Noch haben wir die Wahl - Luisa Neubauer - E-Book
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Noch haben wir die Wahl E-Book

Luisa Neubauer

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Beschreibung

Deine Normalität ist meine Krise - Wir müssen reden! 2021 ist ein Jahr der Zäsuren. Mit der Bundestagswahl endet nach 16 Jahren die Ära Merkel, und in einer historischen Entscheidung stärkt das Bundesverfassungsgericht die Freiheitsrechte der jüngeren Generation. Die Ökologie steht nun endlich im Zentrum aller Zukunftsfragen: Wirtschaft, Verkehr, Ernährung, aber auch Wissenschaft, Journalismus und Politik – elementare Bereiche der Gesellschaft müssen neu gedacht werden. Große Umbrüche stehen bevor. Und es hängt viel davon ab, ob wir gemeinsame Lösungen finden. Wieviel Ehrlichkeit verträgt der Konflikt zwischen den Generationen? Wir müssen dringend miteinander reden. Aktivistin und Vize-Chefredakteur, Studentin und Familienvater: Spannend, offen und klug diskutieren Luisa Neubauer und Bernd Ulrich die Schicksalsfragen unserer Tage. Denn Noch haben wir die Wahl. Grundlegende Beziehungen sind aus dem Gleichgewicht geraten. Es gibt einiges zu klären. Denn nur wenn wir jetzt zusammenkommen und die richtigen Entscheidungen treffen, haben wir auch in Zukunft noch eine Wahl. Was muss passieren, damit wir die Veränderungen selbst in der Hand behalten? Wie kann es gelingen, Jung und Alt, Mann und Frau, Stadt und Land nicht gegeneinander auszuspielen, sondern zusammenzudenken? Gibt es Freiheit ohne Nachhaltigkeit? Aktivistin und Vize-Chefredakteur, Studentin und Familienvater, Millennial und Boomer – Luisa Neubauer und Bernd Ulrich haben je eine andere Sicht auf die Klimakrise, das Artensterben, den erstarkenden Populismus und die Freiheit der Späterlebenden. Ein überfälliges Klärungsgespräch zwischen zwei Generationen und die Analyse einer Welt, in der Ökologie nicht bloß ein Thema unter vielen ist, sondern Ausgangspunkt von allem.

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Seitenzahl: 265

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Dies ist der Umschlag des Buches »Noch haben wir die Wahl« von Luisa Neubauer, Bernd Ulrich

Luisa NeubauerBernd Ulrich

Noch haben wir die Wahl

Ein Gespräch über Freiheit, Ökologie und den Konflikt der Generationen

TROPEN SACHBUCH

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Redaktionelle Bearbeitung: Katrin Blum

Illustration Goldregenpfeifer: © Climate Justus

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung zweier Fotos von © Axel Martens, Hamburg

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-50520-7

E-Book ISBN 978-3-608-11716-5

Vierte, vollständig durchgesehene und aktualisierte Auflage, 2024

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorweg

1. Plötzlich Öko? Von wegen! Über die Widersprüche zweier Leben

2. Flucht ins Detail – die neue Phase in der Klimawende

3. Der Flügelschlag einer Fledermaus – Klima und Corona

4. Die Natur braucht keine Klimawende: Warum es am Ende um die Freiheit geht

5. Sich mit nichts gemein machen? – die Rolle der Medien

6. Leben nach Merkel – Möglich machen, was nötig ist

7. Von wegen Schöpfung – das Kreuz mit der Union

8. Lieber Heucheln als Leugnen? – Die Parteien und die 1,5 Grad

9. Fridays for Future: Freitags streiken, sonntags wählen?

10. Du mich auch – der Konflikt der Generationen

11. Ist nicht alles Meinung – Wissenschaft in den Krisen

12. Geopolitik auf einer neuen Erde – was nach der fossilen Weltordnung kommt

13. Die Rechte der Späteren, der Ärmeren und der Anderen – grüne Demokratie und ökologische Moral

14. Hunger nach Sinn – warum wir die Erde zerstören und wie wir damit aufhören können

15. Die sogenannte Macht und das Sein-Lassen – oder: wie lebt es sich am Strand, wenn der Meeresspiegel steigt?

16. Besser leben als je zuvor – was Hoffnung macht

17. Eine Mikro-Utopie

Anmerkungen

Vorweg

Fangen wir mit den drei Warums an:

Warum noch ein Buch über das Klima? Warum ein Buch aus einem Gespräch heraus? Warum wir zwei?

Das letzte zuerst: Offenkundig kommen wir aus zwei Welten, unsere wichtigste Gemeinsamkeit heißt: »irgendwas mit Klima«. Ansonsten sind unser Alter, unser Geschlecht, unsere Ausbildung und unsere Rollen doch ziemlich verschieden. Bernd ist as Boomer as it gets, stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT, Kind des Ruhrgebietes, verstrickt in hochproblematische Institutionen (Schalker und dann auch noch katholisch), fünffacher Vater und bei unseren Gesprächen Spree-auf, Spree-ab ist er unhöflicherweise konsequent pünktlich. Luisa hingegen steigt zuverlässig sieben Minuten zu spät vom Rennrad, ist im Hamburger Westen aufgewachsen, wundert sich im Geographiestudium, wie alle so ruhig bleiben können, wenn es um die Lebensgrundlage der Menschheit geht, und ist nicht nur gleichzeitig Millennial und Generation Z, sie ist vor allem Teil der Generation Klima. Mit ihr wurde Klimaaktivistin zum Hauptberuf, der einzige Beruf, der das Ziel verfolgt, sich selbst abzuschaffen.

