No Words – Die Sprache der Opfer - Emma Viskic - E-Book
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No Words – Die Sprache der Opfer E-Book

Emma Viskic

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Eine verzweifelte Frau überrascht Caleb in einer dunklen Gasse. Es ist zu dunkel, um von ihren Lippen zu lesen, und ihre unbeholfenen Gebärden scheinen keinen Sinn zu ergeben. Nur zwei Begriffe versteht er: Hilfe und Familie. Dann liegt die Unbekannte tot in seinen Armen. Caleb will Antworten! Hat ihr Tod mit ihrem Engagement für eine Umweltschutzgruppe der Aborigines zu tun? Ihr stummer Hilfeschrei durchbricht die Stille, und Caleb tut alles in seiner Macht Stehende, um ihrem Anliegen Gehör zu verschaffen und den Täter zu finden.

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Für Meg und Leni

Aus dem australischen Englisch von Ulrike Brauns

© Emma Viskic 2017Titel der englischen Originalausgabe: »And Fire Came Down«, Echo publishing, an imprint of Bonnier Zaffre Limited, London 2017© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2020Covergestaltung: FAVORITBUERO, MünchenCovermotiv: SEBASTIAN KAULITZKI/SCIENCE PHOTO LIBRARY / GettyImages

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Inhalt

Cover & Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

Danksagung

Zitat

Und Feuer kam aus dem Himmel herabund verschlang sie.

Offenbarung 20,9

1. Kapitel

Ein Mann bedrängte Caleb an der Ampel. Er zuckte und schniefte, sprach stoßweise, hatte ein ausgehöhltes Gesicht und Pupillen weit wie Höhleneingänge.

Caleb deutete zu den leeren Taschen seiner Laufshorts. »Nix dabei, sorry.«

Schniefi sprach und zuckte weiter. Caleb ignorierte ihn. Dreißig Sekunden noch, dann würde er unter der kalten Dusche stehen. Die Sonne war vor einer Stunde untergegangen, aber die Hitze des Tages klammerte sich an den Asphalt und den Beton, an seine Poren. Wie dumm, überhaupt laufen zu gehen, doch die Träume der letzten Nacht hatten bis in die Tagesstunden nachgehallt und seine Gedanken mit blutigen Fingern in Schach gehalten.

Jetzt wedelte Schniefi auch noch mit einem Zettel vor seinem Gesicht herum.

Caleb versuchte, an ihm vorbeizugehen, als die Ampel grün wurde, aber der Typ tanzte ein Stück zur Seite und versperrte ihm den Weg.

»Verschwinde«, zischte Caleb.

Schniefi schob ihm den Zettel in die rechte Hand. Eine Quittung, zerknittert und feucht vom Schweiß. Auf der Rückseite stand etwas, mit fetten Buchstaben geschrieben. Er hielt den Zettel ins Licht.

Caleb

33/45 Martin St Nth Fitzroy

Sein Name, seine Adresse. Mit Lippenstift hingekrakelt. Die zittrigen Buchstaben hatten allerdings nichts Verführerisches, die einzelnen Glieder waren gesprenkelt mit Klümpchen fleischfarbenen Rosas. Es lief ihm kalt den Rücken runter.

Er schaute Schniefi an. »Woher hast du das?«

Wörter krabbelten aus dem Mund des Mannes und verschwanden in der Dunkelheit. War das ein F? Und ein R? Definitiv ein A.

»Eine Frau?«, riet Caleb. »Eine Frau hat dir das gegeben?«

Schniefi deutete die Straße hinunter. »Sie hat gesagt … und ich …«

»Langsamer. Was für eine Frau?«

»Groß, dunkle …«

Kat.

Panik ergriff Caleb. »Wo ist sie? Zeig mir, wo!«

Schniefi ging voran und sprach dabei die ganze Zeit. Sein schlurfender Gang erinnerte an ein übermüdetes Kleinkind. Schritt, Bein ziehen, Schritt. An Wohnhäusern und Pizzaläden vorbei, um die Ecke in eine ruhige Seitenstraße. So langsam. Wieso konnte er nicht schneller gehen? Um eine weitere Ecke in eine unbeleuchtete Gasse mit rostendem Schrott, holprigem Kopfsteinpflaster und dem Geruch alter Pisse. Caleb blieb nach der Hälfte stehen. Hier war es dunkel, keine Fenster an den Häuserwänden – beste Bedingungen für einen Raubüberfall.

Schniefi hatte das Ende der Gasse erreicht, wo eine schmale Gestalt aus der Dunkelheit zu ihm trat. Nicht Kat. Sie hatte nicht mal die geringste Ähnlichkeit mit Kat. Die Haut der Frau war so hell, dass sie im auffälligen Kontrast zu ihrem kurzen, dunklen Haar fast durchsichtig erschien. Dunkles Haar – Schniefi hatte ihre Haarfarbe beschrieben, nicht die der Haut. Caleb atmete auf. Natürlich war es nicht Kat. Sie war fünftausend Kilometer entfernt in Broome, nicht in einer stinkenden Gasse in Melbourne. Wenn er sich eine Sekunde Zeit zum Nachdenken genommen hätte, wäre ihm das bewusst gewesen.

Geld wechselte schnell zwischen ihnen den Besitzer, und schon schlurfte Schniefi davon. Er war nur Bote gewesen. Doch wer war die Frau? Sie war jung, vermutlich Anfang zwanzig, und trug eine braune Handtasche und ein rotes Baumwollkleid, das aussah, als würde es nach Räucherstäbchen riechen. Dunkle Gasse, ungeschützte, junge Frau – das musste eine Falle sein. Hau besser ab! Aber er warf einen Blick auf den zerknitterten Kassenbon in seiner Hand.

Caleb

»Woher kennen Sie meinen Namen und meine Adresse?«

Sie fing an zu reden, doch es war zu dunkel. Auf dem Bürgersteig an der Straße war es heller – dort würde er ihre Lippen erkennen können. Und ihre Hände.

»Gehen wir zur Straße«, sagte er. »Hier ist es zu dunkel.«

Sie schüttelte den Kopf und presste sich gegen die Wand.

Also er würde hier nicht rumstehen und warten, bis ihm jemand eins mit einer Eisenstange überzog.

»Okay«, sagte er. »Dann such dir ein anderes Opfer.«

Er wandte sich ab, und sofort schoss sie hinter ihm her und fasste nach seinem Arm. Ihre Hand war schweißnass. So große Panik ließ sich unmöglich vortäuschen. Was war er doch für ein Arschloch. Sie gestikulierte nachdrücklich, presste dann die Finger der rechten Hand in die Handfläche der linken und führte beide Hände weg vom Körper, als würde sie das Wort »Hilfe« gebärden.

»Du kannst Auslan?«, gebärdete er.

Sie starrte ihn an, als würde er einen Zirkustrick vorführen. Okay, Gebärdensprache konnte sie nicht, nur das eine Wort. Vermutlich wusste sie also mehr über ihn als nur seinen Namen und seine Adresse.

»Hilfe?«, fragte er laut. »Du brauchst Hilfe?«

Heftiges Nicken. »Ich … und … hat gesagt, du kannst helfen.«

»Wer hat gesagt, dass ich helfen kann?«

»… und … du …«

Es war hoffnungslos. Er musste sie bitten, alles aufzuschreiben. Er griff nach seinem Handy, aber da war nichts. Er und sein bescheuertes Verlangen, ungestört laufen zu können.

»Hast du ein Handy?«, fragte er. »Irgendwas zum Schreiben?«

Sie schüttelte den Kopf und versuchte sich an einer weiteren Gebärde. Sie war nicht richtig, ähnelte aber …

»Mach noch mal«, sagte er.

Zwei Finger vor zwei Fingern, dann ein Drehen der Handgelenke: »Familie.«

Familie? Ein Bruder, den er kaum kannte, und eine fast-Ex-Frau, die ihn mied und deshalb nach Broome gefahren war.

