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Nord-Nordwest mit halber Kraft E-Book

Arnold Alexander Benjamin

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Beschreibung

Ein spannender Schiffskrimi aus den Dreißigerjahren um Devisenbetrug, Diamantenschmuggel und Spionage. Auf dem Dampfer "Cardigan" von Alexandria nach Bremen ist eine illustre Truppe versammelt. Da wäre zunächst der Pole Prochorow, der unbedingt vermeiden will, dass eine Radiomeldung das Schiff erreicht. Dann die junge Erika Meißner, die Witwe eines angeblichen Selbstmörders. Und zu ihnen gesellt sich noch Inspektor Leith, der gefürchtetste Geheimpolizist Scotland Yards. Prochorow beschließt, dass das Schiff niemals ankommen darf. Null Papier Verlag

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Nord-Nordwest mit halber Kraft

Kriminalroman

Arnold Alexander Benjamin

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Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-954189-65-6

null-papier.de/447

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

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1.

»Das geht lei­der nicht«, sag­te Ka­pi­tän Gra­dy ru­hig, mit freund­li­cher Be­stimmt­heit, wie ein Mensch, der es ge­wöhnt ist, dass die Pas­sa­gie­re mit den son­der­bars­ten An­lie­gen zu ihm kom­men. »Ich habe auf die­ser Fahrt sechs­und­zwan­zig Pas­sa­gie­re. Die meis­ten von ih­nen wün­schen ein we­nig Ablen­kung, et­was Mu­sik …«

»Aber das ist doch nicht mehr zum An­hö­ren!«, rief der äl­te­re wohl­be­leib­te Mann, der in sei­nem hel­len ka­rier­ten An­zug und mit den blit­zen­den Stei­nen an den Fin­gern einen sehr zah­lungs­fä­hi­gen Ein­druck mach­te. »Die Dame, die in mei­ner Beglei­tung reist, lei­det an Kopf­schmer­zen … Die ewi­ge Ra­dio­mu­sik macht sie ein­fach ver­rückt … Und mich auch … Im Rauch­zim­mer steht doch ein Kla­vier … Las­sen Sie je­mand Kla­vier spie­len, wenn Ihre sechs­und­zwan­zig Fahr­gäs­te un­be­dingt Mu­sik ha­ben müs­sen …«

Der Ka­pi­tän stand mit dem Rücken ge­gen die Re­ling ge­lehnt und stopf­te sei­ne Pfei­fe. Es war nur die An­deu­tung ei­nes Lä­chelns auf sei­nen Lip­pen, und der klei­ne graue Schnurr­bart ver­barg auch die­ses kaum merk­ba­re Ver­zie­hen der Lip­pen.

»Es muss ein merk­wür­di­ger Kopf­schmerz sein, an dem die Dame lei­det, die in Ih­rer Beglei­tung reist, Mr. Pro­cho­row«, mein­te er ru­hig. »Kla­vier­spie­len ver­trägt sie, Ra­dio­über­tra­gung nicht …« Er hat­te sich halb um­ge­wandt und sah über das Was­ser zu den in der Fer­ne ent­schwin­den­den Tür­men der Stadt Alex­an­dria. Plötz­lich wand­te er sich dem Mann im ka­rier­ten An­zug zu: »Wenn ich Sie recht ver­ste­he, möch­ten Sie ver­hin­dern, dass uns durch Rund­funk eine be­stimm­te Nach­richt er­reicht?«

Pro­cho­row schüt­tel­te hef­tig den Kopf.

»Was ich ver­hin­dern will, habe ich Ih­nen schon ge­sagt. Aber … Ma­chen wir es kurz und schmerz­los: Zwan­zig Pfund, wenn Sie das Ra­dio ab­stel­len. Ein­ver­stan­den?«

»Nein.« Der Ka­pi­tän brann­te sich, das Streich­holz vor­sich­tig mit der Hand schüt­zend, sei­ne Pfei­fe an und sah da­bei mit lis­ti­gen, neu­gie­ri­gen Au­gen den auf­ge­reg­ten Fahr­gast an.

»Drei­ßig?«

»Nein.«

»Fünf­zig? Es ist mein letz­tes An­ge­bot.«

»Ein schö­nes An­ge­bot, aber ich leh­ne es ab. Üb­ri­gens möch­te ich Ih­nen einen Rat ge­ben – kos­ten­los. Es war ein merk­wür­di­ges Ge­spräch, das wir bei­de da eben führ­ten … Ja, und … Nun, un­se­re Rei­se hat vor zwan­zig Mi­nu­ten be­gon­nen. Es dau­ert ziem­lich lan­ge, bis wir nach Bre­men kom­men. Wenn Sie sol­che merk­wür­di­ge Ge­sprä­che auch fer­ner­hin füh­ren, kom­men Sie nie nach Bre­men.«

»Aber er­lau­ben Sie mal …!«

Mit ei­nem klei­nen Ruck stieß sich der Ka­pi­tän von der Re­ling ab. Jetzt stand er nicht mehr in nach­läs­si­ger Hal­tung vor Pro­cho­row, son­dern mi­li­tä­risch ge­ra­de.

»Der Damp­fer ›Car­di­gan‹, auf dem Sie sich be­fin­den, hat zwar auf die­ser Rei­se eine sehr far­bi­ge Mann­schaft – viel zu viel Malai­en –, aber die­ser Damp­fer ist den­noch bri­ti­sches Ge­biet«, sag­te der Ka­pi­tän. Dann griff er flüch­tig an den Müt­zen­rand und stapf­te da­von – sehr ru­hig, sehr selbst­be­wusst und sicht­lich mit sich zu­frie­den.

Mit zu­sam­men­ge­knif­fe­nen Au­gen starr­te Pro­cho­row dem Ka­pi­tän nach und blick­te erst auf, als Ignat­jew, sein Se­kre­tär, sei­nen Arm be­rühr­te. Es war ein blas­ser, dür­rer Mann, des­sen Ge­sicht kei­ne Schlüs­se auf sein Al­ter zuließ: er konn­te fünf­und­zwan­zig Jah­re alt sein oder auch vier­zig.