Bei den Zwiegesprächen über die Zukunft des Klimas nach der Pandemie stellte sich dann aber heraus: Unsere Verschiedenheit ist mitunter durchaus komplementär. Bernds Weltbild ist geprägt von der Tragödie des 20. Jahrhunderts, er denkt sozusagen von der Katastrophe vorwärts. Bei Luisa ist es umgekehrt: Sie denkt von der möglichen künftigen Katastrophe rückwärts. Wie kann man sich da begegnen, emotional und intellektuell? Was muss man lernen, was verlernen? Und was passiert, wenn man wirklich ins Gespräch kommt? Darum soll es hier gehen, um diese neue Welt zwischen Klimakrise und Sinnkrise, Methan-Emissionen und Männlichkeit, Freiheit und Prävention.

Natürlich sind wir auch in Streit geraten, über die Rolle der Medien etwa – wie sollte es anders sein bei einer Klimaaktivistin und einem Journalisten –, über die Frage, welche Schuld die Boomer haben (eine große) und wie selbstgefällig die Generation Z ist (so ziemlich), oder über die Bedeutung der Freiheit, gestern und morgen. Das Leben in fossiler Verstrickung, das wir alle führen müssen, bringt Menschen schnell gegeneinander auf, auch uns beide.

Vom Standpunkt eines Klimaleugners oder Krisenverharmlosers oder Klima-nicht-so-mein-Thema-Menschen sind alle, die Ökologie für ein fundamental dringliches Jahrhundertthema halten, irgendwie gleich. Aber das stimmt natürlich nicht. Gerade weil die existenzielle Krise im Verhältnis von Mensch und Natur so umfassend ist, weil sie fast alles durchdringt, ist »fürs Klima sein« etwa so spezifisch wie »Demokratie gut finden«.

Ja, wir beide sind »fürs Klima«. Wenn man aber genau hinguckt, tut sich ein ganzer Kosmos an Verschiedenheiten auf: Warum ist die ökologische Krise so gekommen, wie sie gekommen ist? Was haben die Älteren den Jüngeren da angetan? Welchen Umgang können die Jüngeren damit jetzt finden? Wie soll eine postfossile, postdestruktive Welt aussehen? Wie kann ein Freiheitsverständnis des 21. Jahrhunderts aussehen?

Wir waren überrascht, wie oft wir in unseren Gesprächen etwas gemeinsames Neues gefunden haben, etwa, dass es uns beiden nicht in erster Linie um das Klima geht, sondern um die Freiheit. Oder wie wir zwischen Hoffnung und Resignation, Trauer und Zweifel schwanken, vermutlich unvermeidlich, wenn man sich so intensiv mit dem Zustand der Natur beschäftigt, wie wir beide das täglich tun.

Und warum ein Gesprächsbuch und kein gemeinsamer Text? Weil zwei Personen, die in so verschiedenen Rollen unterwegs sind, nicht einfach so einen Text zusammen schreiben können. Unsere Sprache ist übrigens auch sehr verschieden, aber, hey, das müssen wir wohl nicht groß ausführen.

Dialog bedeutet, sich gegenseitig beim Denken zu helfen, sich streitend fortzubewegen, eine Art Provisorium des Fundamentalen zu schaffen. Denn auf vielfältige Weise fundamental ist dieses Jahr ohne Frage.

Kommen wir zur dritten Frage: Warum überhaupt ein weiteres Buch über das Klima und die Ökologie? Vordergründig bewegen wir uns auf eine sehr besondere Bundestagswahl zu. Die meisten Parteien haben sich auf eine 1,5-Grad-Politik verpflichtet, aber wie ernst kann man das nehmen? Nehmen sie selbst wenigstens das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ernst, das – rechtzeitig zu Beginn des Wahlkampfes – der Freiheit und Zukunft der jungen Generationen Verfassungsrang eingeräumt hat? Klar ist, dass es nicht mit den gleichen Methoden von Politik weitergehen kann. Aber kennt dieses Land überhaupt eine andere als die Methode Merkel? Schließlich: Was heißt es, Wahlen unter geophysikalischem Hochdruck abzuhalten, wohl wissend, dass die Gesellschaft unter beispiellosem ökologischen Zeitdruck steht und jede Entscheidung gegen die Zukunft eine Entscheidung gegen die Wahlfreiheit an sich ist? Noch haben wir die Wahl. Noch.

Zusätzlich ist seit Anfang 2020 unfassbar viel passiert, die Abwahl von Donald Trump zum Beispiel und damit einhergehend neue Klimazusagen von jenseits des Atlantiks. Wir haben die ökologische Krise als Gesundheitsgefahr kennengelernt, es stehen neue soziale Fragen im Raum und eine Reihe planetarer Kipppunkte sind näher als je zuvor. Heute sprechen wir beide von einer dreifachen ökologischen Krise: Pandemien, Artensterben und die Erderhitzung. Alle drei Krisen haben sich verschärft, weswegen sich auch die Gegenmaßnahmen verschärfen müssen. Wie geht das demokratisch?

