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Zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Faschismus und Kapitalismus – Tommy Wieringas hochaktueller Generationenroman über die Unentrinnbarkeit aus der eigenen Familie Die Zwillinge Hugo und Willem Adema könnten unterschiedlicher nicht sein. Der eine ist ein gefeierter Künstler, der andere leitet das vom Großvater aufgebaute millionenschwere Offshore-Imperium. Doch wer war dieser Großvater, der zuerst auf deutscher Seite kämpfte und sich dann dem Widerstand anschloss? Als seine verschollen geglaubten Tagebücher auftauchen, geht es für alle bald um viel mehr als nur die Vergangenheit. »Nirwana« ist ein schillernder Generationenroman über die bis in die Gegenwart wirkende Verschränkung von Wirtschaft und Faschismus, den Vormarsch der neuen Rechten und die Frage nach Macht und Ohnmacht der Kunst. »›Nirwana‹ gehört zu den Büchern, die man zum Ende hin langsamer liest, weil man nicht will, dass sie enden.« De Standaard
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Seitenzahl: 606
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Die Zwillinge Hugo und Willem Adema könnten unterschiedlicher nicht sein. Der eine ist ein gefeierter Künstler, der andere leitet das vom Großvater aufgebaute millionenschwere Offshore-Imperium. Doch wer war dieser Großvater, der zuerst auf deutscher Seite kämpfte und sich dann dem Widerstand anschloss? Als seine verschollen geglaubten Tagebücher auftauchen, geht es für alle bald um viel mehr als nur die Vergangenheit. »Nirwana« ist ein schillernder Generationenroman über die bis in die Gegenwart wirkende Verschränkung von Wirtschaft und Faschismus, den Vormarsch der neuen Rechten und die Frage nach Macht und Ohnmacht der Kunst. »›Nirwana‹ gehört zu den Büchern, die man zum Ende hin langsamer liest, weil man nicht will, dass sie enden.« De Standaard
Tommy Wieringa
Nirwana
Roman
Aus dem Niederländischen von Bettina Bach
Hanser
für channa, für hazel, für zoë, mi kas di lus
und für john
»Nirwana wird oft als das Verlöschen eines Feuers bezeichnet. Wenn das Feuer aufhört zu brennen, hat es sich ›in Nirwana aufgelöst‹ — seine Bestandteile können nicht mehr entflammen. Aus der Sicht des Feuers mag dieser Zustand steril und leblos erscheinen, aus der der Elemente, aus denen es sich zusammensetzt, bedeutet er im Gegenteil Leben und Kraft. Das heißt also: Wenn die Feuer von Gier, Hass und Verblendung erloschen sind, ist der Geist frei, seine Fähigkeiten voll zu entfalten.«
Das Rad der Wahrheit in Bewegung setzen.
Kommentar zur Ersten Unterweisung des Buddha
AJAHN SUCITTO
Nach jahrelanger Nichtnutzung ist das Schwimmbad zwischen Villa und Waldrand im Sommer 1990 fast täglich in Gebrauch. Die Hitzewelle, die Ende Juli begann und zehn Tage dauerte, ist vorbei; es ist immer noch sehr warm. Am Grund des Schwimmbads steigert ein Junge erneut seinen Unterwasserrekord. Er ist im Juni vierzehn geworden. Die grausame Saison. Als er sich atemlos von den Fliesen abstößt und an die Oberfläche schießt, ist ihm, als würde er sterben, doch das tut er erst in achtundfünfzig Jahren, auf demselben Landgut, zu einer anderen Jahreszeit und unter Umständen, die sich am ehesten als paradox beschreiben lassen. Heute lebt er, der Junge, und wie: Nach Luft schnappend durchbricht Hugo Adema den Wasserspiegel. Er schwimmt zum Rand und hievt sich hoch. Sein Herz hämmert, als er sich bei den Badekabinen ein Handtuch um die Taille schlingt, seine Schulterblätter ragen spitz hervor. Er ist dünn und braun wie ein Eichhörnchen, nur Haut und Knochen. Seit Kurzem kriecht ein Bleistiftstrich aus seiner Badehose zum Nabel.
Seine nassen Fußspuren auf dem warmen Stein verflüchtigen sich schnell. In Gedanken ist der Junge bei seinem neuen Rekord, eine Minute achtundzwanzig, und ansonsten überall und nirgends. Im Telegraaf, der Zeitung seines Großvaters, liest er vom Fall der Mauer, von der bevorstehenden Wiedervereinigung Deutschlands und von dem im Lauf des Monats ausgebrochenen Golfkrieg, doch seine eigenen Kümmernisse sind unvergleichlich viel größer. Die Zukunft liegt im Dunkeln, seit er zu seinen Großeltern geschickt wurde. Die ewigen Streitereien und Prügeleien mit seinem Bruder waren derart aus dem Ruder gelaufen, dass sie jedes Au-pair innerhalb kürzester Zeit an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht hatten. Das, müssen sich seine Eltern gedacht haben, ist eine einfache, elegante Lösung: Er auf das Gut der Großeltern in Wassenaar, sein Zwillingsbruder zu Hause im Groot Haesebroekseweg, keine zwei Kilometer Luftlinie, doch der Ausschluss ist vollkommen. Die Exkommunizierung zog sich ins Unendliche, niemand sprach von einem Enddatum und auch nicht davon, dass sie eines Tages tauschen, dass er nach Hause kann und sein Bruder hier geparkt wird, und er fühlt sich tatsächlich verbannt, als der Ungewünschte der beiden.
Die Hunde fehlen ihm.
Unerträglich langsam schleppen sich die Sommertage dahin, allein mit einer Köchin und zwei in die Jahre gekommenen Menschen, obwohl »in die Jahre gekommen« vielleicht nicht der richtige Ausdruck ist für seine aufgetakelte Großmutter und seinen strengen Großvater. Er, der alte Mann, ist meistens außer Haus, auch mit vierundsiebzig führt er die Firma noch mit fester Hand; der Junge fühlt sich in seiner Abwesenheit wohler.
Nicht nur die Hunde fehlen ihm, auch seine Mutter. Sie vor allem, wenn er ehrlich ist, aber er würde sich eher die Zunge abbeißen, als ehrlich zu sein. Sie hat sich diese Lösung ausgedacht, garantiert. Er wird es ihr nie verzeihen.
Die Sonne brennt, ein wohliger Schauder durchfährt ihn. Am Waldrand gurrt eine Hohltaube, viel bescheidener als die junge Dohle auf der Grasfläche, die mit schriller Stimme und flatternden Flügeln die Elterntiere anbettelt. Der Sprenger beschreibt einen Kreis auf dem Rasen; mehrmals täglich stellt ihn der Gärtner um. Der Mann führt ein verborgenes Leben auf dem Gut, man bemerkt ihn meistens nur am Knattern der Motorsense oder der Kettensäge in der Ferne.
Als Hugo sich umdreht, steht sein Großvater in einem rubinroten Bademantel am anderen Ende des Schwimmbeckens. Er ist aus dem Kellergeschoss gekommen, die Tür steht offen. Hugo bekommt einen Schreck, wie lange steht er da schon? Reglos starrt der Alte ihn an. Mit unergründlichem Blick. Die Brust schimmert weiß unter dem breiten Stoffkragen. Wie auf Befehl geht der Junge am Becken entlang zu ihm.
»Gehen Sie schwimmen, Pake?«, fragt er dümmlich. Die Worte bleiben ihm fast in der Kehle stecken.
»Ich bin immer viel geschwommen, im Meer«, sagt sein Großvater und kneift die Augen zusammen, weil das Wasser so funkelt. »Aber an einem Tag wie heute …« Er zieht den Bademantel aus und legt ihn über die Lehne eines Liegestuhls. Der Junge wendet den Blick ab. Willem Adema, glasiert in Förmlichkeit, der bei Tisch sogar zu Hause Krawatte trägt. Dass sich im Inneren der Anzüge ein Mensch aus Fleisch und Blut verbirgt, erscheint dem Enkel obszön.
Im Gegensatz zu dem Jungen ist der Großvater ausgesprochen interessiert an der Wiedervereinigung Deutschlands und am Golfkrieg, genauso wie an dem schockierenden Zerfall der Sowjetunion und dem Preis für Rohöl, der seit der irakischen Invasion in Kuwait auf einundvierzig Dollar je Barrel geschossen ist — jeden Morgen liegt eine Pressemappe mit den wichtigsten Neuigkeiten der globalen Energiewirtschaft auf seinem Schreibtisch. Er wägt seine Chancen ab, der Generaldirektor der Adema Marine Operations. Die Offshore-Industrie folgt der Weltkonjunktur, die Weltkonjunktur folgt dem Preis und der Verfügbarkeit von Öl und Gas — ein feuriger Tango.
Durch das Ende des Kalten Krieges kommen neue Rohstoffgebiete in Reichweite. Die Eroberung der Erde geht beständig weiter, unablässig spähen Männer wie er in die entlegensten Ecken des Planeten, um zu erkunden, wo sie noch ihre fortschrittlichen Werkzeuge in den Mutterfels pflanzen können. Das ganze Hacken, Bohren und Graben in der Erdkruste kommt einem Gewaltakt gleich, einer symbolischen Vergewaltigung, durch die diese Männer dem göttlichen Auftrag Folge leisten, der dem Menschen zu Anbeginn der Zeiten gegeben wurde: fruchtbar zu sein und sich die Erde und alles, was auf ihr kreucht und fleucht, untertan zu machen.
