Night School 4. Um der Hoffnung willen - C.J. Daugherty - E-Book
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Night School 4. Um der Hoffnung willen E-Book

C.J. Daugherty

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Beschreibung

Leidenschaft und Gefahr: Die NIGHT SCHOOL fordert Opfer! Auf Cimmeria spalten die Machtkämpfe zwischen den rivalisierenden Gruppen das Internat. Allie und ihre Freunde können nur hilflos dabei zusehen. In dieser schweren Zeit wächst eine vertrauensvolle Freundschaft zwischen Allie und ihrer Großmutter Lucinda. Auch ihre Liebe zu Sylvain wird stärker, im Wissen, dass Nathaniel ihr Glück jederzeit zerstören könnte. Umso schwerer fällt Allie schließlich die Entscheidung, Sylvain zu verlassen, um ihn zu schützen. In ihrer Verzweiflung konzentriert sie sich auf das Training für die NIGHT SCHOOL. Doch dann geschieht etwas Furchtbares …

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Inhaltsverzeichnis

TitelseiteZitatEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigSiebenunddreißigAchtunddreißigNeununddreißigQuellenverzeichnisMehr zum Buch
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...

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Eins

»Entspann dich«, sagte Sylvain. »Wenn du verkrampfst, gehst du unter.«

Allie blitzte ihn an. Ihre Muskeln waren in höchster Alarmbereitschaft. »Ich bin ganz locker, okay?!«

Seite an Seite standen sie im kühlen, hüfthohen Wasser. Sanfte Wellen umspielten ihre Beine, der Sand unter den Füßen fühlte sich angenehm weich an. Allie schaute hinaus auf das kobaltblaue Meer und spürte die brennende Sonne auf ihrer Haut.

Spöttisch zog Sylvain die Brauen hoch. »Bist du nicht«, erwiderte er mit vielsagendem Blick auf ihre hochgezogenen Schultern und die geballten Fäuste. »Hey, das ist doch bloß das Mittelmeer, und der Strand ist gleich da vorn. Dir kann überhaupt nichts passieren.«

Allie zuckte die Schultern. Sie versuchte, lässig zu wirken, aber tatsächlich kam ihr alles total unwirklich vor: Südfrankreich. Am Meer. Allein mit Sylvain.

Cool bleiben, Allie. Er will dir ja nur das Schwimmen beibringen.

Sylvain schien immer noch auf eine Antwort zu warten. »Sind sogar schon Leute in der Badewanne ertrunken«, murmelte sie.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Okay, probieren wir was anderes. Setz dich mal hin.«

Verwirrt blickte Allie sich um.

»Hinsetzen? Worauf denn?«

Sylvain machte es ihr vor: Als nähme er in einem unsichtbaren Liegestuhl Platz, ließ er sich zurück in die Wellen sinken. Dann streckte er sich aus und schwebte auf dem Wasser wie eine Feder. »Siehst du? Ist ganz leicht.«

Vorsichtig versuchte Allie, es ihm gleichzutun, doch sobald ihre Füße vom sandigen Grund abhoben, versank sie im Wasser wie ein Stein und musste sich prustend und wild mit den Armen rudernd wieder an die Oberfläche kämpfen.

»So eine bescheuerte Idee! Wie soll man denn bitte schön auf Wellen sitzen?«, giftete sie Sylvain an.

Der bemühte sich, verständnisvoll zu gucken, doch seine Augen funkelten amüsiert, und seine Lippen verzogen sich unwillkürlich zu einem Grinsen.

»Du hast dich nur ein bisschen ungeschickt angestellt.«

»Ungeschickt?« Das Salzwasser, das sie geschluckt hatte, musste ihr bis ins Hirn gelaufen sein, denn irgendwie wollte kein vollständiger Satz aus ihrem Mund kommen.

Sylvain trat einen Schritt auf sie zu. »Ich werde dich stützen. Wir probieren’s einfach noch mal.«

»Oh nein«, sagte Allie entschlossen und wich zurück. Fürs Erste hatte sie die Nase voll vom Schwimmen.

»Oh doch«, antwortete er lachend und kam ihr hinterher.

Allie versuchte, das rettende Ufer zu erreichen, doch auf dem weichen Untergrund und bei dieser Strömung konnte man nicht mal richtig rennen. Nach wenigen Schritten schlangen sich Sylvains Hände um ihre Hüften und zogen sie zurück, sosehr sie auch zappelte und quietschte.

»Sylvain, bitte!«, flehte sie. »Ich kann das nicht. Ich will das nicht. Warum muss ich denn unbedingt Schwimmen lernen? Das ist doof!«

»Ist es nicht«, sagte Sylvain gelassen. »Es ist super!«

Und plötzlich, ohne dass sie recht wusste, wie ihr geschah, hatten ihre Füße den Boden verlassen, und sie schwebte auf dem Rücken treibend durch die Wellen. Sylvain schwamm neben ihr und stützte sie an der Hüfte. Allie hielt ganz still und blickte hinauf in den unfassbar blauen Sommerhimmel.

»Siehst du, du kannst es«, sagte Sylvain nach einer Weile.

»Aber bloß, weil du mich festhältst.«

»Tu ich doch gar nicht.«

Tatsächlich! Offenbar hatte er irgendwann einfach losgelassen, und jetzt trieb sie ganz von allein schwerelos im Wasser.

»Irre«, flüsterte sie. »Einfach unglaublich.« Das Meer trug sie wie auf sanften Händen. Sie ging nicht unter. Sie fühlte sich sicher.

Einen Moment lang schloss sie die Augen und genoss das Gefühl der Leichtigkeit und die Ruhe um sie herum. Die einzigen Geräusche waren das stetige Branden der Wellen gegen den Strand und das leise Seufzen, mit dem sie wieder ins Meer zurückrollten. Es war einfach vollkommen …

Genau in diesem Augenblick fiel der erste Schuss.

 

Der Knall zerriss die Stille der kleinen Bucht. Panik legte sich wie ein eiserner Ring um Allies Brustkorb. Sie bekam plötzlich keine Luft mehr und drohte unterzugehen, doch Sylvain fing sie in seinen Armen auf und hielt sie fest, während seine Augen fieberhaft den Strand absuchten.