Corona hat viele dieser offenen und teils neuen Fragen im öffentlichen Diskurs überlagert, Debatten blieben also ungeführt, Argumente unausgetauscht, Analysen auf der Strecke. Dieses Buch ist gewissermaßen auch ein Wiederaufnehmen, Nachholen, Weiterführen einer überfälligen Debatte in einer Republik, die Stück für Stück aus der Pandemie erwacht. Es ist eine Intervention, aber eben als Gespräch konzipiert und damit eine Einladung zum Mitdenken, zum Mitleiden und Mitfreuen.

Und wenn es dafür gut sein sollte, wenn es etwas taugt, dann nicht zuletzt wegen des Menschen, der zwischen uns vermittelt hat, der Anstöße gegeben hat, wenn wir uns im Kreis drehten. Helge Malchow hat unser Gespräch moderiert. Er ist der dritte Mensch in diesem Buch, wir danken ihm herzlich.

Und natürlich, nach dem Gespräch ist vor dem Gespräch. Hoffentlich bald wieder live – und besser regiert.

Eins noch: Warum wird hier gegendert und geduzt? Weil Luisa es so wollte. Der Ältere gibt nach.

1.Plötzlich Öko? Von wegen! Über die Widersprüche zweier Leben

Leben im Ruhrgebiet und an der Elbe – Öko – Abirrung, Renaissance – Steinkäuze und Bio-Äpfel

BERND Die Menschen, die ich treffe, frage ich seit einiger Zeit immer nach ihrer Ökobiografie, also danach, wie Natur und Naturzerstörung in ihr Leben eingezogen sind, das ist meist sehr aufschlussreich. Ein Minister, den du auch kennst, hat mir mal gesagt, er möge Naturlandschaften schon sehr, aber am liebsten, wenn in der Mitte ein Renaissance-Schlösschen steht. Das war entwaffnend ehrlich. Vielleicht sollten wir auch mit unseren Ökobiografien anfangen.

LUISA Gar nicht so blöd, am Ende denken die Menschen noch, dass du und ich als Ökos vom Baum gefallen sind.

BERND Genau, hat ja alles eine Vorgeschichte.

LUISA Okay, fang du an, deine Geschichte ist ja ein klitzekleines bisschen länger.

BERND Ich bin in den 60er- und 70er-Jahren im Ruhrgebiet aufgewachsen, da hat man ja sofort die ganze Spannbreite von Produktivität und Destruktivität.

LUISA Aber so hättest du das damals sicher nicht gesagt.

BERND Bestimmt nicht. Als Kind findet man ja erst mal alles normal. Mir war zunächst nicht bewusst, wie sehr das Ruhrgebiet im Krieg zerstört worden war. Die vielen, rasch hochgezogenen Gebäude, die ganze Hässlichkeit der Städte, all das kam mir lange gar nicht hässlich vor. Tatsächlich gehörten Fabriken, Fördertürme und Fußballstadien zu den schönsten Gebäuden.

LUISA Von welcher Stadt sprechen wir?

BERND Ich bin im Norden von Essen geboren. Da regnete es damals noch abwechselnd schwarz und gelb vom Himmel, Kohle und Schwefel. Trotzdem haben die Menschen dort ihre Wäsche zum Trocknen rausgehängt, was sollten sie auch machen?

Wir sind dann bald in den Essener Süden gezogen, da sah es besser aus. In der Pubertät wurde mir dann langsam klar, dass das alles doch nicht normal ist, ich fing an, mich für Ökologie und Ornithologie zu interessieren. Wir haben Steinkäuze gezählt, uns für den Erhalt und die Pflege von Kopfweiden eingesetzt und solche Sachen. Gleichzeitig habe ich in den Ferien oft auf dem Bau gearbeitet, viel gepflastert und geteert. Zehn Mark Stundenlohn und endlich eine eigene Stereoanlage. Wie viele andere auch hatte ich in der Verwandtschaft Bergleute und Bauern. Diese ewig hustenden Bergleute, die haben mich als Kind schwer beeindruckt und erschreckt, irgendwie haben die sich schon aufgeopfert für den Wiederaufbau.

LUISA Aber es war nicht die Kohlekraft mit ihren Emissionen, die dich ökologisch politisiert hat, wie mich, 40 Jahre später?

BERND Nein, Emissionen waren kein Thema, eine Schütte Eierkohlen vier Stockwerke in die Wohnung hochtragen war ein Thema. Aber ich war in den 70er- und 80er-Jahren engagiert in der Anti-AKW-Bewegung, setzte mich für Naturschutz ein und landete sogar für ein paar Jahre bei den Grünen.

LUISA Ach really, kann ich kurz was einwerfen?

BERND Bitte doch, ist es was Witziges?