»Anton?«, fragte er. »Kat?«

Mehr Kopfschütteln, mehr unverständliche Wörter. Irgendwas mit B? Beten? Nein, das konnte nicht stimmen.

Er schlug einen versöhnlicheren Ton an. »Ich kann dich leider nicht verstehen. Meine Wohnung ist hier gleich um die Ecke. Würdest du dorthin mitkommen? Ich könnte dich auch gleich zur Polizei begleiten.«

Ihre Augen weiteten sich, sie starrte hinter ihn. Er fuhr herum und sah einen Mann, der auf sie zurannte. Stämmig, kurze, blonde Haare und eine Menge dunkler Tattoos, die sich von den Händen bis zum Hals hinaufrankten. Caleb warf sich nach hinten, sodass ihn der Schlag nur an der Stirn streifte. Trotzdem stürzte er, ging in die Knie und schlug mit dem Kopf auf das Pflaster. Steh auf! Er stemmte sich hoch. Der Mann zerrte die Frau weg, hatte sie im Schwitzkasten. Da war kein Gedanke, sondern direkt eine Handlung: Fünf Schritte zu dem Mann, eine Faust in die Niere gerammt. Fingerknöchel trafen auf feste Muskeln. Dennoch taumelte der Mann, ließ die Frau los und wirbelte herum. Ein kalkulierender Blick, mit dem er Caleb maß. Sie waren gleich groß, nur Caleb war wesentlich leichter. Der Typ ballte die Hand zur Faust, doch Caleb duckte sich rechtzeitig weg, seine Reflexe waren noch immer geschult von Tausenden Schlägereien auf dem Spielplatz. Schnell, ziel auf die Kniescheibe! Er machte eine unglückliche, falsch getimte Bewegung, traf aber immerhin das Knie des Mannes in einem abscheulichen Winkel. Der Typ ging zu Boden wie ein gefällter Baum.

Die Unbekannte? Wo war sie? Caleb rannte zur Straße. Dort, sie lief Richtung Alexandra Parade. Gut, dort gab es Menschen, Laternen und Autos. Er folgte ihr. Die Polizeiwache von Fitzroy war nur wenige Blocks entfernt – dahin würde er sie bringen und dann herausfinden, was zur Hölle hier überhaupt vor sich ging. Sie stand an der Kreuzung und wartete auf eine Lücke im Verkehr.

»Warte«, rief er, als er sie fast erreicht hatte. »Du bist hier sicher.«

Sie fuhr herum und machte einen Schritt rückwärts, den Blick auf etwas hinter ihm gerichtet. Scheiße, der blonde Typ war nur wenige Meter hinter ihm, überholte ihn nun und stürzte auf die Frau zu. Sie riss die Arme in die Luft und stolperte rücklings vom Bordstein.

Caleb griff nach ihr.

Er spürte die flüchtige Berührung, dann blitzte etwas weiß auf, es roch nach Diesel und Bremsscheiben. Ein Lieferwagen erfasste die Frau. Sie wurde in die Luft geschleudert und landete hart auf dem Boden.

Es war ein endlos langer Augenblick.

Die Unbekannte lag auf der Straße, die Arme ausgebreitet. Blut. Überall war Blut. Es blubberte aus ihrem Mund und tränkte ihr Kleid. Er hatte das alles schon mal erlebt, gesehen, wie die Pfütze größer wurde, und die süße, eisenhaltige Luft geatmet.

Ihre Lippen bewegten sich.

»… B … hat das B …«

Er zwang sich, ihre Wange zu berühren. Sie fühlte sich kalt an unter der klebrigen Wärme des Blutes.

»Alles gut. Hilfe ist unterwegs.«

Ihr Blick war auf ihn gerichtet, ihre meeresgrünen Augen umrahmt von blassen Wimpern. Eine leidenschaftliche Lebendigkeit funkelte darin, verblasste langsam und erlosch.

2. Kapitel

Er machte seine Aussage in einem seelenlosen grauen Zimmer des Polizeireviers von Fitzroy, sein Blick finster, dazu ein dumpfer Kopfschmerz. Die junge Polizistin, die ihn befragte, war mit ihren steifen Lippen und dem starren Kiefer schwer zu lesen. Und sie war ungefähr genauso begeistert von ihm wie er von ihr. Gemeinsam waren sie seine Aussage bereits zweimal durchgegangen, wobei sie jeden Satz infrage stellte und bei jeder seiner Antworten die Brauen zusammenzog. Dabei konnte er ihr die Skepsis nicht mal übel nehmen. Ein Blick in den Einwegspiegel verriet, dass er gerade sehr gut auf ein Fahndungsposter passen würde: hohlwangig, unrasiert, die Haare genauso wirr wie sein Blick. Vermutlich lallte er noch dazu, weil die Erschöpfung seine Zunge des langjährigen Sprechtrainings beraubte.

Er ging das Geschehene ein drittes Mal durch, als sie plötzlich ohne Vorwarnung aufstand. Kurz war er verwirrt, bis sie zur Tür ging. Klar, jemand klopfte. Hoffentlich jemand mit ein paar Schmerztabletten für ihn.

In der Tür stand ein großer Mann mit steinernem Gesicht und kurz geschorenem Haar. Uri Tedesco: Freund, Lebensretter, Bulle. Caleb hatte ihm vom klebrigen Münztelefon der Wache aus eine SMS geschickt, um ihm zu erklären, warum er es nicht zum verabredeten Bierchen schaffte, ihn aber nicht darum gebeten herzukommen. Eine Spur von Wut beim Gedanken daran, dass der große Mann angenommen hatte, er bräuchte Hilfe.

Tedesco warf ihm einen unlesbaren Blick zu und sprach dann mit der Polizistin. Die Wörter flogen nur so hin und her, er konnte nicht folgen. Gesprächs-Ping-Pong – der Sport, den er am meisten hasste. Also starrte er auf die Tischplatte, bis Tedesco winkte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Du kannst gehen.«

Die Polizistin wirkte nicht gerade glücklich darüber, aber Mordkommission trumpfte Constable. Immer. Ganz besonders ein Detective der Mordkommission, der die Unverschämtheit besaß, einen korrupten Kollegen zu erschießen, und trotzdem im Dienst bleiben durfte. Caleb nickte ihr kurz zu und folgte Tedesco dann durch die Wache.

Die Luft draußen ähnelte dem Atem eines kranken Hundes.

»Du hättest nicht herkommen müssen«, sagte Caleb.

Tedesco warf einen kurzen Blick auf Calebs blutbeschmierte Laufkleidung. »Ich hatte kein Bier mehr. Dachte, vielleicht ist ja bei dir zu Hause noch welches.«

 

Caleb sprang unter die Dusche, während Tedesco sich schon mal dem Bier zuwandte. Er ließ sich Zeit, benutzte viel Seife. Dann zog er sich an und machte sich auf die Suche nach seinen Hörgeräten, die er schließlich im Schlafzimmer unter einem Buch fand. Sie waren klein und blass, fast unsichtbar unter seinem dunklen Haar. Leider verstärkten sie jedes unerwünschte Geräusch, gaben Sprache allerdings nur andeutungsweise wieder. Und sie mussten gepflegt und gewechselt und gewartet und bezahlt werden. Aber ohne sie war da rein gar nichts – keine undeutlichen Wörter oder gemurmelten Laute, nur offene Münder und jede Menge Raterei. Er trug seine Hörgeräte nie zum Laufen, ebenso wenig hatte er sein Handy oder einen Block oder auch nur einen blöden Stift dabei. Würde die Unbekannte sonst noch leben? Vielleicht. Wahrscheinlich.

Tedesco saß auf dem mickrigen Balkon, der zu seiner Wohnung gehörte, und hatte schon eine halbe Flasche JamesBoag’s intus. Caleb sank auf einen der Stühle und öffnete sich auch ein Bier.

»Nicht dein Jahr«, sagte der Detective.