Als sein Großvater rückwärts die Schwimmbadleiter hinuntersteigt, sieht Hugo eine kleine Tätowierung unter seinem Arm, einen dunklen Kreis auf der weißen Haut. Er schaut noch einmal, der Kreis befindet sich etwa zwanzig Zentimeter unter der linken Achsel. Es kann gar nichts anderes sein als eine Tätowierung, denkt er. Der alte Mann sinkt unter Wasser, taucht prustend wieder auf. Ob der Kreis wohl für Odilia steht, fragt sich der Junge, für den Anfangsbuchstaben des Namens seiner Großmutter, oder war sein Großvater Mitglied eines Geheimbunds mit diesem Kennzeichen? Für Ersteres scheint ihm sein Großvater nicht romantisch genug, mit seiner zweiten Annahme kommt er der Wahrheit, ohne es zu wissen, ein Stück näher.
Die kleine Begebenheit am Rand des Schwimmbeckens würde Hugo sein Leben lang als Beginn von etwas im Gedächtnis bleiben — das Wasser und das Licht, die nagende Traurigkeit und das trotzige Hochgefühl über seine Verlassenheit, auch die Tätowierung unter dem Arm des alten Mannes mit den blassen Augen, an jenem Nachmittag im wärmsten Sommer seit den ersten meteorologischen Aufzeichnungen im Jahr 1705.
Als Hugo Adema im Frühjahr 2016 von seiner Liebsten verlassen wurde und allein in dem Haus an der Herengracht zurückblieb, war Zen-Meditation eine der wenigen Gewohnheiten, an denen er festhielt. Aber nicht gleich, in den ersten Wochen brachte er nichts zustande. Als er sich dann das erste Mal wieder hinsetzte und die Meditations-App aktivierte (drei lange hallende Schläge auf eine Tempelglocke), verspürte er anfangs nur eine derart intensive Steigerung seines Kummers, dass ihm der Schweiß ausbrach und sein Herz ins Stocken geriet. Im Laufe der Sitzung wurde es etwas besser. So — das hoffte er zumindest — würde auch seine Liebeskrankheit verlaufen: allmähliches Abklingen der Qualen nach der Krise, gefolgt von ihrem Erlöschen.
Er aß regelmäßig, ging früh zu Bett — er hielt den Organismus instand. Viel mehr als Online-Nachrichten und Facebook-Posts zu lesen, brachte er nicht fertig; ein Buch oder auch nur ein Essay waren unüberwindliche Hürden, ganz zu schweigen vom Zeichnen oder Malen. Wenn er in die Stadt ging, mied er die Orte, an denen sie oft zusammen gewesen waren, sogar im Ekoplaza tat ihm das Herz weh oder auf der Caféterrasse, auf der sie an einem Sommernachmittag die Menükarte in die Gracht hatten wehen sehen.
Er setzte sich zweimal täglich für zwanzig Minuten in den halben Lotus und machte alles so, wie er es vor Jahren in einem Zendo am Entrepotdok gelernt hatte, trotzdem war er nicht bei der Sache. Er saß die Zeit nur ab und registrierte ergeben sein Selbstmitleid, seinen Groll und die sinnlosen Gedanken; detaillierte Vorstellungen von Rache an seinem Rivalen waren eine willkommene Ablenkung. Nie löste sich der Gedankenstrom in Transzendenz auf, wie früher manchmal, alles blieb schmerzhaft und direkt. Wenn sich aus diesem ganzen Mist überhaupt eine Lehre ziehen ließ, dann die, dass die Angst vor der Einsamkeit unendlich viel stärker ist als die vor dem Tod. Nichts Weltbewegendes, aber für ihn war das neu. Wenn ein Herdentier ausgestoßen wird, geht es rasch elend zugrunde, in Wirklichkeit stirbt es an nichts anderem als an seiner Einsamkeit.
Der November kam, die Präsidentschaftswahlen in Amerika nahten. Das Rennen zwischen Clinton und Trump war unerhört spannend, es stand viel auf dem Spiel. Die Zukunft der freien Welt, die Zivilisation, all die Ornamente, die sich der Westen an die Brust geheftet hatte. Am Tag der Wahlen, Dienstag, dem 8. November 2016, feierte Hugos Großvater Willem Bruno Adema seinen hundertsten Geburtstag. Lang soll er leben, das konnte man wohl sagen.
Am Montag kaufte Hugo ihm bei Hajenius auf dem Rokin eine hundert Jahre alte Zigarre. Der Verkäufer konnte ihm nicht versprechen, dass sie exakt aus dem Jahr 1916 stammte, aber jedenfalls so um den Dreh; das Tabakhaus hatte eine Kollektion alter Zigarren auf Lager, man konnte sie noch gut rauchen.
Ein kalter, grauer Tag, im Osten des Landes hatte es den ersten Nachtfrost gegeben. Eine Zigarre war aus mehreren Gründen eine passende Aufmerksamkeit für seinen Großvater, dachte Hugo auf dem Nachhauseweg. Der alte Adema hatte sozusagen sein Leben lang dem Feuer gedient, erst im Krieg und später im Offshore-Sektor, wo er die fossile Industrie mit wichtigen Neuerungen vorangetrieben und den Weltbrand genährt hatte. Der Abbau von Öl- und Gas war die spécialité de la maison, damit war die Familie in der Quote 500, der Liste der fünfhundert reichsten Niederländer, weit nach oben gerutscht.
Ein Blick auf die Schlagzeilen bei der Buchhandlung Athenaeum am Spui lehrte ihn, dass Hillary Clinton die besten Aussichten auf die Präsidentschaft hatte. Newsweek hatte schon einmal »Madam President« aufs Cover gesetzt. Hugo ließ sich bei Le Pain Quotidien ein Baguettebrötchen mit Gorgonzola einpacken. Ein kalter Wind blies Müll über den Bürgersteig, von den Ulmen wehten Blätter in die Herengracht.
Zu Hause aß er das Brötchen auf einem Hocker an der Kochinsel. Die Metallröhre mit der Zigarre lag vor ihm. Er wusste gar nicht, ob sein Großvater überhaupt noch in der Lage war zu rauchen. Neben den üblichen Altersbeschwerden hatte er zwei Schlaganfälle gehabt, Hugo war längst auf einen Anruf gefasst.
Im Lauf des Nachmittags hängte er Hemd und Anzug raus; das war es dann für ihn an diesem Tag.
Am nächsten Tag nahm Hugo ein Uber nach Wassenaar. Der Fahrer blickte ein paarmal in den Rückspiegel, wagte aber nicht zu fragen, woher er ihn kenne. Bei der Abzweigung zum Landgut blieb er stehen und sah besorgt auf die Schlaglöcher voll Wasser im Sandweg. Er drehte sich halb um und deutete auf seinen Routenplaner. »Es heißt, dass hier kein Weg ist.«
»Das sieht man doch, dass da einer ist.«
»Kein richtiger.«
Leise fluchend stieg Hugo aus und wünschte sich sein Auto herbei, das in der Werkstatt auf ein Ersatzteil wartete. Er umging die Schlaglöcher; der Sandweg zwischen Büschen und niedrigen Eichen wurde vorwiegend von Reitern und Geländewagen genutzt. Vor langer Zeit hatte sein Großvater seine Beziehungen bei der Gemeinde spielen lassen, um zu verhindern, dass der Weg asphaltiert wurde. Willem Adema legte Wert auf Abgeschiedenheit, eine Asphaltstraße würde die bewohnte Welt gefährlich nah bringen. Hugo kündigte sich beim Eingang durch die Gegensprechanlage an, kurz darauf schwangen die schweren Torflügel langsam auf. Unter dem Auge der Kameras an den Bäumen betrat er das Grundstück. Hinter ihm schloss sich das Tor.
Landsitz Oostraven, gegründet von Jakob Veth, Tabakpflanzer in Medan. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war der Pflanzer in die Heimat zurückgekehrt und hatte den Rest seines Lebens dem Mehren und Verschönern seines Besitzes gewidmet. Dort, wo ein paar Wildererhütten auf dem alten Strandwall gestanden hatten, ließ er eine toskanische Villa samt Orangerie und Tennisplatz bauen, später ergänzt durch ein Schwimmbecken und weiße Badekabinen aus Holz.
Hugo trat einen Schritt zur Seite, als sich ein Auto näherte, und drückte den Rücken an die dichte Rhododendronhecke. Ein beigefarbener Bentley blieb neben ihm stehen, das Fenster öffnete sich, und auf der Rückbank fragte eine Frau: »Möchten Sie auch zur Feier? Kann ich Sie mitnehmen?«
Er bückte sich, blickte in den Wagen. »Hallo, Agnès«, sagte er. Aus dem Fenster schlug ihm der Geruch von Patschuli entgegen, den er seit je abstoßend fand.
»Na so was, Hugo persönlich! Oder bist du Willem?« Die Frau lachte. »Los, steig ein.«
»Ich gehe gern zu Fuß. Es ist nicht weit.«
»Wie du willst. Bis gleich!«
Der Bentley fuhr weiter, über oberirdische Baumwurzeln holpernd. Agnès Brouyère, die alte anthroposophische Schreckschraube — plötzlich graute es Hugo vor der Feier.
Bei einer Lücke in den Rhododendren verließ er den Weg und nahm eine Abkürzung durch den Wald. Hundert Hektar Land in Privatbesitz, eingerahmt von dem Sandweg auf der einen und den Dünen auf der anderen Seite. Hohe, alte Buchen, unter ihrer glatten Rinde lagen Wölbungen wie angespannte Muskeln. Er kannte den Wald in- und auswendig, den alten Dachsbau und die Dünentümpel, aus denen Rehe tranken, hätte er blind gefunden.
Er trat aus dem Wald, als das Gelände anstieg. Am Ende der Auffahrt, oben auf dem Strandwall, erschien die Villa mit ihrer strengen Symmetrie, den abwechselnd grauen und sandfarbenen Bentheimer Steinen. Das Mittelportal war zurückversetzt, es sah aus, als lägen Wachtürme zu beiden Seiten. Zwei toskanische Säulen stützten den breiten Balkon, zwischen ihnen stand in Hochrelief das Wort OOSTRAVEN.
