No Mercy – Der Schatten der Angst - Emma Viskic - E-Book

No Mercy – Der Schatten der Angst E-Book

Emma Viskic

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Seit Calebs Bruder Anton unfreiwillig in einen Fall hineingezogen und erneut drogenabhängig wurde, hatten die Zelic-Brüder keinen Kontakt mehr – bis Anton eines Nachts auftaucht und um Hilfe bittet. Er fürchtet um sein Leben! Gemeinsam fahren sie auf die Insel, auf der Anton sich in Behandlung begeben hat. Doch der dubiose Arzt hat mehr Einfluss auf Anton, als Caleb lieb ist. Inmitten der Stürme, die über die Küste hinwegfegen, entdecken die Brüder dunkle Geheimnisse und tief sitzenden Groll. Sie müssen sich aufeinander verlassen, um zu überleben. Aber Vertrauen hat einen tödlichen Preis ...

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Übersetzung aus dem australischen Englisch von Ulrike Brauns

© Emma Viskic, 2021

Titel der englischen Originalausgabe:

»Those who perish« bei Echo publishing, an imprint of Bonnier Zaffre Limited, London 2021

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Kerstin Kubitz

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Coverabbildung: UfaBizPhoto/Shutterstock.com

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

EPILOG

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Campbell

Sie gehen verloren, weil sie sich der Liebe zur Wahrheit verschlossen haben, durch die sie gerettet werden sollten.

2. Thessalonicher 2,10

1. Kapitel

Calebs Auto krepierte kurz vor Resurrection Bay. Nach einem letzten Ruckeln blieb der Commodore mitten auf der leeren Schnellstraße stehen, Scheibenwischer auf halbmast, Scheinwerferlicht nachlassend.

Verdammt, doch nicht ausgerechnet jetzt. Er hatte jede Verkehrsregel gebrochen, jede Geschwindigkeitsvorgabe überschritten, und trotzdem hatte die Fahrt drei endlose Stunden gedauert. Kurz vor halb sieben in der Früh. Und schon zwanzig Minuten zu spät.

Er stieß die Tür auf. Rannte los. Durch die dunkle Seitenstraße Richtung Strand, Gesicht und Arme feucht vom Regen. Er hatte auf der Couch geschlafen, als die SMS kam, der Fernseher lief noch, sein Verstand durch Träume vernebelt. Unterdrückte Nummer, kein Name, keine Anrede.

– Anton in Gefahr. Uferpromenade Resurrection Bay 6 Uhr

Bevor er überhaupt richtig wach war, hatte er die Wohnung bereits fluchtartig verlassen, tippte unterwegs Fragen. Keine Antwort.

Schon bei den Geschäften auf der Bay Road, bebender Brustkorb, die Promenade gegenüber. Keine Autos, nur Marty McKenzies Kipplaster, verwaist beim Pub. Caleb sprintete über die Straße.

Der Regen hatte aufgehört. Der Horizont nun blass getönt, das Tageslicht trug scheibchenweise die Schatten ab. Leerer Bürgersteig und eine offene Rasenfläche mit ein paar verkümmerten, aufgehäufelten Blumenbeeten. Alles still, nur der Leuchtturm von Muttonbird Island blitzte seine Warnung. Keine Männer, die Ant erpressen wollten und mit Eisenstangen auf ihn eindroschen, keine Drogendealer, die Geld verlangten. Die Polizei konnte sie nicht verschreckt haben – Caleb war bei einem Unfall kurz vor der Stadtgrenze an beiden Streifenwagen vorbeigekommen. Ant musste hier irgendwo sein, sich verstecken.

Ziemlich viel abzusuchen, denn die Promenade erstreckte sich bis zum Jachthafen. Caleb lief im Zickzack über die Wiese, schaute hinter den Pavillon und die hohen Roten Eukalyptusbäume, der Atem kratzte ihm in der Kehle. Sein Bruder musste hier sein. Alles andere würde er nicht verkraften. Fast einen Monat klammerte er sich jetzt schon an nichts als Hoffnung.

Über den Spielplatz zu dem orangefarbenen Kipplaster, dessen gedrungener Korpus schwach im Licht der Straßenlaterne leuchtete. Niemand drin, nicht mal Marty auf dem Fahrersitz, der seinen Rausch ausschlief.

Etwas blitzte im Augenwinkel auf, als Caleb sich abwandte. Eine Bewegung? Er wischte sich den Regen weg, der ihm aus den Haaren lief. Suchte die schwarze Landschaft ab. In der Nähe des Toilettenhäuschens hockte jemand in einem der Beete, winkte. Dunkler Pulli, Kapuze über den Kopf gezogen, sehr bekannte Schulterhaltung – Ant. Erleichterung pulverisierte Calebs Beinknochen. Nicht tot. Nicht mit blauen Lippen in der Gosse, die Nadel noch im Arm. Aber war er high, oder versteckte er sich? Egal was, er hätte keinen ungünstigeren Ort wählen können: ein paar vereinzelte Büsche auf einer leicht abfallenden Wiese. Wenn die Sonne nur ein Stück weiter aufging, würde sie ihn entlarven wie einen zu groß gewachsenen Gartenzwerg.

Caleb zögerte; Ant würde ihm niemals vergeben, wenn er ihm hier einen Deal verpatzte. Andererseits würde Ant ihm sowieso niemals vergeben. Also betrat er die Grasfläche.

Ant hörte auf zu winken, ging zu Auslan über, seine Hände kaum sichtbar, so schnell gebärdete er: »Nein! Du musst hier weg. Lauf!« Sein Gesicht war verborgen, aber die Angst zeigte sich in jeder abgehackten Bewegung.

Caleb erstarrte. Schaute sich um. Gebärdete zurück: »Wer? Wo?«

»Toilettenhaus. Er ist …«

Eine Bewegung beim Laster neben Caleb. Er fuhr herum. Das Fenster war gesprungen. Ein kleines Loch in der Mitte, als hätte jemand einen Stein geworfen.

Aufblitzendes Licht.

Fliegendes Glas. Die Scheibe fort, ein klaffender Krater im Beifahrersitz.

Hirn und Körper eingefroren.

Pistole.

Caleb warf sich zu Boden. Fuck. Hier war er völlig ausgeliefert, musste sich bewegen.

Auf Händen und Knien kroch er über das matschige Gras bis zum Laster. Den Bordstein hinunter, auf die Straße. Den Rücken gegen die Mulde gepresst, das Herz raste. Keine Pistole, nein, das musste ein Gewehr sein – das Toilettenhäuschen war zu weit weg für eine Handfeuerwaffe. Der Lauf durch eins der Oberlichter geschoben. Sie hätten ihn töten können. Er hatte keine Ahnung, dass geschossen wurde.

Hörgeräte. In der Hosentasche, wo er sie beim fluchtartigen Verlassen der Wohnung hingesteckt hatte. Viel halfen sie nicht, aber einen Schuss würde er damit nicht überhören. Er tastete nach ihnen, nasse Jeans, taube Finger vor Kälte und Angst. Ach, egal – wenn die Kugel erst mal flog, konnte er ihr ja doch nicht mehr ausweichen.

O Gott, Ant! Hockte da in dem luftigen Beet.

Caleb fuhr herum, rutschte rückwärts, immer die Mulde des Lasters zwischen sich und dem Toilettenhäuschen. Ant war noch immer da, schaute zum Laster, bereit zum Losrennen. Seine Augen schwarz in einem kreideweißen Gesicht. Inzwischen war er leichter zu sehen, immer mehr Farbe mischte sich in den grauen Himmel, während die Welt heller wurde. Er sackte ein bisschen zusammen, als er Caleb sah.

»Bist du verletzt?«, gebärdete Caleb. Seine Hände zitterten erstaunlicherweise nicht.

Ant schüttelte den Kopf.

Okay, was ging hier vor? Der Scharfschütze hielt ihn offenbar für Ant, also rührte er sich am besten nicht vom Fleck, bis Hilfe kam. Trüber Sonntagmorgen, aber immerhin lebten in dieser Stadt dreitausend Menschen. Irgendwann würde jemand aufkreuzen, der seinen Hund spazieren führte oder sich einfach fragte, ob die Schüsse nicht doch ein bisschen zu nah waren, um von einem Bauern auf Fuchsjagd zu stammen.

Allerdings würde der Blick des Scharfschützen nicht mehr lange von den Straßenlaternen geleitet werden. Nur noch wenige Minuten, dann würde das Tageslicht dafür sorgen, dass sich Ants Silhouette von dem Busch abhob. Sekunden.