»Nein.«

Sieben Monate war es her, seit er nichts ahnend einen Auftrag annahm, der seinen besten Freund das Leben kostete und durch den Kat schwer verletzt wurde. Seit seine Geschäftspartnerin ihn betrogen hatte. Untertreibung gehörte definitiv zu Tedescos Stärken. Caleb trank ein paar große Schlucke und stellte die Flasche weg. Menschen mit einem sehr schlechten Jahr durften sich nicht den Luxus gönnen, ihre Sorgen zu ertränken. Zumindest nicht, wenn sie ein Dasein fristen wollten, das in irgendeiner Weise einem Leben ähnelte.

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass schon Januar war und das neue Jahr begonnen hatte. Himmel!

Caleb schob die Flasche weiter weg. »Was hast du herausgefunden?«

Tedesco zögerte, beriet sich offenbar mit seinem inneren Zensor. »Nicht viel. Keine Handtasche, kein Ausweis. Und bisher wurde sie nicht vermisst gemeldet.«

»Aber sie hatte eine Tasche. Das hab ich denen gesagt. Haben sie gar nicht danach gesucht?«

»Nee. Die haben nur mit den Schultern gezuckt und sind nach Hause.« Tedesco leerte sein Bier und stellte die Flasche auf den Tisch. »Und du kennst sie wirklich nicht? Eine ehemalige Nachbarin vielleicht?«

»Nein.« Er hatte ein untrügliches Gedächtnis für Gesichter, aber ihres hatte er noch nie gesehen. Weder auf der Straße noch in einem Geschäft, nicht mal auf einem Foto. Von hier war sie also sicher nicht.

Sein Handy vibrierte, er zog es aus der hinteren Hosentasche. Eine Nachricht von Kat.

Hab rumgefragt, niemand scheint sie zu kennen. Bist du okay? x K

Verdammt! Er hatte sofort zum Handy gegriffen, als er nach Hause gekommen war. Noch im Flur, mit blutverkrusteten Fingern, hatte er Nachrichten getippt. Lange hatte das nicht gedauert: eine an seinen Bruder Anton in Resurrection Bay, eine an Kat. Die Beschreibung der Unbekannten und eine unblutige Version ihres Todes, verbunden mit der Frage, ob sie die junge Frau geschickt hatten. Doch beide waren es nicht gewesen. Dass Kat sich noch bei ihrer Familie umgehört hatte, war seine letzte Hoffnung auf eine Auskunft gewesen.

Er unterdrückte das Verlangen, ihren Austausch künstlich in die Länge zu ziehen, und schickte eine kurze Antwort.

Tausend Dank. Alles okay. x C

Tedesco winkte. »Gute Nachrichten?«

Nur das x, wenn er ehrlich war. Ein Kuss aus Mitleid, aber ein Kuss war ein Kuss.

Er schüttelte den Kopf, und Tedesco griff nach dem nächsten Bier. »Dann war’s das wohl.«

Caleb stand auf. In den sieben Monaten, die er Tedesco nun kannte, hatte er gelernt, dass er kein Mann vieler Worte war, selten Geheimnisse verriet und lange Nächte nicht sonderlich mochte. Caleb konnte vermutlich noch mit einem Bier und vier weiteren Fragen rechnen, bevor der Detective sich verabschiedete.

»Gibt es schon irgendwelche Hinweise auf den Typen, der es auf sie abgesehen hatte?«, fragte Caleb.

Tedesco zögerte kurz. »Nein. Niemand sonst hat ihn bemerkt. Sie werden ihr Bild in den Nachrichten bringen und morgen noch mal in der Nachbarschaft rumfragen, vielleicht kommt da ja das eine oder andere Gedächtnis auf die Sprünge.«

»Mehr nicht? Ein Bild in den Nachrichten und ein bisschen rumfragen?«

»Das ist schon mehr, als man gewöhnlich bei Verkehrsunfällen macht.«

»Das war kein Unfall.«

»Caleb, ein halbes Dutzend Zeugen, eine davon Kronanwältin, haben gesehen, dass sie auf die Straße getreten ist.«

»Dann ist sie also einfach so vor ein Auto gesprungen, ja? Und ihr Tod hat rein gar nichts mit dem riesigen Kerl zu tun, der sie gejagt hat?«

Tedescos Blick lastete auf Caleb. Der Detective war nur wenige Jahre älter als er mit seinen einunddreißig, aber sein sphinxähnlicher Gesichtsausdruck war Äonen alt. »Du bist doch auf dem Land aufgewachsen. Hast du je ein verwaistes Tier aufgenommen?«

»Ich hab in der Stadt gelebt«, sagte Caleb. »Ich hatte nur mal ein Kaninchen.«

»Ich war acht, als ich das zum ersten Mal gemacht habe. Ein Osterlamm. Es hat in meinem Zimmer geschlafen, damit ich es immer füttern konnte. Hat richtig gut geklappt, es hat ordentlich zugelegt. Ich hab es Toby genannt.« Tedesco legte den Kopf schief. »Kannst du dir denken, wie die Geschichte ausgegangen ist?«

Caleb erwiderte nichts.

Tedesco leerte die Flasche bis auf wenige Fingerbreit. »War eine Scheißerfahrung, aber je mehr ich von dir höre, desto mehr glaube ich, dass dich jemand gezielt verarscht hat.«

Sollte er ihm vom heutigen Einbruch erzählen? Dem vermeintlichen Einbruch? Vermutlich heute? Alles war so vage in letzter Zeit, so wenig greifbar. Beweisen konnte er nicht, dass jemand in seiner Wohnung gewesen war, da waren nur die angelehnte Badezimmertür und das Gefühl, dass die abgestandene Luft aufgewirbelt worden war. Ein Gefühl, das er in den letzten Wochen häufiger gehabt hatte.

»Sie kannte meinen Namen«, sagte er. »Und ein paar Gebärden.«

Tedesco hob eine Schulter. »Gute Vorarbeit. Und kennt nicht jeder ein, zwei Gebärden?«

Das entsprach nicht Calebs Erfahrung. Sehr wenige Menschen in seinem Umfeld konnten Auslan, und nur zwei von ihnen fließend. Seine Eltern hatten nie auch nur ein einziges Wort gelernt.

»Du nicht«, sagte er.

Tedesco lächelte, es war das Grinsen eines selbstgefälligen Schülers, der seinen Lehrer bei einem Fehler beobachtet. Er beschrieb mit der Faust einen Kreis vor seinem Gesicht und presste dann Daumen und Zeigefinger zu einer Raute zusammen.

Caleb musste ein Lachen unterdrücken. »Lieber Gott, wo hast du das denn gelernt?«

Das Grinsen auf Tedescos Gesicht erlosch. »Was? Wieso?«

Anton. Er musste es ihm gezeigt haben. Wer sonst würde einem Polizisten beibringen, sich selbst Schweinefotze zu nennen?

»Lektion Nummer eins.« Caleb strich mit zwei Fingern über seinen Unterarm. »Das ist die Gebärde für ›Cop‹. Lektion Nummer zwei: Ant kannst du nicht trauen. Was wolltest du denn eigentlich sagen?«

»Dass ich …« Tedesco räusperte sich. »Egal.« Er trank das Bier aus und stand auf. »Zeit fürs Bett.«

Caleb warf einen Blick auf die Uhr. 00:14 Uhr. Noch viele, viele Stunden bis zum Sonnenaufgang. Aber es wäre erbärmlich, Tedesco zum Bleiben zu überreden, nur um seine eigenen Monster in Schach zu halten.

Er brachte den Detective zur Tür, verharrte aber, als er sie zur Hälfte geöffnet hatte. Die Unbekannte hatte gewusst, dass sie sterben würde. Der Ausdruck in ihren Augen. Verzweiflung, Schmerz, Angst. Diesen Ausdruck hatte er schon mal gesehen. Die Erinnerung lauerte hinter jedem seiner Gedanken und traute sich sofort an die Oberfläche, wenn er mal eine Sekunde nicht aufpasste.

