Nina spielt Vermittler - Susanne Svanberg - E-Book

Nina spielt Vermittler E-Book

Susanne Svanberg

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Das Baby war klein und zart, eine typische Frühgeburt. Dr. Anja Frey saugte ihm den Schleim aus Mund und Nase und nabelte es mit dem sicheren Griff der erfahrenen Ärztin ab. Behutsam nahm sie das kleine Menschlein auf. Es war ungewöhnlich leicht. Schlaff hingen die dünnen Glieder zu beiden Seiten herab. Während sich die Hebamme um die junge Mutter kümmerte, versetzte die Ärztin dem Kind den obligatorischen kleinen Klaps. Jetzt hätte das Baby schreien müssen. Aber es blieb stumm. Es atmete nicht, lief statt dessen blau an. Eine gefährliche Situation. Höchste Eile war geboten. Frau Dr. Frey legte das Neugeborene auf den Tisch im Hintergrund. Flink und doch mit größter Behutsamkeit schob sie ihm einen weichen, glasklaren Schlauch von geringem Durchmesser über den Kehlkopf in die Trachea. Dieser Schlauch war mit einem Sauerstoffgerät verbunden, das in exakten rhythmischen Abständen eine genau dosierte Menge Sauerstoff in die kleinen Lungen blies. Eine Schwester übernahm die Bedienung des Geräts, während die Ärztin ein Atemstimulans injizierte. Dabei beobachtete sie das winzige Baby, überprüfte den Schlag des kleinen Herzchens, der unregelmäßig und kaum fühlbar war. »Ein bißchen sehr schwach, das Kleine«, murmelte die Schwester mitleidig.

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Sophienlust Bestseller – 25 –

Nina spielt Vermittler

Mami und Papi sollen sich wieder vertragen!

Susanne Svanberg

Das Baby war klein und zart, eine typische Frühgeburt. Dr. Anja Frey saugte ihm den Schleim aus Mund und Nase und nabelte es mit dem sicheren Griff der erfahrenen Ärztin ab.

Behutsam nahm sie das kleine Menschlein auf. Es war ungewöhnlich leicht. Schlaff hingen die dünnen Glieder zu beiden Seiten herab.

Während sich die Hebamme um die junge Mutter kümmerte, versetzte die Ärztin dem Kind den obligatorischen kleinen Klaps. Jetzt hätte das Baby schreien müssen. Aber es blieb stumm. Es atmete nicht, lief statt dessen blau an.

Eine gefährliche Situation. Höchste Eile war geboten. Frau Dr. Frey legte das Neugeborene auf den Tisch im Hintergrund. Flink und doch mit größter Behutsamkeit schob sie ihm einen weichen, glasklaren Schlauch von geringem Durchmesser über den Kehlkopf in die Trachea. Dieser Schlauch war mit einem Sauerstoffgerät verbunden, das in exakten rhythmischen Abständen eine genau dosierte Menge Sauerstoff in die kleinen Lungen blies.

Eine Schwester übernahm die Bedienung des Geräts, während die Ärztin ein Atemstimulans injizierte. Dabei beobachtete sie das winzige Baby, überprüfte den Schlag des kleinen Herzchens, der unregelmäßig und kaum fühlbar war.

»Ein bißchen sehr schwach, das Kleine«, murmelte die Schwester mitleidig. »Hat es überhaupt eine Chance, durchzukommen.«

»Das wollen wir doch sehr hoffen. Das geringe Geburtsgewicht ist kein Problem. Das wird erfahrungsgemäß rasch aufgeholt. Aber atmen muß man natürlich, sonst ist alles vergeblich.«

Durch den lockeren Ton vermied Dr. Frey, daß Panik aufkam. Es hätte in diesem Fall mehr geschadet als genützt. Um die Atmung zu unterstützen, begann die Ärztin mit einer leichten Massage des Brustkorbs. Ganz sanft und doch sehr gezielt berührten ihre Hände die schlaffe, bläulich verfärbte Haut.

Frau Dr. Anja Frey, die zusammen mit ihrem Mann eine Praxis in Wildmoos unterhielt, half gelegentlich in der privaten Entbindungsklinik von Professor Dr. Eberle aus. Nur sehr vermögende Patientinnen konnten sich einen Aufenthalt hier erlauben, denn die Klinik verfügte nur über vierzehn Betten und war entsprechend teuer.