»Nun?«, frag­te Ignat­jew. Sei­ne Hal­tung war un­ter­wür­fig, doch der for­schen­de Blick ver­riet, dass er sei­nem Herrn mehr war als nur Se­kre­tär.

»Er will nicht«, ant­wor­te­te Pro­cho­row böse. »Dann eben nicht. Es ist ja sehr frag­lich, ob die Deut­schen durch den Rund­funk …«

»Sie tun es be­stimmt«, warf der Se­kre­tär lei­se ein. »Wir hät­ten einen an­de­ren Damp­fer neh­men sol­len …«

Pro­cho­row stampf­te zor­nig mit dem Fuß auf.

»Schwei­gen Sie! Als ob ich das nicht selbst wüss­te! Alle Stei­ne wa­ren doch schon an Bord, als wir das Te­le­gramm be­ka­men …«

Ignat­jew schi­en im­mer noch nicht von der Rich­tig­keit der Hand­lungs­wei­se sei­nes Herrn über­zeugt.

»Lie­ber ohne Stei­ne nach Frank­reich oder sonst wo­hin fah­ren als mit Stei­nen nach Deutsch­land …«

»Nach Deutsch­land?« Pro­cho­row um­spann­te jetzt mit bei­den Hän­den das ei­ser­ne Ge­län­der, und sein Griff war so fest, dass die Fin­ger eine wei­ße Fär­bung an­nah­men. »Wer sagt denn, dass wir nach Deutsch­land fah­ren?«

»Wir fah­ren Kurs Bre­men …«

»Ach?« Jetzt lä­chel­te Pro­cho­row. Die­ses Lä­cheln war er­staunt und höh­nisch zu­gleich. »Und Sie mei­nen, ich hät­te mich also auf einen Kahn ge­setzt, der un­mit­tel­bar nach Bre­men geht? Sie müs­sen mich für sehr dumm hal­ten.«

»Aber der Kahn – wie Sie sa­gen – geht doch nach Bre­men!«

»Stimmt: er geht! Aber er kommt nicht dort an. We­nigs­tens nicht mit uns. Wenn näm­lich der Damp­fer nicht vor­her ir­gend­wo an­legt, so dass wir aus­stei­gen kön­nen, dann …« Er un­ter­brach sich und sah sich vor­sich­tig um.

»Was dann? Wir sind al­lein und völ­lig hilf­los …«

»Wir sind nicht al­lein, lie­ber Ignat­jew. Wir ha­ben einen Kof­fer mit Ju­we­len. Das ist eben­so gut oder bes­ser als ein Kof­fer mit Spreng­stoff. Ein paar von die­sen Stein­chen un­ter die Leu­te ge­wor­fen, und alle müh­sam er­rich­te­te mensch­li­che Ord­nung ist zum Teu­fel … Aber zur Sa­che: De­pe­schie­ren Sie an Pear­son in Lon­don, ich wür­de in etwa vier­zehn Ta­gen dort sein. Nach Pa­ris müs­sen wir auch Nach­richt ge­ben … Kom­men Sie in den Rauch­sa­lon – ich dik­tie­re Ih­nen die Te­le­gram­me …«

Lau­tes Stim­men­ge­wirr, nur hin und wie­der über­tönt von ei­ner lei­sen, durch Rund­funk über­tra­ge­nen Tanz­mu­sik, emp­fing die bei­den im Rauch­zim­mer. Fast alle Ti­sche wa­ren be­setzt, und vie­le Fahr­gäs­te stan­den an den brei­ten Fens­tern, um noch einen letz­ten Blick auf das ent­schwin­den­de Ägyp­ten zu wer­fen. Pro­cho­row nick­te ei­ner ele­gant ge­klei­de­ten blon­den Frau zu, die et­was ab­seits von den üb­ri­gen am Fens­ter lehn­te; dann setz­te er sich mit sei­nem Se­kre­tär in eine Ecke und zog ein dickes, ab­ge­grif­fe­nes No­tiz­buch aus der Ta­sche. Ohne sich durch den Lärm und die Ge­sprä­che stö­ren zu las­sen, be­gann er mit dem An­sa­gen der Te­le­gram­me.

»Mein Mann ist wie ein Kind!«, rief plötz­lich eine di­cke, etwa vier­zig­jäh­ri­ge Dame. Sie rief es in schlech­tem Eng­lisch, aber als sie sah, dass die­ses Eng­lisch fast nie­mand ver­stan­den hat­te, wie­der­hol­te sie den Satz in flie­ßen­dem Deutsch. »Wenn er ir­gend­wo einen Vo­gel sieht, den er noch nicht kennt, ist er ganz aus dem Häu­schen … Er ist Or­ni–tho–­lo­ge …« Sie stol­per­te über die Sil­ben des Wor­tes. »Im Nor­den Eri­tre­as hat er einen un­be­kann­ten Vo­gel ent­deckt … Lei­der kön­nen wir ihm nicht un­se­ren Na­men ge­ben, denn wir hei­ßen Kauf­mann …«

»Wa­rum soll ein Vo­gel nicht Kauf­mann hei­ßen?«, frag­te Mr. Scott, ein ha­ge­rer Eng­län­der, und rühr­te em­sig in sei­ner Kaf­fee­tas­se. Es war ihm nicht an­zu­mer­ken, ob er sich über Frau Pro­fes­sor Kauf­mann lus­tig mach­te.

»Aber ich bit­te Sie, Mr. Scott …«

»Sehr gu­tes Name für Vo­gel«, ließ sich der Schiffs­arzt, Dr. Pem­bro­ke, ver­neh­men. Er hat­te Deutsch im Selb­st­un­ter­richt ge­lernt und war be­son­ders auf sei­ne Auss­pra­che stolz.