Sie folgte seinem Blick. Alles sah aus wie zuvor: weicher Sand, Felsen, blaues Meer. Doch jetzt wusste sie, dass der Anblick trog, dass sich hinter dieser Fassade eine unsichtbare Bedrohung verbarg.

Heiße Wut stieg in ihr hoch. Vor einem Monat schon hatte man sie hierhergebracht, in das Haus von Sylvains Eltern, aber erst heute hatten sie zum ersten Mal das Grundstück verlassen – jetzt würde es vermutlich auch das letzte Mal gewesen sein. Sollte das ihr ganzes Leben so weitergehen? Immer auf der Flucht? Immer in Angst?

Plötzlich musste sie an Rachel denken, die allein am Pool der Familienvilla zurückgeblieben war. Was, wenn auch sie unter Beschuss war?

Oh Gott, hoffentlich ist ihr nichts passiert!

In diesem Moment handelte Sylvain. Ohne den menschenleeren Strand eine Sekunde aus den Augen zu lassen, umfasste er ihre Hüften und begann, in Richtung der Mole aus Felsgeröll zu schwimmen, die ins Meer hineinragte und die Bucht seitlich begrenzte.

Allie versuchte, sich so klein und leicht wie möglich zu machen, um keine unnötige Last zu sein, doch Sylvain schien ihr Gewicht kaum zu spüren und trug sie mit kräftigen, gleichmäßigen Zügen durch die Wellen.

Ein zweiter Schuss hallte von den Felswänden wider. Sie wechselten einen erschrockenen Blick, dann bugsierte Sylvain Allie wortlos hinüber in den anderen Arm, sodass nun sein Körper zwischen ihr und dem todbringenden Ufer lag.

Allie kam das Wasser plötzlich viel kälter vor, sie begann zu zittern.

Schusswaffen. Daheim in England hatten sie schon viele Gefahren bestehen müssen, aber Schusswaffen waren dabei noch nie im Spiel gewesen. Dagegen hatten sie keine Chance. Vor einer Kugel kann man nicht davonlaufen – oder -schwimmen.

In den letzten drei Monaten hatte man sie und Rachel ständig von einem Versteck ins nächste verfrachtet, von einer vornehmen Villa in die andere, jede noch abgelegener und einsamer als die vorherige.

Als sie schließlich vor ein paar Wochen hierhergekommen und unverhofft auf Sylvain getroffen waren, hatte sich das angefühlt wie ein Stück Zuhause.

Richtig Spaß hatten sie gehabt … bis jetzt.

Zu schön, um wahr zu sein. Ich hätte es wissen müssen.

Kaum hatten sie die Felsmole erreicht, schwamm Sylvain zu einer kleinen Einbuchtung, wo die Geröllbrocken sie praktisch nach allen Seiten hin vor Blicken schützten, eine kleine, nach oben hin offene Höhle. Dort kauerten sie sich hinein und sahen einander an.

»Verdammt, was war das?«, flüsterte Allie.

Sylvains Miene war angespannt, seine Kiefermuskeln arbeiteten.

»Ich weiß es nicht, aber ich werde es herausfinden.«

In Allies Magen breitete sich beißende Angst aus. Sie musste ihr auch ins Gesicht geschrieben stehen, denn Sylvain legte seine Hände auf ihre Schultern und sah ihr fest in die Augen.

»Allie, bitte. Wir müssen wissen, was da los ist. Ich komme zurück, so schnell ich kann, versprochen.« Obwohl er ganz leise sprach, warfen die Felsen seine Worte als schwaches Echo zurück.

Allie hätte schreien können vor Frust. Es war nicht in Ordnung, dass er allein ging, schließlich hatte sie das gleiche Training absolviert wie er.

Nur leider kannst du nicht schwimmen, Allie.

Mit ihr im Schlepptau würde er wesentlich langsamer vorankommen, und das würde alles nur noch gefährlicher machen.

Tapfer erwiderte sie seinen Blick. »Okay, aber sei vorsichtig.«

Er zögerte einen Moment und schien noch etwas sagen zu wollen, zog sie dann aber einfach nur an sich und umarmte sie kurz. Seine Haut war noch feucht und kühl vom Wasser.

Dann kroch er vorsichtig aus dem Schutz der Felsen heraus und glitt lautlos zurück ins Meer.

Kaum war er weg, da wünschte Allie schon, er käme endlich wieder.

Bibbernd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper.

Immer wieder wurden Menschen ihretwegen verletzt oder gar getötet. Erst Ruth, dann Jo, dann Rachel. Nicht auszudenken, wenn Nathaniel jetzt auch noch Sylvain etwas antat …

Drei Schüsse wurden kurz hintereinander abgefeuert. Allie hielt erschrocken den Atem an und duckte sich tiefer. Ein Querschläger pfiff schrill.

Allie krallte sich mit den Händen an die Felsen und grub ihre Finger in die kleinen Spalten. Etwas Spitzes, kleine Felsmuscheln oder Seepocken, ritzte ihre Fingerkuppen. Der Schmerz half ihr, nicht vor Angst den Verstand zu verlieren.

Die Minuten vergingen quälend langsam. Immer noch kein Lebenszeichen von Sylvain. Sie spürte, wie sich ihr Brustkorb immer mehr zuschnürte, und je länger sie wartete, desto unschlüssiger wurde sie. Zwar hatte sie es Sylvain versprochen, doch sie konnte ja nicht ewig hier hocken bleiben. Was, wenn er verletzt war und ihre Hilfe brauchte? Sie zwang sich, noch eine Weile stillzuhalten, und zählte ihre Atemzüge.

Dreiundfünfzig. Vierundfünfzig. Fünfundfünfzig.

Er hätte längst zurück sein müssen.

Schließlich hielt sie es nicht mehr aus.

Ich muss irgendwas tun.

Sie konnte zwar nicht schwimmen, aber vielleicht konnte sie ja ganz vorsichtig Richtung Strand waten oder über die Felsen klettern, ihr würde schon etwas einfallen.

Entschlossen sprang sie auf – und stand unvermittelt einem tropfnassen Sylvain gegenüber. So froh war sie, ihn zu sehen, dass sie fast geheult hätte.