»Verrätst du mir ihren Namen, wenn ihr ihn rausfindet?«, fragte er.

Tedesco schüttelte den Kopf. »Wie meine Mutter immer gesagt hat: ›Das endet nur in Tränen.‹« Er klopfte Caleb auf die Schulter. »Pass auf dich auf. Und richte deinem Mistkerl von Bruder aus, dass er sich auf was gefasst machen kann.«

Caleb kehrte ins Wohnzimmer zurück. Ihm war das kurze Stirnrunzeln Tedescos über den Zustand seiner Wohnung nicht entgangen. Jetzt fiel es ihm schwer, das Zimmer nicht mit seinem so klinischen Blick zu sehen: die übernommenen, orangefarbenen Möbel, der nicht gesaugte Teppich, der fleckige, weiße Anstrich, den Caleb in einem Anflug von Arbeitswahn um 3 Uhr in der Früh an die Wand geklatscht hatte. Die dicke Staubschicht. Nur wegen der sorgfältig bestückten Aktenschränke und des ordentlichen Schreibtischs konnte man die Wohnung nicht gänzlich als Loch abstempeln, aber viel Gemütlichkeit schufen die auch nicht.

Trust Works war seit Frankies Verrat ein bisschen ins Wanken geraten. Viele alte Klienten hatten sich in den letzten Monaten verabschiedet, neue waren nicht gekommen. Aus irgendeinem Grund schienen Firmen nur widerwillig einen Betrugsermittler beauftragen zu wollen, dessen Geschäftspartnerin eine verlogene, drogenabhängige Kriminelle war. Deshalb hatte er das Büro gekündigt und war mit Trust Works in seine Wohnung umgezogen. Gerade nahm er eher kleinere Aufträge an, die schnell erledigt waren und sofort Geld brachten. Aufträge, bei denen man Stunden vorm Computer zubrachte, aber wenig Kontakt zu Menschen haben musste. Aufträge, die er locker allein bewältigen konnte. Für die kommenden Tage stand jedoch nichts an. Nur er in seiner Wohnung mit endlos vielen, leeren Stunden.

Eine nur zu vertraute Dunkelheit wachte auf und streckte sich, um ihre scharfen Krallen über seinen Schädel streifen zu lassen.

Bewegung. Bleib in Bewegung. Er konnte sie abhängen, wenn er sich nur genug anstrengte.

Er knotete gerade seine Laufschuhe zu, als er sich an den Zettel erinnerte, den er in die Tasche gesteckt hatte. Die Unbekannte hatte seinen Namen auf eine Quittung geschrieben. Vielleicht war ihre Kreditkartennummer darauf. Er durchwühlte seinen Küchenmüll und fand die blutbefleckte Shorts unter Bananenschalen und Kaffeesatz. Er zog den Zettel aus der Tasche und betrachtete die Vorderseite. Es war nur der Beleg für eine bar bezahlte Zugfahrkarte, oben stand allerdings der Bahnhof, an dem sie gelöst worden war – Resurrection Bay.

3. Kapitel

Caleb trat aus dem Schatten der Bäume und schirmte seine Augen gegen das gleißende Sonnenlicht ab. Vor ihm erstreckte sich Resurrection Bay mit seinen silbernen Dächern zwischen blaugrünem Meer und Buschland, nach Westen breitete sich eine Kiefernplantage wie eine dunkle Metastase aus. Der Anblick erleichterte Caleb. Nicht unbedingt seine übliche Reaktion, wenn er nach Hause zurückkehrte, aber die Klimaanlage seines alten Commodore hatte wenige Kilometer nach der Abfahrt in Melbourne den Geist aufgegeben. Dreieinhalb Stunden Fahrt, die er anfangs damit zubrachte, am Lüftungsregler zu drehen und gegen das Armaturenbrett zu schlagen, nur um dann, weil damit seine Möglichkeiten erschöpft waren, die Fenster runterzulassen. 9 Uhr morgens und schon sammelte sich der Schweiß an Stellen, die besser trocken bleiben sollten.

Er warf einen Blick auf das Brandgefahrenschild am Ortseingang. Darauf war ein farbiger Fächer mit Warnungen von »mäßig« bis »Alarmstufe Rot«. Der Zeiger stand auf »hoch«, zwei Felder von der Höchstwarnstufe entfernt. Dann folgte die Zufahrtsstraße mit ihren verendenden Eisenwarenhandlungen und leeren Grundstücken der Autohändler. Der Reifenhändler hatte seit Calebs letztem Besuch vor ein paar Monaten bereits dichtgemacht. Der Franchise-Imbiss war noch da, allerdings jetzt unter dem Logo einer anderen Kette. Caleb warf einen Blick in den Rückspiegel und las nochmals den neuen Namen: Alaskan Rooster. War Alaska so bekannt für seine Hähnchen? Wenn ja, war in Resurrection Bay offenbar noch ein bisschen Überzeugungsarbeit nötig.

Er fuhr geradewegs zu seinem Elternhaus, in dem sein Bruder mittlerweile allein wohnte. Trotz der jüngsten häuslichen Bemühungen Antons hatte der Garten der Hitze nicht standgehalten, der Rasen war mehr Dreck als Gras, und die Sandbirken welkten vor sich hin. Das Haus selbst war noch immer der zweigeschossige Kasten aus hellem Ziegelstein, den ihr Vater gebaut hatte. Darin gab es kein Zimmer, das Ivan Zelic nicht perfekt verputzt hatte. Vor vier Jahren, wenige Monate vor seinem Tod, hatte er einen neuen Teppich im Elternschlafzimmer verlegt, ungeachtet seiner beschränkten Lebenszeit oder der Tatsache, dass seine Frau bereits seit zehn Jahren tot war.

»Wenn du dein Bestes gibst und es nicht reicht, gib mehr.«

Im Haus war es etwas kühler, keine sengende Hitze wie draußen, eher ein mittelwarmer Backofen. Caleb ließ seine Tasche im Flur fallen und machte seine übliche Kontrollrunde. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass Ant wieder Drogen nahm, aber alte Gewohnheiten ließen sich nun mal nur schwer ablegen. In der Waschküche war Waschpulver, im Kühlschrank Essen, außerdem gab es eine neue Couch und einen passenden Couchtisch dazu. Alles war sauber, viel sauberer als bei ihm zu Hause. Kein fehlendes Mobiliar oder Elektrogerät. Das Klavier ihrer Mutter stand noch immer an Ort und Stelle, die zu Tatzen geschnitzten Beine fest in den staubfreien Boden gestemmt. Als er jung war, hatte er stundenlang unter dem Klavier gelegen. Die Töne und Rhythmen vibrierten durch seinen Körper, während sie spielte. Jetzt legte er eine Hand an die linke Flanke des Instruments und drückte auf eine der Tasten. Sofort summte der tiefe Ton an seiner Hand. Und weiter, es gab noch so vieles zu prüfen. Auch Ants Zimmer im ersten Stock zum Beispiel. Dort war es unordentlich, aber sauber. Nichts von all dem, was einst hier verstreut lag – von Knochen kleiner Tiere bis hin zu Nadelkappen, verkohlten Löffeln, Fetzen von Alufolie und Wattebäuschen –, war zu sehen.

Einen Moment lang genoss er das Gefühl grenzenloser Erleichterung, dann kehrte er zu seinem Auto zurück. In einer Stadt mit dreitausend Einwohnern sollte wenigstens einer die Unbekannte kennen.

 

Er startete seine Suche in der Nähe des Bahnhofs, der zwar seit Jahren nicht mehr besetzt war, aber vielleicht hatte jemand aus einem der umliegenden Häuser ja die Unbekannte gesehen. Caleb arbeitete sich langsam die Straße hinunter, bewaffnet mit der Zeichnung der Frau, die in den Online-Medien veröffentlicht worden war. Viele Klingeln und verschlossene Sicherheitstüren lagen vor ihm. Seit wann verrammelten die Leute hier die Türen? Eine Entwicklung, die ihm nicht gefiel. So stand er wartend in der prallen Sonne, die sein Blut zum Kochen brachte, und konnte nicht sagen, ob die Klingel, auf die er gerade gedrückt hatte, funktionierte oder nicht.