»Die Haut verfärbt sich. Schauen Sie doch nur, Frau Doktor, das Kleine schnappt nach Luft«, ließ sich die Schwester vernehmen.

Anja Frey hatte es längst gesehen. Sie nickte lächelnd. »Ich wußte ja, daß du vernünftig bist«, murmelte sie und zog vorsichtig den dünnen Schlauch zurück. Kaum war dieser draußen, als das Baby seinen ersten Schrei tat. Leise, zaghaft, krächzend, aber doch unüberhörbar. Die Lungen entfalteten sich, der neue Mensch atmete, sein Leben konnte beginnen.

Ein gutes, ein glückliches Leben? Jedes Mal, wenn Dr. Frey ein nacktes Neugeborenes in den Händen hielt, gingen ihr diese Gedanken durch den Sinn.

Immer freute sie sich auf den Augenblick, da sie das kleine Menschenkind seiner Mutter in die Arme legen durfte. Diese erste scheue Begegnung zwischen Mutter und Kind zu beobachten, gehörte zu den schönsten und ergreifendsten Erfahrungen eines Arztes.

Anja Frey nahm ein mollig weiches Tuch, schlug den Säugling darin ein und trat mit ihm ans Bett seiner Mutter.

Sie war jung und gesund. Die Geburt hatte ihr so wenig Schwierigkeiten bereitet, daß man nicht einmal einen Schnitt hatte machen müssen.

Die Hebamme hatte inzwischen die junge Mutter versorgt. Es war alles in bester Ordnung, und deshalb lag sie bereits in ihrem Bett, das man gleich nachher aus dem Kreißsaal in ihr Zimmer rollen würde.

»Meinen herzlichen Glückwunsch, Frau Hanke. Sie haben einen gesunden kleinen Sohn. Er wiegt 2600 Gramm. Für ein Achtmonatskind ganz gut. Trotzdem geben wir ihn für einige Wochen in den Brutkasten.«

Normalerweise sahen die Mütter verlangend auf ihr Kind und rückten bereitwillig zur Seite, wenn sich der Arzt hinunterbeugte, um es ihnen in den Arm zu legen.

Jill Hanke rührte sich nicht. Ihr Gesicht drückte Gleichgültigkeit aus, ihr Blick war finster.

Frau Dr. Frey beugte sich tiefer, hielt der jungen Mutter das Bündel hin, aus dem nur ein faltiges Gesichtchen, das einer Karrikatur ähnelte, hervorschaute.

Die meisten Babys waren unmittelbar nach der Geburt häßlich. Und doch verliebten sich die Mütter spontan in sie, fanden sie wunderschön.

»Ich will das Kind nicht sehen«, erklärte Jill Hanke mit einer Kälte, die Anja Frey erschreckte.

Die Ärztin war selbst Mutter und erinnerte sich noch ganz genau an den Augenblick, in dem man ihr das Töchterchen Felicitas in die Arme legte. Es war der glücklichste Moment ihres bisherigen Lebens gewesen. Daß jemand freiwillig auf dieses Glück verzichten wollte, konnte Dr. Frey nicht verstehen.

Verdutzt sah sie die Wöchnerin an. »Ist ein hübscher kleiner Kerl, ihr Sohn. Blond und blauäugig wie die Mama.«

»Nehmen Sie ihn weg und legen Sie ihn in den Brutkasten«, antwortete die junge Frau ungeduldig. »Ich habe mich lange genug mit ihm herumgeplagt. Jetzt bin ich froh, daß mein Körper endlich wieder mir gehört.«

Anja Frey drückte das Bündel liebevoll an sich. Es war warm und weich. Das Gesichtchen erschien ihr irgendwie traurig.

»Er ist doch so lieb und friedlich, Ihr Kleiner. Die meisten Säuglinge schreien unmittelbar nach der Geburt.«

Frau Dr. Frey blieb unschlüssig stehen. »Aber es ist Ihr Kind. Sie haben es sich doch gewünscht.«

»Das ist meine Sache. Ich bin müde. Kann ich bitte in mein Zimmer?« Jill drehte den Kopf zur Seite. Das Baby schien sie tatsächlich nicht zu interessieren.