»Allie!«, sagte er erleichtert und zog sie rasch zurück in den Schutz der Felsen. »Du hast wirklich auf mich gewartet!«

»Ich kann doch nicht schwimmen, schon vergessen?«, entgegnete sie ein bisschen zu heftig und zwang sich, ihre Stimme wieder in den Griff zu kriegen. »Was hast du gesehen?«, flüsterte sie.

Sein Gesicht wurde ernst.

»Es sind zwei. Bislang können unsere Leute sie in Schach halten, aber es ist gut möglich, dass noch Verstärkung auftaucht. Wir müssen so schnell wie möglich von hier weg.« Sorgenvoll sah er sie aus seinen blauen Augen an. »Bleib immer dicht bei mir, egal, was passiert. Okay?«

Allie, die sowieso nicht vorhatte, ihn so bald wieder fortzulassen, nickte energisch. »Versprochen.«

Er nahm ihre Hand, gemeinsam krochen sie aus ihrem Unterschlupf. Die Angst hatte Allies Sinne geschärft, und als sie in das kühle Wasser glitten, glaubte sie, darin allerlei Dinge zu spüren, die um sie herum schwammen und ihre Haut streiften.

Wie zuvor umfasste Sylvain sie und zog sie mit sich durch die Wellen, doch statt den Strand anzusteuern, arbeitete er sich gegen die Strömung langsam entlang der Felsmole voran, bis sie deren Spitze erreicht und umrundet hatten.

Hier gab es keine verträumte kleine Bucht wie auf der anderen Seite, sondern eine von Wind und Wellen gepeitschte Küste, die bis dicht ans Ufer mit Gestrüpp bewachsen war.

Irgendwo in der Ferne hörten sie laute Rufe. Sylvain biss grimmig die Zähne zusammen, packte sie fester und erhöhte noch einmal die Frequenz seines Beinschlags. Da er jetzt mit der Strömung schwamm, kamen sie rascher voran und erreichten bald das Ufer.

Sobald sie in seichterem Wasser waren und stehen konnten, nahm Sylvain Allie fest bei der Hand, und sie rannten los. Gemeinsam kämpften sie sich durch die Brandung, die so heftig an ihren Beinen zerrte, als wollte sie sie ins Meer zurückziehen.

Bei den ersten Felsen angekommen, hielten sie kurz inne, um Atem zu schöpfen, und spähten ins gleißend helle Sonnenlicht.

Hinter den Felsen parkten die Geländewagen ihrer Bewacher. Gleich daneben blitzte Sylvains knallrotes Motorrad.

Allie hörte Stimmen, die einander etwas auf Französisch zuriefen, doch sehen konnte sie niemanden. Die Leibwächter mussten sich irgendwo zwischen den Felsen versteckt haben.

»Pst!« Sylvain hob die Hand und lauschte angestrengt. Als er sich zu ihr umdrehte, sah sie die Anspannung in seinem Gesicht. »Sie kommen in unsere Richtung. Halt dich bereit.«

Dumpfe Schritte hasteten über den Strand, irgendjemand schrie, ein Schuss fiel.

»Jetzt!«

Sie sprinteten los. Dornige Zweige schlugen gegen Allies Schienbeine, und spitze Muschelsplitter bohrten sich in ihre nackten Sohlen, aber sie achtete nicht darauf und rannte, so schnell sie konnte.

Der grellweiße Sand blendete sie, ihre Kehle brannte wie Feuer. Sie kniff die Augen zusammen und lief weiter, immer auf das rote Motorrad zu, das ihr wie ein Signal entgegenleuchtete.

Rot. Stopp. Gefahr.

Und dann stand es plötzlich direkt vor ihnen. Sylvain schwang sich hinauf und griff hinter sich, um Allie beim Aufsteigen zu helfen. Irgendwo schrien plötzlich aufgeregte Stimmen wild durcheinander. Sylvain warf die Helme beiseite – dafür war jetzt keine Zeit mehr.

Der Zündschlüssel funkelte hell im Sonnenlicht. Beide wussten, was geschehen würde, sobald er ihn umdrehte. Alle würden wissen, wo sie waren, und man würde sie verfolgen – mit gezückten Knarren.

Sylvain drehte sich kurz um und warf Allie aus seinen stahlblauen Augen einen wild entschlossenen Blick zu. »Gut festhalten!«

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Zwei

Mit ohrenbetäubendem Dröhnen sprang der Motor an. Wenn jetzt jemand einen Schuss auf sie abfeuerte, sie hätten es nicht gehört.

Allie schlang ihre Arme fest um Sylvains Hüften und spürte die fast fiebrige Hitze seines Körpers.

Als er Gas gab, schoss das Bike los wie eine Rakete, wie ein wild gewordenes Tier, das versuchte, sie abzuwerfen. Allie presste die Lippen zusammen und klammerte sich mit aller Macht fest, um nicht hintenüberzufallen. Es war, als wollte die Fliehkraft sie von Sylvain fortreißen.

Mit hart gespannten Armmuskeln versuchte er, das Bike auf der holprigen Staubpiste gerade zu halten. Allie wurde heftig durchgerüttelt, ihre Zähne schlugen aufeinander.

Bald tauchte ein Stück voraus die asphaltierte Schnellstraße auf, über die sich dichter Feierabendverkehr quälte. Wenn er sich dort einfädeln wollte, musste Sylvain auf jeden Fall das Tempo drosseln.

Allie duckte sich hinter seinen Rücken und warf einen Blick zurück. In der Ferne erkannte sie ein dunkles Fahrzeug, das sich ihnen mit Höchstgeschwindigkeit näherte. Ihr Herz begann zu hämmern. Sobald Sylvain abbremsen musste, würde es sie einholen.

Immer näher kam die Straße, doch Sylvain machte keinerlei Anstalten, langsamer zu fahren. Plötzlich begriff Allie, dass er das auch gar nicht vorhatte. Offenbar wollte er mit vollem Speed – und vollem Risiko – weiterbrettern.

Sie kniff die Augen zusammen, krallte sich noch fester an ihn und vergrub ihr Gesicht in seinem Rücken.