Ant machte sich offensichtlich ganz ähnliche Gedanken. Er nahm wieder die Startposition ein, seine Arme zitterten. Nur offene Fläche rund um ihn, das würde er niemals schaffen.

»Halt!«, sagte Caleb laut, versuchte zu schreien. Ant riss den Kopf hoch. »Warte«, gebärdete Caleb. »Ich lenke ihn ab. Mit dem Laster.« Jetzt handelte er rein intuitiv, würde alles versuchen, damit Ant bloß nicht in die Schusslinie rannte. »Wir treffen uns hinter dem Supermarkt. Auf dem Parkplatz.«

Bevor Ant antworten konnte, war Caleb schon wieder auf den Beinen. Tief gebeugt lief er zur Fahrertür, öffnete sie – der Schlüssel steckte in der Zündung, ganz wie er gedacht hatte, aber im Führerhaus war es viel zu hell, die hohe Windschutzscheibe eine direkte Einladung für die aufgehende Sonne. Hundehaare und Essensverpackungen, alles überzogen von einer funkelnden Krümelglasschicht. Er schob sich gehockt hinter das Steuer.

Der Laster sprang sofort bebend an. Kleiner Satz nach vorn, dann hart rechts Richtung Ladenzeile. Ein Ruck. Risse zogen sich über die Windschutzscheibe. Caleb machte sich noch kleiner, Arme und Beine an den Körper gezwängt. Komm schon, komm schon, dreh dich, du Scheißkarre. Mehrere dumpfe Schläge, harte Stücke regneten auf ihn herunter, eisiger Wind in seinem Haar. Die Windschutzscheibe war halb zertrümmert, hing in die Fahrerkabine. Da, das gusseiserne Geländer einer Veranda. Die Front zeigte zum Zeitschriftenhändler, das Hinterteil zur Promenade. Caleb riskierte es, sich aufzusetzen. Rückwärtsgang rein, Blick in den Seitenspiegel gerichtet, während er auf das Toilettenhäuschen aus Beton zuhielt. Mit zunehmendem Tempo. Zersplitterndes Licht – der Spiegel zerschmettert. Auf der anderen Seite ebenfalls. Musste er also blind fahren. Ziemlich schnell jetzt, sicher fast da. Verdammt, nicht angeschnallt. Er zerrte am Sicherheitsgurt, eine Hand am Lenkrad, zerrte heftiger. Abgeschnitten. Abruptes Stoppen, mit dem Kopf gegen den Sitz geknallt.

Kurz nichts. Außer dem metallischen Geschmack von Blut und Angst. Steig aus, los.

Er stieß die Tür auf, Schlüssel in der Hand, fiel halb aus der Kabine. Kam wieder auf die Beine, die Muskeln fest.

Der Laster hatte ein Loch in das Häuschen gerammt, Wände umgerissen. Staub und heraussprudelndes Wasser, dazu durcheinandergewürfelte graue Ziegel. Der beißende Geruch alter Pisse. Die eiserne Eingangstür stand weit offen. Kein Schütze, kein Gewehr. Okay, atmen. Musste er sich also nicht mit einem Schlüssel und der Zulassungsplakette gegen einen bewaffneten Mann verteidigen.

Schnell ans andere Ende des Lasters – vor ihm erstreckte sich die Wiese bis zum Uferweg. Das Beet, in dem Ant sich versteckt hatte, nur noch ein verwaister Salzbusch.

Fast vorbei. Fast. Jetzt musste er nur noch Ant nach Hause bringen.

Caleb steuerte ihren Treffpunkt an, verfiel in leichten Trab, um die Straße zu überqueren, Glasstücke rieselten bei jedem Schritt von seinen Sachen. An den Geschäften vorbei. Über den Fußgängerweg, auf den asphaltierten Parkplatz. Aber da war niemand.

2. Kapitel

In der leisen Hoffnung, dass Ant vielleicht dort auf ihn wartete, fuhr Caleb in die Waratah Street. Ihr Elternhaus, in dem dieser Tage nur noch Ant wohnte – zumindest war es bis vor sechs Monaten so gewesen. Ein massiver, zweistöckiger Kasten mit plumpen Linien, jede Wand von ihrem Vater hochgezogen, der Rest mithilfe von Caleb und Ant entstanden. Monatelang mit Säge oder Hammer die Leitern hoch und runter. Ziemlicher Stolz auf das Endergebnis, trotz Ivan Zelics zuverlässiger Unzufriedenheit.

Kurzer Kampf mit der Tür, der Schlüssel hakelte, schließlich bekam er sie doch auf. Abgestandene Luft empfing ihn. Keine feuchten Schuhabdrücke auf den Terrakottafliesen im Flur. Obwohl ihm schon klar war, dass es sich nicht lohnte, ging er durch die Küche in den kleinen Wintergarten, von dem aus man den Garten sehen konnte: Ants Lieblingsort, früher mal der ihrer Mutter. Staubpartikel hingen in der Luft, die Fensterfront ließ viel Licht herein, obwohl es bedeckt war. Das pralle Sofa und die Sessel unberührt, Heizung aus. Kein Anzeichen, dass jemand hier gewesen war, seit er letzte Woche zuletzt nachgesehen hatte. Ein wässriger Blutstropfen lief ihm an der Hand herunter, tropfte auf die Dielen. Jetzt zitterte er. Kleidung nass und lehmverschmiert, Arme übersät von kleinen Kratzern. Er sank langsam aufs Sofa, umklammerte sich selbst.

Immerhin wusste er, dass Ant lebte, das war schon mal etwas. Eine Menge. Wochen der Unwissenheit, in denen er jeden Trick versucht, jeden Kontakt bemüht hatte, den er sich in seiner zehnjährigen Tätigkeit als Betrugsermittler erarbeitet hatte. Die ersten Monate hatte Ant sporadisch den Kontakt gehalten, gelegentlich auf seine Nachrichten geantwortet, auf Kats häufiger. Dann nichts mehr. Handy nicht mehr zu orten, E-Mails nicht mehr abgerufen und das wohl Furchteinflößendste: Konto leer geräumt.

Alles Calebs Schuld. Nach einer langen, hellen Periode, in der Ant clean und glücklich gewesen war, kam er daher und versaute alles. Verwickelte Ant in einen Fall, trieb ihn den Drogen wieder in die Arme. Trieb ihn etwas ganz anderem in die Arme, den Geschehnissen des Morgens nach zu urteilen. In was war Ant da verwickelt? Ein Scharfschütze. Man konnte nur hoffen, dass er kein Experte war, nur jemand mit Wut und einer griffbereiten Waffe. Trotz der strengen Regeln sollten davon ja noch genug herumschwirren – verstaubte Gewehre, die 1996 nicht freiwillig rausgegeben worden waren, oder welche von Jägern oder Bauern mit Erlaubnis. Aber der Scharfschütze hatte keine Sekunde gezögert.

Anton in Gefahr. Gut möglich, dass, wer immer die SMS geschickt hatte, selbst nicht ganz sauber war, aber Caleb schreckte gerade vor nichts zurück. Er schrieb eine kurze Nachricht.

– Ant weg. Brauche Hilfe, ihn zu finden. Zahle auch

Keine Sekunde später kam eine SMS, allerdings von Kat, nicht vom Informanten.

– Koori Flurfunk sagt, dein Auto steht mitten auf der Schnellstraße??

Er lächelte. Sehr typische Kat-Nachricht, die digitale Version der hochgezogenen Augenbraue. Fragte sich, warum er in Resurrection Bay war, schließlich hatte er erst gestern darüber geklagt, dass er wegen der Arbeit in Melbourne festhänge. Sie saß sicher bei ihren Eltern in der Küche, nur wenige Blocks entfernt, und trank Irish-Breakfast-Tee. Vor vier Wochen war sie zu ihnen gezogen. Keine perfekte, aber eine Übergangslösung, aus den besten Gründen.

Da traf ihn plötzlich die Erkenntnis, wie gefährlich die Nummer mit dem Laster eigentlich gewesen war. Was hatte er sich dabei nur gedacht? Wäre er mal besser in die Ladenzeile gekracht, dann wären die Alarme losgegangen, Leute herbeigeeilt.

Beim Beantworten ihrer Nachricht war Fingerspitzengefühl gefragt. Kat Dinge vorzuenthalten, hatte ihn fast die Ehe gekostet, gleichzeitig wollte er sie nicht beunruhigen, das war dieser Tage das oberste Gebot. Sein oberstes Gebot. Kat wurde tendenziell eher sauer, wenn er es mit dem Beschützen übertrieb.