Als er das Kutschenhaus passierte, in dem er vor langer Zeit seine ersten Bilder gemalt hatte, überkam ihn nicht Wehmut, sondern die Sehnsucht nach einem Neuanfang, egal, was für einem.
Im Salon waren an die vierzig Menschen versammelt. Familie, Freunde. Hugo blieb in der Eingangshalle stehen und ließ die Szene auf sich wirken. Seine Großeltern saßen, wie Zuschauer bei ihrer eigenen Vorstellung, ganz hinten im Raum, vor den Terrassentüren zur Freitreppe auf der Rückseite des Hauses. Seine Großmutter war inzwischen auch schon neunundachtzig oder neunzig Jahre alt; sie waren aus so starkem Holz geschnitzt, die beiden, dass sie dank Haushaltshilfen und Pflegepersonal immer noch in dem Haus wohnen konnten, das sie 1963 bezogen hatten. Sein Großvater lugte unter seinen schweren Brauen auf die Gesellschaft. Hundert, dachte Hugo, ein Alter, das man mit dem Verstand nicht fassen kann. Dinge werden hundert, Gobelins, Sekretäre, Himmelbetten; Menschen, die hundert wurden, hatte der Tod schlicht übersehen. Eine unvorstellbar lange Zeit lag hinter dem alten Mann — Zeit, in der kein Stein auf dem anderen geblieben war, der ganze Kontinent war umgepflügt worden und wieder auferstanden — und doch saß sein Großvater da, einbalsamiert in seinem Alter. Irgendwo in den Hirnwindungen hinter seinen Augen waren Erinnerungen an sein Jahrhundert gespeichert, Erinnerungen an die dunkelsten Tage dieses Jahrhunderts, den Feldzug über die Steppe im Osten, die brennenden Städte und Dörfer und das schwindelerregende Muster von Narben, die es hinterlassen hatte.
Mit einem Knicks bot ein schwarzberocktes Mädchen vom Catering dem Ehepaar ein Glas Champagner an. Seine Großmutter nahm eins vom Tablett, sein Großvater schien nicht zu begreifen, was von ihm erwartet wurde. Pake und Gran, Sonne und Mond in der Weltordnung der Ademas. Sie war als junge Frau von Curaçao, ihrer Insel im Karibischen Meer, auf seine Werft in Venezuela entführt worden, wohin er sich nach dem Krieg geflüchtet hatte.
Odilia Blum kam aus der Hauptstadt Willemstad, aus einer wohlhabenden Familie von protestant blanku, einer kleinen Gruppe weißer Protestanten auf der Insel; bei der Heirat in der Fortkerk hatte sie nicht geahnt, dass sie mit ihrem gutaussehenden strañero in einem Haus auf Pfählen leben müsste, am Ufer des Maracaibo-Sees, wo der Passat Sumpfgas und die giftigen Ausdünstungen des Rohöls durch die Fliegengitter blies. Ihr Mann, seiner Kriegsvergangenheit wegen nunmehr staatenlos, hatte dort mit Bohrinseln und Hafenanlagen auf dem See und drum herum Pionierarbeit geleistet. Jetzt konnte er kaum noch den Kopf gerade halten.
»Hugo! Was stehst du so versteckt?«
»Hallo, Mizzi«, begrüßte Hugo die zweite Frau seines Vaters.
Sie schleifte ihn in den Salon. »Alle mal herschauen, ihr Lieben, der verlorene Sohn!«
Man klopfte ihm auf die Schultern, eine Hand strich ihm über den Rücken. Karussell von Namen und Gesichtern. Sein Zwillingsbruder Willem — mit steifem Stolz trug er denselben Vor- und Nachnamen wie ihr Großvater — packte ihn bei der Schulter und lotste ihn aus der Menge.
»Na, Alter, lässt du dich mal wieder blicken?«
»Hundert Jahre«, sagte Hugo, »das wollte ich mir doch ansehen.«
Er begrüßte seine Schwägerin Lidewij, fragte: »Wo sind die Kinder?«
»Ach, irgendwo draußen. Oder oben. Die langweilen sich natürlich zu Tode mit den ganzen alten Knackern.« Ein hohes Lachen, bei dem man ihre kleinen Zähne und das Zahnfleisch sah.
Hugo ging zu seinen Großeltern. Das Escher-artig gemusterte Parkett war immer noch auf Hochglanz poliert, wie früher. Er beugte sich zu seiner Großmutter hinunter, umarmte sie. Es fühlte sich an, als umhüllte ihre Goldbrokat-Jacke nur noch Leere, so wenig war von ihr übrig. Ihr Brillengestell pikte ihn an der Schläfe.
»Mi yu«, sagte sie leise an seinem Ohr. »Kontento ku bo t’ei?«
»Kon ta bai, Gran?«, fragte er. »Lange her.«
»Zu lange! Wir haben uns Sorgen gemacht, yònkuman.« Ihre arthritischen Hände umklammerten seine mit aller Kraft. Hugo löste sich von ihr und rückte weiter zu seinem Großvater.
»Herzlichen Glückwunsch, Pake«, sagte er und küsste ihn auf die Wangen. »Auf zur Tausend!«
Sein Großvater roch nach Old Spice und leicht säuerlichem Atem. Mit seinen blassblauen Augen tastete er Hugos Gesicht ab. Vor ihm stand die Kopie seines Lieblingsenkels und Erbfolgers — na ja, zurzeit eine etwas fülligere Kopie, dachte Hugo —, aber es war definitiv nicht sein Liebling. Misstrauisch musterte ihn der Alte, Opfer der Verwirrung Isaaks.
Hugo dachte an den tätowierten schwarzen Kreis, den er an jenem Tag vor langer Zeit beim Schwimmbad unter dem Arm seines Großvaters gesehen hatte; natürlich war es nicht der Anfangsbuchstabe des Namens seiner Großmutter — mit Anfang zwanzig hatte Hugo über die Suchmaschine AltaVista mehr oder weniger zufällig herausgefunden, dass es sich um eine Blutgruppentätowierung handelte, wie sie jeder SS-Mann trug, A, B, AB oder 0, um ihn auf dem Schlachtfeld möglichst schnell medizinisch versorgen zu können. Willem Bruno Adema hatte seine Tätowierung in der Kaserne von Bad Tölz bekommen, kurz bevor er zur Waffen-SS kam und als Untersturmführer an die Ostfront verschickt wurde.
Jetzt, dachte Hugo, mit hundert Jahren, hatte der Kreis eine andere Bedeutung: Er konnte für nichts anderes mehr stehen als für das O von »onsterfelijk« — unsterblich.
Er zog die Zigarrenröhre aus der Tasche. »Eine hundert Jahre alte Zigarre, Pake. So um den Dreh.«
»Seit seinem zweiten Infarkt hat er eine fette Sprachstörung«, hörte Hugo die Stimme seines Bruders hinter sich. »Aber sonst ist er noch topfit, stimmts, Pake?«
Hugo schnitt den Kopf der Zigarre ab und zündete sie an. Als die Spitze gleichmäßig glühte, gab er sie seinem Großvater. Der alte Mann steckte sie zwischen die Lippen und zog unbeherrscht daran. Rauchschwaden waberten ihm ums Gesicht. Er brummelte etwas Unverständliches. Hugo ließ sich aufs Knie sinken, fragte: »Was haben Sie gesagt?« Rasselnd ging der Atem von Willem Adema dem Älteren ein und aus. Sein Enkel erkannte zwei Wörter: »Holunder« und »rasieren«.
»Die Abteilung Niederländisch da drinnen hat einen Schaden abbekommen, meint der Neurologe«, sagte Willem. »Deshalb greift er jetzt zu einer anderen Sprache.«
»Es klingt wie Deutsch.«
»Meistens, ja.«
»Merkwürdig.« Hugo nahm sein Handy und gab es seinem Bruder. »Machst du ein Foto von uns? Am besten gleich mehrere.«
Kurze Zeit später kam Hugo mühsam wieder auf die Beine. Die Brüder sahen zu, wie der alte Mann an der Zigarre zog, als wäre es seine letzte.
»Was ist mit Loïs?«, fragte Willem beiläufig.
Hugo zuckte die Achseln. »Ballade des dames du temps jadis.«
»Papa hat mir davon erzählt. Tut es dir leid?«
Hugo fixierte die Dutzende Rehbock-Geweihe über den Salontüren, sie waren ab Mitte der sechziger Jahre Jahre von seinem Großvater, seinem Vater und deren Jagdfreunden geschossen worden. Sicher auch einige von seinem Bruder.
»Tja, was soll ich sagen.« Es war nicht die richtige Zeit und auch nicht der richtige Ort, um seine seelische Zerstörung zu beschreiben, um zu erzählen, wie er sich an Frühlingsabenden durch die Straße seines Rivalen geschleppt, in Hauseingängen versteckt hatte. Dass er alles gesehen und gehört hatte da oben, obwohl es außerhalb der Reichweite seiner Sinne lag: Ihr Seufzen und ihre Ermunterungen und die geilen Wörter, die früher nur für seine Ohren bestimmt gewesen waren und jetzt seinem Nachfolger zukamen — wie er sein Königreich verspielt hatte. Dass er seither nicht mehr auf etwas hin lebte, sondern nur noch von etwas weg. Ganze Nationen gedachten jahrhundertelang ihrer Niederlagen, in seinem Leben war der 27. April von Trauer umkränzt. Sechs, fast schon sieben Monate her. An jenem Mittwoch, dem Königstag, war sie gegen Mittag mit einem orangefarbenen Bandana um den Hals losgezogen. Nachmittags um vier hatte er zum ersten Mal ihre Nummer gewählt, die einzige in seinem Favoritenmenü. Sie ging nicht ans Handy. Er riss sich zusammen, zumindest am Anfang, aber abends rief er dann minütlich an, unheilvolle Bilder im Kopf. Bestenfalls würde sie rangehen und im lauten Lärm einer Kneipe voller Menschen, die den Königstag feierten, »Sorry, Liebling!« rufen, gefolgt von: »Ich habe es nicht klingeln hören, aber ich bin gleich da.« Doch sie ging nicht ans Handy, auch nicht nachts, und er brachte die dunkelsten Stunden in einem Fiebertraum zu, attackiert von Eulen und Fledermäusen. Erst am nächsten Tag ging sie ran und sagte, sie werde nicht zurückkommen, nie mehr, sie werde es ihm später erklären, jetzt sei nicht der richtige Moment. Danach war sie wieder unerreichbar gewesen, im gefürchteten Flugmodus. Seine Nachrichten blieben ungelesen. Er hätte ihr alles vergeben, doch sie brauchte seine Vergebung schon nicht mehr.