Eine schwarz­haa­ri­ge jun­ge Dame, sehr hübsch und sehr gut ge­klei­det, beug­te sich zu ihm vor. Es war Maud Kas­sa­la, die Toch­ter ei­nes ho­hen ägyp­ti­schen Be­am­ten, von dem man be­haup­te­te, er hät­te in der Po­li­tik ein Wort mit­zu­re­den.

»Wer ist der jun­ge Mann an dem Fens­ter dort?«, frag­te sie lei­se.

»Es heißt: an das Fens­ter«, ver­bes­ser­te Dr. Pem­bro­ke mit ru­hi­ger Be­stimmt­heit. Dann fuhr er in eng­li­scher Spra­che fort, da sei­ne »1000 Wor­te Deutsch« zu dem be­ab­sich­tig­ten Satz nicht aus­reich­ten. »Wolf­gang Diersch, ein deut­scher In­ge­nieur, hat vier Jah­re lang in Kai­ro Häu­ser ge­baut … Dann ging das Bau­un­ter­neh­men plei­te … Sechs Mo­na­te lang such­te er an­der­wei­tig Ar­beit – ver­ge­bens. Man zog Eng­län­der vor. Jetzt fährt er nach Hau­se …«

»Ve­ry ni­ce«, sag­te Mr. Scott, der mit hal­b­em Ohr zu­ge­hört hat­te. »Steht das al­les in der Pas­sa­gier­lis­te?«

»Nein«, ant­wor­te­te der Schiffs­arzt.

»Wo­her wis­sen Sie es dann?«, fuhr Mr. Scott be­harr­lich fort.

»Sie fra­gen sehr viel … zu viel«, warf Dr. Pem­bro­ke nach­läs­sig hin und mach­te sich an ei­ner schwar­zen Zi­gar­re zu schaf­fen.

Maud Kas­sa­la hielt es für an­ge­bracht, Scotts Fra­ge zu be­ant­wor­ten:

»Die stän­di­gen Un­ru­hen in un­se­rem Land ma­chen eine ge­naue Über­wa­chung ver­däch­ti­ger Ele­men­te not­wen­dig. Wahr­schein­lich ist es bei die­sem jun­gen Deut­schen über­flüs­sig ge­we­sen, aber man kann das nicht vor­her wis­sen …« Sie woll­te in ih­ren Er­klä­run­gen fort­fah­ren, aber Mr. Scotts gleich­gül­ti­ges Ge­sicht mach­te sie ver­stum­men.

»Oh«, rief der Schiffs­arzt, »die­ser jun­ge Mann scheint auch an­de­ren Frau­en zu ge­fal­len!«

In dem­sel­ben Au­gen­blick, als Dr. Pem­bro­ke die­se Fest­stel­lung mach­te, schreck­te Wolf­gang Diersch jäh aus sei­ner Ver­sun­ken­heit auf. Eine schma­le Frau­en­hand hat­te leicht sei­nen Arm be­rührt. Er sah auf, und auf sei­nem Ge­sicht zeig­te sich deut­lich das Er­stau­nen über die Schön­heit die­ser schlan­ken blon­den Frau. Fast noch mehr über­rasch­te ihn aber der angst­vol­le, er­schro­cke­ne Aus­druck ih­res Ge­sichts.

»Spre­chen Sie deutsch?«, frag­te sie has­tig, sehr lei­se. »Bit­te, spre­chen Sie mit mir – ir­gend et­was … Tun Sie, als un­ter­hiel­ten wir uns schon eine Wei­le … Ich bit­te Sie …«

»Gnä­di­ge Frau, ich be­grei­fe nicht …«

»Se­hen Sie den Mann in der Uni­form?«

»Den großen, schlan­ken Schwarz­haa­ri­gen?«

»Ja. Er ver­folgt mich …«

»Gnä­di­ge Frau, Sie ir­ren sich ge­wiss. Das ist der Drit­te Of­fi­zier die­ses Damp­fers …«

»Bit­te, er­zäh­len Sie et­was, ganz gleich was … Dann kommt er nicht hier­her … Er woll­te auf mich zu­kom­men, da wand­te ich mich an Sie …«

»Ver­zei­hen Sie, gnä­di­ge Frau, aber die­sem Mann wer­den Sie doch auf die Dau­er un­mög­lich aus­wei­chen kön­nen. Ver­su­chen Sie doch, sich et­was zu be­ru­hi­gen … Was kann Ih­nen denn hier ge­sche­hen, hier, un­ter so­viel Men­schen? Rei­sen Sie al­lein?«

»Nein, Herr Pro­cho­row, ein Freund be­glei­tet mich …«

Diersch un­ter­drück­te die Fra­ge, warum sie sich nicht an die­sen Freund hal­te. Es war et­was an die­ser Frau, was ihn nach­sich­tig stimm­te. Vi­el­leicht war es das Deut­sche an ihr. Vier­ein­halb Jah­re war er sei­ner Hei­mat fern­ge­we­sen. Er sehn­te sich nach Deutsch­land und nach ei­ner deut­schen Frau.

»Wa­ren Sie lan­ge in Ägyp­ten?«, frag­te er.

»Seit fünf­zehn Jah­ren«, sag­te sie, und jetzt war an ih­rer Hal­tung nichts mehr aus­zu­set­zen. Sie lehn­te wie­der nach­läs­sig am Fens­ter und blick­te hin­aus, wäh­rend sie mit ihm sprach. Es sah so aus, als un­ter­hiel­ten sich zwei ein­an­der sehr frem­de Men­schen über gleich­gül­ti­ge Din­ge.

»So lan­ge?«, frag­te er. »Sie ha­ben Deutsch­land fünf­zehn Jah­re lang nicht ge­se­hen?«

Sie schüt­tel­te den Kopf.

»Aber Sie sind doch si­cher­lich in je­dem Bluts­trop­fen deutsch?«, fuhr er fort.