– Kümmere mich um einen Abschleppwagen. Erkläre bald alles x

Dann schrieb er gleich noch seiner Werkstatt, damit den Worten Taten folgten. Er quälte sich auf die Beine. Geh zu Kat, nimm sie in den Arm, klammere dich an das Glück. Und dann zurück an die Arbeit, richten, was du zerstört hast.

Kats uralter Käfer stand an der Straße und nicht in der Auffahrt zum Haus ihrer Eltern. Eine Gefahr für alle, die ihn passierten, weil ein Freund von ihr ihn so auffällig mit verschlungenen nackten Körpern bemalt hatte, kein Fleck war frei geblieben. Schon bald würde er einem Wagen mit Airbags und ABS weichen, vielleicht auch mit Kunst, die weniger anziehend auf Perverse wirkte. Sehr bald, wenn Caleb das irgendwie beeinflussen könnte – konnte er jedoch nicht, aber man durfte ja noch träumen.

Weshalb der Käfer dort stand, erklärte sich, als er die Auffahrt erreichte. Beide Eltern und alle drei Schwestern waren da. Mist, er hatte völlig vergessen, dass Sonntag war. Familientag, wenn sich der ganze Haufen versammelte, um bei Frühstückspfannkuchen zu beraten, wie sich die Probleme der Welt lösen ließen. Er mochte Kats Familie, selbst die Furcht einflößenderen Mitglieder wie Kats Mutter, aber eine große Menschenmenge war schon an den besten Tagen eine Herausforderung. So übermüdet und zerfahren, wie er war, würde er nur bei Kat von den Lippen lesen können. Ein einziger, verwirrter Gubba in einem Zimmer voller Kooris, die jeden Grund hatten, an ihm zu zweifeln.

Also fischte er seine Hörgeräte aus der Hosentasche. Sie bescherten ihm nur dumpfe Geräusche, für ein Telefonat oder um Schritte zu hören, reichten sie nicht, aber sie waren eine unschätzbare Unterstützung beim Lippenlesen. Kurze Prüfung auf Schäden: keine Risse im blassen Plastik, die Röhrchen nicht beschlagen. Gute Nachrichten für sein Konto – dies waren die teuersten Exemplare, die er besaß. Auch die kleinsten, fast unsichtbar unter seinem braunen Haar. Er setzte sie ein, verspannte sich dabei, weil er mit dem Tinnitus rechnete, der ihn in letzter Zeit gequält hatte. Aber er meldete sich nicht.

Er schob das Haar zurück über die Ohren und ging zur Rückseite des Hauses. Verzerrte Geräusche schlugen ihm entgegen, als er die Küchentür öffnete. Essende, trinkende Menschen, Pfannkuchen wendend. Kats mittlere Schwester fischte einen Legostein aus dem Mund eines der Zwillinge. Ein Pulk weiterer Kinder im angrenzenden Wohnzimmer.

Kat war ein Ruhepol inmitten des Wirbels. Trank ihren Tee am Ende des Tischs, das lockige Haar offen, die Augen noch verschlafen, der tätowierte Adlerflügel, der sich über ihren gesamten Arm erstreckte, ruhte auf ihrem Bauch. Ein Weißbauchseeadler, ihr Totemtier.

Wärme breitete sich in ihm aus. Vor fünf Tagen hatte er sie zuletzt gesehen, jeder einzelne zu lang.

Sie blinzelte, als sie ihn erblickte, ließ die Tasse sinken. Das brummelnde Geräusch erstarb, als immer mehr Köpfe sich zu ihm umdrehten. Erst die der Erwachsenen, dann die der Kinder. Offene Münder, gefolgt von einer langsamen Musterung von Kopf bis Fuß. Und da war er sich plötzlich seiner lehmigen Klamotten und der zerkratzten Arme sehr bewusst, des Geruchs nach nassem Hund, den seine Hose verströmte. Ein klügerer Schwiegersohn hätte erst mal geduscht und sich präsentable Kleidung zusammengesucht, bevor er sich der Familie seiner Frau stellte. Ganz besonders ein Schwiegersohn, der verdientermaßen vor Kurzem noch fast ein Ex-Schwiegersohn gewesen war.

Kat winkte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, tippte sich dann mit dem Finger gegen die Wange. »Du hast da was.«

Nach dem Duschen zog er sich erst mal in Kats Zimmer zurück. Es erforderte ordentlich Beinarbeit, um den drei Schwägerinnen zu entgehen, doch er erreichte das Zimmer, ohne vorher zur Rede gestellt zu werden. Ein gemütlicher Raum, gefüllt mit allerhand Kram aus Kats ehemaligem Haus. Sie hatte für die Zeit ihres Aufenthalts ein Atelier improvisiert, der Tisch übersät mit stapelweise Skizzenbüchern, Ton und alten Teedosen, in denen nun Stifte steckten. Pläne für eine neue Skulptur hingen an der Pinnwand über dem Tisch. Ein Selbstporträt: Kat stehend, den Blick in einen unsichtbaren Himmel gerichtet, ihr Bauch vorgewölbt. Zum ersten Mal hatte sie diese Schwangerschaft bildlich dargestellt. Er war immer begeistert von ihrer Arbeit, aber das hier war ein Grund zum Feiern. Ein weiterer Beweis, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, die letzten Monate ihrer Schwangerschaft in Gesellschaft ihrer aufmerksamen Mutter zu verbringen, ihres Zeichens Ärztin. Als Kat das vorgeschlagen hatte, war das wie ein Schlag in die Magengegend gewesen – wo er doch nach ihrer Trennung nichts lieber wollte, als wieder mit ihr zusammenzuziehen –, doch der Erfolg gab ihr recht. Vorfreude leuchtete in Kats Augen statt der alten Angst, und das, obwohl der letzte Ultraschalltermin bevorstand. Trotzdem fehlte sie ihm.

Das Licht ging an und aus, als er sich gerade eine frische Hose anzog. Kat stand in der Tür. Noch in ihren Schlafsachen, einem übergroßen T-Shirt mit der Flagge der Aborigines, die gelbe Sonne spannte sich straff über ihren Bauch. Jedes Mal wurde es kürzer, man konnte fast zuschauen, und immer mehr von ihren langen, braunen Beinen lugte unter dem Saum hervor.

Sie kam zum Bett und warf ihm dabei eine Packung Pflaster zu. »Könntest du vielleicht den boorai nicht so einen Schrecken einjagen?«

»Danke.« Sie hatte einmal nach ihm gesehen, während er unter der Dusche stand, ihr Blick viel medizinischer, als ihm lieb war, aber nachvollziehbar – im Badezimmerspiegel hatte er die vielen kleinen Glasscherben in seinem dunklen Haar funkeln sehen. Viel mehr Blut, als bei den paar Kratzern angemessen schien.

Er klebte Pflaster auf, die für seine Haut ein bisschen zu dunkel waren, für Kats genau passend. Und bald auch für ihr Kind. Nur noch acht Wochen. Herzstolperndes Glück bei dem Gedanken. Die traurigen Meilensteine der ersten beiden Schwangerschaften lagen weit hinter ihnen, mit großen Schritten eilten sie atemlos ihrer Zukunft entgegen.

»Solch banale Erste Hilfe amüsiert dich?«, fragte Kat. Sie saß im Schneidersitz auf dem Bett, ein Kissen im Rücken.

»Ich kann mich an allem erfreuen.«

»Dafür habe ich dich immer geliebt.« Ein so trockener Gesichtsausdruck, dass sie riskierte zu verdursten. Jetzt, unter sich, nutzten sie Auslan; Kat war mit ihrem ausdrucksstarken Gesicht und den immer lesbaren Gefühlen zum Gebärden geboren. Sie hatte die Sprache für ihn gelernt, eine Mühe, die seine Eltern sich nicht gemacht hatten. Die Wichtigkeit war ihr sofort bewusst gewesen. Schließlich war sie Nachkomme einer Kultur, die noch immer gegen die Bemühungen der Kolonialmacht kämpfte, ihre Sprache auszulöschen.