Erst Tage später erfuhr er von ihrer gemeinsamen Freundin Yasmin, dass sie sich in jener Nacht in einen Surferdude verliebt hätte, der bei der Boheme im Ruf stand, jede gewünschte Droge beschaffen zu können.
So hatte also sein Knockout ausgesehen, hart und unerbittlich, aus dem Nichts kommend.
»Schade«, sagte Willem. »Scharfe Braut. Aber du weißt ja, was Papa sagt: Nicht eine Handvoll, sondern ein ganzes Land voll. Bist du schon bei Tinder?«
»Leck mich doch.« Hugo wandte sich der Gesellschaft zu.
Eine Stimme übertönte alles: »Die Russen brauchen einen Zaren, ganz einfach«, sagte ein Mann.
Hugo erkannte ihn, er sah ihn gelegentlich im Fernsehen, es war Geert Lameris, groß im Transportwesen. Neben ihm erkannte er einen Boelens, einen Idzerda, Agnès Brouyère natürlich, die er schon vorhin auf dem Waldweg getroffen hatte — alle drei Kinder von Vätern, die im niederländischen Nationalsozialismus ihre Rolle gespielt hatten. Wahrscheinlich allesamt längst tot und begraben, dachte er, außer seinem Großvater, der hatte das ewige Leben.
»Sieh an«, sagte er zu Willem, »die ganze Bagage gesellig beisammen.«
Agnès Brouyère kam zu ihnen. »Dich will ich doch noch kurz drücken«, sagte sie, »dich seltsamen Kauz.« Und zu Willem, kokett: »Dich hatte ich schon.«
Sie trug eine große Brille mit getönten Gläsern, die Glieder der goldenen Brillenkette klickten neben Hugos Ohr. Er wusste, dass er den Geruch nach Patschuli den Rest des Tages nicht mehr loswerden würde. Nazi-Hippie höhnte er im Stillen. Ihr Niederländisch klang, als hätte sie es erst in vorgerücktem Alter gelernt; aber vielleicht war es ja ein Dialekt aus der Umgebung des salländischen Jagdschlosses, in dem sie mit ihrem ebenfalls kinderlosen Bruder lebte.
»Wer war ihr Vater noch mal?«, fragte Hugo seinen Bruder, nachdem sie zu den anderen zurückgekehrt war. »Der Henker von Zwolle? Oder der von Deventer? Einer von denen, oder?«
»Hör mal«, sagte sein Bruder. »Benimm dich, bitte!«
Hugo schmunzelte. »Früher hast du mir die Finger gebrochen, heute bittest du mich wenigstens höflich.«
Willems Grinsen mit gebleachten Zähnen. »Du hattest es verdient.«
Ein Stück weiter blaffte Lameris: »Erdogan ist demokratisch gewählt worden, wie Putin. Ein demokratisch gewählter Zar. So schlecht sind die Herren also scheinbar nicht für ihr Land.«
Der Mann, dem er diese Dinge sagte, hatte ein dezentes, scharfsinniges Gesicht; sicher irgendein Finanzgenie, dachte Hugo, vielleicht lenkt er ja in einem Büro im Zuidas die Geschicke der Adema-Holding.
Kurz darauf trat ihr Vater ein, er kam schnurstracks zu Hugo und umarmte ihn. »Hugo! Wann habe ich dich das letzte Mal gesehen? Lieber Himmel.« Er nahm ihn bei den Schultern und schob ihn ein Stück von sich, um ihn besser mustern zu können. »Beim Stapellauf der Njord, vielleicht?« Hilfesuchend sah er zu Mizzi, die neben ihm aufgetaucht war. Hugo musste an das Gruppenfoto denken, das nach den Feierlichkeiten gemacht worden war, in der Mitte Prinzessin Mabel, die das Schiff getauft hatte. Aber der Blickfang war Loïs, sagenhaft anziehend in ihren roten Louboutins, einen Mantel um die Schultern.
Sein Vater sah gut aus, jung für sein Alter. Er war der Erste, den Hugo kannte, der sich das Gesicht hatte machen lassen — die Narben hinter den Ohren, sozusagen die Abnäher, waren lange sichtbar geblieben. Spritzte er immer noch Testosteron?
»Wenn sie vernünftig sind, wählen sie heute Trump«, erklang wieder Lameris’ Stimme. »Eine Frau in dieser Position, ich darf gar nicht dran denken!«
»Genug, Geert, wir wollen es hier nett haben, ja?«, fauchte Mizzi in seine Richtung. Und auf ein Zeichen der Cateringdame am anderen Ende des Raums: »Wir können zu Tisch, Ihr Lieben!«
Nach der Vorspeise aus Avocado mit Garnelen verließ Hugo das Esszimmer und ging die breite Eichenholztreppe hinauf. Mit einem beklemmenden Gefühl öffnete er im ersten Stock die Tür seines ehemaligen Jugendzimmers — der Muff nahm ihm den Atem. Ein schummriger Raum, kaum etwas erinnerte noch an seinen Aufenthalt dort. Er ließ sich aufs Bett fallen. Mit dem Geruch der feuchten Decke in der Nase lauschte er den Geräuschen im Haus. So hatte er als Junge dem knarrenden Fußboden im Flur gelauscht — etwas bewegt sich in diesem Mausoleum und atmet, und ein Jungenherz klopft und schnürt sich vor Angst zusammen.
Er setzte sich auf. Drei Jahre hatte seine Verbannung nach Oostraven gedauert, unbeständige Zeit, Jahre ohne Rahmen. Später begriff er, dass es seinem Großvater lieber gewesen wäre, Willem im Haus zu haben, er hatte in ihm schon früh einen potenziellen Nachfolger erkannt — in seinem Enkel, nicht seinem Sohn, das Talent hatte eine Generation übersprungen. Doch seine Eltern hatten ihn geschickt, Hugo, den Letztgeborenen, elf Minuten nach seinem Bruder zur Welt gekommen.
Nach und nach entdeckte er, dass er nicht der einzige Heimatlose in Oostraven war, auch seine Großmutter war heimatlos, aber auf andere Weise. Wenn sie allein waren, sprach sie ihre Muttersprache Papiamentu mit ihm. Ihr Mann konnte es kaum ertragen, sie beim Telefonieren mit ihrer Familie in Übersee diese »Affensprache« sprechen zu hören, schlimm genug, dass sie einen antillischen Akzent hatte, der sich nie ganz verbergen ließ. Bei der Heirat, erzählte sie immer wieder, war sie noch so verspielt gewesen wie ein kleines Mädchen. Was weiß so ein Kind schon, wollte sie damit sagen, sie hatte keine Vorstellung von dem Leben gehabt, das sie in fernen Ländern erwartete, zuerst in Venezuela und später in den Niederlanden. Es lag so unfassbar viel Meer und Himmel zwischen diesem Haus an der Nordsee und ihrem Elternhaus in Willemstad, dass sich einem der Kopf drehte. Natürlich konnte sie ein- oder zweimal im Jahr hinreisen und ihre Lieben zu Hause besuchen, doch der Abstand ließ sich nie ganz überwinden — durch ihr Weggehen hatte sie sich selbst ausgeschlossen und konnte, wie sie sagte, nur noch durch ein kleines, schmutziges Fenster hineinschauen.
In ihrer Ahnenreihe gab es holländische Kapitäne und französische Soldaten und garantiert auch den einen oder anderen verirrten versklavten Afrikaner, nichts Besonderes in dem Schmelztiegel einer Insel wie Curaçao, denn als Sohn Max Bruno 1950 zur Welt kam, in einem hochmodernen Krankenhaus in Caracas, fluchte ihr Mann beim Anblick seiner krausen Haare und seines dunklen Teints. Willem Bruno Adema hatte sich bei der Heirat mit einem weißen Inselmädchen nicht klargemacht, dass es in der Karibik keine Garantie für unvermischte Gene gab — die DNA der Inselbewohner steckte nun mal voll Ironie. Doch trotz des afrikanischen Vorfahren, der geduldig auf seine Chance gewartet hatte, um sich in Max Bruno zu zeigen, war der, mit seinen in zunehmendem Alter immer ausgeprägteren Adema-Zügen, unleugbar der Sohn seines Vaters.
In den drei Jahren in Oostraven fühlte Hugo sich in diesem Haus mit den alten Menschen fehl am Platz; stur paukend hockte er an seinem Schreibtisch am Fenster mit Blick auf den Wald, aus dem nachts dumpfe Eulenrufe drangen. Im alten Kutschenhaus richtete er sich ein Atelier ein, zeichnete und malte dort. Er zerbrach sich den Kopf über die schnellste Fluchtroute und meldete sich mit knapp siebzehn zum Vorbereitungsjahr an der Kunstakademie in Den Haag an. Er ließ eine Zeit hinter sich, an die er nicht gern zurückdachte, das galt auch für sein holzgetäfeltes Zimmer im ersten Stock der Villa; vergeblich hatte er manches Mal in dem Haus nach einem weiteren lebendigen Wesen gesucht.