»Ich stam­me aus dem Rhein­land«, ant­wor­te­te sie ton­los. »Vor fünf­zehn Jah­ren muss­te mein Va­ter sei­ner Ge­sund­heit we­gen das Kli­ma wech­seln, und wir zo­gen nach Ägyp­ten. Spä­ter, als er starb, fehl­te es an Geld, und als mich vor ei­ni­gen Jah­ren auch die Mut­ter für im­mer ver­ließ, wur­den mei­ne Aus­sich­ten, Deutsch­land wie­der­zu­se­hen, noch ge­rin­ger.«

»Und jetzt? Wie ist es denn jetzt doch mög­lich ge­wor­den?«

Sie stutz­te.

»Ich kann Ih­nen das jetzt nicht sa­gen … Sei­en Sie mir nicht böse …«

Er be­griff so­fort.

»Wir ken­nen ein­an­der ja noch gar nicht rich­tig – Sie ha­ben recht. Gut, dann will ich Ih­nen von mir er­zäh­len. Ich habe ge­ra­de sechs Mo­na­te ver­zwei­fel­te Ar­beits­su­che hin­ter mir. Man woll­te mich oft an­stel­len, aber dann zer­schlug sich die Sa­che doch im­mer, weil zu­erst die Eng­län­der Ar­beit ha­ben müs­sen. Se­hen Sie mich nicht so mit­lei­dig an – das liegt ja nun hin­ter mir. Und jetzt? Jetzt fah­re ich nach Hau­se, nach Deutsch­land! Mei­nen An­zug dür­fen Sie nicht so auf­merk­sam be­trach­ten. Er ist nicht be­son­ders, aber es war der bil­ligs­te, den ich kau­fen konn­te … Das Geld dazu be­kam ich vom deut­schen Kon­su­lat … Ich bin ganz arm, aber das macht nichts. Vi­el­leicht hat mein Va­ter noch et­was Geld. Ich habe ihm vier Jah­re lang fast mei­nen gan­zen Ver­dienst nach Ber­lin ge­schickt, und da­von hat er sich ein klei­nes Häu­schen ge­kauft. Dort ste­hen zwei jun­ge Birn­bäu­me, und ein paar Hüh­ner lau­fen da her­um. Eine Zie­ge woll­te Va­ter auch an­schaf­fen, aber ich habe jetzt schon lan­ge kei­ne Nach­rich­ten von ihm …«

»Ich be­nei­de Sie«, sag­te sie lei­se. »Ich möch­te noch ein­mal so jung und le­bens­froh wer­den wie Sie …«

»Ich bit­te um Ver­zei­hung!«, sag­te eine har­te Män­ner­stim­me dicht ne­ben ih­nen. Die Wor­te wur­den in ein­wand­frei­em Deutsch ge­spro­chen.

Diersch und die Frau wand­ten sich um. Ne­ben ih­nen stand der Drit­te Of­fi­zier. Sein Ge­sicht war eine glat­te, küh­le Mas­ke.

»Dürf­te ich den Herrn um die Schiffs­kar­te bit­ten?«, fuhr er fort.

Diersch kram­te in den Ta­schen sei­nes wirk­lich we­nig ele­gan­ten An­zugs.

»Aha! Hier! Bit­te sehr.«

Der Of­fi­zier nahm den Schein mit ei­ner knap­pen Ver­nei­gung in Empfang. Nach ei­nem prü­fen­den Blick gab er ihn wie­der zu­rück.

»Sie ha­ben Zwi­schen­deck«, sag­te er ge­mes­sen und sah über den Kopf des jun­gen Man­nes hin­weg. »Fahr­gäs­te des Zwi­schen­decks ha­ben zu den Ge­sell­schafts­räu­men kei­nen Zu­tritt.«

»Wie­so? Ich …« Diersch stutz­te. Sein Ge­sicht wur­de plötz­lich blut­rot. »Das heißt wohl, ich soll von hier ver­schwin­den?«

»Ganz recht, mein Herr«, ant­wor­te­te der Of­fi­zier und ver­neig­te sich wie­der ein we­nig. Sei­ne Hal­tung war ein­wand­frei höf­lich, aber sie wirk­te wie eine aus­ge­such­te Bos­haf­tig­keit. »Der Herr be­fin­det sich in mei­ner Ge­sell­schaft«, misch­te sich die Frau ein. »Ich den­ke, das ge­nügt?« Ihre Stim­me zit­ter­te ein we­nig.

»Das ge­nügt lei­der nicht«, wi­der­sprach der Of­fi­zier. »Wir ha­ben sehr ge­naue An­wei­sun­gen …«

»Gut«, lenk­te Diersch ein. »Ge­gen An­wei­sun­gen ist nichts zu ma­chen. Ich wer­de also ge­hen. Aber nicht eher, als bis ich mei­ne Un­ter­hal­tung mit die­ser jun­gen Dame be­en­det habe.«

Durch den Wort­wech­sel auf­merk­sam ge­wor­den, wa­ren die Pas­sa­gie­re auf­ge­stan­den und dräng­ten sich neu­gie­rig her­an. Auch Pro­cho­row eil­te her­bei, denn er hat­te be­merkt, dass die Dame, de­ren Freund er war, sich im Mit­tel­punkt der Grup­pe be­fand. Ein paar ra­sche Fra­gen, und er war un­ter­rich­tet.

»Eri­ka«, rief er streng, »ich wün­sche nicht, dass du dich mit Zwi­schen­deck­pas­sa­gie­ren ab­gibst …«

»Mein Herr«, wand­te sich der Of­fi­zier von neu­em an Diersch, »Sie ver­ur­sa­chen hier einen Auf­lauf. Bit­te, ver­las­sen Sie so­fort die­sen Raum.«

»Was kos­tet die Zu­schlag zu der Fahr­schein?«, frag­te eine hohe, klang­vol­le Frau­en­stim­me. Das war die Stim­me Maud Kas­sa­las.

Der Of­fi­zier wand­te sich um.

»Sechs­ein­halb Pfund.«

Maud dräng­te sich vor.

»Ich gebe Ih­nen eine Scheck«, er­klär­te sie ru­hig. »Der jun­ge Mann bleibt.«

Der Of­fi­zier ver­neig­te sich mit ei­si­gem Ge­sicht.