Er wühlte in seiner Tasche nach einem frischen Oberteil. Eins hatte er noch – zwei, wenn man das mitzählte, das über der Stuhllehne »ruhte«. Er lebte gerade permanent aus der Tasche, die halbe Woche zum Arbeiten in der Stadt, die andere hier bei Kat. Aber nur noch ein paar Tage oder so, dann konnte er erst mal bleiben und die Geburt abwarten. Wo sie danach wohnen würden, war weniger klar. Seine kleine Wohnung verkauft, der Mietvertrag von Kat gekündigt, und nichts, was sie bisher online entdeckt hatte, war verlockend genug gewesen, um den langen Weg nach Melbourne auf sich zu nehmen zwecks Besichtigung. Immerhin ein gutes Gefühl, was die kurze Liste anging, die er ihr letzte Woche gegeben hatte. Drei Häuser, die er sich angeschaut hatte; die glänzenden Flyer übertrieben eigentlich nur wenig.

Als er sich umdrehte, sah er, dass sie ihn beobachtete, die tätowierte Adlerschwinge lag leicht auf ihrem Bauch. Erstaunlich, wie klar sie ohne die kleinste Bewegung kommunizieren konnte. Gerade sagte sie: »Lass es dir nicht aus der Nase ziehen.«

Er setzte sich zu ihr. »Es ist Ant. Ihm geht’s gut«, fügte er schnell hinzu, weil sofort Besorgnis auf ihrem Gesicht aufblitzte. »Aber er steckt in Schwierigkeiten.« Caleb gab ihr einen sachlichen Bericht über die Geschehnisse des Morgens, wobei er wohl ausließ, wie nah die Kugeln ihm gekommen waren.

Kat erstarrte während der Schilderung und atmete heftig ein, als er die Sache mit dem Laster erzählte.

»Keine Sorge«, sagte er. »Ich war vorsichtig.«

»Vorsichtig? Wann genau warst du bitte vorsichtig?«

»Ich war angeschnallt.« Am liebsten hätte er die Gebärden gleich wieder eingefangen.

»Lieber Gott, Caleb. Ich dachte, du machst so was nicht mehr.«

Machte er ja auch nicht. Eigentlich. Wirklich. Das heute Morgen war ein Rückfall in alte Muster gewesen. Er konnte ihr die Besorgnis nicht verdenken; sie hatte dieses feine Federtattoo entworfen, um ihre Narben zu verstecken. Seine Schuld. Sein Fehler.

»Mach ich auch nicht«, sagte er. »Ehrlich. Ich … ich hatte einfach Panik. Es geht schließlich um Ant.« Er nutzte aus Versehen Ants Kindheitsgebärde statt des sonst schnörkellosen »A«: Eine Hand jagte die andere wie wegkrabbelnde Insekten. Den Namen hatten Calebs Mitschüler der Gehörlosenschule Ant gegeben. In Anlehnung an seinen Namen, aber auch, weil er ihnen bei ihren Besuchen permanent hinterhergedackelt war und sie mit Fragen gelöchert hatte. War das damals nervig gewesen!

Kats Miene wurde weich. »Ich weiß.« Ihre warme Hand drückte seine. »Aber ihm geht’s gut?«

»Vermutlich nimmt er Drogen.«

»Ich meinte eigentlich, ob er auch verletzt ist.«

Die gleiche Befürchtung hatte er selbst gehabt, aber er war, nachdem er Ant nicht angetroffen hatte, zum Laster zurückgekehrt, um seine Fingerabdrücke wegzuwischen und sich noch mal genau umzusehen. »Vermutlich nicht. Ich werde heute mal seine Kumpel abklappern, vielleicht versteckt er sich ja bei einem von ihnen. Warum auch immer, ich war schließlich direkt da.«

»Er schämt sich. Er hat zu dir aufgeschaut, seit ihr Kinder wart, und jetzt hat er Scheiße gebaut. Mal wieder.«

»Das haben wir doch längst hinter uns.«

»Ach, Schatz.« Die Wörter flutschten ihr über die Lippen.

»Was denn?«

Sie wechselte wieder zur Gebärdensprache. »Eure Beziehung ist eingefroren, als eure Mutter gestorben ist.«

Als sie Teenager waren also; das war nicht gut. Möglicherweise etwas, das er mal mit seinem Therapeuten anschauen sollte, wenn er die Zeit fand, mal wieder einen Termin zu vereinbaren. Und wenn Kat nicht nur eine Armlänge entfernt war, verschlafen und warm und sanft nach Zimt duftend.

»Sehr weise.« Er berührte ihren Arm, weiche Seide unter seinen Fingern. »Du hast mir gefehlt.«

Klarer Blick aus blauen Augen hielt seinen Blick. »Weil ich so weise bin?«

»Unter anderem.«

»Meinem Anderen hast du auch gefehlt.« Sie lehnte sich vor, um ihn zu küssen, doch als sich ihre Lippen gerade berührten, wandte sie den Kopf ab, schaute zur Tür. Gute Idee, sie sollten definitiv abschließen. Aber Kat ließ den Kopf hängen. Sie rief »Moment« zu jemandem draußen, schaute dann ihn an. »Da will dich jemand vernehmen.«

Aufblitzende Sorge. »Polizei?«

»Tiddas. Offenbar gab es auf der Bay Road eine Schießerei. Sie fragen sich, ob ihr Schwager vielleicht etwas darüber weiß.« Sie stand auf. »Ich lenke sie ab, bis du deine Erwartungen wieder … äh … runtergeschraubt hast.« Kurz vor der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Entschuldige, das hab ich ganz vergessen. Mick möchte mit dir sprechen. Hat angerufen, während du unter der Dusche warst. Er sagt, er hat dir geschrieben, aber du hast noch nicht geantwortet.«

Kats Lieblingscousin, Barmann in einer der rausten Kneipen der Stadt und in der Lage, ziemlich schnell Streitigkeiten zwischen Bikern und betrunkenen Gästen beizulegen. Micks wilde Zeiten waren längst vorbei, aber er gab alles, um seine Familie zu schützen. Ein Gespräch über »Verantwortung« hatte Calebs siebzehnjähriges Herz kurz aussetzen lassen, als Kat und er gerade zusammengekommen waren, auch weil Mick direkt gegenüber von Calebs Elternhaus wohnte. Gut möglich, dass er beobachtet hatte, in welchem Zustand Caleb heute Morgen ins Haus gerannt war, und dann eins und eins zusammengezählt hatte.

»Will er ein ernstes Wort mit mir sprechen?«

Kat schenkte ihm ein unbeschwertes Lächeln. »Wer weiß.« Dann warf sie ihm einen Kuss zu und war weg.

Glück. So ein Glück. Sie waren haarscharf an einer Scheidung vorbeigeschrammt, er spürte noch immer den Schatten, den diese Zeit auf sein Leben geworfen hatte. Aber irgendwie hatte sie ihm den Schmerz vergeben, den er verursacht hatte, all die Jahre der Einsamkeit. Und wenn sich manchmal der Gedanke meldete, dass sie ohne ihn besser dran wäre, unterdrückte er ihn schnell wieder.

Er zog sich trockene Schuhe an und seine braune Wolljacke, bevor er in die Küche ging. Blieb kurz vor dem Regal neben der Tür stehen. Die Flyer der Häuser waren noch genau da, wo er sie letzte Woche hingelegt hatte, unberührt.

3. Kapitel

Er verabredete sich mit Mick bei der Ladenzeile der Bay Road, damit er gleich schauen konnte, wie die Reaktion der Polizei ausfiel. Der Scharfschütze würde vermutlich keine Hinweise hinterlassen haben, aber Adrenalin konnte unvorsichtig machen. Das hatte er zumindest mal gehört.

Die Straße folgte dem behäbigen Bogen, den die Küste beschrieb, gesäumt von bunt zusammengewürfelten Häusern – ein paar wenigen Blausteingebäuden zwischen reizlosen Bauten der letzten sechzig Jahre. Geschäftiges Treiben für einen Sonntag. Die Menschen standen in kleinen Gruppen, frischen Kaffee oder Snacks in den Händen, das Wort »Teenager« machte die Runde. Caleb bahnte sich einen Weg zwischen ihnen hindurch, ein Auge immer auf dem Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der Wind war stärker geworden, spielte mit dem Flatterband, das zwischen Laternen und Bäumen gespannt war. Wirkte nicht so, als teilte die Polizei die Annahme, es handele sich um Jugendliche, die Dampf ablassen wollten – ein Polizist in Uniform blockierte den Weg zur Promenade, ein anderer den zu den Geschäften. Sergeant Ramsden, der ranghöchste Polizist der Stadt, unterhielt sich mit einer Frau in der Nähe des Toilettenhäuschens, der Muldenkipper steckte noch immer in der Wand direkt hinter ihm.