Er stand auf und kehrte zur Jubiläumsfeier zurück. Eine Blase voller Stimmen und Tischgeräusche platzte ihm entgegen, als er in das Esszimmer trat, in dem das Early Dinner serviert wurde. Bei Tisch sagte sein Gegenüber: »Gerade eben hat dein Vater eine sagenhafte Rede gehalten.« Es dauerte einen Moment, bis er in dem Mann mit den schlaffen Gesichtszügen den jungen Mann erkannte, mit dem er früher auf dem Gut gelegentlich Tennis gespielt hatte: Hendrik Seegers van Rhijn, etwa zehn Jahre älter als er. Hendriks Mutter war eine Adlige, die im Krieg mit seinem Großvater hatte anbandeln wollen. Sie war die Leiterin der niederländischen National-Sozialistischen Frauenorganisation und hatte freundschaftliche Beziehungen zu Reichsführer Himmler persönlich unterhalten. Nach dem Krieg hielt sie sich ein paar Jahre im Teutoburger Wald bedeckt und bekehrte sich nach ihrer Rückkehr in die Niederlande — wie Willem Adema kam sie Anfang der sechziger Jahre wieder her — zur Makrobiotik und Anthroposophie. Sie gründete eine Meditationsgruppe in Zeist, wo wahrscheinlich niemand etwas von ihrer finsteren Vergangenheit ahnte. Mit fünfzig wurde sie nach dem Besuch bei einem Schweizer Wunderheiler doch noch schwanger — dieses heiß ersehnte Kind saß Hugo nun gegenüber. Ihm schien, Hendrik hätte Oostraven früher gelegentlich für mehrere Tage besucht, zusammen mit seiner Mutter — auch sie vermutlich längst tot.
Seine Großeltern saßen am Fenster, sie konnten die ganze Gesellschaft überblicken. Schräg hinter seinem Großvater saß seine Pflegerin, eine ältere blonde Frau, die ihm das Fleisch schnitt und diskret die Essensreste vom Schoß entfernte.
»Läuft bei dir, oder?«, sagte Seegers van Rhijn aufgeweckt. »Ich sehe dich überall, letztens noch im Financieele Dagblad, da gab es einen Artikel über deine Ausstellungen im Ausland.«
Hugo lächelte gequält. »Eine Zeitlang lief es gut. Wie das jetzt ist, weiß ich nicht, ehrlich gesagt, aber eine Zeitlang lief es ziemlich gut, das kann ich nicht leugnen.«
Zu seiner Überraschung sah er seinen Großvater am anderen Ende des Tisches langsam aufstehen. Als er das schließlich geschafft hatte, klammerte er sich mit beiden Händen an die Tischplatte. So blieb er stehen, ein krummgewachsener Divi-Divi-Baum; schlagartig verstummten die Gespräche. Der Hundertjährige ließ den Blick über seine Gäste schweifen. Hugo dachte an die sechzig Jahre, die zwischen ihnen lagen: Der Stammesälteste war 1916 geboren, er 1976, alles, was im zwanzigsten Jahrhundert von Bedeutung war, hatte sich zu Zeiten seines Großvaters ereignet. Im Großen und Ganzen, dachte Hugo, verhielt sich sein Großvater zu ihm wie Prometheus zu Epimetheus, wie der Vorausschauende zu dem, der zurückblickt. Als junger Mann hatte sich sein Großvater einer zerstörerischen, unheilvollen Ideologie gewidmet, Hugo dagegen war in einer Zeit aufgewachsen, die aus deren Trümmern entstanden war. Erbarmungslos hatten Willem Adema der Ältere und seine Kameraden in den Lauf der Geschichte eingegriffen, und während Hugo zu seinem schweigenden Großvater schaute, wurde ihm bewusst, dass er gern die Weisheit besäße, diese Vergangenheit zu verstehen. Die kontaminierte Vergangenheit, die auch ihn, den Enkel, noch verfolgte. Von dem in die Luft gereckten Arm und dem »Heil Hitler« der älteren Jungen auf dem Schulhof bis hin zu Kritiken seines Werks, in denen sie erwähnt wurde — die Vergangenheit war nie weit weg.
Er war ihr lange aus dem Weg gegangen, hatte sich meist mit dem begnügt, was in der Familie erzählt wurde. Er wusste, dass das nicht genügte. Wenn man eine Perle sucht, sagt Meister Cijiao, ist es das Beste, zuerst die Wogen zu glätten. Wenn das Wasser der Konzentration still und klar ist, zeigt sich die Perle von selbst.
Wann war das Wasser still und klar genug?
Sein Großvater ließ den Blick spähend über die Anwesenden schweifen. Seine Arme zitterten vor Anstrengung. Hugo erinnerte sich, dass er früher oft in den fleckigen alten Schädel eindringen wollte, um sich seine Erinnerungen anzueignen, um das alte Europa zu sehen, das sein Großvater in jungen Jahren durchquert und unterworfen hatte. Jeder Mensch war ein Geheimnis, und dieser alte Mann bestand aus mindestens drei Menschen, die jeweils ein unterschiedliches Leben geführt hatten. Hugos Großmutter beobachtete besorgt, wie ihr Mann mit reiner Willenskraft die Zeit dehnte, sein Lied ohne Worte dann mit einem Nicken beendete und sich mithilfe seiner Pflegerin wieder setzte.
»Bravo!«, rief Geert Lameris, und danach wurde ein »Lang soll er leben« angestimmt, alle standen auf, hoben die Gläser und sangen für den Jubilar. Anschließend prasselte das »Hurra! Hurra!« auf den Hundertjährigen nieder, und niemand ahnte, dass es im Kopf des Alten widerhallte wie das Echo des wilden Schlachtrufs, mit dem die Russen an der Front aus ihren Verstecken gestürmt waren und dann zu Tausenden zugleich niedergemäht wurden.
Nach dem Dinner wurde im Salon noch ein Digestif serviert. Die ersten Gäste verabschiedeten sich schon. Aus den Gesprächen schloss Hugo, dass der Auftritt seines Großvaters als Dank verstanden wurde, als Zeichen, dass sein Verstand »genauso scharf war wie früher«, doch Hugo hatte er an den Abendappell erinnert: Untersturmführer Adema, der ein letztes Mal seine Truppen inspiziert. Nicht, wie seine Schwägerin Lidewij sagte, »um jedem einen kleinen Moment der Aufmerksamkeit zu schenken« (sie hatte von jeher geklungen wie die dressierten Schnepfen in der Teewerbung), nein, er prüfte die Loyalität jedes Einzelnen. Sein Leben lang hatte er Getreue um sich geschart, die ihm Bewunderung und Respekt zollten.
»Gehst du schon wieder, Hugo?«, fragte sein Vater. »Wir trinken noch ein Gläschen im Salon.«
Hugo sagte, ihm bleibe gerade noch Zeit für einen Spaziergang in den Dünen.
»So spät? Wie du meinst. Verfolgst du das ein bisschen, mit der Boreas? Solltest du unbedingt tun, es ist das Größte, was wir je gemacht haben.«
Hugo nickte nur, er hatte keine Lust, über das Schiff zu sprechen, das sein Bruder bauen ließ, das größte Schiff aller Zeiten, das im Auftrag der mächtigen Energiegesellschaften die Weltmeere befahren würde. Er müsse jetzt wirklich los, sagte er, sonst würde er die Hand nicht mehr vor Augen sehen. Er knöpfte den Mantel zu und ging nach draußen. Es war heller, als es von drinnen ausgesehen hatte.
Hinter dem Haus, am Fuß der halbrunden Steintreppe, sah er zum Salon hoch, Gestalten bewegten sich in goldenem Licht. Seine Großeltern waren schon in ihren Zimmern, durch Alarmknöpfe und Notstrippen mit dem Pflegepersonal verbunden. Auf dem Weg zum Waldrand sah Hugo das für den Winter abgedeckte Schwimmbad. Farbe blätterte von den Badekabinen, das Holz war von Schwamm angegriffen. Im Wald vervielfachte sich das Grau zwischen den Baumstämmen. Er fand die Stelle in der Westmauer mit den Vorsprüngen in den Steinen, die ihm früher als Tritte gedient hatten. Heute fiel ihm das Hochklettern einiges schwerer; bis er auf der Mauerkrone saß, war er außer Atem. Auf der Sandpiste unter ihm durften nur die Geländewagen der staatlichen Forstverwaltung und des Wasserversorgers Dunea fahren, das Naturschutzgebiet war nicht öffentlich zugänglich. Vor ihm erstreckte sich die Dünenlandschaft. Wenn er sich beeilte, wäre er noch vor dem Dunkel der Nacht am Meer. Er nahm enge Wildpfade zwischen Heidekraut und niedrigen Büschen, lange Brombeerranken verhakten sich in seinen Hosenbeinen. Bald klebte ihm das Hemd am Körper. Abscheu vor seiner schlechten Kondition. Gänse flogen schnatternd über ihn hinweg. Er konnte sie nicht sehen, nur hören. Er dachte an das alte Foto von Loïs und ihm, dürr und unvergleichlich, auf dem Flachdach ihrer Finca in Ibiza, die untergehende Sonne im Rücken, kurz bevor sie Hand in Hand in den Pool sprangen — glückliche Kinder. Das Foto hatte eine gewisse Bekanntheit erlangt, unter anderem durch einen Dokumentarfilm, in dem es prominent gezeigt wurde — in den Augen der Menschen versinnbildlichte es den Hedonismus seiner Künstlergeneration. Wahrscheinlich zu Recht. Es war zu schön, um wahr zu sein, und doch waren sie das gewesen, hoch über der Welt, Imazighen — freie Menschen.