»Da­mit ist der Fall er­le­digt.«

»Halt!«, rief Diersch. »Das stimmt nicht. Ich dan­ke der jun­gen Dame für ihr Ein­grei­fen, muss aber die Hil­fe lei­der ab­leh­nen. Ich gehe. Jetzt ist der Fall er­le­digt.«

»Ve­ry ni­ce«, warf Mr. Scott ein. »Wür­den Sie, Herr Diersch … Ver­zei­hen Sie, dass ich Ihren Na­men schon ken­ne, aber ich ken­ne ihn eben … Wür­den Sie mir ge­stat­ten … als eine Art Sym­pa­thie­kund­ge­bung so­zu­sa­gen, für Sie die sechs­ein­halb Pfund aus­zu­le­gen? Wür­de es mir zur Ehre an­rech­nen.«

Plötz­lich strahl­te das Ge­sicht des jun­gen Man­nes.

»Darf ich um Ihren Na­men bit­ten?«

»Scott aus Li­ver­pool.«

»Mr. Scott, ich habe kei­ne Be­den­ken, von Ihrem Aner­bie­ten Ge­brauch zu ma­chen. Sie ge­ben mir Ihre Adres­se …«

»Ge­wiss. Gern. Der Herr Of­fi­zier wird viel­leicht die Freund­lich­keit ha­ben, den Zahl­meis­ter hier­her zu bit­ten. Und nun fin­de ich, dass wir die­se jun­ge Dame und Herrn Diersch lan­ge ge­nug in ih­rer Un­ter­hal­tung ge­stört ha­ben … Hm?«

Die Pas­sa­gie­re be­ga­ben sich mit be­lus­tig­ten Ge­sich­tern wie­der an ihre Plät­ze. Nur Maud Kas­sa­la und Os­sip Pro­cho­row schie­nen mit dem Aus­gang der Sa­che nicht zu­frie­den zu sein. Und ihre Ge­sich­ter wur­den auch nicht fröh­li­cher, als der Schiffs­arzt sein Bier­glas hob und laut in deut­scher Spra­che rief:

»Eine drei­fa­che Hur­ra auf der edle Mr. Scott!«

Al­les stimm­te be­geis­tert ein, und nie­mand fiel es auf, dass Dr. Pem­bro­ke auf Diersch zu­eil­te und ihm kräf­tig die Hand drück­te.

»Sie hät­ten un­be­dingt ab­leh­nen müs­sen«, sag­te der Schiffs­arzt. »Jetzt ha­ben Sie sich eine Fein­din ge­schaf­fen. Ent­schul­di­gen Sie sich bei der Kas­sa­la. Ich fürch­te zwar, dass auch das nichts mehr nützt.« Die­ses Mal hat­te Dr. Pem­bro­ke eng­lisch ge­spro­chen.

2.

Die Uhr war sie­ben. Der Ste­ward lief ei­lig durch alle Räu­me und schlug auf sei­nen Gong. Ein­zel­ne Grup­pen der Pas­sa­gie­re streb­ten be­reits dem Spei­se­saal zu. Man­che hat­ten sich zum Abendes­sen um­ge­zo­gen, die meis­ten hiel­ten dies bei der herr­schen­den Wär­me nicht für an­ge­bracht.

Der Drit­te Of­fi­zier war im Be­griff, den Zwei­ten ab­zu­lö­sen, und woll­te eben die Kom­man­do­brücke er­klet­tern, als ein An­ruf des Ka­pi­täns ihn zu­rück­hielt:

»Mr. Mur­phy, auf ein Wort!«

Der Of­fi­zier griff schwei­gend an den Müt­zen­rand und folg­te dem Ka­pi­tän in des­sen Ka­jü­te. Gra­dy knips­te das Licht an, leg­te sei­ne Müt­ze auf einen Stuhl und ließ sich an den klei­nen, mit Kar­ten und Bü­chern be­deck­ten Tisch nie­der.

»Sie hat­ten einen Wort­wech­sel mit ei­nem Pas­sa­gier«, frag­te er und sah sei­nen Of­fi­zier prü­fend an.

»Ja­wohl, Ka­pi­tän.«

»Neh­men Sie doch Platz«, sag­te Gra­dy, aber der an­de­re blieb nach wie vor ste­hen, als wol­le er da­mit be­to­nen, dass er die­se Un­ter­re­dung als streng dienst­lich auf­fas­se. »Der Vor­fall hat pein­li­ches Auf­se­hen er­regt«, fuhr Gra­dy fort. »Sie hät­ten das takt­vol­ler ma­chen müs­sen … Hm … wenn über­haupt! Es ist zwar die ers­te Rei­se, die Sie mit mir ma­chen, und ich ken­ne Sie da­her we­nig, doch sind Sie mir als ein sehr tüch­ti­ger See­of­fi­zier emp­foh­len wor­den … ja … Als Of­fi­zier ei­nes Damp­fers, der Pas­sa­gie­re mit­führt, ha­ben Sie aber auch die Pf­licht, die­sen Pas­sa­gie­ren den Auf­ent­halt auf dem Damp­fer so an­ge­nehm wie mög­lich zu ma­chen … Ich wün­sche nicht, dass die Fahr­gäs­te sich auf un­se­rem Fracht­damp­fer we­ni­ger wohl füh­len als auf den re­gel­rech­ten Pas­sa­gier­damp­fern. Ich bit­te Sie, in Zu­kunft … Na, kurz und gut: Sie ha­ben mich ver­stan­den?«

»Ja­wohl, Ka­pi­tän«, ant­wor­te­te Mur­phy wie­der. Die Un­ter­re­dung schi­en da­mit be­en­det zu sein, aber der Of­fi­zier stand nach wie vor in sehr auf­rech­ter Hal­tung an der Tür.

»Sie kön­nen jetzt ge­hen«, sag­te Gra­dy und stopf­te sich sei­ne Pfei­fe.

»Ich habe eine Bit­te«, sag­te der Of­fi­zier.

Der Ka­pi­tän sah kurz auf.