Ants Versteck in dem Beet wirkte bei Tageslicht sogar noch lausiger. Sie hatten Glück gehabt, der Wind und die schlechten Sichtverhältnisse waren auf ihrer Seite gewesen. Caleb hatte die vergangene Stunde damit verbracht, alles über Scharfschützen herauszufinden, und wusste jetzt mehr über Preise und Kaliber, als ihm lieb war. Ein geringer Trost, dass es wohl dauerte, eine geeignete Position fürs Gewehr zu finden, oder dass die meisten Schützen Amateure mit geringer Reichweite waren – ein geübter Präzisionsschütze konnte, hatte er erst die richtige Position gefunden, ein Ziel treffen, das einen Kilometer entfernt war. Manchmal sogar noch weiter.

Caleb blieb gegenüber von Sergeant Ramsden stehen und nahm die Haltung eines interessierten Beobachters ein. Der Cop hielt kein Notizbuch in der Hand, aber die Frau gestikulierte für zwei, da hatte jemand was zu berichten. Vielleicht eine Zeugin? Himmel, hoffentlich nicht. Selbst der geringste Kontakt zwischen Ant und der Polizei würde böse enden, ein Vermächtnis aus der Zeit nach dem Tod ihrer Mutter, als er den Schritt vom Hasch zum Heroin vollzog, finanziert durch eine Reihe unbeholfener Einbrüche. Eine übertriebene Reaktion der Polizei hatte zu einer sechsmonatigen Haftstrafe geführt. Neunzehn Jahre alt; bei jedem seiner Besuche in dem Cafeteria-ähnlichen Besuchsraum saß ihm ein gebeugter Ant gegenüber, die Augen jedes Mal tiefer eingesunken.

Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter, dann tauchte Mick vor ihm auf. Ein Oberkörper wie ein Fass, dunkelbraune Haut, ein Touch Grau auf dem kurz rasierten Kopf. Das Knasttattoo FUCK COPS entlang der Fingerknöchel voll sichtbar, weil er die Beine seiner zweijährigen Tochter festhielt, die auf seinen Schultern saß. Seine beiden ältesten Töchter folgten ihm, beide in lehmfleckigen Footy-Uniformen. Es beruhigte Caleb immer, Mick mit seinen Kindern zu sehen, einen Mann, der ein großartiger Vater war, obwohl er sich weit Schlimmeres hatte zuschulden kommen lassen als Caleb.

»Cal, Kumpel. Danke fürs Kommen.« Keine eilig gesprochenen Wörter, wie immer superleicht zu lesen. Er nickte zum Park. »Großer Tag für die gunyan. Haben sie schon einen Schwarzen gefunden, dem sie’s anhängen können?«

»Gib ihnen ein paar Stunden. So lange suchen sie noch nicht.«

»Stimmt. Wie sieht’s aus, bleibst du ein paar Tage hier? Hab einen Job für dich, wenn du Interesse hast. Dein üblicher Satz natürlich.«

Also keine Gardinenpredigt; er konnte nicht abstreiten, dass er erleichtert war. Mehr Arbeit hier wäre auch gut. Sein Ein-Mann-Unternehmen in Melbourne boomte zwar, hatte sich endlich nach all dem Kack durch seine frühere Geschäftspartnerin Frankie erholt, aber er musste in Kats Nähe sein, nicht dreieinhalb Stunden entfernt in Melbourne.

»Klar, schieß los. Hat’s mit dem Pub zu tun?«

»Nee, Footyverein. Bisschen verzwickt.«

Talia löste die Arme von Micks Kopf und streckte sie Caleb entgegen, da hatte er seit seinem letzten Besuch mit Seifenblasen im Gepäck offenbar einen Stein im Brett.

Er lächelte, streckte ebenfalls die Arme aus.

Doch Mick setzte sie auf den Boden. »Tut mir leid, ihr beiden, aber das muss erst mal warten.«

Dann wechselte Mick ein paar Worte mit den älteren Mädchen und ein Geldschein den Besitzer, und schon sausten die beiden mit ihrer kleinen Schwester davon Richtung Supermarkt. Ungewöhnlich für Mick, seine Kinder wegzuschicken.

»Dieser Job«, sagte Caleb, »den rühre ich nicht an, wenn er gefährlich ist.«

»Ich hoffe schwer, dass er es nicht ist. Aber nein, ist einfach ’ne heikle Sache – jemand hat Norm geklaut.«

Caleb brauchte einen Moment, bis er begriff, dass Mick nicht von einem Menschen sprach, sondern von Norman Numbat, dem Maskottchen des örtlichen Footyvereins. Die menschengroße Kreatur sollte ein niedliches Beuteltier darstellen, sah aber eher aus wie eine schlimme Mischung aus einem Tasmanischen Teufel und einem zugedröhnten Eichhörnchen. So einen Streich konnte auch nur Mick ernst nehmen. Er spielte schon lange nicht mehr für den Verein, war aber noch immer ein leidenschaftlicher Unterstützer und coachte die U 14.

»Den dreckigen Anzug mit nur noch einem Auge? Bist du sicher, dass du dafür nicht lieber gleich die Unterstützung der Nationalgarde willst?«

»Hab ich drüber nachgedacht, aber ich brauche was Unauffälligeres.«

Caleb warf einen Blick zum Park. Ramsden hatte nun sein Notizbuch gezückt, den hellen Schopf gesenkt, weil er etwas schrieb. Nicht das hellste Licht, aber auch kein Vollidiot. Außerdem kannte er Ants langes Register, war an einem Teil davon beteiligt gewesen.

Caleb schaute wieder Mick an. »Wieso muss es unauffällig sein?«

»Online sind Fotos von Norm gepostet worden, als wären sie von Vereinsmitgliedern. Wie er Drogen nimmt und all so was. Ausgerechnet jetzt, mitten in der Spendenkampagne. Mistiger PR-Albtraum.«

Caleb zögerte. Mick war auf einem Anti-Fluch-Trip, getrieben durch die Kinder, die ihn alle nur zu gern bei ihrer Mutter verpfiffen, wenn ihm doch mal ein Ausrutscher passierte, aber das jetzt trieb die Sache auf die Spitze. »Mick, ich bin alt genug. Den einen oder anderen Kraftausdruck kann ich schon vertragen.«

»Wie? Oh, ja. Mach ich jetzt schon, ohne nachzudenken.« Das FUCK auf seinen Fingern wackelte, während er sich am Kopf kratzte. »Kommt im Pub wahnsinnig gut an, das kann ich dir sagen.« Er wischte durch seine Fotogalerie, reichte Caleb dann sein Handy. »So was hier.«

Drei schlechte Schnappschüsse eines riesigen Numbats, der mit Alkohol, weißem Pulver beziehungsweise einer Gummipuppe posierte. Jedes Mal war ein anderes Gesicht hineingephotoshopt. Alle kamen ihm bekannt vor, dazu gehörte auch Calebs Automechaniker, Greg Darmon, der mutmaßlich seine Intimgegend mit dem Inhalt eines Glases beschmierte. Caleb zoomte das Glas näher heran. Okay, Erdnussbutter würde er auch nie mehr so sehen wie bisher.

Auf der gegenüberliegenden Seite marschierte Ramsden zu dem Uniformierten, der die Promenade bewachte. Höchstwahrscheinlich die Richtung, in die Ant gelaufen war. Gab es dort mittlerweile Videoüberwachung? Hoffentlich nicht.

Mick hatte aufgehört zu reden, die Augenbrauen hochgezogen.

Er könnte es ihm sagen. Könnte ihn bitten, Ausschau nach Ant zu halten. Bei Mick musste er keine Angst haben, dass er sich an die Polizei wandte. Sein Vater und seine Tanten gehörten alle zur gestohlenen Generation; Kinder, die ihren Familien im Namen der Assimilation entrissen wurden. In Heime gesteckt, in Pflege gegeben, adoptiert. Für immer gebrochen.

»Mögliche Ant-Verbindung«, sagte Caleb.