Wenn ihm geöffnet wurde, entgingen ihm jedoch eine Menge Wörter. Die Leute nuschelten, kauten Kaugummi und lieferten ihm nur über die Intonation oder den Gesichtsausdruck irgendwelche Informationen. Er hatte seine Hörgeräte voll aufgedreht, aber mehr Lautstärke machte Nuscheln noch lange nicht verständlicher. Trotzdem war es eine gute Übung für ihn. Durch die Zusammenarbeit mit Frankie war er nachlässig geworden, er hatte sich zu sehr auf sie verlassen, weil sie immer die Lücken gefüllt hatte. Auch auf ihre Gesellschaft hatte er sich zu sehr verlassen. Auf ihre bissigen Kommentare und ihren schwarzen Humor. Ihre Fähigkeit, ihm auf die Schliche zu kommen, wenn er nachlässig wurde, und ihm dann gehörig in den Hintern zu treten.

Er blieb stehen, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Sofort beschlich ihn das kribbelnde Gefühl, dass ihn jemand beobachtete. Ein schneller Blick verriet, dass in der Nähe ein Jugendlicher mit einem BMX-Rad das Fahren auf dem Hinterrad übte und eine Mutter ein schreiendes Kleinkind hinter sich her über den Bürgersteig zerrte. Offenbar spielte ihm seine Wahrnehmung einen Streich. Die Straßen seiner Kindheit beschworen alte Gewohnheiten herauf, die stete Verteidigungshaltung auf dem langen Nachhauseweg vom Bus. Er war der Einzige aus dem Ort gewesen, der aus diesem Bus stieg, das Wort »Förderschule« wirkte wie ein Köder für alle Blutrünstigen.

Er ging zur Hauptstraße, die direkt am Ufer lag und mit einer wilden Mischung aus alten Natursteingebäuden und den seelenlosen Kästen der Siebziger bebaut war. Der Strand reflektierte das Sonnenlicht extrem, außerdem wehte ein strenger Geruch von fauligem Seetang herüber. Er bog in die Bay Road und blieb stehen: Quer über den Fußweg verlief Absperrband der Polizei. Caleb wich auf die Straße aus. Die Schaufenster des Zeitschriftenhändlers waren behelfsmäßig mit Brettern vernagelt, und gerade setzten zwei Männer wenige Türen weiter neue Scheiben bei Dreamtime Crafts ein. Im Inneren lagen massenweise zersplittertes Holz und zerbrochene Gegenstände aus Ton. Was war hier passiert? Ein Autounfall? Eher schwer vorstellbar bei zwei Läden, die mehrere Meter auseinanderlagen.

Neben ihm bewegte sich etwas. Ein älterer Mann war zu ihm getreten und schien zu glauben, dass sie eine Unterhaltung führten. Er war klein, seine Haut rosig, und er trug einen Sommerschlafanzug, dazu einen entzückenden Panamahut.

»… finden Sie nicht?«, fragte Panamahut.

»Wie bitte?«

»Ich habe gesagt, das ist eine verdammte Schande. Woher krieg ich denn jetzt meine Zeitung?« Jedes Wort ein kleiner, harter Brocken, der durch eine Lippenöffnung gepresst wurde, die einem Katzenanus nicht unähnlich sah. Leicht zu lesen, aber nicht gerade ansprechend.

»Wissen Sie, was hier passiert ist?«

»Angeblich Kids, die Unfug getrieben haben.«

»Kids? Das sollen Kids gewesen sein?«

»Jugendliche«, sagte Panamahut. »Man sollte sie alle einsperren.«

Das hielt er für ein bisschen übertrieben, aber was wusste Caleb schon? Er zog die Zeichnung aus der Tasche und stellte seine Fragen.

Panamahut schüttelte den Kopf. »Was hat die denn mit ihren Haaren gemacht?«

Caleb verharrte in der Bewegung. »Heißt das, Sie kennen sie?«

»Na, selbstverständlich. Das ist … Was hat die sich denn da angetan? Sie hatte lange, blonde Haare. Die sieht ja aus wie eine verdammte Lesbe.«

Blond, na klar. Ihre Haare waren viel zu dunkel für den hellen Teint und die hellen Augenbrauen. Dazu der eher kantige Schnitt – klassische Hinweise auf einen schnellen Amateurfriseur. Nichts, was ihm normalerweise entgehen würde, aber neuerdings schien er auf sehr kleiner Flamme zu laufen. Kein Wunder, dass sie niemand erkannt hatte. Die Leute achteten nicht auf Gesichter, sie merkten sich andere Besonderheiten: der Mann mit dem Bart, das Mädchen mit der Brille. Die Frau mit den langen, blonden Haaren.

»Wie, sagten Sie, war ihr Name?«

Der Katzenanus quetschte zwei Silben heraus, schätzungsweise fing die erste mit P an. Oder mit M. Oder B.

»Wie bitte?«

»Mmmmma.«

Hieß das Paula? Oder Mona vielleicht? Verdammt! Er hatte das starke Gefühl, dass ein Geständnis seinerseits in eine sehr lange und sehr umständliche Unterhaltung ausarten würde.

Er holte seinen Notizblock hervor. »Wie schreibt sich das?«

»Keine Ahnung, wie der Wagen, den sie fährt, vielleicht?«

Zwei Silben, wie eine Automarke. Mazda. Holden. Camry. Ah, Porsche.

»Portia?«

»Ja, ziemlich bekloppter Name, wenn Sie mich fragen.«

»Woher kennen Sie sie?«

»Ein Trupp ihrer grün versifften Leute hat die ganze letzte Woche neue Bäume nebenan gepflanzt. Haben mich mit ihrem Scheißlärm geweckt, deshalb hab ich ihr mal gründlich die Meinung gesagt. Ganz schön empfindliches Geschöpf. Aber nicht schlecht anzusehen.«

»Eine internationale Umweltorganisation?«

»Nee, Australier. Die meisten von ihnen jedenfalls. Ein paar dunklere Typen sind dabei, vielleicht Ausländer. Aber die sind definitiv nicht wählerisch, ein paar Abos arbeiten auch da.«

Caleb musste kurz schlucken. »Was wissen Sie denn über Portia?«

»Oh, weißer als weiß, die Gute. Der Stammbaum könnte nicht reiner sein.«

Nach dieser Unterhaltung musste er dringend duschen. Vielleicht war sogar eine antibakterielle Grundreinigung angebracht.

»Und ihr Nachname?«

»Herst, glaube ich.«

Hirst? Hearst? Hurst? Er würde nicht nachhaken.

»Haben Sie eine Ahnung, wo sie wohnt?«

»Hab sie in die alte Villa am Fluss gehen sehen. Viel Geld, wahrscheinlich Juden.«

4. Kapitel

Die Villa stand auf einem kleinen Hügel, von dem aus sie den Red Water Creek überblickte. Ein anmutiges Gebäude aus Naturstein mit ausladenden Terrassen, das in Calebs Kindheit leer gestanden hatte. Vor Kurzem hatte offenbar jemand eine ordentliche Summe in die Renovierung gesteckt. Das Haus hatte ein neues Schieferdach und Eisenornamente erhalten, außerdem war es von einem saftigen Garten umgeben, dessen Grün in der starken Nachmittagssonne nur so leuchtete. Auf dem gravierten Schild am schmiedeeisernen Tor stand: Hirst.