LUISA Nur eine Beobachtung, die mich manchmal zum Schmunzeln bringt: In fast jedem Gespräch, das ich mit Vertreter:innen deiner Generation führe, allen voran den politischen, kommen wir an einen Punkt, an dem sie von ihrem Engagement für Umwelt oder gegen AKWs in den 80ern berichten. Ich habe lange nicht ganz verstanden, warum das so ein Ding war. Ich freue mich natürlich zu hören, was unsere Gesprächspartner:innen vor 30, 40 Jahren so gemacht haben, aber wenn wir dann in aufwendig vorbereiteten Gesprächsrunden oder auf Podien sitzen und sagen: »Hallo, wir würden gerne über Ihren CO2-Preis sprechen, der ist nämlich wissenschaftlich gesehen nicht vereinbar mit unserem verbleibenden CO2-Budget von weniger als acht Gigatonnen«, und die Antwort ist: »Aha, also als ich in Ihrem Alter war, da war ich ja auch in der Friedens-/Umwelt-/Anti-AKW-Bewegung, und lassen Sie mich kurz erzählen, wie das damals war …«, dann macht das etwas stutzig. Mittlerweile erkläre ich mir diesen großen Drang, von damals zu berichten, auch mit dem Bedürfnis, sich darüber hinweg zu helfen, dass zwischen damals und heute einfach lange, lange Zeit überhaupt nichts Angemessenes unternommen wurde, um die Eskalation der Klimakrise zu verhindern.

BERND Hoffentlich werde ich noch alt genug, um zu erleben, was du in deiner kritischen Lebensphase zwischen 2030 und 2045 so machst, dann sprechen wir uns noch mal. Aber du triffst schon einen Punkt. Nach meinem besagten Engagement habe ich tatsächlich für eine ganze Weile irgendwie den ökologischen Faden verloren. Und damit war ich nicht alleine. Das war vor allem zwischen 2000 und 2015, ich nenne es meine Volvo-Phase. Natürlich blieb ich ökologisch bewusst, war immer mal wieder Vegetarier, aber unter dem Strich habe ich meinen eigenen sozialen Aufstieg schon mit ziemlich viel Konsum ausstaffiert: Auto, zu viel Kleidung, phasenweise Fleischkonsum, Flugreisen. Normal könnte man es nennen, wenn das Wort mittlerweile nicht so bitter schmecken würde.

LUISA Und politisch?

BERND Ja, das ist ein spannender Punkt. In der Zeit konnte man sich einreden, dass es ökologisch doch irgendwie läuft. Das Ruhrgebiet wurde grün, und die Klimakanzlerin kam von der CDU, also der Partei, die uns früher immer die Polizei-Hundertschaften geschickt hat, wenn wir in Brokdorf demonstriert haben. Ich war ein bisschen gerührt, wie sich alles fügte. Genauer, ich wollte gerührt sein. Denn im Augenwinkel sah ich schon ganz genau, was der Preis für diese ökologische Scheinharmonie war, zwischen den Ökos und der CDU, zwischen meinem privaten Konsum und der Umweltpolitik von Schwarz-Rot.

LUISA Verfehlte Klimaziele, Artensterben auch in Deutschland, Flächenversiegelung, Bodendegradation, danke bestens.

BERND So etwa. Ab 2015 setzte eine Art Renaissance meiner frühen persönlichen Ökologie ein. Ich wusste einfach zu viel, um dauerhaft zu verdrängen, was geschah. Privat habe ich angefangen zurückzubauen: Autos immer kleiner, vegane Ernährung, ökologisch akzeptable Kleidung und so weiter. Auch hier fügte sich dann wieder etwas: Als Journalist habe ich mich mehr mit Ökologie beschäftigt, und siehe da: Es war wirklich spannend und schloss mir die Politik noch einmal neu auf. Dennoch war es kein »back to the roots«. Denn das würde das Traurige und Tragische dabei unterschlagen. Heute gibt es zum Beispiel viel weniger Vögel als damals in den 70ern. Viel mehr Fläche ist »verbraucht«, und ich habe es mitverursacht durch meinen Lebensstil. Das geht mir nach. Und nun du!

LUISA Okay, ich bin 1996 geboren, wir springen also in die Nullerjahre. Ich bin im privilegierten Setting im Hamburger Westen, in Iserbrook, mit meinen drei Geschwistern und meinen Eltern in einem – damals noch weniger politisch aufgeladenen – Einfamilienhaus aufgewachsen. Ich hatte es sehr, sehr gut, das kann man nicht anders sagen. Ein Schwarzbrot-in-die-Schule-Haushalt, die Äpfel kamen aus dem Alten Land und Cini Minis wurden mit Haferflocken gemischt. Meine Eltern waren politisch, meine Mutter auch immer wieder aktivistisch, sie waren informiert, auch punktuell missionierend, sie waren umweltbewusst, aber es war in meinen Augen eine Art von Umweltbewusstsein, dem vor allem meine Mutter mit Bio-Obst, Fahrradbegeisterung, der taz und Wanderurlauben begegnet ist, ohne das Gefühl, man müsste sich darüber hinaus großartig sorgen. Es wurde sich schon eingemischt, man sorgte dafür, dass der Schulweg für Kinder sicherer, dass das Schulessen gesünder und Klassenreisen bezahlbar wurden. Das ist der Grund, warum ich Engagement als etwas sehr Normales kennengelernt habe. Existenziell waren all diese Projekte aber nie. Meine Eltern haben beide hart gearbeitet, in ihrem eigenen Altersheim. Heute nennt man das systemrelevant, damals schien es vor allem aufreibend. Sie haben meine Geschwister und mich auf gute Schulen geschickt, fanden Engagement gut, aber Noten wichtiger, und wenn ich gefragt wurde, was ich mal werden will, hätte ich nicht im Traum daran gedacht, auf welchem Planeten ich mal alt werden will oder welche Perspektiven die Klimakrise mir womöglich rauben würde. Warum auch? Meine Welt war ein Safe Space und es gab kein Problem, das nicht gelöst werden konnte.