»Beunruhigend. Soll ich ein Auge drauf haben?«

»Danke, das wäre nett.« Er widmete sich wieder Micks Handy. »Irgendwelche Nachrichten? Forderungen?«

»Nee, aber sie machen die Leute nervös. Gerüchte gehen um, dass was Wahres dran sein könnte. Und seit Robbos Unfall ist der Brei richtig am Dampfen.«

Unfall? Okay, jetzt hatte Mick seine volle Aufmerksamkeit, er musste wissen, auf was er sich da einließ. »Was für ein Unfall?«

»Großer Crash heute auf der Schnellstraße. Junger Spieler wurde verletzt. Mach dir keine Gedanken, hat nix mit dem Verein zu tun. Hab schon mit Robbos Dad gesprochen – eindeutig ein Unfall, sagen die Bullen. Dann machst du’s, ja? Der Verein kommt finanziell gerade so über die Runden. Wenn die Leute austreten, geht der ein.«

Die Numbats waren berüchtigt dafür, einen klaren Sieg noch zu vergeigen, aber die Stadt war trotzdem stolz auf sie. In dem Verein kamen alle zusammen, ebenbürtig: Anwälte, Arbeitslose, Geschäftsleute, Banker, ein gutes Drittel des Teams waren Koori. Ab und zu wanderte mal ein Spieler zu den Profis ab.

»Ich weiß nicht, Mick. Werden mich hier nicht alle hassen – besonders die PoC –, wenn ich rumrenne und Leute nach ihren Sex- und Drogenvorlieben befrage?«

»Doch, klar.« Mick schien diese Aussicht nicht weiter zu beunruhigen. »Komm schon, wir sind doch Familie.«

Familie. Das eine F-Wort, das Mick noch gern in den Mund nahm; etwas, was Caleb ihm nicht abschlagen konnte.

»Sehr gut«, sagte Mick, bevor er antworten konnte. »Ich schick dir die Fotos. Jarrah kann dir bei allem anderen helfen.«

Caleb gab alles, um das Gesicht nicht zu verziehen. »Jarrah?«

»Mannschaftskapitän.«

Natürlich, was sonst? Verdammter Jarrah Davies, Kats mehrmaliger Co-Künstler und einmaliger Freund. Gut aussehend, talentiert, Säule der Koori-Gemeinschaft – und definitiv noch Kat nachschmachtend. Der Mistkerl hatte nicht mal den Anstand, unsympathisch zu sein.

»Dachte mir schon, dass du dich freust.« Mick nickte Richtung Sportplatz. »Training fängt in zehn Minuten an. Da findest du ihn.«

»Super, ich …« Caleb erstarrte. In der Nähe der Promenade sammelten sich die Leute, ein Rettungswagen fuhr langsam durch den Park auf die Gruppe zu, eingeschaltetes Blaulicht. Bewegung am Wasser, ein kleines Boot wippend auf den Wellen. Privates Boot, aber ein paar Uniformierte an Bord. Lehnten sich über die Reling, Stangen in den Händen, zogen damit etwas Schlaffes, Schweres durchs Wasser. Eine Leiche.

Caleb entwich alle Luft.

Nein. Nicht Ant. Lass es nicht Ant sein.

Er rannte los.

4. Kapitel

Ein dürrer Constable stand an der Uferpromenade Wache: aggressive Haltung, die dünnen Arme vor der Brust verschränkt. Caleb schob sich durch die gaffende Menge, wofür er einen verkniffenen Blick von ihm kassierte. Die Polizisten im Boot versuchten, Seile unter der Leiche hindurchzufädeln, die auf den Wellen wippte. Dunkle Haare? Kapuzenpulli? Er konnte es nicht erkennen, musste noch näher ran. Der Constable streckte einen Arm aus, um ihn aufzuhalten. Keine Zeit, um mit einem aggressiven Baby-Cop zu diskutieren. Also zurück durch die Menge quetschen und zu dem wartenden Rettungswagen; er rannte fast, bis er den hölzernen Steg erreichte. Blieb stehen. Sie hatten die Leiche gesichert, hievten sie Stück für Stück aus dem Wasser. Baumelnder Männerkopf, schlaffe Arme, beigefarbene Jacke. Mittleres Alter.

Nicht Ant.

Akuter Schwindel, weil er selbst im Nachhall der Panik keine Luft bekam.

Plötzlich stand jemand vor ihm, gedrungener Körper, lichtes, sandfarbenes Haar – Sergeant Ramsden. Caleb hatte nicht mal mitbekommen, dass er in der Nähe war. Er sprach schon, seine sommersprossigen Wangen rot. »… Sie … hier?«

»Äh, wie bitte?«

»… Sie … hier … dies …?«

Jetzt reiß dich zusammen, tu so, als wärst du ein normaler Bürger, nicht jemand kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Ramsden wusste schließlich, wie gut er von den Lippen lesen konnte; er würde sofort kapieren, dass was nicht stimmte.

»Sie sprechen ein bisschen zu schnell für mich«, sagte Caleb. »Könnten Sie das etwas langsamer wiederholen?«

Ramsdens Anspannung ließ sofort etwas nach. Sicher war er gern mal etwas härter zu einem Suffi oder Unruhestifter, aber sobald ihm etwas unbehaglich war, verfiel er in sein vorbildliches Dorf-Cop-Verhalten. Vermutlich hatte Caleb eine Gnadenfrist von zehn Sekunden, so hoch, wie Ramsdens Emotionen gekocht waren.

»Dies. Ist. Ein. Tatort«, sagte der Polizist. »Was. Machen. Sie. Hier?«

Tatort – zu dem Schluss waren sie dann aber schnell gekommen. War der Typ erschossen worden? Natürliche Reaktion, zu einer Leiche zu gucken, die in ein Boot gehoben wurde, also unterdrückte Caleb den Impuls nicht. Noch immer nicht Ant. Nur ein Mann mittleren Alters und mit beginnender Glatze. Irgendwas im Gesicht, vielleicht eine Schusswunde. Caleb wandte den Blick ab, schluckte. Wenn er Ramsden jetzt auf die hässlichen, schwarzen Schuhe kotzte, wäre das Strike zwei.

»Tut mir leid«, sagte Caleb. »Das wusste ich nicht. Ich wollte Sie nur nach …« Kacke, wie hieß der verletzte Footyspieler? Bob, Rob, Robbo. »Robbos Unfall fragen. Ich arbeite gerade für die Numbats.«

Ramsden machte sich nicht die Mühe, das Seufzen zu unterdrücken. »Es war ein Unfall, Caleb, nicht mehr und nicht weniger. Einem entgegenkommenden Lkw ist ein Reifen geplatzt. Rennen Sie bitte nicht rum und machen unnötig Ärger.«

»Alles klar, kein unnötiger Ärger.« Er zögerte. Wollte mehr wissen, aber auch keine Aufmerksamkeit auf Ant lenken. Oder auf sich; die Kriminaltechnik würde sicher seine DNA in dem Laster finden, selbst wenn er wie eine biologische Waffe behandelt werden musste. Dann wiederum, wenn es erst zu DNA-Proben kam, war er sowieso geliefert. »Was ist denn passiert?«, fragte er. »Wurde der erschossen?«

»Ich darf laufende Ermittlungen nicht kommentieren.«

Also, ja: Ramsden war nicht so gewieft wie die Großstadtpolizisten, die aus Reflex alles abstritten. Der Scharfschütze war ein Mörder. Wahrscheinlich noch immer hinter Ant her.

Caleb ließ sich nichts anmerken. »Okay, dann lass ich Sie mal wieder Ihre Arbeit machen.«

Ramsden hob eine Hand, um ihn aufzuhalten. »Wissen Sie etwas über die Geschehnisse heute Morgen, Mr Zelic?«

»Nein.« Wieder beim Nachnamen, kein gutes Zeichen bei Ramsden. Sie hatten keine enge Beziehung, aber nachdem Caleb vergangenes Jahr in einem Fall vor Ort ermittelt hatte, war so etwas wie eine Vertrauensbasis zwischen ihnen entstanden. Der Fall, wegen dem Ant in die Abwärtsspirale geraten war.

Ramsden starrte ihn an. Guter Versuch, aber kein Hörender der Welt war besser darin, Stille auszuhalten als Caleb. Er hatte schließlich fast dreißig Jahre Erfahrung darin, seit seinem fünften Lebensjahr, als eine Meningitis sein Gehör zerstörte.

Der Sergeant sprach schließlich weiter. »Es wurde ein Mann gesehen, der zur Zeit der Schießerei von hier weglief. Seine Beschreibung passt auf Sie.« Seine Hand deutete zur Uferpromenade. »Würden Sie mir das erklären?«

Ant oder der Schütze? Unterwegs in westlicher Richtung, zum Jachthafen, wenn man seiner Geste glauben durfte. Nimm der Sache lieber gleich die Luft – besser, die Polizei ging davon aus, dass er irgendwie verwickelt war, als dass sie den Schützen suchten und dabei Ant fanden, am besten noch mit gezogenen Waffen.