Caleb parkte und machte einen kleinen Umweg zu einem Roten Eukalyptusbaum, der am Ufer des Bachs stand. Es war einer der wenigen Narbenbäume, die es noch in der Gegend gab. Die Rinde war glatt mit weißen Sprenkeln. Nur ein ovaler Bereich hob sich dunkel vom blassen Stamm ab. Er war größer als ein Mensch und etwa eine Spannweite breit: Hier hatten Kats Vorfahren vor Jahrzehnten eine große Fläche aus der Rinde geschnitten, um damit ein Kanu zu bauen. »Alter Gefährte«, hatte Kat gesagt, als sie beide als Teenies bei einem ihrer hormondurchtränkten Spaziergänge auf der Suche nach ein wenig Privatsphäre hier vorbeigekommen waren. Nicht zufällig, wie er nun vermutete – sie hatte dem Gubba-Jungen ihre Geschichte gezeigt und beobachtet, wo er seine übergroßen Füße platzierte.

Sie war mittlerweile schon vier Monate weg, hatte sich auf den Weg gemacht, als er gerade wieder erste Anzeichen ihres alten Selbsts aufblitzen sah. Sie war seinetwegen verletzt worden. Gequält. Ihr Arm war aufgeschlitzt worden, ihre Finger gebrochen, Blut war aus ihren Venen geronnen und hatte auf dem staubigen Boden der Lagerhalle eine Pfütze gebildet. Und er hatte hilflos zusehen müssen. Aber aus irgendeinem unbegreiflichen Grund schien sie ihm keinen Vorwurf zu machen. Sie hatten die drei Monate nach dem Vorfall damit verbracht, sich langsam durch die Ruinen ihrer gemeinsamen Vergangenheit zu tasten, waren noch nicht wieder zusammen, kamen sich aber in Zeitlupe näher. Und dann war sie weggefahren. Der Anruf einer Freundin und der Vorschlag, einen Roadtrip zu machen, und schon war sie fort, ließ ihn verwirrt zurück. Sie schickte ihm wortreiche Mails, die mit solcher Pünktlichkeit freitagabends eintrafen, dass sie auf eine Erinnerung in ihrem Kalender hindeuteten. Sie schrieb nie über die Dinge, die er unbedingt wissen wollte, sich aber nicht zu fragen traute: Hatte sie noch Schmerzen in der Hand? Konnte sie wieder künstlerisch arbeiten? Gab es überhaupt noch eine Chance für sie beide?

Er presste kurz die Hand gegen den Baum und ging dann zum Haus.

Eine diskrete, schwarze Gegensprechanlage war in den Pfeiler neben dem Tor eingelassen. Gegensprechanlagen – ein noch größeres Übel als Türklingeln. Er drückte auf den Knopf und wartete. Drückte noch einmal. Die Haustür öffnete sich, und ein Mann über sechzig kam heraus. Er trug ein ordentlich gebügeltes Hemd und eine beigefarbene Hose. Er unterzog Caleb einer unmissverständlichen Musterung, betrachtete seine Kleidung, als wolle er seine Gehaltsklasse schätzen und welche Gefahr von ihm ausgehen könnte. Caleb lächelte und winkte. Als i-Tüpfelchen ließ er gleich noch ein bisschen die Schultern hängen. Zu viel des Guten? Nein, der Mann kam zu ihm.

Er erreichte das Tor und musterte Caleb gleich noch mal, eigentlich auf Augenhöhe, obwohl er dabei ein bisschen hochnäsig wirkte. Trotz des kurzen Weges war er ein bisschen außer Atem.

»Funktioniert die Gegensprechanlage nicht?«, fragte er.

»Keine Ahnung. Ich suche jemanden, der Portia Hirst kennt.«

Eine Miniregung auf dem Gesicht des Mannes. Wut? Angst? »Ich bin ihr Vater. Dean Hirst. Was wollen Sie?«

Panik keimte in Caleb. Er war nur hergekommen, um sich Portias Identität bestätigen zu lassen. Es war nicht sein Job, einem Vater zu erzählen, dass seine Tochter tot war. Das war der Job der Polizei, von einem Therapeuten oder Priester.

»Ich heiße Caleb Zelic. Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen zu Portia stellen.«

Er reichte seine Visitenkarte durch das Tor. Normalerweise entspannten sich die Menschen bei ihrem Anblick und fassten direkt Vertrauen durch die serifenlose Schrift.

Hirst jedoch runzelte die Stirn. »Dann kommen Sie besser rein.«

 

Im Haus war es kühl, und es roch nach Wachs und Geld. Hirst führte Caleb in ein kleines Arbeitszimmer, das gut in ein exklusives Bestattungsunternehmen gepasst hätte. Die Wände waren wie für Kunst gemacht, trotzdem hing dort nur ein einziges Gemälde: Darauf waren Hirst selbst und daneben eine jüngere Frau mit einem Jugendlichen und einem Kleinkind. Niemand lächelte. Ein Echo von Portia zeigte sich in ihrer Mundpartie und den grünen Augen.

Hirst deutete auf eine Couch in einer dunklen Ecke, aber Caleb steuerte sofort ein Stuhlpaar mit starren Rückenlehnen direkt am Fenster an. Erst zögerte Hirst, dann folgte er ihm. Seine Atmung ging schwer. Dies wäre ein guter Moment, den Ventolin-Inhalator zu benutzen, der in seiner Brusttasche steckte. Die Umrisse waren klar zu erkennen, aber er würde ihn vor Caleb nicht anwenden. Er war der Typ Mann, der körperliche Schwäche mit moralischer gleichsetzte. Das würde ein lustiges Gespräch werden.

»Worum geht es?«, fragte Hirst. »Warum interessieren Sie sich für Portia?«

Darauf antwortete er am besten mit einer Halbwahrheit. »Sie war gestern Abend bei mir in Melbourne. Wahrscheinlich gibt es eine Verbindung zu einem meiner laufenden Aufträge.«

»Wer war bei ihr?«

Komische Frage.

»Niemand.«

»Warum war sie bei Ihnen?«

Also hatte Hirst ihn hereingelassen, um ihn über Portia auszuhorchen. Und das nicht gerade subtil. Dieser Mann war es gewohnt, direkte Fragen zu stellen und direkte Antworten zu bekommen. Außerdem hatte er ein sehr interessantes Sprachmuster. Perfekt geformte Konsonanten, dicht gefolgt von einer sehr flachen Ausführung: Da schimmerte eine Kindheit in ärmlichen Verhältnissen durch die Fenster einer kultivierten Fassade.

»Das weiß ich nicht«, sagte Caleb langsam. »Darüber konnte ich leider nichts in Erfahrung bringen. Haben Sie mit ihr gesprochen, bevor sie die Stadt verlassen hat?«

Hirst hob die Hand. »Ich hab sie seit Tagen nicht gesehen.«

»Sie war nicht hier? Wurde sie vermisst?«

»Sie ist flatterhaft. Wechselt die Hauptfächer im Handumdrehen, wechselt die Jobs, zieht mir nichts, dir nichts um. Mal ein paar Tage lang durchzubrennen, ist für sie nicht ungewöhnlich.«

Und trotzdem ließ er Caleb rein, um ihm Fragen zu stellen.

»Ist Portias Mutter da?«

»Wir sind geschieden, sie …« Hirsts restliche Wörter gingen verloren, weil er sein Handy hervorholte und das Display böse anfunkelte. Offenbar war das Gespräch für ihn schon abgehakt: Er hatte anderes zu tun, andere Leute einzuschüchtern.

»Entschuldigung«, sagte Caleb, »könnten Sie das noch mal wiederholen?«

Ein irritierter Blick. »Sie wohnt in Adelaide.«

»Arbeitet Portia? Oder studiert sie?«

»Sie rennt rum und pflanzt Bäume und …« Ein weiteres Mal senkte er den Kopf zum Handy.

»Entschuldigen Sie, könnten Sie mich ansehen, wenn Sie sprechen?«

Wieder flog eine Gefühlsregung über Hirsts Gesicht. Diese ließ sich leicht deuten – Wut.

»Wie bitte?«

Frankies oberstes Gebot bei Befragungen: dem Objekt nicht auf den Sack gehen.