Dabei trennten sich die meisten Mütter nur schwer von ihren Kleinen, wollten sie am liebsten bei sich behalten und warteten sehnsüchtig darauf, daß man sie ihnen wieder brachte.

»Die Schmerzen während der Geburt haben Sie vielleicht ein wenig schockiert«, versuchte es die Frau im weißen Kittel noch einmal. »Aber jetzt ist doch alles vorbei. Das Baby kann nichts dafür, es ist ein natürlicher Vorgang. Für den Kleinen war die Geburt mindestens so unangenehm wie für Sie.«

»Hab’ ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt? Der Kleine interessiert mich nicht. Ich hab’ ihn zur Welt gebracht, aber das ist auch schon alles.« Ruckartig drehte sich die junge Patientin mit den langen blonden Locken zur Seite.

»Gut. Wie Sie wollen.« Frau Dr. Frey übergab das Neugeborene der Hebamme. »Ein paar Fragen muß ich Ihnen trotzdem noch stellen, denn die Papiere müssen ausgefüllt werden.«

Jill verzog unwillig das Gesicht, verdrehte die Augen und schaute zur Decke. »Ich habe der Schwester doch schon die Telefonnummer der Krügers gegeben. Sie werden alles weitere erledigen. Unglücklicherweise verbringen sie gerade ihren Skiurlaub in den Französischen Alpen. Aber sie kommen mit Sicherheit sofort zurück, wenn sie erfahren, daß das Kind geboren ist. Das Telefongespräch setzen Sie bitte einfach auf die Rechnung. Es wird alles bezahlt.«

Die Ärztin konnte mit diesen Angaben wenig anfangen. Sie nahm den Fragebogen zur Hand, der auf dem Schreibtisch am Fenster lag. »Es sind da noch einige Positionen auszufüllen. Zum Beispiel der Name des Vaters.«

»Das ist doch bestimmt nicht Ihre Aufgabe, Frau Doktor«, bemerkte Jill schnippisch.

»Professor Eberles Sekretärin ist leider krank. Ich habe versprochen, wenigstens das Ausfüllen der Fragebogen zu übernehmen«, antwortete Frau Dr. Frey. Sie blieb höflich, obwohl sie verärgert war. »Was also kann ich unter dieser Rubrik eintragen?«

»Axel Krüger.« Jill Hanke sah wieder gelangweilt zur Decke.

Dr. Frey schwieg nachdenklich. Der junge Mann, der Jill am frühen Morgen hier abgeliefert hatte und der offensichtlich ihr Freund war, hatte sich als Holger Ruf vorgestellt. Merkwürdig kam ihr das alles schon vor.

Die Wöchnerin bemerkte Anja Freys Zögern. »Textilfabrikant, Stuttgart«, ergänzte sie. »Mehr weiß ich auch nicht. Sie können ihn ja selbst fragen. Er ist sicher morgen hier. Übrigens dürfte Krüger Sport- und Freizeitbekleidung ein Begriff sein.«

»Und wie wollen Sie Ihren kleinen Sohn nennen?«

»Keine Ahnung.«

»Die Angabe wird für die Eintragung beim Standesamt benötigt.«

»Hat das nicht Zeit bis morgen?«

*

»Tante Doktor, bekomme ich auch eine Spritze?« erkundigte sich die kleine Heidi und hüpfte ungeduldig von einem Bein auf das andere. Sie fand es sehr aufregend, im Krankenzimmer behandelt zu werden.

Frau Dr. Frey, die gerade den Raum verlassen hatte, zog den Reißverschloß ihrer Bereitschaftstasche zu.

»Was ich Julia und Mirko gegeben habe, war keine Spritze, sondern eine Vorsorgeimpfung. Du bekommst sie nächstes Jahr.« Lächelnd beugte sich die Ärztin zu dem blonden Mädchen mit den lustigen Schaukelzöpfchen hinunter. Heidi war im gleichen Alter wie ihr eigenes Töchterchen, und deshalb mochte sie die lebhafte Kleine besonders.

»Aber Julia und Mirko sind doch nur ein Jahr älter als ich«, schmollte Heidi und schob die Unterlippe vor.