Um die Erinnerung zu vertreiben, intensivierte er seinen Gewaltmarsch. Er hörte ein Pferd wiehern, sah es bald darauf; es war ein Konik. Das Pferd wieherte erneut. Aus der Ferne kam die Antwort. Der Konik trabte los und verschwand hinter einer Düne, wo er sich wohl seiner Herde anschließen würde. Hugo hielt sich möglichst weit oben, um die feuchten Dünentäler und Schilfsümpfe zu umgehen. Er nahm sich vor, sein Leben in den Griff zu bekommen und wieder fit zu werden. Neue Werke zu erschaffen. Er stand etwa in der Mitte seiner Karriere, einer elenden Phase, und in seinem Fall hieß das: alles oder nichts. War Loïs wirklich fast sieben Monate Trauer wert gewesen? So kostbar kann eine Muschi gar nicht sein, hatte ein Dichter einmal geschrieben, doch ihn machte schon der Gedanke an ihr blondes Geschlecht krank vor Kummer.
Inzwischen stand er am Fuß der Betonmauer, die die Landschaft über eine Länge von mehreren Hundert Metern zerteilte. Die 1942 errichtete Panzermauer stand quer zum Meer. Zwei Meter breit und Teil des Atlantikwalls wie die Bunker und Drachenzähne in der Umgebung. Das meiste war noch erhalten, wenn auch stellenweise unter Sand begraben und mit der Landschaft verschmolzen. Die Mauer oben auf der hohen Dünenreihe sah aus, als wäre sie mit Graffiti überzogen, doch die gespenstischen weißen Figuren waren Kalkausblühungen von Regenwasser, das durch die Risse im Beton sickerte. Am Fuß der Dünen standen symmetrisch angeordnete Drachenzähne, die erste Verteidigungslinie gegen die Panzer. Die Schattenseite der kleinen Betonpyramiden war mit Moos bewachsen, doch ihr Rand war noch so scharf wie an dem Tag, an dem sie aus der Verschalung kamen. Wie sie da in Reih und Glied standen, erinnerten sie ihn an das Holocaust-Denkmal in Berlin, aber in Miniatur. Alles umsonst, der Angriff war anders verlaufen. Die Vergeblichkeit eines unerprobt gebliebenen Verteidigungswerkes.
Willem und er hatten häufig hier gespielt, obwohl sie sich gar nicht so weit vom Haus entfernen durften. Wie oft war er hier gefallen, wie oft sein Bruder? Inmitten des Strandhafers hatte ihre Feindschaft die Gestalt nervenaufreibenden Anschleichens und nachgeahmten Maschinengewehrknatterns angenommen. Wenn er zwischen den Drachenzähnen auf der Lauer lag, hatte ihn die geheimnisvolle Nähe der Vergangenheit immer zum Schaudern gebracht. Ein scharfer Befehl, eine durchgeladene Waffe, so klang das Ende, das er sich vorstellte.
Die Mauer sollte schon lange abgerissen werden, stand aber noch, genauso wie sein Großvater. Mittlerweile bot sie Fledermäusen und seltenen Moosen ein Zuhause, der Schädel seines Großvaters dagegen war mit Flecken, Zysten und kleinen Warzen getüpfelt. Die weißen Narben auf seinem Gesicht stammten von Granatsplittern bei den Metzeleien an der Ostfront.
Monoton seufzend streicht der Wind durch den Strandhafer. Er kann gerade noch das hellgrüne Moos zu seinen Füßen erkennen, die Heidesträucher haben ihre lila Färbung schon verloren. Sein Blick tastet den Raum ab. Es ist nicht zu sehen, ob der dunkle Buckel da vorn ein großer Höcker Heidekraut ist oder ein schlafendes Pferd. So waren die ersten Geschichten entstanden, im Nebel oder im Schatten des Zwielichts, in dem unbeständigen Gebiet, wo eins zum anderen wird. Metamorphosen.
Nur wenige Dünen trennen ihn noch vom Strand. Atemlos und mit den Schuhen voll Sand überquert er bald darauf die letzte hohe Düne. Flut, Wellen ganz nah. Er späht auf die dunkelgraue Höhlung über dem Meer. Kein Horizont, kein Halt, nur Wellen, die ihm zischend vor die Füße spülen.
Wider Erwarten gewann nicht Hillary Clinton die Wahl, sondern Donald Trump, wie er am nächsten Morgen in den Nachrichten sah. Nach zwei Wahlperioden von Obama, diesem kultivierten Gentleman, trat nun ein absoluter Parvenü seine Nachfolge an, dessen Leben im Zeichen unbarmherzigen Wettbewerbs stand. Den Reaktionen auf diese Nachricht nach zu urteilen, waren alle schockiert, doch in Hugos Augen war das Wahlergebnis die logische Konsequenz einer Welt, die immer jünger wurde, jünger und infantiler. Aus Erwachsenen waren ergraute Kinder geworden, verblühte Teenies. Sein Vater und seine Mutter modellierten sich dank kosmetischer Eingriffe nach jugendlichem Vorbild, und er betrachtete auch Donald Trump, obwohl der in seinen Siebzigern war, als perfekten Ausdruck des um sich greifenden infantilen Verhaltens. Trump hatte eine schwache Emotionsregulation, seine Wutattacken waren die eines Kleinkinds. Er diente keinem anderen als sich selbst. Dieser Gott, dieses eine Wort: ICH. Der Welt stand nicht viel Gutes bevor, und doch hatten die Menschen selbst diese Richtung gewählt, mit ihrer Anbetung des reinen Kapitalismus, seines öden Glanzes im Zentrum des Firmaments.
Hugo zog sich an und ging mit Butterbroten und Kaffee in sein Atelier. Das große, helle Dachgeschoss war einer der Gründe, weshalb er das Haus gekauft hatte. Ein Kakaofabrikant hatte den Raum in den Dreißigern für seine malende Ehefrau ausbauen lassen, mit hohen Atelierfenstern nach Norden. Hugo liebte den grau verwitterten Dielenboden, die altmodische Holztäfelung. An der Wand lehnten die Bilder, die er nach Loïs’ Weggang angefangen hatte zu malen, doch frischer Schmerz war kein guter Ratgeber. Alles Mist. Er unterdrückte den Drang, die Bilder zu zertreten und die Keilrahmen zu zersplittern — es hatte genug dramatische Gesten gegeben. Er wollte so gern etwas Neues schaffen, etwas, was seinem Leben eine neue Richtung geben würde. Seit seiner Zeit in Oostraven war es ihm immer leichtgefallen, Dinge zu erschaffen — Zeichnungen waren zu Gemälden geworden, Gemälde zu Objekten (er schweißte gern), Schweißarbeiten zu Filmen, bis er schließlich zur Malerei zurückkehrte; er hatte gemalt, wie er atmete. Das alles hatte schlagartig aufgehört. Kürzlich hatte er sogar seinen letzten Assistenten entlassen; in den guten Jahren hatten zwei Assistenten und ein Praktikant im Souterrain gearbeitet.
An seinem Arbeitstisch betrachtete er die Fotos, die sein Bruder von seinem Großvater und ihm gemacht hatte, und druckte eines im A5-Format. Es war ein kraftvolles Bild, der Großvater, in grimmigem Alter erstarrt, und der vor ihm kniende Enkel. Zigarrenrauch waberte um den Kopf des Alten, seine Frau neben ihm zeigte jemandem lächelnd ihre großen, künstlichen weißen Zähne. Hugo schnitt seine Großmutter ab und schwärzte das Jackett seines Großvaters. Auf die Schultern zeichnete er Kragenspiegel und Schulterstücke mit der doppelten Siegrune. Was für eine Entfremdung durch den uralten, päpstlichen Schildkrötenkopf über der Herrscheruniform — es gab keine SS-Männer, die so alt waren wie die alliierten Veteranen bei Gedenkfeiern des D-Day oder der Operation Market Garden, dafür hatte man sie zu früh zur Rechenschaft gezogen. Er pinnte das bearbeitete Foto an die Wand. Vielleicht ließe sich etwas damit anfangen, vielleicht auch nicht, er war sich bei nichts mehr sicher.
Er meditierte und las den restlichen Vormittag Nachrichten und Hintergrundberichte. Regierungsführer, die zähneknirschend dem neuen Präsidenten gratulierten und mit Nachdruck die Erwartung äußerten, dass die alten diplomatischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen zwischen Europa und den USA weiterbestünden. In ihren Worten schwang große Besorgnis mit. Die Welt war eindeutig in eine neue Phase getreten. Die Bürger des freien Westens hatten, um mit Baudelaire zu sprechen, dem »natürlichen Vergnügen an der Zertrümmerung« nachgegeben. Es sah aus, als fände das fabelhafte demokratische Experiment durch so etwas Stumpfsinniges wie Langeweile sein Ende, es passierte einfach zu wenig. Die Kanonen schwiegen, der Durchschnittsmensch starb an Altersschwäche. Die Bürger hatten nicht die geringste Lust, ihre hart erkämpften individuellen Freiheiten zu verteidigen, nach einem Dreivierteljahrhundert Frieden, Freiheit und Wohlstand stand ihnen der Sinn schlicht nach Abwechslung — Rebellen aus Langeweile und Revolutionäre aus Zerstörungswahn.
Als er mittags aus dem Haus ging, um sich ein Sandwich zu kaufen, wurde er auf der Ecke Herengracht und Huidenstraat von einem großen Mann mit Fidel-Castro-Kappe angesprochen.
»Herr Adema?«, fragte der Mann, um die fünfzig, mit Ringen unter den Augen.
