. Daugherty finden Sie hier.

 

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© Christi Daugherty 2012