Ein verstohlener Blick zu den Laternen entlang der Promenade: keine Überwachungskameras. »Da entlang? Dunkler Kapuzenpulli?«

»Dann geben Sie zu, dass Sie es waren?«

»Klar, mein Morgenlauf. Aber ob es zeitlich passt, kann ich nicht sagen. Mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen.«

»Sie haben keine Schüsse gehört?«

»Äh, nein.« Caleb deutete zu seinem Ohr.

Ramsden wandte den Blick nicht ab. »Kommen Sie später auf die Wache, wir müssen Ihre Aussage aufnehmen. Bringen Sie Ihr Handy mit.«

»Okay.« Caleb drehte sich um, entfernte sich mit der Geschwindigkeit eines Mannes, der noch zu tun hatte. In der Windschutzscheibe des Rettungswagens die Spiegelung eines Polizisten, der ihm nachsah.

Mick stand schräg hinter dem Krankenwagen. Keine Kinder, Schlüssel in der Hand, zu allem bereit. Caleb schüttelte kaum merklich den Kopf, als er an ihm vorbeikam, nur ein Nicken zur Antwort.

Es kostete ihn alle Kraft, nicht sofort zum Jachthafen zu gehen, um dort nach Ant zu suchen, aber er hatte in den letzten sechzig Sekunden genug Schaden angerichtet. Er durfte nichts riskieren, schon jetzt viel zu viele Verluste in seinem Leben, viel zu viel Blut an seinen Händen.

Er bog nach rechts ab und stieg den Hügel hinauf zum Sportplatz.

Das Vereinsheim der Numbats war voller Stolz nach dem Sieg im Finale 1982 von der Kommune gebaut worden. Seither verwahrloste es. Gerade wirkte es besonders trostlos, ein paar Fenster waren mit Brettern zugenagelt, und die Regenrinnen hingen durch. Mit finanzieller Unterstützung von der Kommune war nicht zu rechnen; die Haushaltskürzungen der letzten Jahre waren brutal gewesen.

Caleb duckte sich unter dem weißen Geländer hindurch, das das Oval umgab. Die Oberfläche war uneben, teilweise gab es gar keinen Rasen mehr, aber der Ausblick war großartig. Man konnte die ganze Stadt und den weiten Küstenbogen überblicken. Unten im Park hatte man die Leiche auf den Steg gelegt und mit einer blauen Plastikfolie bedeckt. Ramsden war noch immer vor Ort, sein sandfarbener Schopf jenseits des Rettungswagens zu sehen. Wenn er Calebs Bewegungen anhand des Handys nachvollziehen wollte, hatte er kein Glück – das würde er nur mit einem entsprechenden Beschluss und sehr viel Geduld können. Bluetooth und GPS waren an all seinen Geräten ausgeschaltet, selbst an seinen Hörgeräten, eine Lektion, die er auf die harte Tour während seines letzten Auftrags mit Frankie gelernt hatte. Lieber nicht drüber nachdenken – Frankie gab es nicht mehr.

Auf der Mitte des Platzes standen sich die Spieler in zwei Reihen gegenüber und übten Werfen. Teenager bis Vierzigjährige, die meisten von ihnen mit weit mehr Leidenschaft als Talent. Jarrah stand am Ende der Reihe und gab mühelos die wilden Pässe seines jungen Teamkollegen zurück. Lachte dabei, weiße Zähne sichtbar. Man konnte doch keinem Mann trauen, der so viel lachte. Oder seinen eigenen Bronzestatuen so verdächtig ähnlich sah.

Nein, er war nicht eifersüchtig. Das wäre ja lächerlich. Eine kurze Beziehung in der dunklen Phase, bevor Caleb sein Leben genug unter Kontrolle gebracht hatte, um sich mit Kat zu versöhnen. Egal, wie sehnsüchtig Jarrah Kat anstarrte, wie viele Gründe er fand, um ihr nah zu sein, wie viele Leckereien er ihr brachte, wenn sie zusammenarbeiteten; Kat schien seine Gefühle nicht zu erwidern. Trotzdem konnte Caleb den Mann ja weiter hassen.

Jarrah erblickte ihn, ließ erst mal den Ball fallen. Hob ihn schnell auf und warf ihn locker zu seinem Mitspieler, kam zu Caleb gejoggt. »Cal.« Kurzes, festes Händeschütteln. »Onkel Mick hat mich schon angerufen. Super, dass du helfen kannst. Was brauchst du?«

Mick verlor keine Zeit. Er hatte Caleb schon alle Maskottchenfotos weitergeleitet: sechs insgesamt, die Abgebildeten eine Mischung aus Vorstands- und Teammitgliedern inklusive Jarrah.

»Eine Liste aller Vereinsmitglieder auf jeden Fall. Was meinst du? Wer steckt dahinter? Eine gegnerische Mannschaft?«

»Dein Ernst? Wir sind das Tabellenschlusslicht. Aber allmählich stört’s die Leute, weil das Gerede losgeht, dass an den Abbildungen was dran sein könnte.«

»Stört’s dich?« Machte nicht den Eindruck, er grinste immer noch so dämlich.

»Ach, meins war so lahm. Ich meine: betrunkener Abo? Da hab ich im Kindergarten Schlimmeres abgekriegt. Du solltest aber vielleicht mal mit dem Coach sprechen. Er hat gestern Abend ein neues Foto bekommen, gleiches Szenario wie beim ersten.«

Caleb ging die Aufnahmen innerlich durch. »Ross Greene? Der weißes Pulver von einem Footyball zieht?«

»Genau. Damit ging das Gerede ja erst richtig los. Der greift hin und wieder zu so was.«

Der Einzige, der bisher zweimal vorkam. Vielleicht die schnellste Auflösung seiner Firmengeschichte – bei so was ging es für gewöhnlich um Geld oder Rache. »Ist er da?«

»Ja. Komm mit, ich stell euch vor.«

Caleb folgte Jarrah zum Strafraum, wo ein rotgesichtiger Mann die Spieler anbrüllte. Ein bekanntes Gesicht, wenn nicht sogar der ganze Typ – er war Assistenzcoach, als Ant bei der U 16 spielte. Ein bulliger Mann, dessen eigene Spielkarriere durch eine Verletzung früh geendet hatte. Seine Verbitterung darüber ließ er seine Umwelt nur zu gern spüren. Wenn Greenes Haltung gegenüber seinen eigenen körperlichen Einschränkungen ein Maßstab war, konnte man sich ausmalen, wie gern er auf Probleme anderer einging.

Jarrah hob eine Hand, um Calebs Aufmerksamkeit zu erregen. »Ich wollte noch nach Kat fragen. Alles in Ordnung?«

Gleich verspannte er sich. »Ja.«

»Wirklich?« Jarrah runzelte die Stirn. »Ich frage nur, weil sie auf mein Angebot, mein Atelier zu nutzen, bis jetzt nicht zurückgekommen ist.«

»Doch, ihr geht’s gut.« Oder? Ihr ging’s doch gut? Besorgt wegen Freitag, der anstehenden Ultraschalluntersuchung, aber entspannt genug, um an dem Selbstporträt zu arbeiten. Die ausbleibende Entscheidung zu einem der Häuser war allerdings untypisch. Sie hatte sich die Flyer sofort angeschaut, als er sie darauf angesprochen hatte, hatte sogar Pläne gemacht, sich alle drei Häuser anzusehen. Allerdings ohne große Begeisterung. Vielleicht sollte er sie heute Abend mal darauf ansprechen, er hatte mit viel Mühe eine Reservierung in ihrem Lieblingsrestaurant zustande gebracht.

Er schaute weg, als Jarrah wieder zu sprechen begann, und beließ es dabei, bis sie Ross Greene erreicht hatten, der nicht gerade erfreut darüber war, dass jemand sein Herumgeschreie unterbrach. Aber er hielt lange genug den Mund, dass Jarrah ihm erklären konnte, warum Caleb gekommen war.

»Kennen wir uns?«, fragte Greene. »Kommst mir bekannt vor.« Sein Blick wanderte an Caleb vorbei. »Fang den Ball! Ich hab gesagt, fang ihn!« Dann machte er vor, wie.

»Glaube nicht«, antwortete Caleb. »Die Fotos von Ihnen wirken wie ein persönlicher Angriff. Haben Sie ein Problem mit jemandem?«

»Ich …« Die weiteren Wörter gingen verloren, weil Greene dem Ball nachschaute.