Er kam Hugo vage bekannt vor. »Ja?«, sagte er und neigte sich etwas vor, als hätte er es eilig, eine Haltung, die er sich angewöhnt hatte, seit er öfter von Unbekannten angesprochen wurde.
»Was für ein sagenhafter Zufall, dass ich Sie hier sehe«, sagte der Mann. »Ich forsche gerade nach Ihrem Großvater, dahinten im NIOD.« Er zeigte hinter sich, wo ein Stück weiter das Niederländische Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozidstudien lag.
»Was für ein Zufall, wirklich«, sagte Hugo steif.
»Tommy Wieringa. Guten Tag.«
»Ach«, sagte Hugo zum Zeichen, dass er wusste, wer vor ihm stand, und nahm die ihm entgegengestreckte Hand. Er verbarg, dass Wieringas Name ihm einen Stich versetzte — Loïs, auf einem Liegestuhl auf der Schlafzimmerterrasse ihres Hauses in Ibiza, die Beine unter sich gezogen, die Nase in Wieringas Buch vergraben. Sie hatte den Roman nach einer Lesung gekauft. Bei manchen Stellen lachte sie laut. Er hatte ihr das Buch aus der Hand genommen und es durchgeblättert. Vorne sah er die Widmung. »Für Loïs, jemandes Muse«, hatte der Autor auf den Schmutztitel geschrieben, daneben Ort, Datum und eine schwungvolle Unterschrift. »Woher weiß er das?«, hatte Hugo gefragt und Loïs die Widmung vorgelesen.
»Vielleicht schreibt er das allen Frauen«, sagte sie und streckte die Hand nach dem Buch aus.
Jetzt, zehn Jahre später, stand der Autor plötzlich vor ihm.
»Ich habe den ganzen Vormittag über ihn gelesen«, sagte Wieringa. »Ich forsche am NIOD. Und jetzt treffe ich hier seinen Enkel. Das ist wirklich … Wenn man so was schreibt, glaubt es keiner.«
Er scheute nicht vor Klischees zurück, so viel stand fest.
»Darf ich fragen, weshalb Sie nach ihm forschen?«
»Weil ich über ihn schreibe. Oder besser gesagt, weil ich über ihn schreiben will. Ich bin noch nicht weit gekommen. Ich weiß noch nicht viel. Eine interessante Figur, Ihr Großvater. Vollkommen doppelsinnig. Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen? Oder zum Mittagessen? Ich wollte gerade mittagessen gehen.«
Hugo schüttelte den Kopf. Er war unzählige Male interviewt worden, aber immer nur über seine Arbeit, über die Familie sprach er nicht mit Außenstehenden. Sein Bruder, der heutige Generaldirektor der Adema Marine Operations, gab nur selten Interviews, sein Vater und Großvater waren noch weniger versessen darauf. Sie traten nicht im Fernsehen auf und hielten sich von glamourösen gesellschaftlichen Events fern. Er wusste, dass sein Großvater vor ewigen Zeiten bei TROS Aktua ein Interview gegeben hatte und dass sein Name gelegentlich in der Society-Rubrik des Telegraaf fiel, aber das war es dann auch schon.
Der Autor lächelte enttäuscht. »Ihrem Vater habe ich auch schon eine Interview-Anfrage geschickt. Keine Antwort, leider. Ich schreibe Fiktion, aber ich recherchiere immer erst die Fakten. Die sind oft interessanter als alles, was ich mir ausdenken kann, verstehen Sie? Hat er nicht gestern seinen Geburtstag gefeiert? Den hundertsten?«
Hugo nickte. Über die Trivia wusste er jedenfalls gut Bescheid.
»Wie ist er so?«, fragte Wieringa. »Noch ganz auf der Höhe?«
»Belassen wir es hierbei.«
»Entschuldigung«, sagte der andere leicht erschrocken. »Verstehe.« Er gab ihm die Hand zum Abschied und fragte dann: »Kennen Sie seine Akte? Die im NIOD liegt?«
Hugo schüttelte den Kopf.
»Darf ich sie Ihnen zeigen? Alles liegt bereit, es ist wirklich hochinteressant.«
Hugo wusste, dass in dem Institut, wenige Schritte von seinem Haus entfernt, viel über die Kriegsvergangenheit seines Großvaters zu finden war, aber er hatte es nie betreten. Er hatte sich mit Zeitungsartikeln und Belanglosigkeiten aus dem Netz begnügt — die Abgründe eines Archivs machten ihm Angst.
»Einen Moment habe ich schon«, hörte er sich sagen.
In der Eingangshalle des Instituts aßen schmuddelige Männer ihr Mittagessen. Es roch nach Mandarinen. Die Bibliothek und der Lesesaal lagen um einen kleinen, verglasten Innengarten mit einer Japanischen Blütenkirsche in der Mitte, der an den Innenhof eines Klosters erinnerte.
Überall arbeiteten Menschen inmitten von Stapeln Archivmappen. Auch der Tisch des Schriftstellers war voller Bücher und Mappen. Hugo sah einen Laptop und ein havannabraunes Notizbuch, in dem Wieringa, den vielen Anspitzer-Schnipseln auf der Tischkante nach zu urteilen, mit Bleistift Dinge vermerkte. Der Autor griff nach der obersten Mappe und löste das Band.
»Das ist nur ein Bruchteil«, flüsterte er. »Im Keller liegt noch mehr. Das meiste habe ich schon gesichtet.«
Ein fauliger Geruch kam aus Wieringas Mund, Hugo trat einen Schritt zurück. Er sah das bekannte Foto seines breit lächelnden, selbstsicheren Großvaters in Feldgrau, mit dem Kragenspiegel mit Siegrunen in der schwarzen Raute, das überall auftauchte, wenn etwas über die Firma geschrieben wurde. Willem Bruno Adema, inzwischen dünn und nikotingelb, trug den Scheitel immer noch rechts. Leidenschaftlich blätterte der Autor den Papierstapel in der Mappe durch.
»Da, ein Brief von Rost van Tonningen aus der Zeit, als Ihr Großvater Direktor der NOC war, der Niederländischen Ostkompanie. Er hat bei der SS irre schnell Karriere gemacht. Viel Korrespondenz ist verloren gegangen natürlich, aber es ist erstaunlich, wie viel doch noch bewahrt geblieben ist.«
Hugo sah Briefköpfe mit Hakenkreuzen, verblasste Schreibmaschinenschrift und das Heil Hitler! in Sperrschrift, mit dem die Sendschreiben endeten.
»Heute Morgen habe ich seinen Aufnahmeschein bei der NSNAP gefunden«, sagte Wieringa. »Er war früh dran, schon Mitte der dreißiger Jahre. Hier …« Er hielt einen Durchschlag aus Kohlepapier hoch. Willem Bruno Adema war zwanzig Jahre alt, als er sich der NSNAP anschloss, der National-Sozialistischen Niederländischen Arbeiterpartei, bei der Rubrik »Konfession« war ein gestempeltes Hakenkreuz zu sehen.
Der Schriftsteller holte immer mehr Papiere hervor, es ging so schnell, dass Hugo nicht hinterherkam. Zwischen den nackten Zweigen der Japanischen Blütenkirsche war ein Stück blauer Himmel zu sehen, die Sonne brach durch. Wieringa hatte ihm ein paar Ausschnitte der Vergangenheit gezeigt. Unbekannte Namen, Situationen, Verbindungen. Die Verwaltung eines Lebens im Dienst einer finsteren Ideologie. Eines Lebens, das vor unendlich langer Zeit stattgefunden hatte, und doch war sein Großvater gestern noch aus eigener Kraft aufgestanden und hatte die Gesellschaft schweigend inspiziert — Willem Adema der Ältere, der Quastenflosser.
Ob er etwas Neues über ihn erfahren hätte, fragte Hugo, als sie wieder draußen an der Gracht standen, etwas, was nicht schon auf Wikipedia oder Traces of War zu finden sei?
»Etwas Neues«, wiederholte der Schriftsteller grübelnd. »Etwas, was ein anderes Licht auf seine Entscheidungen wirft … Nein, das glaube ich nicht.« Bei der Vier Heemskinderenbrug blieben sie kurz stehen, ließen einen Radfahrer vorbei. Wieringa fuhr fort: »Aus alldem ergibt sich das Bild eines begabten Einzelgängers, eines Menschen, der sich von niemandem etwas sagen lässt. Viele Fragen sind offen. Was genau hat er an der Ostfront gemacht? Und in den Jahren in Venezuela danach? Ich finde so gut wie nichts darüber. In seiner Akte ist die Rede von Tagebüchern, aber es ist nicht der kleinste Schnipsel davon zu finden. Diese Frage habe ich Ihrem Vater schriftlich gestellt, ob er vielleicht weiß, wo die Tagebücher sind, aber ich habe nichts von ihm gehört. Leider.«
Sie gingen die Gracht entlang, als hätten sie ein Ziel, der Autor breit gestikulierend; das Thema hatte ihn eindeutig gepackt.
»Mein Gott«, sagte Wieringa auf halbem Weg die Leidsestraat hinunter, »Tagebücher, das wäre wirklich der Heilige Gral. Es muss sie gegeben haben, ich habe ein Dokument gefunden, da fragt sich jemand, weshalb die Tagebücher nach dem Krieg nicht in der Strafakte Ihres Großvaters aufgenommen wurden. Laut dem Politieke Opsporingsdienst gab es acht Tagebücher, aber sie sind nicht in die Behandlung seines Falls eingeflossen, 1946.«
Hugo schlug vor, das Gespräch im Café Américain fortzusetzen, wo sie auch etwas essen könnten. Er war neugierig geworden und hatte beschlossen, die Begegnung für seine Zwecke zu nutzen; der Schriftsteller wusste unstrittig viel mehr über die Vergangenheit seines Großvaters als er.