»Ja?«

»Dürf­te ich die Pas­sa­gier­lis­te ein­se­hen?«

»Ge­wiss, sie liegt im Rauch­zim­mer aus«, ant­wor­te­te Gra­dy.

»Ich mei­ne die … an­de­re Lis­te«, er­läu­ter­te der Of­fi­zier.

Der Ka­pi­tän stand mit ei­nem Ruck auf, nahm ein blau­es Ak­ten­heft von ei­nem Re­gal und reich­te es Mur­phy. Er sprach kein Wort, aber deut­li­cher als je­des Wort ver­riet sein Ge­sicht hef­ti­gen Un­wil­len.

Mur­phy las im Ste­hen. Er las sehr auf­merk­sam. Sechs­und­zwan­zig Na­men las er und un­ter je­dem die­ser Na­men die ge­nau­en An­ga­ben über den Zweck der Rei­se, die Plä­ne und Ver­mö­gens­ver­hält­nis­se je­des ein­zel­nen. Bei den meis­ten Na­men stand der Ver­merk »In Ord­nung«, bei ein­zel­nen ein län­ge­rer Be­richt, der mit den zwei Wor­ten »zu be­ob­ach­ten« schloss. Der Of­fi­zier hat­te die Lis­te auf den Tisch ge­legt und sein No­tiz­buch aus der Ta­sche ge­zo­gen. Er schrieb nur ei­ni­ge Wor­te, dann klapp­te er sein Büch­lein zu und gab dem Ka­pi­tän auch die Lis­te zu­rück.

»Nun?«, frag­te Gra­dy un­mu­tig. Er wan­der­te lang­sam in dem en­gen Raum auf und ab.

»Ich glau­be nicht, dass alle Pas­sa­gie­re Bre­men er­rei­chen wer­den«, sag­te Mur­phy kühl. »Au­ßer­dem stimmt die Lis­te nicht.«

»Bit­te, die Lis­te Scot­land Yards stimmt im­mer«, be­rich­tig­te der Ka­pi­tän.

»Le­sen Sie bei Num­mer 6 nach«, sag­te Mur­phy ach­sel­zu­ckend.

Gra­dy schlug das blaue Ak­ten­heft auf und las laut:

»Eri­ka Meiß­ner, geb. Wundt, fünf­und­zwan­zig Jah­re alt, Toch­ter ei­nes deut­schen Guts­be­sit­zers aus dem Rhein­land. Po­li­tisch un­ver­däch­tig. War ver­hei­ra­tet. Ihr Mann vor drei Jah­ren ver­stor­ben. Ge­such um Aus­rei­se be­wil­ligt. Reist in Beglei­tung von Os­sip Pro­cho­row (sie­he Nr. 5). In Ord­nung.« Der Ka­pi­tän sah auf. »Nun, und?«

»Sie heißt nicht Meiß­ner, son­dern Meß­ner. Sie ist die Frau je­nes Meß­ner, des­sen Selbst­mord vor ei­ni­gen Mo­na­ten in Kai­ro großes Auf­se­hen er­reg­te. Scot­land Yard war da­hin­ter ge­kom­men, dass sich der Mann mit Opi­um­schmug­gel be­fass­te. Sein Haus war be­reits von Kri­mi­nal­be­am­ten um­stellt, Flucht un­mög­lich – da griff er zur Waf­fe …«

»Was hat das al­les mit der Frau und ih­rer Rei­se zu tun?«

»Scot­land Yard sucht die Frau seit Mo­na­ten, weil sie ih­rem Mann bei sei­nen ver­bo­te­nen Ge­schäf­ten ge­hol­fen ha­ben soll …«

»Ist das be­wie­sen?«

»Scot­land Yard wird es be­wei­sen.«

Der Ka­pi­tän sag­te eine Zeit lang nichts. Mit er­reg­ten Schrit­ten ging er auf und ab. Dann blieb er vor Mur­phy ste­hen.

»Wo­her wis­sen Sie das?«

»Ich ken­ne die Frau.«

»So!« Ka­pi­tän Gra­dy stampf­te wie­der zwei, drei Schrit­te durch das Zim­mer. »Ich fan­ge an zu be­grei­fen«, sag­te er. »Es war doch die­se Frau, mit der sich der Zwi­schen­deck­pas­sa­gier un­ter­hielt? Sie woll­ten sie al­lein spre­chen, nicht wahr? Sie woll­ten sie war­nen? Sie woll­ten ihr sa­gen, sie möge vor­sich­tig sein, da auf dem Damp­fer un­er­kannt In­spek­tor Leith, der ge­fürch­tets­te Ge­heim­po­li­zist Scot­land Yards, mit­reist. Habe ich recht?«

»Nein, Ka­pi­tän«, ver­setz­te der Of­fi­zier ru­hig. »Ich habe kei­ne Ver­an­las­sung, der Frau schon jetzt zu sa­gen, dass man sie in Bre­men nicht von Bord las­sen wird.«

»Wer wird sie nicht von Bord las­sen?«, rief Gra­dy hef­tig.

»Sie, Ka­pi­tän. Ich wer­de Sie zur ge­ge­be­nen Zeit of­fi­zi­ell dar­um er­su­chen.«

Gra­dy stopf­te das blaue Ak­ten­heft mit ei­ner wü­ten­den Be­we­gung un­ter einen Stoß Pa­pie­re.

»Ich muss jetzt zum Abendes­sen«, sag­te er kurz. »Sie ha­ben Dienst, Mr. Mur­phy?«

»Ja­wohl, Ka­pi­tän.« Mur­phy griff an den Müt­zen­rand, dreh­te sich hart auf dem Ab­satz um und ging hin­aus. Er hör­te den grim­mi­gen Fluch sei­nes Ka­pi­täns nicht mehr, aber er wuss­te ge­nau, dass Gra­dy jetzt fluch­te.