Als sie auf die Schnellstraße hinausrasten, schnitten sie einen Kleinwagen, der eine Vollbremsung hinlegen musste, um nicht mit ihnen zu kollidieren. Sylvain riss den Lenker scharf nach links, und die Räder schlitterten quietschend über den Asphalt. Allie stieg der Gestank von verbranntem Gummi in die Nase, und dann sah sie plötzlich den Asphalt auf sich zukommen.

Sylvain hatte die Kontrolle über das Motorrad verloren.

Sie schrie, riss den Kopf herum und sah gerade noch, wie ein voll beladener Pick-up von der Straße abkam und auf dem unbefestigten Seitenstreifen hinter einer riesigen Staubwolke verschwand.

Allie hörte Sylvain auf Französisch fluchen, während er mit aller Kraft versuchte, das heftig schlingernde Bike wieder in die Spur zu bekommen. Bei dem Tempo, das sie draufhatten, und ohne Helm oder Schutzkleidung würden sie einen Sturz höchstwahrscheinlich nicht überleben, dachte Allie. Sie presste sich an Sylvain und spürte, wie ihr Herz panisch gegen ihre Rippen pochte.

Mit einem letzten Ruck gelang es Sylvain schließlich, das Bike wieder in die Balance zu bringen. Sofort gab er Gas, und sie brausten weiter.

Allie atmete erleichtert auf und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Ob es ihr eigenes Herz war, das so laut hämmerte, oder seines, konnte sie nicht sagen, doch die feinen Schweißperlen, die sich auf seinen bloßen Schultern gebildet hatten, entgingen ihr nicht.

Er drehte sich kurz um, damit sie ihn hören konnte.

»Alles klar bei dir?«, rief er.

Auch wenn sie sich da nicht so sicher war, nickte Allie stumm. Sylvain duckte sich tief über den Lenker und beschleunigte noch stärker. Undeutlich flog das Meer als großes, blaues Etwas an ihnen vorbei, auf der anderen Seite verschwammen die Felder zu einem Aquarell aus Gold-, Grün- und Lavendeltönen.

Sylvain hatte jetzt alles im Griff und überholte furchtlos ein Auto nach dem anderen.

Wie schnell sie fuhren, konnte Allie nicht sagen, aber es fühlte sich mindestens an wie Tempo 150. Wie kann Sylvain bloß irgendwas erkennen? Ihre eigenen Augen brannten wie Feuer vom heftigen Fahrtwind, der zudem ihr feuchtes Haar in tausend kleine Speerspitzen verwandelte, die ihr ins Gesicht und gegen die Schultern schlugen.

Doch je weiter sie fuhren, desto dichter wurde der Verkehr, und notgedrungen mussten sie die Geschwindigkeit drosseln. Immer wieder scherte Sylvain aus, konnte aber keine Lücke finden.

Trotzdem war Allie nicht beunruhigt. Sie hatten ihre Verfolger abgehängt, und bis zur Villa war es bestimmt nicht mehr weit. Sie hatten es geschafft.

Gerade als sie begann, sich zu entspannen, hörte sie direkt hinter sich das Dröhnen eines hochgepeitschten Motors und wirbelte erschrocken herum. Wie aus dem Nichts war ein schwarzer BMW aufgetaucht und fuhr so dicht auf, dass er beinahe ihr Hinterrad berührte. Durch die getönten Scheiben konnte Allie den Fahrer nicht erkennen. Mit dem glänzenden Lack und dem dunklen Glas wirkte der Wagen wie ein seelenloser Roboter, der Jagd auf sie machte.

Auch Sylvain hatte ihn bemerkt. Allie spürte, wie seine Muskeln sich anspannten, als er einen grimmigen Blick in den Rückspiegel warf.

»Ist das einer von uns?«, schrie sie gegen den Fahrtwind.

Er schüttelte den Kopf.

Allie rutschte das Herz in die Hose. Einer von den anderen also.

Auch ohne Vorwarnung wusste sie, was jetzt kommen würde. So fest sie nur konnte, schlang sie ihre Arme um Sylvain und machte sich auf das Schlimmste gefasst.

Sylvain scherte aus und preschte auf dem schmalen Streifen zwischen den beiden Autoschlangen voran. Wie panische Tiere wichen die Autos hektisch nach allen Seiten aus, wütendes Gehupe begleitete sie wie lang gezogenes Sirenengeheul. Sylvain raste unbeirrt weiter. Hinter ihnen jaulte der Motor ihrer Verfolger zornig auf.

Kreischende Bremsen, ein Knall, ein Scheppern. Fest an Sylvain gekrallt, warf Allie einen kurzen Blick zurück und sah, dass der BMW einen anderen Wagen von der Straße in das Gestrüpp neben der Fahrbahn befördert hatte. Unbeeindruckt gab der Fahrer sofort wieder Gas und heftete sich an ihre Fersen.

»Pass auf!«

Sylvain warf einen kurzen Blick zurück, fluchte, riss den Lenker nach rechts und schoss hinüber auf den schmalen Seitenstreifen. Wie Kugelhagel spritzte der Schotter unter ihnen auf, während sie ein paar Hundert Meter über den unbefestigten Untergrund preschten, so schnell, dass die Autos auf der Straße daneben sich gar nicht zu bewegen schienen. Dann plötzlich bog Sylvain mit einem rasanten Schlenker in eine schmale Allee ein.

Zum Glück war hier kaum Verkehr, denn er bretterte mit Höllentempo durch die vielen engen Kehren. Trotzdem hatte Allie keine Angst. Sylvain hatte bewiesen, dass er das Bike im Griff hatte, sie vertraute auf seine Fähigkeiten. Er würde sie heil hier rausbringen.

Immer wieder blickte sie kurz über die Schulter zurück, doch der schwarze Wagen war nirgends zu sehen.

Und dann tauchte vor ihnen ein mächtiges, schwarzes Metalltor auf. Wie Türhüter parkten links und rechts daneben zwei vertraute Geländewagen. Langsam begannen die Torflügel zur Seite zu schwingen, und durch den Spalt fiel so helles, freundliches Sonnenlicht, dass es Allie vorkam, als hätten sie die Pforte zum Paradies erreicht.