»Darf ich fragen«, sagte Wieringa auf dem Leidseplein, »ob bei Ihnen zu Hause darüber gesprochen wurde, über seine Kriegsvergangenheit? Oder war die tabu?«
Hugo schüttelte den Kopf. »Sie war vor allem für die Außenwelt Thema. Es war immer die Rede davon, wenn jemand über die Firma geschrieben hat. In den letzten Jahren weniger. Der Krieg ist ein alter Mann geworden.«
Vor der Stadsschouwburg wichen sie einer Gruppe Touristen aus, die aus der Straßenbahn stieg. Der Schriftsteller fragte: »Und was denkt man in Ihrer Familie über ihn?«
Hugo schwieg. Noch hatte er nichts gesagt, was der Familie schaden konnte. Die Omertà war noch nicht gebrochen. An der Kreuzung ließen sie eine Straßenbahn vorbei. Gesichter, hinter den Scheiben aufleuchtend. Die Straßenbahn fuhr weiter, sie überquerten den Kreisverkehr. Kaltes Sonnenlicht sprühte von Autodächern und Gullydeckeln. Aus der Fontäne vor dem Américain schossen hohe Strahlen in die Luft. Das bewegte Wasser im Becken weckte bei Hugo eine so alte Erinnerung, dass sie keinen Namen, keine Form besaß — sie musste aus seiner frühen Kindheit stammen, als er sich in solchem bewegten Funkeln verlieren konnte. Er verband eine warme, angenehme Empfindung damit, doch weiter ließ sein Gedächtnis ihn nicht vordringen — ein Lichtstrahl, der für einen Augenblick auf geheimnisvolle Felszeichnungen fiel.
Eine Kellnerin brachte sie zu einem kleinen Tisch am Fenster. Hugo blickte auf die Fontäne, die Platanen und die Leidsebrug dahinter. Er nahm das Tuna Melt mit Jalapeños, der Autor bestellte Brot mit Fleischkroketten.
»Ich habe es nie geschafft, Vegetarier zu werden«, sagte Wieringa bedauernd. »Eigentlich ein großes Versagen.«
»Ich möchte gern wissen, was Sie herausgefunden haben«, sagte Hugo. »Wie Sie über ihn denken.«
Wieringa zuckte die Achseln. »Vielleicht verbeiße ich mich zu sehr in die Realität. Durch gute, harte Fakten wird die Fantasie glaubwürdig, es ist die Beschränkung, die Raum schafft. Wie der Bildrand, an den Sie sich halten müssen.« Er beugte sich vor. »Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, dass ich ein Bewunderer Ihres Werks bin. Das hören Sie natürlich öfters, aber Das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat … Dieses Bild von Ihnen. Der Titel mag ironisch sein, aber es ist wirklich ein großes Werk.«
»Lange her«, sagte Hugo, wie um sich dafür zu entschuldigen, wer er jetzt war.
»Mit dem Titel sind Sie ein Risiko eingegangen. Von Stockhausen wollte keiner mehr was wissen, als er das nach Nine Eleven gesagt hat. Das hätte auch Ihnen passieren können.«
Hugo schüttelte den Kopf. »Stockhausen hat das direkt nach den Anschlägen behauptet, mein Bild ist ein paar Jahre jünger. Die Aufregung hatte sich gelegt. Außerdem kann man es wirklich ironisch verstehen. Damit ist man immer auf der sicheren Seite.«
»Ich habe es bei der Luftmensch-Ausstellung im Stedelijk gesehen. Ich konnte den Blick nicht davon lassen.« Er schmunzelte. »Ich habe mir sogar eine Postkarte gekauft.«
Es tat Hugo unverhofft gut, dass Wieringa seine Arbeit schätzte. Selbst wenn er in Zukunft nie mehr etwas von nennenswerter Bedeutung erschaffen würde — er war nicht immer ein Versager gewesen. An Willen und Gravitas hatte es nicht gefehlt, es sah aus, als wäre das Werk bis auf Weiteres stärker als sein Schöpfer.
»Warum schreiben Sie über meinen Großvater?«, fragte er dann. »Wie sind Sie auf ihn gekommen?«
Wieringa richtete sich auf. »Ich habe im ersten Jahr an der Uni eine Arbeit über Alkibiades geschrieben. Sagt er Ihnen was? Ein Athener General aus dem fünften Jahrhundert vor Christus. Der Begabteste seiner Generation, so wurde er genannt. Alkibiades war Athlet, Redner, Stratege, auf allen Gebieten gleich stark, und dazu ausgesprochen gutaussehend und mutig. Als ob die Natur damit experimentiert hätte, wie viele unterschiedliche Begabungen und Reize sich in einem Mann vereinen lassen.«
Im Peloponnesischen Krieg habe Alkibiades die Seite gewechselt, sagte Wieringa, nachdem es in Athen zu Problemen gekommen war. Er sei nach Sparta geflohen, wo seine Unterstützung die Athener in Schwierigkeiten brachte. Sein Schwachpunkt war, dass er sich schnell langweilte und zu sexuellen Ausschweifungen neigte. Weil er mit der Frau des Königs von Sparta angebandelt hätte, habe er auch von dort fliehen müssen und dann den Persern seine Dienste angeboten. »Kurz, eine ungreifbare Figur«, sagte Wieringa, »die Meinungen über ihn gehen weit auseinander.«
Der Schriftsteller schmierte sich Butter aufs Brot, zerstampfte die Kroketten zu Mus. Er drückte zwei Senftüten darüber aus und fing an zu essen, während er sich über die Abenteuer des Athener Generals ausließ, der noch mehrmals die Seiten wechselte. Hugo konnte ihm längst nicht mehr folgen und beobachtete, wie Brot und Kroketten in seinem Mund beim Reden zu einem farblosen Klumpen vermahlen wurden.
»Na ja«, schloss Wieringa, »dieser letzte Scherz kam Alkibiades teuer zu stehen, denn sie setzten sein Haus in Brand und durchbohrten ihn mit Pfeilen, als er sich retten wollte.«
Triumphierend sah er Hugo an. Der verstand seinen Blick nicht. Die Kellnerin kam an ihren Tisch, fragte, ob alles in Ordnung sei. Wieringa nickte ungeduldig.
»Nun, die Treue ist eine Tugend, die wir mit Orden und Medaillen belohnen«, sagte er. »Untreue weiß keiner zu schätzen. Nehmen Sie Judas, den schlechtesten Menschen aller Zeiten, wie man sagt, dabei war sein Kuss natürlich ein Kuss aus tiefer Freundschaft, denn er hat das Rad in Bewegung gesetzt, durch das Christus zum Erlöser wurde. Manchmal haben Verrat und Untreue gute, komplexe Gründe, will ich damit nur sagen, Treue dagegen kennt keine anderen Gründe als die des Herzens. Alkibiades war zu intelligent und zu abenteuerlustig für echte Treue in einer unsicheren Zeit, deshalb finde ich ihn interessant, genau wie Ihren Großvater.«
»Ach«, sagte Hugo. »Ich habe mich schon gefragt, wo der bleibt.«
»Sie sind sich sehr ähnlich, finde ich, Alkibiades und Adema.« Ein kurzes Lächeln. »Denken Sie nur, Alkibiades war Olympiasieger im Reiten, Ihr Großvater in den dreißiger Jahren Meister im Rudern. Als Ingenieur brachte Ihr Großvater bahnbrechende Dinge zustande, als Unternehmer baute er ein Imperium auf. Seine Reden sind im Krieg auf großes Interesse gestoßen, die Zeitungen berichteten darüber. Er hatte Erfolg bei den Frauen. Er ist zwar nicht viermal übergelaufen, wie Alkibiades, aber zweimal ist auch nicht ohne. Das erste Mal, als er sich für den Besatzer entschieden hat, und das zweite Mal, als er sich dem Widerstand anschloss.« Wieringa schwieg einen Moment. »Die verstehe ich nicht ganz, diese undurchsichtige Bekehrung zum Widerstand. Da läuft er zum zweiten Mal über, diesmal auf die Seite der Guten. Der Anführer der Widerstandsgruppe, der er sich angeschlossen hat, sagte nach dem Krieg vor Gericht aus, Ihr Großvater wäre trotz seines Fehlers in der Vergangenheit ein guter Patriot. Er hätte sich zum Guten bekehrt und dem Untergrund wichtige Informationen über den Bunkerbau verschafft und über die Treffpunkte von hochrangigen SS-Männern. Dieser Versteeg, der Anführer der Widerstandsbewegung, hat echt die Hand ins Feuer gelegt für ihn. Hat betont, dass seine Beziehung zu Ihrem Großvater aus der Zeit vor der Niederlage der Deutschen bei Stalingrad stammt, weil nach Stalingrad klar war, dass Deutschland den Krieg wohl verlieren wird. Adema, sagte er damit also, ist kein Opportunist, der sich für die Zeit nach dem Krieg absichern will. Laut Versteeg beweisen auch die Tagebücher Ademas antideutsche Entwicklung. Es ist das zweite Mal, dass in der Akte von den Tagebüchern die Rede ist. Versteeg hat sie also gelesen. Aber, und jetzt wird es spannend, die Tagebücher sind verschwunden, bevor die Richter des Sondergerichts sie einsehen konnten. Sie waren also ursprünglich Teil der Strafakte, wurden aber im Verfahren nicht verwendet.« Hilflos hob Wieringa die Hände.
»Ende der Fakten«, sagte Hugo.
Der Schriftsteller nickte niedergeschlagen. »Ende der Fakten.«
»Und jetzt?«
Wieringa schwieg und sah zum Hirsch-Gebäude auf der anderen Straßenseite, einst ein majestätisches Modehaus, heute, über hundert Jahre später, ein Apple Store für den man, wie beim Arzt, einen Termin vereinbaren musste.