BERND Mit anderen Worten: Du hattest die Kindheit, von der ich nicht mal zu träumen gewagt hätte.

LUISA Ja, kann gut sein. Und ich hatte eine Kindheit, die natürlich auch eine riesengroße Illusion war. Die Klimakrise eskalierte schon damals, und wir waren Teil einer Gesellschaft, die meinte, es sei nicht ihr Problem. Weder auf der Seite der Emissionen noch aktivistisch. Man kochte oft vegetarisch, aber aß auch viel Fleisch, nahm im Urlaub den Zug, aber hatte irgendwann dann doch zwei Autos, sanierte das Haus, aber erst als es staatliche Förderung gab, und in der Oberstufe flog ich selbstverständlich zur Projektreise nach Namibia, mit der Kirche später nach Tansania, zur Uni nach London. Wir waren Teil einer Wohlstandsgesellschaft, die – ganz ohne es böse zu meinen, wohl informiert, und dennoch ohne großartig stutzig zu werden – einen so unverhältnismäßigen Ressourcenverbrauch kultivierte. So haben wir unweigerlich mitgemacht, bei der nicht enden wollenden Klimakrisen-Produktion.

BERND Darf ich etwas einwerfen?

LUISA Klar.

BERND Kann es sein, dass ich mit 25 weniger CO2 emittiert hatte als du mit 25?

LUISA Sicherlich. Ich würde aber vermuten: aus Mangel an Gelegenheit.

BERND Warum auch immer.

LUISA Ich muss dich vorwarnen, jetzt wird es ernster.

BERND Nun.

LUISA Es ist für mich immer noch eine offene Frage, was genau die Rolle der Privilegierten ist, auf dem Weg Richtung Klimagerechtigkeit. Je mehr ich mit 15, 16, 17 erfuhr über die Lage der Ökosysteme, der Arten, den Plastikstrudel im Ozean, desto mehr beunruhigte mich die verdächtige Stille, die ich diesbezüglich seitens Politik und Medien wahrnahm. Ich fing also an, mich einzubringen, nebenbei, aus Spaß und auch aus Interesse, nicht weil ich dachte, es würde unbedingt auf meinen Beitrag ankommen. Die Politik würde sich ja kümmern, wenn es richtig brenzlig werden würde, dachte ich. Und ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich angefangen hätte, die Klimakrise als existenzielles Problem zu verstehen, mich so einzusetzen und zu sorgen, wie ich es jetzt tue, wenn nicht mein Vater todkrank geworden wäre. 19 war ich, als man sagte, er habe noch ein paar Monate. Vielleicht war es die brutale Erkenntnis, dass mein Vater sterblich und mein Heile-Welt-Zuhause vergänglich ist, die mich dazu gebracht hat, eine Reihe weiterer Grundsatzfragen zu stellen. Wenn mein Zuhause kein ewiger Safe Space ist, wie verhält es sich mit dem Planeten? Wer schützt uns und mich nun vor den Krisen der Welt? Solche Fragen.

BERND Schwere Fragen, Luisa.

LUISA Ich fühlte mich zu klein dafür. Aber, wie es so oft ist mit Krisen, es änderte sich dadurch etwas Entscheidendes: meine Erwartung an die Welt.

Als Kind einer emissiven Illusion, also einer Welt, die blind war gegenüber den eigenen Emissionen, festigte sich die absurde Vorstellung, dass alles schon gut würde, gut für mich und gut für die Welt. Als ich mich dann unvorbereitet inmitten meiner ersten persönlichen Katastrophe wiederfand, begann ich, die Katastrophen der Welt anders zu sehen. Es ist unsere Aufgabe, Krisen zu lösen. Und am Ende können nur wir selbst uns retten, auch wenn die Lage noch so existenziell und gruselig und überwältigend erscheint.

BERND Kann man auch ohne existenzielle Trauer Aktivistin werden?

LUISA Aber sicher.

BERND Vielleicht nicht so, wie du eine bist.

LUISA Vielleicht.

BERND Und dann?

LUISA Naja, dann ging alles ganz schnell. Ich fing an, mich zu empören, so richtig meine ich, so, dass es in der Brust pocht. Ich vernetzte mich, schrieb Artikel über die Kohle und den Hitzesommer, rannte auf einer Klimakonferenz in Polen in Greta Thunberg rein, entschied, dass sie auf der ganzen Konferenz die Einzige war, die sich verhielt, als wären wir in einer Krise, fuhr zurück, schrieb zwei Tage später zusammen mit einer jungen Journalistin einen Streikaufruf im NEON Magazin, lernte, noch während wir den ersten Fridays-for-Future-Streik in Berlin organisierten, wie man überhaupt Demos anmeldet – das, stellte sich heraus, ist gar nicht so schwer. Und dann hatte ich das unfassbare Glück, zur richtigen Zeit auf sehr viele Menschen zu treffen, denen es in ihrer ökologischen Entrüstung so ging wie mir. Und ohne es auszusprechen, entschieden wir in diesem Augenblick, uns keine Grenzen zu setzen in dem, was wir bewegen können.