Doch noch stand sie nicht weit genug offen, um das Motorrad hindurchzulassen – fand zumindest Allie. Sylvain schien anderer Ansicht zu sein, denn er hielt ungebremst darauf zu.

Allie krallte ihre Hände in seine Seiten und sprach ein stummes Stoßgebet. Mit nur wenigen Millimetern Abstand zu den Torflügeln zischten sie durch die Lücke und schlitterten den Kies der gepflegten, von Blumenbeeten gesäumten Auffahrt hinauf.

Als Sylvain hart in die Eisen ging, um nicht frontal gegen die Hauswand zu donnern, wurde Allie heftig erst gegen seinen Rücken und dann wieder zurück auf den Sitz geschleudert.

Sylvain stellte den Motor ab. Die plötzliche Stille um sie herum war fast unheimlich.

Geübt sprang er vom Sitz und streckte Allie die Hand hin. »Das Tor steht noch offen. Hier draußen sind wir ungeschützt, wir müssen ins Haus.«

Allie wäre seiner Aufforderung gern gefolgt, doch sie konnte sich nicht rühren. Ihre Knie fühlten sich an wie Gummi, und ihr Magen war wie durchgewalkt.

Wow, war das knapp. Ich dachte echt, wir schaffen’s nicht.

»Ich bin nicht sicher, ob ich schon wieder laufen kann«, gestand sie.

Ein zufriedenes Lächeln erschien auf Sylvains Lippen, als er sich lässig an den Lenker lehnte.

»Ziemlich flottes Tempo, was? Ich hatte mal Unterricht bei einem Motocross-Champion – eine Bedingung meines Vaters, damit ich das Bike bekomme.«

Allie spürte ein irres Lachen in sich hochblubbern. Wie konnte er so entspannt sein, nachdem sie fast draufgegangen waren?

Mit einiger Mühe schwang sie ein Bein über den Sitz und glitt vom Motorrad herunter. Gemeinsam liefen sie die Stufen zur Eingangstür hinauf.

»Gute Idee von deinem Dad«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte nur ein kleines bisschen. »Eigentlich lebe ich nämlich ganz gern.«

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Drei

Dabei hatte der Tag so vielversprechend begonnen – herrlicher Sonnenschein und ein Himmel wie aus blauem Glas.

Es war der Tag vor Allies Geburtstag, sie und Rachel hatten sich jede Menge Sonnenbaden vorgenommen – Rachel natürlich nicht ohne ihr Chemiebuch, weil Rachel nie etwas ohne ihre Schulbücher tat. Sie wollte nach Oxford und dort Medizin studieren, und nichts – nicht einmal Nathaniels Attacke, die die Schule ins Mark getroffen hatte und bei der sie beide verletzt worden waren – konnte sie davon abbringen.

Das Mädel hat eben ein Ziel.

Seit sie in einer kalten Märznacht Hals über Kopf aus der Cimmeria Academy aufgebrochen waren, bekamen sie Fernunterricht. Die Monate auf der Flucht hatten sie zu Expertinnen in Sachen Selbststudium gemacht.

Während sie nachmittags am Pool abhingen, hatte Allie versucht, für Geschichte zu lernen, sich aber einfach nicht konzentrieren können. Es war zwar erst Juni, aber schon heiß wie im Hochsommer, und sie suchte ständig nach Vorwänden, um ihr Buch beiseitezulegen.

Also echt, dachte sie und streckte sich auf ihrem Liegestuhl aus, muss man wirklich am Tag vor seinem Geburtstag büffeln? Ist das nicht so wie am Tag vor Weihnachten lernen?

Über ihrem Kopf segelte eine Möwe wie schwerelos dahin, ohne einen einzigen Flügelschlag. Kein Wölkchen war am Himmel.

Allie linste zu Rachel hinüber, die im Schatten eines großen Sonnenschirms saß und vollkommen in ihre Arbeit vertieft war. Zufrieden stellte sie fest, dass die Narben, die Gabes Misshandlungen auf Rachels Körper hinterlassen hatten, kaum noch zu sehen waren. Vielleicht würden sie irgendwann ganz verschwinden.

Es hatte Wochen gedauert, bis Rachels Albträume nachgelassen hatten. Und sie war beileibe nicht die Einzige, die schlecht träumte.

Allie tastete nach der langen, dünnen Narbe auf ihrer eigenen Schulter. Sie fühlte sich hart an und war immer noch empfindlich. Eine Erinnerung an das, was sie durchgemacht hatte. Und wovor sie davonlief.

Erst hier in Frankreich hatten sie sich wieder halbwegs sicher gefühlt.

Als sie im Anschluss an einen Flug im Privatjet mit einem Konvoi aus Geländewagen auf dem Anwesen eingetroffen waren, hatten sie keinen Schimmer gehabt, wem es gehören könnte. Das massive, schwarze Tor hatte sich geöffnet und den Blick auf eine prächtige Villa freigegeben, mit Mauern wie aus warmem, goldenem Sonnenlicht und einem Mantel aus üppigen, magentafarbenen Bougainvilleen.

Während sie noch in der Hitze gestanden und darauf gewartet hatten, dass der Fahrer ihr Gepäck auslud, war plötzlich die Tür aufgegangen, und Sylvain hatte dagestanden und sie angelächelt – wie ein Stück von Cimmeria, von zu Hause.

Ohne nachzudenken, war Allie die Stufen hinaufgehüpft und hatte sich ihm in die Arme geworfen.

Er hatte nur gelacht und sie an sich gezogen, als wäre es zwischen ihnen ganz alltäglich, sich zu umarmen.

»Mann«, hatte er in ihr Haar geflüstert, »hab ich dich vermisst.«

Später hatte er sie darüber aufgeklärt, dass es sich um den Sommersitz seiner Eltern handelte, und sie überall herumgeführt. Neben dem ausgedehnten Haupthaus beherbergte das Gelände weitere Gebäude mit genügend Platz für die Wachen und Angestellten. Hohe Mauern und die Hügellage schützten es gegen Angriffe von außen.