Caleb holte Luft und sagte es einfach. »Ich bin taub. Ich muss Ihr Gesicht sehen, wenn Sie sprechen.«

Hirst betrachtete ihn ausdruckslos, dann lehnte er sich zurück. Caleb hatte das starke Gefühl, dass seine Gefahrenstufe damit von »mittel« zu »nicht nennenswert« gefallen war.

»Oh, verstehe«, sagte Hirst. »So was muss man als Prüfung sehen.«

Gut zu wissen.

Caleb holte sein Notizbuch heraus. »Könnten Sie mir ein paar Namen von Portias Freunden nennen?«

»Ich glaube kaum, dass sie hier jemanden kennt – sie ist erst vor fünf Monaten hergekommen.«

»Wo hat sie vorher gewohnt?«

»In Adelaide.«

»Wieso ist sie umgezogen?«

»Wie bitte?«

»Es ist ungewöhnlich, dass eine Frau in ihrem Alter von einer Großstadt in so einen kleinen Ort zieht. Was war der Grund?«

Hirst schwieg.

Caleb wartete ab. Die meisten Hörenden verfielen in Panik, wenn sie zu lange der Stille ausgesetzt wurden. Dann verschossen sie Wörter wie Signalraketen, damit sie schnellstmöglich wiedergefunden wurden. Caleb hatte bislang nur wenige getroffen, die länger als fünf Sekunden durchhielten. Hirst schaffte sieben.

»Probleme mit einem Ex«, würgte er hervor.

Sechshundert Kilometer waren eine ziemliche Strecke, um einen Ex hinter sich zu lassen. War der blonde Mann in der Gasse Portias Freund gewesen? Steckte dahinter nur die alte Geschichte, dem Falschen vertraut zu haben?

»Wenn das alles ist.« Hirst stand auf und strich sich die Hosenbeine glatt.

»Selbstverständlich. Ich werfe noch einen kurzen Blick in Portias Zimmer, und dann sind Sie mich los.«

»Ich muss wieder an die Arbeit.«

Caleb wandte den Trick mit der Stille noch einmal an, diesmal wurde er schon nach fünf Sekunden belohnt.

 

Hirst stand in der Tür, während Caleb sich in Portias Zimmer umsah. So, wie sie gekleidet gewesen war, hätte er was anderes erwartet – hier gab es keine tibetanischen Gebetsfahnen oder Räucherstäbchen, nur schlichte weiße Wände und einen cremefarbenen Bettüberwurf. Die einzige Deko bestand aus einem Foto von Portia, als sie etwa zehn Jahre alt war, neben sich eine ältere Version des Jungen vom Porträt im Erdgeschoss. Eine Handvoll Sachbücher standen alphabetisch sortiert daneben: Der kluge Weg zum Verkaufen, Journalismus und Marketing, VWL und du. Er blätterte darin und las Wörter, die so trocken waren, dass sie ihm die Feuchtigkeit aus den Augen sogen. Kein Computer. Auch in den Schubladen war nichts Nennenswertes, nur Stifte, Papier und eine Myki-Karte für den öffentlichen Nahverkehr. Er nahm sie in die Hand. Der Beleg, auf den sie Calebs Namen und seine Adresse geschrieben hatte, war für eine Myki-Aufladung gewesen. Wessen Karte hatte sie genutzt, wenn ihre eigene hier in der Schublade lag? Und warum war sie mit dem Zug gefahren? Vermutlich gab es nicht viele Porschebesitzer, die eine vierstündige Fahrt in einem voll besetzten Zug einer Tour in ihrem Wagen vorzogen.

Er wandte sich an Hirst. »Ist ihr Auto noch hier?«

»Nein.«

»Ist es ein Porsche?«

Hirsts Lippen wurden schmal. »Ihre Art von Humor.«

»Rot?«

»Weiß.«

In ihrem Schrank war noch mehr weiß. T-Shirts getrennt von Röcken getrennt von Kleidern. Alle weiß, beige oder cremefarben. Nicht die geringste Spur von roter Baumwolle.

»Das reicht«, sagte Hirst, als Caleb die Tür des Kleiderschranks schloss.

Caleb folgte ihm zur Haustür, blieb aber auf der Schwelle noch einmal stehen. »Wo hat Portia Gebärdensprache gelernt?«

»Gebärdensprache? Keine Ahnung.«

»Von Ihnen also nicht?«

»Natürlich nicht.« Hirst schloss die Tür.

 

Caleb fuhr die vier Blocks bis zu Ants Haus mit heruntergelassenen Fenstern und voll aufgedrehter Lüftung, kam aber trotzdem völlig verschwitzt an. Er ging geradewegs unter die Dusche, drehte das kalte Wasser auf und schloss die Augen. Damit war die Sache erledigt. Vierundzwanzig verstörende Stunden, in denen er wenigstens herausgefunden hatte, wer Portia war. Jetzt konnte sie von ihrer Familie beerdigt und von Menschen betrauert werden, die sie tatsächlich kannten. Wer ihr die Zugkarte oder das rote Kleid geliehen hatte, war unwichtig. Auch, wer sie zu ihm geschickt hatte. Und dass er das Licht in ihren Augen ein letztes Mal aufflackern und dann erlöschen sehen hatte. Er würde der Polizei weitergeben, was er wusste, und dann weitermachen. Mit seinem Leben. Oder so was in der Art.

Er zog sich gerade an und war noch immer klamm, als das Licht rhythmisch zu blinken begann: Jemand klingelte. Er öffnete einer Frau Mitte dreißig die Tür. Mit ihrem zerzausten braunen Haar, dem billigen Hosenanzug und einer schwarzen Tasche, die aussah, als wäre sie eine Gratisbeigabe zu einem günstigen Laptop gewesen, wirkte sie wie eine Verkäuferin, die all ihr Geld in den neuen silbernen Volvo steckte, der vorm Haus stand.

»Hallo, ich bin …«

Mist, seine Hörgeräte waren noch im Bad. Das würde eine kurze Unterhaltung werden.

»Tut mir leid, ich habe kein Interesse.«

»Nein, nein.« Über ihr Gesicht huschte ein teures Lächeln, das zum Auto passte, weniger zu ihrem Hosenanzug. Trotzdem blieb es ohne Echo in ihren Augen. »Ich bin …«

Ein Moment der Hilflosigkeit, als sie umständlich Handy und Tasche in eine Hand verlagerte, um ihm die andere entgegenstrecken zu können. Ein unerwartet fester Händedruck. Dazu ein Hauch von Parfum, irgendwas süßlich Aufdringliches – Jasmin.

Sie drückte ihm das Handy gegen die Brust.

Feuer.

Schmerz.

Fallen.

5. Kapitel

Er lag am Boden. Seine Muskeln krampften. Ein keuchender Atemzug. Noch einer. Jasmin stand über ihm, sah zu, wie er sich wand. Bei ihr war nun ein etwas älterer Mann, mit einem schmalen Gesicht und dicken Tränensäcken. Er durchsuchte gerade Calebs Tasche.

Beweg dich! Steh auf! Unter großer Anstrengung gelang es ihm, den Kopf wenige Millimeter anzuheben.

Tränensack schielte desinteressiert zu Caleb. »Nichts«, sagte er zu Jasmin. Er ließ die Tasche zurück und ging den Flur hinunter.

Erneut ein Hauch von Parfum, als Jasmin sich neben ihn kniete, noch immer das Handy in der Hand. Nein, kein Handy: ein Taser. Noch dazu ein verdammt wirkungsvoller.

Sie hielt ihn hoch. »… noch mal …?« Ihr Gesicht war ausdruckslos, ihr Mund hart.

Er schluckte, versuchte, seine Zunge zu überreden, sich zu bewegen. »Wie bitte?«

»Antworte oder … noch mal, okay?«

Nein, nicht okay. Alles andere als okay.

Er nickte.

»… wo … sie …?«

»Wie bitte?«

Jasmins Hand kam näher.