»Wie bitte?«

Ein irritierter Blick. »Nein.«

»Wie sieht’s auf der Arbeit aus? Fällt Ihnen da was ein?«

Sein Kopf drehte sich zu den Spielern.

Caleb unterdrückte ein Seufzen. »Würden Sie mich beim Antworten ansehen? Ich lese von den Lippen.«

Greenes Kopf fuhr herum, er schnipste triumphierend mit den Fingern. »Ich wusste doch, dass wir uns kennen – Anton Zelics Bruder, oder? Taubstumm.«

Ein Wort, das fast noch verletzender war als die Schläge auf dem Spielplatz, bevor er sich zu wehren wusste. Jarrah schenkte ihm einen so mitleidigen Blick, dass ihm schlecht wurde. Die grässliche Erkenntnis, dass sein eigenes Kind eines Tages so eine Situation miterleben, ihn mit neuen Augen sehen würde. Beste Voraussetzung, um eine vorbildliche Reaktion zu üben; damit das Kind mitbekam, wie Daddy den Mann berichtigte.

»Nur taub«, sagte er zum Coach.

»Was?«

»Nur taub. Taubstumm ist beleidigend.«

»Verstehe.« Greene stupste Jarrah an. »Nicht stumm, aber ziemlich empfindlich, was? Mach dir keine Gedanken, Mann. Du klingst völlig normal.«

Damit das Kind mitbekam, wie Daddy eine Hand zur Faust ballte und dem Arschloch eine verpasste.

Jarrah war sein Unbehagen anzusehen, er wollte gerade etwas sagen.

»Danke, Jarrah«, kam Caleb ihm zuvor. »Ich will dich nicht länger vom Training abhalten. Du kannst mir die Liste ja mailen.« Er wartete, bis Jarrah davongetrottet war, und wandte sich dann an den Coach. »Wo arbeiten Sie?«

»Ich suche gerade.«

Also arbeitslos. »Hat jemand ein Problem mit Ihnen? Ex-Frau? Nachbar?«

»Mir fällt niemand ein.«

»Echt nicht?« Caleb könnte sofort mindestens einen nennen, der hier auf dem Spielfeld stand.

»Ich bin es, der das Problem hat. Die verdammten Fotos torpedieren unsere Spendenaktion. Ich warte auf eine Gehaltserhöhung, aber der Kassenwart sagt, der Verein ist pleite.«

Interessant. Vielleicht doch kein persönlicher Angriff, sondern ein Ablenkungsmanöver für Betrug?

»Wer ist der Kassenwart?«

»Dieser …« Wieder wandte er sich ab.

Lebenslanges Lippenlesen, schier endlose Übungssitzungen mit seinem Vater, modernste Hörgeräte, alles vergebens, wenn so ein Arschloch ständig den Kopf wegdrehte. »Würden Sie in meine Richtung schauen?«

Greene seufzte. »Das wird mir langsam zu blöd, ich muss hier arbeiten.«

»Kassenwart?«

»Erdnussbuttertyp, der Kerl von der Kommune.«

Auch bekannt unter dem Namen Greg Darmon, der Mechaniker, der gerade hoffentlich Calebs Wagen wieder fahrbar machte. Wie praktisch, einer der Vorteile der Kleinstadt – oder Nachteile, je nach Blickwinkel. Wie eine weitverzweigte Familie, die jedes deiner Geheimnisse und jeden deiner Fehlschläge kannte und nicht vergaß: die Schlägereien der Kindheit und die kurze Phase der Autoklauerei. Die Unfähigkeit, der Sohn zu sein, der du sein solltest.

Der Coach schaute schon wieder weg, und Caleb ließ ihn. Unten auf der Bay Road stieg Sergeant Ramsden gerade in einen Streifenwagen und verließ den Tatort.

5. Kapitel

Caleb ging bis ans andere Ende des Hafens, um nach Ant zu suchen. Zum gewerblich genutzten Teil der Bucht. Bootshäuser hinter Maschendrahtzäunen, fleckiger Beton statt gepflegter Holzbohlen. Ein Zahnkamm aus Stegen ragte ins Wasser, Fischerboote wippten auf der bewegten See. Nur wenige Gebäude standen offen, drinnen wurden Bootsrümpfe geschrubbt, Motoren repariert; die anderen waren mit Vorhängeschlössern von außen gesichert. Hier konnte Ant sich nirgends verstecken. Keine Videoüberwachung, abgesehen von ein paar Kameras, die auf die großen Fangschiffe gerichtet waren.

Bei der Kalkklippe drehte er um. Unwahrscheinlich, dass Ramsden oder irgendein anderer Cop ihn entdecken konnte, trotzdem sollte er nicht einfach Ants Foto rumzeigen. Also über das Warum nachdenken, nicht über das Wo. Ant kannte jeden Winkel dieser Stadt; wenn er in diese Richtung gelaufen war, dann hatte das einen Grund. Nicht um sich zu verstecken, sondern um … zu entkommen? Mit dem Boot? Ganz sicher war er nicht einfach in die nächste Jolle gesprungen – als Kind hatte er mit einer fast beruhigenden Zuverlässigkeit bei jedem Bootsausflug, jeder Achterbahnfahrt und auf jedem sonstigen Fahrgeschäft gekotzt –, aber vielleicht hatte er die Fähre genommen. Es gab eine regelmäßige Verbindung zur Muttonbird Island, einer ehemaligen Isolierstation an der Mündung der Bucht. Heute lebten dort nur noch ein paar widerstandsfähige Bauern. Die Zelics hatten sich dort mal an einem Zelturlaub versucht, als Caleb neun, Ant sieben waren. Eine Woche lang hatte es geregnet. An viel konnte er sich nicht erinnern, nur an den matschigen Zeltplatz und das leise Leid ihrer Mutter, die Weigerung ihres Vaters, den Aufenthalt abzubrechen. Nicht gerade der Ort, an den Ant sich freiwillig zurückziehen würde, aber etwas anderes fiel Caleb nicht ein.

Laut dem Schild am Landungssteg ging die Fähre alle paar Stunden. Offenbar eher eine grobe Richtlinie als ein Versprechen, denn die Mittagsfähre war schon fünfzehn Minuten zu spät. Caleb wartete am Ende des Stegs mit vier Autos, die alle nicht fahrtüchtig aussahen. Hände in den Jackentaschen, Kragen hochgeschlagen. Der Steg vibrierte unter seinen Füßen mit jeder Welle, die gegen die Pfeiler schlug.

Schwer, an einem Tag wie diesem, an einem Ort wie diesem nicht an Frankie zu denken. Drei Monate, seit sich ihr Blut auf den wettergrauen Bohlen ausgebreitet, sie schwarz gefärbt hatte. Geschäftspartnerin, Freundin, Verräterin. Ein Ex-Cop, die ihn aus seinem ausweglosen Job als Versicherungsprüfer befreit und seine Fähigkeiten verfeinert hatte. Gleichzeitig der Mensch, dem er die größte Schuld an Kats Narben gab, abgesehen von sich selbst natürlich. Trotzdem war er wieder auf sie reingefallen, fast gestorben, weil er die wichtigste Lektion vergessen hatte, die sie ihm beigebracht hatte: Die wenigsten ändern sich. Eine Lektion, die ihm nun ins Herz geritzt war, das Narbengewebe starr.

Um halb eins tauchte die Fähre endlich auf, traf mit einem erstaunlich sanften Aufprall gegen den Steg. Platz für sieben oder acht Autos, dazu ein paar fest verschraubte Bänke für Fußgänger. Eigentlich nicht mehr als eine schwimmende Plattform mit einer absenkbaren Rampe an jedem Ende. Sie wirkte nicht so, als würde sie der etwa halbstündigen Fahrt bis zur Insel standhalten.

Caleb wartete ab, bis die Wagen aufgefahren waren, ging dann zu dem Fährmann, der an der Rampe stand und Tickets verkaufte. Weltbester Papa, wenn man der deckellosen Tasse Glauben schenken durfte; Max Dallman, das behauptete zumindest der Fahrplan. Ein Mann mit zotteligem Haar, wenige Jahre älter als Caleb, mit den typischen Augenfalten von jemandem, der viel blinzeln muss. Er schüttelte schon den Kopf, als Caleb erst zur Hälfte seine diffuse Geschichte über einen Vermissten erzählt hatte. »Tut mir leid, aber ich sehe jeden Tag so viele Leute, da kann ich mir die Gesichter nicht merken. Ich glaube nicht, dass ich ihn erkenne.«

Ende der Leseprobe