Es war das perfekte Versteck, und nach einer Woche waren Allie und Rachel sich einig, dass sie nichts dagegen gehabt hätten, hier für den Rest ihres Lebens zu bleiben. Im ungetrübten französischen Sonnenschein fiel es ihnen leicht, das Chaos, das hinter ihnen lag, zu vergessen und sich weder wegen Nathaniel zu sorgen noch darüber, weshalb dauernd irgendwelche Security-Leute um sie herumschwirrten. Weshalb sie das Gelände nie verließen.

Bis an diesem Tag plötzlich Sylvain am Pool erschienen war und den verlockenden Vorschlag gemacht hatte, zur Abwechslung ein bisschen Freiheit zu genießen.

»Ich dachte, ich fahr mal ’n bisschen an den Strand«, sagte er. »Habt ihr Lust mitzukommen?«

Allie zögerte keine Sekunde. »Ist das ein Witz?«, fragte sie. Als er nur grinsend den Kopf schüttelte, sprang sie sofort auf. »Komm schon, Rach. Du musst auch mit.«

Doch Rachel hatte sie nur fortgescheucht. »Fahrt ihr Kinderchen mal alleine«, hatte sie gesagt und sie über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg nachsichtig angesehen. »Ich muss lernen.«

Also waren Allie und Sylvain allein an den Strand gefahren.

Während sie auf Sylvains Motorrad über Land fuhren, hatte Allie mit hungrigen Augen die Schönheit dieser Gegend Frankreichs in sich aufgesogen.

Es ist so idyllisch hier.

Das Problem war nur, dass sie fast schon einen Monat in Frankreich waren, länger als irgendwo sonst, seit sie Cimmeria verlassen hatten. Jederzeit konnte der Befehl zur Weiterreise eintreffen. Und dann das Flugzeug.

Wann würden sie dann wieder hierher zurückkommen? Würde sie Sylvain je wiedersehen?

Doch bisher war der Befehl nicht gekommen, und Allie begann insgeheim, den Traum zuzulassen, sie könnten vielleicht bleiben. Dass Nathaniel sie vielleicht nicht finden würde. Dass er vielleicht einfach nicht wagen würde, sich mit Sylvains Vater anzulegen. Schließlich war Mr Cassel eine mächtige Figur in der französischen Regierung und einer der reichsten Männer Frankreichs.

Doch irgendwo wusste sie auch, dass das nur eine Phantasie bleiben würde. Nathaniel würde sie immer finden.

Immer.

Er hatte vor niemandem Angst.

 

Unter ihren nackten Füßen fühlte sich der Marmorboden eiskalt an. Nach der Hitze draußen kam ihr die Villa vor wie ein Kühlschrank. Gänsehaut lief ihr über Arme und Schultern.

Über ihren Köpfen erhoben sich die sieben Meter hohen Gewölbedecken, an denen sich Ventilatoren mit einem matten, mechanischen Sirren drehten.

»Ich muss zu Rachel«, sagte Allie und wollte sich Richtung Rückseite der Villa wenden, als zwei Wachleute in schwarzen T-Shirts und Shorts in den Raum stürmten. Sie blieben vor Sylvain stehen und sagten rasch etwas auf Französisch zu ihm.

Allie, deren Französisch so lala war, wartete ungeduldig darauf, dass er für sie übersetzte.

Im nächsten Augenblick waren die Männer wieder weitergelaufen. Mit Sorgenfalten im braun gebrannten Gesicht wandte Sylvain sich ihr zu.

»Wie’s aussieht, ist hier alles okay«, sagte er. »Das Haus ist nicht angegriffen worden. Rachel ist auf ihrem Zimmer. Sie sagen jetzt meinen Eltern Bescheid.«

Allie seufzte erleichtert auf. Wenigstens war Rachel okay. Wenigstens das.

Doch Sylvain wirkte keineswegs erleichtert. Immer noch runzelte er sorgenvoll die Stirn.

»Was ist?« Allie sah ihm fragend ins Gesicht. »Ist noch was passiert?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Die haben da was gesagt … Ich hab so ein ganz komisches Gefühl …«

Er musste den Satz nicht beenden. Allie kannte das Gefühl nur zu gut.

»Sie schicken uns fort.« Ihr Ton war sachlich, obwohl es ihr das Herz brach. »Ins nächste sichere Versteck.«

Sylvain nahm ihre Hände. »Das werde ich nicht zulassen«, sagte er entschlossen.

Allie sah ihm in die Augen, die die Farbe des französischen Himmels hatten, und wünschte, es könnte so sein. Doch es konnte nicht so sein. Sylvain fuhr vielleicht Motorrad wie ein Profi, doch selbst er konnte Lucinda Meldrum nicht vorschreiben, was sie mit ihrer Enkelin anstellen sollte.

Selbst er konnte sie nicht beschützen.

»Wir werden müssen«, sagte sie nur. Dann, weil es die Wahrheit war, fügte sie hinzu: »Ich werde dich vermissen.«

Er sah sie sehnsuchtsvoll an, als wollte er etwas sagen und könnte die Worte nicht finden. Sein Blick streifte ihre Lippen wie ein Kuss.

»Allie …«, begann er, doch ehe er den Gedanken aussprechen konnte, kam ein weiterer Wachmann hereingerauscht und rief etwas, das Allie nicht verstand.

Sylvain ließ ihre Hand fallen und sah sie mit einem hilflosen, entschuldigenden Blick an. »Mein Vater. Ich muss gehen.«

»Kein Problem«, sagte sie. »Wir reden später.«

Falls es ein Später gibt, dachte sie melancholisch, während sie ihm nachsah.

 

Nachdem Sylvain und der Wachmann verschwunden waren, lief Allie die elegant geschwungene Treppe mit dem weißen, schmiedeeisernen Geländer hinauf. Oben rannte sie über den luftigen Flur zu einer hohen Doppeltür, drückte sie auf und betrat ihr Schlafzimmer.

Durch die langen, hauchdünnen Vorhänge vor dem bodentiefen Fenster sickerte die Nachmittagssonne herein und tauchte den Raum in ein sahniges Apricot. Allie steuerte um das breite, mit pastellfarbenem Bettzeug bezogene Himmelbett herum schnurstracks auf die Kommode zu. Der weiche, cremefarbene Teppich schluckte ihre Schritte.