»Halt. Kann. Nicht. Hören.«

Sie presste den Taser gegen seine Brust. Diesmal war es schlimmer. Ein Schlaghammer traf auf sein Herz, zertrümmerte seine Rippen. Es dauerte Minuten, bis sein Hirn sich wieder einschaltete. Stunden.

Tränensack war zurück, schaute auf die Uhr. »… müssen weiter.«

Jasmin nickte und wandte sich an Caleb. »Was hat … und …«

»Langsamer. Kann. Nicht. Hören.«

Sie schockte ihn nicht noch mal, sie packten ihn einfach bei den Füßen und zerrten ihn zum Bad am Ende des Flurs. Sein Kopf holperte über die Terrakottafliesen. In der Wanne war Wasser. Warum war da Wasser? Tränensack zerrte ihn auf die Knie und tunkte seinen Kopf unter.

Wasser in Mund und Nase. Fuchtelnde Panik. Luft! Er brauchte Luft!

Raus. Husten, stoßweises Atmen.

Jasmin stand neben ihm, sagte irgendwas. Stellte sie weitere Fragen? Caleb drehte den Kopf zu ihr, aber Tränensack rammte ihm die Hand in den Nacken und drückte ihn erneut unter Wasser. Er versuchte sich zu wappnen, aber seine Muskeln ähnelten zu lange gekochten Spaghetti.

»Moment! Taub!«

Wieder unter Wasser, ohne wirklich Luft zu holen. Seine Brust schmerzte, der Druck im Kopf stieg. Die Dunkelheit verdichtete sich.

Und raus. Da war eine Faust in seinen Haaren. Jasmin riss seinen Kopf zu sich herum. Sie kniete neben ihm, ihre haselnussbraunen Augen auf ihn gerichtet, kein Blinzeln. Der Furcht einflößende Gedanke, sie könnte das stundenlang weitermachen. »… dir gegeben?«

Was Portia ihm gegeben hat?

»Nichts«, sagte er. »Sie wollte Hilfe, sonst nichts.«

»Hilfe wobei?«

»Keine Ahnung. Es blieb keine Zeit.«

»Was hat sie dir gegeben?«

»Nichts.«

Jasmin nickte Tränensack zu.

»Nein, Moment!«

Tränensack drückte ihn wieder über den Wannenrand und unter Wasser. Länger diesmal, seine Lunge brannte. Er musste einatmen. Wieder raus. Husten, würgen, Feuer in der Kehle.

»Nichts«, sagte er schnell. »Durchsucht das Haus. Ich habe nichts.«

Ein winziges Nicken – sie glaubte ihm, danke, ey. Dann würden sie jetzt gehen.

»… gesprochen?«, fragte sie.

»Wie bitte?«

Tränensack umschloss sein Handgelenk fester.

»Moment«, flehte Caleb. »Sagen Sie das noch mal.«

Ihre Augen wurden schmal, aber sie wiederholte ihre Frage. »Mit wem hat sie sonst noch gesprochen?«

»Weiß ich nicht, wir hatten ja nicht mal Zeit zum Sprechen. Ich weiß rein gar nichts.«

»Ganz genau … du hältst dich da raus. Verstanden?«

Er nickte.

»… keine Bullen, sonst kommen wir wieder … viel schlimmer … Verstanden?«

»Ja.«

»Gut.« Sie tätschelte seine Wange und stand auf.

Sie würden aufbrechen.

Tränensack drückte seinen Kopf zum Wasser. Nein. Er wehrte sich. Dafür bekam er ein Knie in den Rücken, seine Hand wurde weiter verdreht. Schon war er wieder unter Wasser. Viel länger. Zu lang. Schmerz explodierte in seiner Brust. Werde einatmen, werde …

6. Kapitel

Er lag auf der Seite, hustete und würgte. Eine kleine Lache Erbrochenes war vor ihm auf dem Boden. Sie waren weg. Steh auf, schließ ab. Er versuchte es, aber seine Beine hatten keine Knochen mehr. Er gab auf, kroch auf allen vieren zur Tür und schob den Riegel vor. Lehnte sich dagegen. Er fror, seine Zähne klapperten, seine Sachen rochen sauer nach Kotze. Da war noch ein Geruch – Urin. Verdammt, Tränensack hatte ihn angepisst? Nein, ein dunkler Fleck in seinem Schritt. Er musste sich selbst bepinkelt haben, als er getasert wurde. Verdammte Scheiße. War ihnen das aufgefallen? Hatten sie ihn ausgelacht? Langsam kam er doch auf die Beine und zog sich schwankend mit spitzen Fingern aus. Ab unter die Dusche, das Wasser musste heiß sein, so heiß, wie er es gerade noch ertragen konnte. Heißer.

Er machte einen Streifzug durchs Haus und verschloss Fenster und Türen, die noch nie geschlossen gewesen waren. Spuren von Tränensacks Durchsuchungsaktion waren überall – halb offene Schubladen und Schränke, eine umgestürzte Vase –, aber keine mutwilligen Schäden. Eine angenehme Abwechslung. Normalerweise zerstörten die Leute seine Sachen, wenn sie etwas bei ihm suchten.

Dann zog er sich in die Küche zurück und knöpfte sich selbst die Küchenschränke vor, bis ihm einfiel, dass Ant gerade keinen Alkohol trank. Dann halt Tee. Er schaltete den Wasserkocher ein und fand eine dubiose Packung mit Teebeuteln hinten in einem der Schränke. Nur ein paar Augenblicke, um seine Gedanken zu sammeln, dann würde er zur Polizei gehen. Die beiden zu beschreiben würde ihm nicht schwerfallen. Jede Sommersprosse, jedes Haar hatte sich ihm ins Gedächtnis gebrannt.

»Keine Bullen, sonst kommen wir wieder.«

Nur eine Einschüchterungsstrategie, er war nie wirklich in Lebensgefahr gewesen. Aber sein Körper hatte das noch nicht begriffen, seine Hand zitterte wie verrückt, während er das Wasser in die Tasse goss. Der Teebeutel stieg schlaff an die Oberfläche, wie Treibgut auf einem blassbraunen Gezeitenstrom. Tee war Kats Getränk, jede Gelegenheit erforderte die richtige Wahl – von Liebeskummer bis Freude. Wäre sie jetzt hier, sie würde auf losen Tee bestehen und etwas Honig hinzufügen, um seine Nerven zu beruhigen. Der Gedanke an sie versetzte ihm einen Stich. Dumm. Er sollte dankbar sein, dass sie nicht hier war und seinen Zusammenbruch mitbekam.

Das Deckenlicht blitzte rhythmisch auf: Jemand klingelte. Sofort war er auf den Beinen, sein Herz raste. Er bewegte sich langsam auf die Haustür zu. Kein Türspion, keine Sicherheitskette. Sein Vater hatte keine Veranlassung dazu gesehen, hätte sich nie vorstellen können, je hinter einer Tür zu kauern, zu ängstlich, um sie zu öffnen. Das Flackern hörte auf, fing wieder an. Caleb griff nach einem gusseisernen Türstopper und riss die Tür auf.

Auf der Veranda stand Ant in einer schmutzigen leuchtend orangefarbenen Jacke und passender Latzhose, einen weißen Helm unter dem Arm, rußbeschmiert und verschwitzt. Seine Augen mehr rot als braun. »Das hat ja ewig gedauert. Warum hast du abgeschlossen?« Er schob sich an Caleb vorbei, ließ den Helm zu Boden fallen und ging über zum Gebärden. »Was machst du mit dem Türstopper?«

»Ach, den nutze ich als Hantel.« Caleb demonstrierte ein paar wacklige Armbeugen. »Wozu die Uniform von der Country Fire Authority?«

»Ich arbeite für die. Draußen beim Highway war ein Buschbrand.«

Sein kleiner Bruder, nur beständig in seiner Unbeständigkeit, arbeitete bei der freiwilligen Feuerwehr. Das musste er erst mal verdauen.

Ende der Leseprobe