»Sie kommen im Herbst in die Schule. Du dagegen darfst noch ein ganzes Jahr lang spielen. Das ist doch viel schöner.«

»Hm.« Heidi war nicht ganz zufrieden.

»Komm, ich hab’ auch was für dich. Das ist nur für Vorschulkinder.« Die Ärztin griff in die Tasche und zog einige eingepackte Traubenzuckerdrops hervor. »Langsam lutschen!«

»Danke!« Jetzt strahlte die Kleine. Süßigkeiten waren ihr doch lieber als eine Spritze. Fröhlich hüpfte die Fünfjährige davon.

Anja Frey sah ihr lächelnd nach. Sie kam gerne nach Sophienlust, dem privaten Kinderheim, in dem man Waisenkindern eine neue Heimat gab und ohne bürokratischen Aufwand half, das Leid und Elend elternloser Kinder zu lindern

Auch Heidi hatte vor längerer Zeit hier Aufnahme gefunden, nachdem sie auf tragische Weise ihre Eltern verloren hatte.

»Trinken Sie noch ’ne Tasse Tee mit mir, Frau Doktor Frey?« Denise von Schoenecker, die Verwalterin von Sophienlust, stand an der Tür zum Biedermeierzimmer und sah bittend herüber. Sie war eine sehr schöne, charmante Frau und schon seit vielen Jahren mit dem Gutsbesitzer Alexander von Schoenecker, dessen Ländereien an Sophienlust grenzten, verheiratet.

»Gern. Ich wollte mich ohnehin mit Ihnen unterhalten, wußte nur nicht, ob Sie Zeit haben.« Anja Frey kam lächelnd näher. Zwischen den beiden Damen bestand eine gewisse Ähnlichkeit. Beide verkörperten den Typ der modernen, selbstbewußten Frau, die es verstand, sich jene Anziehungskraft zu bewahren, die den Reiz des ewig Weiblichen ausmachte.

Bei genauerem Hinsehen bemerkte man, daß Anja Frey etwas jünger war, weshalb sie sich gelegentlich auch gerne Rat bei Denise holte. Ihr Haar war heller als das der fast schwarzhaarigen Denise und ihre Gesichtszüge etwas herber.

»Hoffentlich haben Sie bei unseren Schützlingen keine ernsthafte Krankheit festgestellt.« Denise bot ihrem Gast Platz auf der Biedermeiercouch an und servierte den Tee, den eines der Hausmädchen bereits heraufgebracht hatte.

»Nein. Die Kinder sind alle okay. Fabian hustet ein wenig, aber mit Magdas bewährtem Hausmittel kommt das schon wieder in Ordnung. Medikamente möchte ich erst geben, wenn es schlimmer werden sollte. Es ist etwas anderes, über das ich mit Ihnen reden wollte.

Ich hatte am Vormittag eine Entbindung bei Professor Eberle. Es gab keine Komplikationen. Es ist das erste Baby der jungen Frau und sie lehnt es rundweg ab. Ich begreife das nicht.«

»Will sie es zur Adoption freigeben?«

»Das konnte ich nicht von ihr erfahren. Leider hatte ich nicht genügend Zeit für ein längeres Gespräch. Ich wurde abgerufen, da mich mein Mann in der Praxis brauchte. Er mußte einen Hausbesuch machen. Deshalb sollte ich die Sprechstunde übernehmen.«

Frau Dr. Frey seufzte. »Manchmal ist es schon ein bißchen hektisch bei uns. Sie kennen das ja.« Gedankenvoll rührte Anja in ihrer Tasse. »Die junge Mutter, die nichts von ihrem Kind wissen will, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. So etwas ist doch nicht normal. Auch wenn eine Frau die Schwangerschaft ablehnt, stellt sich die Mutterliebe ein, sobald das Baby auf der Welt ist. Meines Erachtens ist das ein Naturgesetz.«

»Sicher, denn ohne diese Liebe wäre nicht gewährleistet, daß unser anfangs so hilfloser Nachwuchs groß wird.« Denise atmete tief durch. Sie erinnerte sich an die Geburtsstunden ihrer beiden Kinder Nick und Henrik. Jedesmal war sie unbeschreiblich glücklich gewesen und hätte sich nicht für alle Schätze der Welt von ihrem Kind getrennt. Jede Mutter empfand so. Ausnahmen gab es nur ganz wenige.