Sie zog einen kurzen Rock und ein Tanktop über den Bikini und schlüpfte in ihre Sandalen. Vor einer Holztür, die man leicht für einen Wandschrank hätte halten können, blieb sie stehen und zögerte kurz, dann klopfte sie leise.

»Herein«, ließ sich Rachels gedämpfte Stimme durch das dicke Holz vernehmen.

Allie öffnete die Tür und betrat das benachbarte Zimmer, das im Großen und Ganzen aussah wie ihr eigenes, nur, dass die Vorhänge nicht pfirsichfarben, sondern gelb waren.

Rachel lag auf dem Bett, eingekeilt von Bücherstapeln. Die Brille war ihr auf die Nasenspitze gerutscht, und sie blinzelte Allie darüber hinweg an.

Nur mit großem Widerwillen rückte Allie mit der Neuigkeit heraus. Rachel war so glücklich hier gewesen. So sicher.

Aber niemand ist je wirklich sicher, ermahnte sie sich. Sicherheit ist eine Lüge. Eine Illusion, an die wir uns klammern, damit es uns leichterfällt, uns den tödlichen Gefahren des Lebens zu stellen.

»Besser, du kommst mit runter«, sagte Allie leise. »Nathaniel hat uns gefunden.«

 

»Ihr müsst fort.« Sylvains Vater saß in einem eleganten, weißen Leinensessel. Ihm gegenüber, auf einem langen Sofa im gleichen Stil, hockten Allie, Sylvain und Rachel. »Das war ein ernst zu nehmender Angriff. Ihr hättet dabei getötet werden können.« Er sah seinem Sohn in die Augen. »Nathaniel hätte dich ohne Weiteres getötet, um Allie zu kriegen, das weißt du so gut wie ich. Er wird niemals aufgeben.«

Sylvain zuckte nicht mit der Wimper, doch Allie trafen Mr Cassels Worte, als hätte jemand den Deckel von einem dunklen, tiefen Brunnen geschoben und sie hinabgestoßen. Wie ein böses Echo hallten sie in ihrem Kopf wider.

Nathaniel wird niemals aufgeben. Nie …

»Und wohin sollen wir diesmal?« Rachels Stimme klang normal, doch ihr Blick verriet Allie, wie angefressen sie war. Sie hatten beide genug vom Davonlaufen.

Doch was Mr Cassel dann sagte, überraschte sie beide. »Zurück nach Cimmeria.«

Allies Herz machte einen Satz.

Rachel warf ihr einen ungläubigen Blick zu.

Ist das wahr? Wir können einfach so nach Hause fahren?

Ehe die Sache mit Nathaniel nicht geregelt war, könnten sie nicht in die Schule zurückkehren, hatte Lucinda stets betont. Und geregelt war sie ja nun eindeutig nicht. Was hatte sich also geändert?

»Ist das Ihr Ernst?«, fragte Allie. »Wir dürfen wirklich zurück?«

Etwas abseits, bei den großen Fenstern, die auf den Pool gingen, stand Sylvains Mutter und betrachtete scheinbar ganz gelassen die jungen Leute.

»Bisher hat er euch überall, wo ihr gewesen seid, irgendwann entdeckt«, sagte sie mit ihrer vollen, weichen Altstimme. »Ihr seid nirgendwo wirklich sicher.«

Mr Cassels Stirn verdüsterte sich. »Nicht ganz«, widersprach er und wandte sich an Allie. »Lucinda – deine Großmutter – hat entschieden, dass es für dich in England sicherer ist. Und wir …«, er zögerte, »… wir sind der gleichen Ansicht. Zumindest denken wir, dass du dort nicht in größerer Gefahr sein dürftest als hier. Und es hat den Vorteil, dass du wieder am Unterricht teilnehmen kannst.«

Allie konnte es nicht glauben. Ein Blick zu Rachel, die krampfhaft versuchte, ein freudiges Grinsen zu unterdrücken, sagte ihr, dass sie genauso empfand.

Nach Hause, ich fahr nach Hause!

Sie würde Zoe und Nicole wiedersehen und … Carter.

Allein der Gedanke an ihn machte sie nervös. Sie hatte nie die Gelegenheit gehabt, Auf Wiedersehen zu sagen, die Dinge zu klären.

Sie hatte nie die Gelegenheit gehabt, sich zu entscheiden.

»Wann fahren wir?« Sylvain sah seinem Vater fest in die Augen.

Mr Cassel öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, schloss ihn dann aber wieder, als hätte er’s sich anders überlegt.

Allie sah zwischen beiden hin und her. Sie spürte, dass sie eine Botschaft austauschten, wusste aber nicht, welche.

Schließlich sagte Mr Cassel: »Allie und Rachel fahren noch heute Abend. Falls du dich entschließen solltest, mit ihnen zu fahren … geht’s dann auch für dich los, würde ich sagen.«

»Selbstverständlich fahre ich mit ihnen zurück«, erwiderte Sylvain ungerührt. »Das wisst ihr doch.«

Vom Fenster ließ sich ein leiser Laut vernehmen. Sylvains Mutter sah immer noch nach draußen, die Lippen ganz schmal. Wie stets war sie äußerst elegant gekleidet – mit ihrer weißen Leinenbluse zu grauer Hose und dem blassblauen Paschminatuch um ihre Schultern hätte sie geradewegs einer Modezeitschrift entstiegen sein können.

Doch so traurig hatte Allie sie noch nie gesehen.

»Es wäre uns lieber, wenn du hierbliebest«, sagte Mr Cassel. »Wo wir dich beschützen können.«

Sylvain antwortete seinem Vater schnell und leise. Obwohl Allie in letzter Zeit viel Französisch gesprochen hatte, schnappte sie nur ein paar Wörter auf: »jamais« (»niemals«) und »comprends« (»versteh doch«).

Sein Vater sprang so abrupt aus seinem Sessel, dass Allie erschrocken zusammenzuckte. Er sagte etwas zu Sylvain, was sie nicht verstand, und eilte mit großen Schritten aus dem Zimmer.

»Was hat er gesagt?«, fragte sie und sah Sylvain an.