2.Flucht ins Detail – die neue Phase in der Klimawende

Vom Leugnen über das Verharmlosen zum Greenwashing – Halbierter Klimaschutz – Hat die Coronakrise das Thema Klima überdeckt oder gestärkt?

LUISA Okay. Ich möchte mit einer These anfangen, oder sagen wir, mit einigen Thesen.

BERND Bitte.

LUISA Vielleicht strukturiere ich es etwas:

Ohne viel Lärm sind wir in Deutschland, inmitten der Pandemie, in eine neue Phase der Klimawende eingetreten.

Diese neue Phase erfordert mehr Konzentration und Kraft aller Beteiligten, insbesondere der Klimabewegten, als die letzte Phase.

Die große Frage bis zur Bundestagswahl wird sein: »Machen oder Marketing« und »Ganz oder gar nicht«.

BERND Erklär mal.

LUISA Phase eins war Bewusstwerdung, Phase zwei ist Handeln. Die Pandemie hat den Eintritt in Phase zwei der Klimawende weitgehend überdröhnt, dennoch hat sich etwas substanziell verschoben. Ich fang mal vorne an: Die Streiks in 2019 lösten eine neue, intensive, fast unausweichliche Selbstkonfrontation der Politik aus; Akteure überall wirkten orientierungslos, wie sie Klimarealität und Paris-Abkommen zusammenführen sollen. Einige emanzipierten sich in diesem Augenblick, wie etwa Tausende Wissenschaftler:innen, die sich schlagartig politisch organisierten. Andere, nun ja, weniger, was etwa Christian Lindner mit einigen recht missglückten Profi-Tweets und Reden vorführte. Viele haben in dieser Zeit das erste Mal demonstriert, andere haben ihr Umweltbewusstsein wiederentdeckt. Überall stand die Frage im Raum, wie man sich der Krise gegenüber verhält, was der eigene Beitrag ist. Individuell, politisch, institutionell. Das waren spannende und schmerzhafte Konfrontationen in dieser Zeit, auch für mich. Man stritt an Küchentischen und in Bars, in Fraktionssitzungen und Schulklassen. Und dann, nachdem ein gewisses Klimabewusstsein weitgehend zur Norm geworden war, und kurz bevor es so aussah, als würde sich einiges von dieser normativen Verschiebung in materiellen Wandel übersetzen, kam die Pandemie.

BERND Aber die hat ja diese Phase nicht vollständig gestoppt, oder?

LUISA Nein, es ist in meinen Augen etwas Erstaunliches passiert: Zu Beginn der Pandemie verselbstständigte sich – trotz oder wegen allem – ein gewisses Klimabewusstsein, sowohl gesellschaftlich als auch politisch: Stück für Stück fing über das Coronajahr hinweg jede Partei an, sich dem 1,5-Grad-Ziel zu nähern. Von der Linken bis zur Jungen Union erklärt man, wie dringend man sich am 1,5-Grad-Ziel orientieren möchte. Es ist inzwischen unvorstellbar, dass Akteur:innen aus dem demokratischen Spektrum der Politik heute noch die Forderung nach mehr Klimaschutz infrage stellen.

BERND Wir bewegen uns auf ein großes Aber zu.

LUISA Genau. Nun, da überall klimabewusst genickt wird, müsste die ökologisierte Rhetorik eigentlich in Taten umgesetzt werden. Und genau davor stehen wir jetzt. Der Sprung von der theoretischen Klimaemanzipation zur praktischen Emissionsreduktion. Und an dem Punkt wird es unbequem, man windet sich, denn es geht zur Sache, zur materiellen Sache. Wird die Straße gebaut oder nicht, kommt die Pipeline oder nicht, wo parkt das Fahrrad, welcher Dünger wird gestreut, wie geschützt ist der Wald, was wird runter-, was hochgefahren? Das alles wird nun in Echtzeit entschieden, und im Unterschied zur Vergangenheit nicht mehr an relativen Maßgaben (»Super, wir sind etwas besser als vor zehn Jahren«), sondern an absoluten Zielen gemessen – 1,5 Grad it is. Und wenn sich alle so einig sind beim 1,5-Grad-Ziel, warum setzt man es dann nicht um? Das sorgt für Unverständnis, muss man doch vermuten, dass man es mit den Bekundungen doch nicht so ernst meint. So wird es für politische Vertreter:innen immer schwerer, undankbarer und folglich immer reizloser, sich in leere Ankündigungen zu flüchten. Die materielle Realität winkt fröhlich in die Runde und verpetzt gnadenlos die Tatenlosen. Man könnte sagen: Die neue Phase in der Klimawende markiert das Ende der großen Worte – schlicht, weil jedes weitere Wort, egal wie schön oder grün es strahlt, sich nach endlosen Klimaschutz-Bekundungen selbst lächerlich macht, wenn es ohne materielle Konsequenzen daherkommt.