»Diese junge Frau hat ihr Kind überhaupt nicht angeschaut, sondern mir immer wieder erklärt, daß es sie nicht interessiert. Ich kann das einfach nicht glauben. So handelt doch keine Mutter. Wenn sie es schon nicht lieben kann, muß sie doch wenigstens Mitleid mit einem so hilfsbedürftigen kleinen Geschöpf haben.«

»Vielleicht hat sie Schwierigkeiten mit dem Vater. Es könnte sein, daß er sie verlassen hat oder gar das Kind verleugnet. Wenn zu den familiären auch noch berufliche Differenzen hinzukommen, kann so eine Kurzschlußreaktion die Folge sein.«

»Trotzdem kann man doch nicht so herzlich sein, seinen Groll an einem unschuldigen Säugling auszulassen. Diese junge Mutter weiß nicht, was ihr entgeht, wenn sie sich weigert, ihr Baby in die Arme zu nehmen. Sie ahnt wohl nicht, wieviel Trost und Glück so ein winziges Wesen gibt. Wenn man es nur ansieht, wenn man beobachtet, wie es unbewußt den Mund zu einem Lächeln verzieht, die Äuglein öffnet und die Händchen ballt, wird einem doch ganz warm ums Herz. Da kann man doch gar nicht anders, als dieses Wesen zu lieben.«

»Ich weiß, wovon Sie sprechen, Frau Doktor Frey«, meinte Denise, von dem leidenschaftlichen Appell zutiefst berührt. Sie wußte, daß Anja Frey eine gute, liebevolle Mutter war, trotz ihres anstrengenden Berufs.

»Wenn ich nur wüßte, wie man verhindern kann, daß diese Mutter ihr Kind weggibt, ohne sich darüber klar zu sein, daß sie das Kostbarste verschenkt, was es im Leben einer Frau geben kann.«

»Ob es einen Sinn hat, wenn ich einmal mit ihr rede? Ich kann ihr von so manchem Schicksal erzählen. Das gibt ihr vielleicht zu denken.«

Erleichtert sah Anja Frey hoch. »Ganz bestimmt hat es einen Sinn, Frau von Schoenecker. Ich hätte nie gewagt, Sie darum zu bitten, weil ich weiß, wieviel Arbeit Sie haben. Eine eigene, nicht gerade kleine Familie und dann Ihre Schützlinge in Sophienlust. Oft genug wundere ich mich, wie Sie das alles bewältigen.«

»Es macht mir Freude. Vielleicht ist das das ganze Geheimnis.« Denise trank ihre Tasse aus. »Darf ich Ihnen nachgießen, Frau Doktor Frey?«

»Nein, vielen Dank. Es hat richtig gutgetan, aber ich muß weiter. Sieben Hausbesuche liegen noch vor mir. Außerdem habe ich Filzchen einen Spaziergang versprochen.«

»Grüßen Sie die Kleine von mir.« Denise begleitete ihren Gast zur Tür und verabschiedete sich mit freundschaftlicher Herzlichkeit. »Halten Sie mir die Daumen, daß ich bei Jill Hanke etwas erreiche.«

»Bei Ihrem Geschick in solchen Dingen habe ich überhaupt keine Bedenken.« Anja Frey hatte das Gefühl, von einer drückenden Last befreit zu sein. Was Denise von Schoenecker in die Hände nahm, klappte so gut wie immer. Sie besaß die Fähigkeit, Menschen durch ihren Charme und ihr liebenswertes Wesen zu beeinflussen.

*

Gisela Krüger preßte beide Hände in die Magengegend. Jede unangenehme Nachricht verursachte bei ihr stechende Schmerzen. So tapfer sie diese auch ertrug, es ließ sich nicht verleugnen, daß die Beschwerden trotz ärztlicher Behandlung immer schlimmer wurden.

Keine Aufregung, keine Überanstrengung, riet ihr der Doktor bei jedem Besuch. Doch wie sollte Gisela Krüger das vermeiden? Schließlich lebte sie nicht allein.