Mrs Cassel übernahm es, zu antworten, wobei sie ihren Sohn unverwandt ansah. »›Wie du meinst‹, hat er gesagt.«

»Maman …«, begann Sylvain, doch seine Mutter hob die Hand, um ihn zu unterbrechen; ihr weißer Ärmel fiel dabei hinab und entblößte ihr schmales Handgelenk. Ihre Haut hatte die gleiche zartbraune Farbe wie die ihres Sohnes.

»Du musst mir nichts erklären«, sagte sie ruhig, »ich verstehe dich. Aber wir lieben dich, und wir haben Angst um dich.« Ihr Blick wanderte zu Allie und Rachel. »Um euch alle.«

Eine unangenehme Stille trat ein.

»Tja.« Rachel räusperte sich. »Dann sollten wir wohl mal unsere Sachen packen. Und euch allein lassen, damit ihr reden könnt.« Sie stand auf und machte eine auffordernde Handbewegung Richtung Allie. »Komm schon, die T-Shirts packen sich nicht von alleine ein.«

»Stimmt«, pflichtete Allie ihr bei und schnellte vom Sofa hoch. »Und die Hosen, die muss ja auch jemand einpacken.«

Sylvain sah nicht mal auf, als die beiden die Treppe hinaufliefen und hinter sich eine bedrückte Stille zurückließen.

 

Allie hatte schon all ihre Klamotten in Taschen verstaut, als ein Wachmann ihr Bescheid sagen kam, dass sie erst nachts losfahren würden. Wenn sie das Cassel’sche Anwesen einmal verlassen hätten, erklärte der Mann, bräuchten sie freie Fahrt, und dazu war der Verkehr noch zu dicht.

Gegen elf Uhr wurden sie endlich gerufen. Vorm Haus wartete eine Kolonne schwarzer Geländewagen mit eingeschalteten Scheinwerfern und schnurrenden Motoren.

Wortlos küsste Mr Cassel Allie und Rachel auf die Wangen und sagte leise auf Französisch etwas zu Sylvain. Allie bemerkte, wie Sylvain den Kiefer anspannte, während er zuhörte. Dann verschwand sein Vater im Haus.

Mrs Cassel umarmte Rachel.

»Viel Erfolg mit deinen Plänen, Rachel«, sagte sie mit ihrem charmanten Akzent. »Wenn du erst Ärztin bist, käme ich gern mal in deine Praxis.«

»Danke für … einfach alles«, erwiderte Rachel. Sylvains Mutter schenkte ihr ein liebevolles Lächeln.

Rachel ging nach draußen zum Wagen, und Mrs Cassel wandte sich Allie zu.

»Auf Wiedersehen, Liebes.« Sie zog sie an sich. Allie atmete ihren Duft ein, ein betörender Mix aus exotischen Gewürzen und Blüten.

Mrs Cassel trat zurück, hielt Allie aber noch bei den Schultern und sah ihr prüfend ins Gesicht. Da war etwas in ihren warmen, haselnussfarbenen Augen, das Allie nicht deuten konnte. Eine Warnung, vielleicht. Oder Zweifel.

Doch dann ließ sie ihre Hände sinken und sagte nur: »Sei vorsichtig, chère Allie.«

»Das werde ich«, versprach Allie. Dann fiel ihr noch etwas ein. »Und was ist mit Ihnen? Nathaniel weiß, wo Sie sind. Er weiß, dass Sie mir geholfen haben.«

Ihre Sorge schien Mrs Cassel zu rühren. »Wir werden gut beschützt«, sagte sie sanft. »Außerdem ist er ja nicht hinter uns her, Allie.«

So ernüchternd ihre Aufrichtigkeit war, Allie war trotzdem dankbar dafür. Sie folgte Rachel zu den wartenden Wagen.

Jetzt stand nur noch Sylvain an der Eingangstreppe. Durch die geöffnete Wagentür sah Allie ihn leise mit der Mutter reden. Wie immer schmerzte es sie ein wenig, mitanzusehen, wenn jemand eine so enge Bindung zu seinen Eltern hatte. Mit ihren eigenen hatte sie seit Monaten nicht mehr gesprochen, auf der Flucht durfte sie nicht telefonieren. Sie wusste, dass Isabelle sie über die Geschicke ihrer Tochter auf dem Laufenden hielt. Dennoch war es nicht leicht zu akzeptieren, dass sie ihren Eltern nicht so wichtig war, dass sie darauf bestanden, mit ihr zu reden.

Wie das wohl ist, von den eigenen Eltern so geliebt zu werden?, grübelte Allie. Dann schob sie den Gedanken beiseite.

Mrs Cassel schloss Sylvain noch einmal fest in die Arme, ehe sie ihn schließlich gehen ließ. Während er die Stufen zum Wagen hinuntersprang, wischte seine Mutter sich rasch eine Träne von der Wange.

Als Sylvain im Wagen saß und sich noch einmal nach ihr umdrehte, schien sie schon wieder gefasst. Sie hob die Hand und winkte ihnen mit lässiger Eleganz. Als wären sie ganz normale Jugendliche auf dem Weg in eine ganz normale Schule.

Ein Wachmann schloss die Tür des Geländewagens, und Allie hörte, wie die Türen automatisch von innen verriegelt wurden.

Freudige Erregung durchfuhr sie wie ein Stromstoß. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Sie waren auf dem Weg nach Hause.

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C.J. Daugherty, Autorin und Redakteurin, arbeitete zunächst als Gerichtsreporterin, u.a. für die New York Times und als Redakteurin für Reuters. Daneben veröffentlichte sie Reiseführer, zum Teil zusammen mit ihrem Mann, dem Autor und Filmproduzenten Jack Jewers. Zu NIGHT SCHOOL wurde sie durch den Besuch eines alten Internats angeregt. Du darfst keinem trauen ist der Auftakt ihrer insgesamt aus fünf Bänden bestehenden Reihe.

 

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© Christi Daugherty 2014

Published by Arrangement with MOONFLOWER BOOKS LTD

Die englische Originalausgabe erschien bei Atom, an imprint of Little, Brown Book Group, 100 Victoria Embankment, London EC4YODY, an Hachette UK Company, unter dem Titel »NIGHT SCHOOL. RESISTANCE«.

Deutsch von Jutta Wurm und Peter Klöss

Covergestaltung von Carolin Liepins

E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde 2014

ISBN 978-3-86274-225-7

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