Als der Ka­pi­tän den Spei­se­saal be­trat, war man schon beim Bra­ten an­ge­langt. Gra­dy wur­de freu­dig be­grüßt, und er ent­täusch­te auch nicht die all­ge­mei­ne Er­war­tung. Auf sei­nen Wink hin brach­ten zwei neu­an­ge­wor­be­ne ma­lai­ische Ste­wards Sekt­fla­schen und Glä­ser her­bei, und ob­wohl sie aus Man­gel an Übung mit die­sen Din­gen ziem­lich un­ge­schickt um­gin­gen, ge­lang es ih­nen doch nach ei­ner Wei­le, ohne erns­te­ren Zwi­schen­fall vor je­den Tisch­gast einen ge­füll­ten Sekt­kelch hin­zu­stel­len. Der Ka­pi­tän stand auf und hielt die Rede auf das Wohl­ge­lin­gen der Fahrt, de­ren ein­zel­ne Wor­te er bes­ser kann­te als das Va­terun­ser. In nichts un­ter­schied sich die­se Rede von den vie­len, die er an die­sem Tisch schon ge­hal­ten hat­te, als im Ton, der heu­te rau­er war als sonst. Mehr­mals sah er wäh­rend der Rede Eri­ka an, aber nicht ein­mal dann, als sie ihm freund­lich zu­lä­chel­te, kam er ins Sto­cken. Manch­mal, bei ei­ner scherz­haf­ten Wen­dung, un­ter­brach ihn ein kur­z­es Ge­läch­ter, und die Ge­sich­ter der Gäs­te leuch­te­ten bei­fäl­lig freund­lich, sicht­lich zu­frie­den mit der red­ne­ri­schen Leis­tung des Ka­pi­täns. Hät­te aber jetzt je­mand Gra­dy un­ter­bro­chen, so wäre er hilf­los ste­cken­ge­blie­ben, da er nicht wuss­te, bei wel­cher Stel­le sei­ner schö­nen Rede er war. Sei­ne Ge­dan­ken wa­ren in Bre­men. Er sah alle die­se Fahr­gäs­te mit fro­hen Ge­sich­tern den Damp­fer ver­las­sen, und nur eine nicht … Eri­ka nicht …

»Hoch, hoch, hoch!«, rie­fen die Pas­sa­gie­re und ho­ben ihre Glä­ser. Alle woll­ten mit dem Ka­pi­tän an­sto­ßen. Auch Eri­ka kam auf ihn zu. Für eine Se­kun­de kreuz­ten sich ihre Bli­cke, dann dräng­ten sich an­de­re Men­schen da­zwi­schen, aber Ka­pi­tän Gra­dy hat­te plötz­lich vom An­sto­ßen ge­nug. Er trank sein Glas auf einen Zug leer und setz­te es all­zu hef­tig auf den Tisch. Der Fuß brach ab, das Glas kipp­te um, und Scher­ben klirr­ten.

Frau Pro­fes­sor Kauf­mann war es, die so­fort äu­ßer­te, Scher­ben bräch­ten Glück. Man nahm es ihr nicht übel, denn hät­te sie die Be­mer­kung un­ter­las­sen, so wä­ren zehn an­de­re be­reit ge­we­sen, die­sel­be wich­ti­ge Fest­stel­lung zu ma­chen. Au­ßer­dem war man jetzt in bes­ter Stim­mung, und der Abend ver­sprach wirk­lich hübsch zu wer­den.

Ein­zel­ne Da­men und Her­ren hat­ten Abend­klei­der an­ge­legt, und auch die an­de­ren, die das un­ter­las­sen hat­ten, mach­ten einen fest­li­chen Ein­druck. Nur Wolf­gang Diersch in sei­nem hell­grau­en An­zug pass­te nicht recht zu dem Bild. Der An­zug saß schlecht, und die graue Far­be des Stoffs war nicht ein­heit­lich, es schi­en fast, als hät­te man an die­sem Stoff neu­ar­ti­ge Bleich­ver­su­che un­ter­nom­men, die stel­len­wei­se auch durch­aus ge­lun­gen wa­ren. Man­cher mit­lei­di­ge Blick streif­te den jun­gen Mann; er aber schi­en sich nicht im min­des­ten be­mit­lei­dens­wert zu füh­len, denn sein Ge­sicht strahl­te vor Glück. Die Ur­sa­che die­ser Freu­de blieb nie­man­dem ver­bor­gen: Wolf­gang Diersch saß ne­ben Eri­ka, und die­se Frau sah in ih­rem dun­kelblau­en Abend­kleid so ver­füh­re­risch aus, dass man­cher an­de­re Mann Diersch um sei­nen Platz be­nei­de­te.

»Wis­sen Sie auch, dass ich die­sen Zu­fall, Ihre Nach­ba­rin zu sein, ganz ent­zückend fin­de?«, wand­te sich Eri­ka an Diersch und sah sich ein we­nig vor­sich­tig um, ob ihr Nach­bar zur Rech­ten, Os­sip Pro­cho­row, die­se Wor­te nicht ge­hört hat­te.

»Das freut mich rie­sig«, ant­wor­te­te Diersch. »Aber Zu­fall …? Wer sagt denn das? Ich habe ihm nach­ge­hol­fen! Drei Schil­ling­s­tücke roll­ten in die sehn­süch­tig ge­öff­ne­te Hand ei­nes Ste­wards, und schon ge­hör­te mir der Platz … Wie konn­ten Sie glau­ben, dass ich die Ver­lei­hung die­ses Plat­zes ein­fach dem Zu­fall über­las­se?«

»Aber Sie hät­ten für Ihre Schil­lin­ge si­cher­lich eine bes­se­re Ver­wen­dung fin­den kön­nen …«

»Ganz un­denk­bar«, wi­der­sprach er. »Und dann – wenn Sie recht hät­ten: ich habe ja noch fünf Schil­lin­ge …«

»Ist das al­les, was Sie noch ha­ben?«, frag­te sie er­schro­cken.

»Au­gen­blick­lich ja. Aber in Deutsch­land wer­de ich Ar­beit be­kom­men und dann schnell reich wer­den … Das heißt – ich will ja gar nicht reich wer­den, ich will nur, dass es mir gut geht … Aber was ha­ben Sie denn?« Er sah sie er­staunt an, denn so deut­lich wie ein Spie­gel ver­rie­ten ihre Züge Ver­wir­rung.