In einem Geschäftshaushalt wie diesem gab es Ärger genug. Wer konnte da schon Rücksicht auf eine alte Frau nehmen. Einundsechzig Jahre war sie alt, aber sie fühlte sich wesentlich älter. Vielleicht lag es daran, daß sie schon vor zwölf Jahren ihren Mann verloren hatte und seither mit dem ältesten Sohn Axel und dessen Frau zusammenlebte.

Mit zittrigen Knien und unsicheren Schritten ging sie vom Telefon in der geräumigen Diele hinüber ins Eßzimmer, wo man gerade das Mittagsmahl einnahm.

»Martin, kommst du mal?« sagte Gisela, stützte sich dabei am Türrahmen ab und bemühte sich, ihre Stimme normal klingen zu lassen.

Ihr jüngster Sohn widmete sich gerade einer saftigen Roulade und hatte keine Lust, diese Tätigkeit zu unterbrechen. Er sah nicht einmal hoch.

»Hat das nicht Zeit, Mutter? Du weißt doch, wie kurz meine Mittagspause ist. Um eins habe ich schon wieder eine Besprechung.«

»Komm bitte.«

Jetzt erst bemerkte Martin, daß die Stimme seiner Mutter verändert klang. So, als würde es ihr schwerfallen, die läppischen zwei Worte auszusprechen.

Ein bißchen ärgerlich hob er den Kopf. »Was gibt’s denn jetzt schon wieder? Kannst du mir das denn nicht hier sagen?«

Gisela Krüger antwortete nicht, sondern wandte sich ab. Nach allem, was sie eben erfahren hatte, ertrug sie den Anblick der friedlich essenden Tischgemeinschaft nicht.

»Martin Krüger ahnte allmählich, daß etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein mußte. Er stand auf.

»Ich will mit«, erklärte die fünfjährige Nina und rutschte von ihrem Stuhl Nina, die sich selbst ›Nini‹ nannte und auch von allen Familienmitgliedern so gerufen wurde, war ein süßes Geschöpf mit goldblonden Locken und einem reizenden Gesichtchen. Martin war unheimlich stolz auf sein Töchterchen und verwöhnte es entsprechend. Was der Markt an Spielzeug und Kinderkleidung bot, Nini besaß es.

»Bleibe bei mir«, bat die Haushälterin Erna Schott, die rascher als Martin bemerkt hatte, daß es zwischen ihrer Chefin und dem jüngsten Sohn etwas zu besprechen gab, das nicht für Kinderohren bestimmt war.

Gisela Krüger war in das Arbeitszimmer ihres verstorbenen Mannes hinübergegangen. In diesem Raum hatte es schon so manche ernsthafte Unterredung gegeben.

»Die Polizei des Kantons Graubünden hat mich eben angerufen«, stieß Frau Krüger hastig hervor. Zitternd nahm sie in dem wuchtigen Ledersessel hinter dem großen Schreibtisch Platz, drehte ihn aber nicht zur Arbeitsplatte hin, sondern blieb seitlich sitzen, den Kopf gesenkt.

»Warum?« In einem Anflug von Mitleid stellte Martin fest, wie sehr seine Mutter in den vergangenen Jahren doch gealtert war.

»Axel und Helene… sie sind…« Gisela konnte nicht weitersprechen. Ein trockenes Schluchzen schüttelte ihren Körper.

Martin schob alle anderen Gedanken beiseite. Er wußte, daß sich seine Mutter nicht ohne Grund gehenließ. Selbst damals, als sein Vater überraschend an einem Herzinfarkt gestoben war, hatte sie die Nachricht bewundernswert ruhig und gefaßt aufgenommen. Es mußte demnach etwas sehr Schlimmes passiert sein.

»Was ist denn, so rede doch«, drängte Martin ängstlich.

»Sie sind mit dem Wagen verunglückt. Die Straße war vereist. In einer Kurve… ist es geschehen. Ein anderes Fahrzeug kam ihnen entgegen. Beide… beide fuhren zu schnell. Axel wollte ausweichen, vielleicht auch bremsen. Es hat ihn gedreht und dann… dann überschlug sich sein Auto und stürzte eine Böschung hinunter.«