BERND Es kann aber auch sein, dass sich Worte und Taten nur neu mischen, der Handlungsanteil wird etwas vergrößert, der verbale Bombast aber auch, und am Ende kommt immer noch viel zu wenig dabei raus. Mein Eindruck bei den Parteien ist: Ziele setzen – leicht, Instrumente – okay, Maßnahmen – lieber nicht, Auswirkungen auf die Menschen – bloß nicht.

LUISA Das stimmt. Was diese neue Phase in meiner Wahrnehmung zusätzlich so anstrengend macht, ist Folgendes: Bisher war es relativ leicht, Klimazerstörungspolitik und Versäumnisse zu identifizieren und bloßzustellen. Man musste wenig Aufwand betreiben, um den Menschen zu erklären, warum es so nicht weitergehen kann, mit der Kohle, mit den Autobahnen, mit der eingeschlafenen Energiewende. Auch für uns als Bewegung waren das recht eingängige Sachverhalte. Man muss die Klimakrise nicht bis ins letzte Molekül durchdrungen haben, um verstehen zu können, dass es problematisch ist, wie damit in Deutschland umgegangen wird. Nach Berechnungen des Think-Tanks T&E verantworten wir sechs der zehn größten CO2-Quellen Europas. Wir planen auch noch, sie bis 2038 laufen zu lassen, während die UN auf einen globalen Kohleausstieg bis 2030 setzen. Auf fast drei Jahre Klimaproteste haben Politik und Wirtschaft nun reagiert und sind ohne viel Aufhebens Weltmeister in grünem Branding geworden. Keine Rede ohne Hinweis auf die Umwelt, kein Social-Media-Post ohne Emoji-Baum. Plakate an Bushaltestellen, die den vom Bund verabschiedeten CO2-Preis bewerben (der vor allem ein sehr, sehr schlechter Scherz ist), witzige Apps, in denen wir ökologisch politisierte Bürger:innen flink herausfinden können, welcher »Umwelt-Typ« wir sind. Noch nie war es leichter anzunehmen, dass wir auf einem »guten Weg« sind. Und man will es auch, es sind anstrengende Zeiten, wie schön wäre es, wenn alles besser würde.

BERND Dazu gibt es einen schönen Spruch: Heuchelei ist die Verbeugung des Lasters vor der Tugend. Was aber auch heißt, diese andere Rhetorik ist nicht bloß ein Trick, sie ist auch eine Chance, weil die Politik auf Dauer Wort und Tat nicht beliebig weit auseinanderklaffen lassen kann.

LUISA Trotzdem und genau deswegen sind aus meiner Sicht nun Konzentration und Kraft in dieser neuen Phase gefragt. Konzentration, um sich nicht einlullen zu lassen von den geschmeidigen Klimakonzepten, die uns das Blaue – oder vielmehr den grenzenlosen Wasserstoff, die schnellen Baumpflanzprojekte, das saubere Gas und die Flugtaxen – vom Himmel versprechen, und sich dann beim genauen Hinschauen primär als Scheinlösungen entpuppen. Und man wird Kraft brauchen: Zum einen, um den Zustand der molekularen Wirklichkeit nicht aus pandemischer Ermüdung mit dem zu Wahlkampfzwecken Aufbruchs-Stimmung verbreitenden politischen Berlin zu verwechseln. Zum anderen, um dem etwas entgegenzusetzen, was nun von den Verfechter:innen des fossilen Status quo aufgefahren werden wird. Man sagt, dass gesellschaftlicher Wandel dann am schwersten ist, wenn man kurz davor ist zu gewinnen. Das liegt daran, dass genau das der Moment ist, in dem sich am vehementesten gegen besagten Wandel gewehrt wird. Die fossilen Lobbys und ihre politischen Verbündeten sind die einflussreichsten Kräfte des Landes, die werden nicht so schnell klein beigeben. Sie werden alles daran setzen, mit grünem Marketing, Ablenkung und Schönrechnereien weiterhin Milliardensubventionen und Absatzmärkte zu behalten. Ohne mit der Wimper zu zucken wird uns von der SPD Nord Stream 2 als Klimaschutzprojekt verkauft – wohlgemerkt könnten dadurch in Summe bis zu 100 Millionen Tonnen CO2 emittiert werden –, und RWE erklärt nun freudestrahlend, man baue jetzt Windparks. Dass wir vom CO2-intensivsten Konzern Europas sprechen, der ca. 80 Prozent seines Stromes fossil generiert, vergisst man dabei schon mal. Regierungen erwecken den Eindruck engagierter Geschäftigkeit, indem sie Netto-Null-Ziele für die entfernte Zukunft setzen, die auf den zweiten Blick aber gar nicht für 1,5 Grad maximaler Erwärmung ausreichen. Angesichts all dessen wird man hart für reale Transformationen in der Gegenwart kämpfen müssen. Und die Konfliktlinien verlaufen zwischen Marketing und Machen. Oder so: In Phase eins haben wir diskursiven Wandel organisiert. Jetzt, in Phase zwei, geht es um materiellen Wandel.

BERND Du bist schon sehr Politikerin.

LUISA Finde ich nicht.

BERND Nach 30 Jahren politischem Journalismus: Ich erkenne eine Politikerin, wenn ich sie sehe.

LUISA Das klären wir noch mal an einem anderen Tag. Können wir zurück zur Sache kommen?

BERND Aber natürlich. Was meinst du mit »ganz oder gar nicht«?

LUISA Klimaschutz funktioniert nicht halb. Halber Klimaschutz ist Klimakrise, schlicht dadurch, dass das Pariser Klimaabkommen wie auch andere Verträge zur Verhinderung ökologischer Katastrophen, nur aufgehen, wenn sich alle dran halten. Entweder sprengt man planetare Grenzen oder nicht, entweder sinken Emissionen schnell genug oder nicht, entweder stoppt man das Artensterben oder nicht. Das fordert uns heraus. Politik in Absolutismen ist der Anfang vom Ende, Ökologie ohne Absolutismen ist das Ende, die ökologische Politik wird folglich lernen müssen. Und die Gesellschaft mit ihr.

BERND Diese Entweder-oder-Situation ergibt sich aus der Sache, weil das Klima ja von sich aus in keiner kompromissbereiten Stimmung ist, sie ergibt sich aber ebenfalls aus der Logik eurer kompromisslosen Bewegung. Ob das auch in der Politik so kommen wird, da bin ich mir noch nicht so sicher. Nach meinem Eindruck ist man sich nicht mal innerhalb der Grünen-Partei sicher, ob die Klimapolitik nicht doch in die gewaltigen Mühlsteine herkömmlicher Kompromisspolitik gerät.

LUISA Das hängt eben auch davon ab, wie diese Republik, und wir mit ihr, aus der Coronakrise kommen, was wir gelernt haben, verändern werden, von nun an besser machen.

BERND Und welche Lehren siehst du?

LUISA Im Frühjahr 2020 fühlte es sich für mich so an, als hätte man die erste Welle der Pandemie relativ okay überwunden. Es lag etwas in der Luft, das sich anfühlte wie ein Frühlingserwachen. Man fand die Einschränkungen nervig, grundsätzlich aber fanden es viele Menschen eigentlich gut, weniger einkaufen zu müssen, zeigten Umfragen, man sprach von verlängerten Osterferien. Und auf einmal gingen überall Möglichkeitsfenster auf.

BERND Weniger Verkehr in den Innenstädten zum Beispiel, man hörte plötzlich, wie sanft eine Stadt auch sein kann.

LUISA Genau. Es gab Bilder von der Natur, die sich erholte. Man ging mehr spazieren. Man überlegte, wie man mit den Emissionen umgeht. War das vielleicht ein Startpunkt für etwas radikal Neues, echten Wandel, etwas Historisches? Es gab natürlich viel Leid, viel zu viel, Existenzfragen stellten sich, das alles aber wurde eingerahmt von einer Stimmung, dass andere Systeme – Gesundheit, Verkehr und so weiter –, ein anderes Leben möglich ist.

In meiner Wahrnehmung wurde dadurch ein zentrales Problem der heutigen Zeit zumindest in Ansätzen gelöst: das Problem der mangelnden Vorstellungskraft. Denn das, was der Klimagerechtigkeit so massiv im Weg steht, ist eine Art kollektiver Unfähigkeit, sich vorzustellen, dass es genuin gerechter und besser auf der Welt werden kann. Die politische Realität steht wie eine Wand vor unserer Fantasie. Wir Menschen haben diese Tendenz, davon auszugehen, dass es morgen so sein wird wie heute. Das ist oft praktisch, bei der Suche nach Lösungen für große, systemische Probleme allerdings maximal hinderlich. Uns fehlt die Abstraktionskraft, uns auszumalen, was möglich wäre, wenn wir uns nur entscheiden würden, es möglich machen zu wollen. Die Coronasituation hat diese Blockade für einen Moment gelockert. Das Gewohnte bekam Risse, die Neues hervorbrachten. Irgendwann kam die Sonne raus, die Menschen strömten auf die Straßen, es gab Konzerte in den Parks. Es hatte etwas Friedliches, etwas Schönes.

BERND Und dann?

LUISA Innerhalb eines Jahres hat sich gefühlt praktisch alles ins Gegenteil verkehrt. Es kam all das zusammen, was uns skeptisch gegenüber Veränderungen macht: Sie waren zu hart, auf Dauer nicht durchzuhalten, am Ende für einen persönlich immer von Nachteil. Die Vorstellung vom prä-pandemischen Gestern wirkte auf einmal viel charmanter als eine mögliche Version von morgen. Das hat uns an einen Punkt gebracht, der im Kontext der ökologischen Fragen sehr beunruhigend ist. Aber noch sind die Möglichkeitsfenster offen.

BERND Hat das zu negativen Stimmungen in deinem politischen Umfeld geführt?

LUISA Soweit ich das überblicke, hat die Coronapandemie schon Unwohlsein, Ängste und Ernüchterung in der Klimabewegung ausgelöst. Das hat verschiedene Gründe, unter anderem den, dass man bis Corona durchaus daran glauben konnte, dass die Regierung sich politisch entschieden hatte, die Klimakrise als Herausforderung ernst zu nehmen. Tja, und dann kam Corona, und mit jeder eiligen Entscheidung, Notfallsitzung und Sondersendung – die natürlich gut und richtig waren – wurde deutlicher, dass die Klimakrise politisch nie wirklich als Krise ernst genommen wurde.

BERND