»Ach, nichts …«, wehr­te sie ab. »Bit­te, spre­chen Sie wei­ter. Also Sie wol­len, dass es Ih­nen gut geht …«

Ei­nen Au­gen­blick lang sah er in ihr blas­ses Ge­sicht, aber es schi­en ihm jetzt ganz un­be­fan­gen zu sein. Wahr­schein­lich hat­te er sich vor­hin ge­täuscht. Wäh­rend er leb­haft von sei­nen nächs­ten Plä­nen er­zähl­te, merk­te er nicht, wie sich die Frau et­was nach der an­de­ren Sei­te lehn­te, und er spür­te auch nicht, dass sie ihm ei­gent­lich gar nicht mehr rich­tig zu­hör­te. So sehr sie sich aber be­müh­te, noch et­was von dem Ge­spräch Pro­cho­rows mit sei­nem Se­kre­tär zu er­lau­schen, es ge­lang ihr nicht, die bei­den spra­chen zu lei­se. Nur die ers­ten Wor­te Pro­cho­rows hat­te sie ge­hört: »Die­ser Deut­sche ge­fällt mir nicht. Der ist für uns ge­fähr­lich. Un­ser Plan –« Mehr noch als die­se Wor­te hat­te ihr Ton sie ver­wirrt: es war ein her­ri­scher, bru­ta­ler Ton ge­we­sen, wie sie ihn an dem stets rück­sichts­vol­len Pro­cho­row nicht ge­wöhnt war.

Ignat­jew kann­te die­sen Ton be­deu­tend bes­ser. Und auch die Wor­te selbst hat­ten ihn nicht ver­wun­dert. Im In­nern gab er Pro­cho­row recht. Eine Wei­le hat­te er nicht geant­wor­tet und nur nach­denk­lich mit dem Tee­löf­fel in der Nach­spei­se her­um­ge­sto­chert. Dann end­lich sag­te er sehr lei­se, ohne auf­zu­bli­cken:

»Sie müss­ten mit ihm be­kannt wer­den.«

»Er scheint arm zu sein«, ant­wor­te­te Pro­cho­row, und auch er sprach jetzt lei­ser. »Vi­el­leicht ist da mit Geld was zu er­rei­chen; wenn nicht –«

»Ver­su­chen Sie es«, riet Ignat­jew.

Pro­cho­row nick­te. Die bei­den hat­ten ein­an­der ver­stan­den.

Das Abendes­sen war be­en­det, und die Ste­wards tru­gen leicht schwan­kend das Ge­schirr hin­aus. Der Wel­len­gang war mä­ßig, und alle Pas­sa­gie­re be­fan­den sich noch wohl­auf. Die Ge­sprä­che, die am Tisch ge­führt wur­den, neig­ten sich aber be­reits be­denk­lich dem Haupt­the­ma: See­krank­heit zu. Je­der wuss­te von ei­nem un­fehl­ba­ren Mit­tel zu be­rich­ten, aber es fan­den sich stets an­de­re, die die­ses Mit­tel längst ver­sucht und als nutz­los be­fun­den hat­ten.

»Ich habe im­mer einen Kirsch­kern in den Mund ge­nom­men«, be­haup­te­te Frau Pro­fes­sor Kauf­mann, »und ich bin noch nie see­krank ge­wor­den …«

»Sie hat­ten wohl im­mer gu­tes Wet­ter?«, er­kun­dig­te sich Scott mit sei­nem em­pö­rend gleich­mü­ti­gen Ge­sichts­aus­druck.

»Wie mei­nen Sie das?«, frag­te sie spitz. »Soll das hei­ßen. Sie glau­ben …«

Der Ka­pi­tän wünsch­te kei­nen Streit, und er misch­te sich la­chend ein:

»Mei­ne Da­men und Her­ren, ich fin­de, wir spre­chen viel zu früh von See­krank­heit. Von dem biss­chen Schau­keln da wird kein Mensch krank …«

»Mei­nen Sie wirk­lich?«, frag­te Frau Pro­fes­sor Kauf­mann und stand plötz­lich be­ängs­ti­gend schnell auf. Ihr Ge­sicht war grün­lich gelb, und ihr gan­zes Stre­ben ging im Au­gen­blick da­hin, recht­zei­tig den Aus­gang zu er­rei­chen.

»Ver­lie­ren Sie den Kirsch­kern nicht!«, rief Mr. Scott freund­lich. Die­ser Satz trug ihm einen gif­ti­gen Blick des klei­nen schmäch­ti­gen Man­nes ein, der ne­ben Frau Pro­fes­sor Kauf­mann ge­ses­sen und bis jetzt ge­schwie­gen hat­te. Der Blick war so aus­drucks­voll, dass Mr. Scott sich höf­lich vor­neig­te und frag­te: »Sag­ten Sie et­was?«

»Nein?«, er­wi­der­te das Männ­chen böse. »Aber jetzt will ich Ih­nen sa­gen, dass es un­schön ist, wie Sie sich über die­se kran­ke Dame lus­tig ma­chen. Mei­ne Frau …«

»Sie sind Pro­fes­sor Kauf­mann?«, frag­te Scott er­staunt. Er hat­te ge­glaubt, die­ser Pro­fes­sor sei sonst wo, nur nicht hier. »Der Mann, der den Vo­gel ge­fun­den hat?«

»Al­ler­dings, und ich …«

Frau Pro­fes­sor Kauf­mann trat wie­der ein, und der klei­ne Mann ver­stumm­te jäh.

»Ich muss mir den Ma­gen ver­dor­ben ha­ben«, mein­te die Frau, de­ren Ge­sicht jetzt wie­der einen röt­li­chen Schim­mer zeig­te. »See­krank­heit kann es nicht sein, denn der Kirsch­kern hilft im­mer …«

Ein äl­te­rer Herr mit ei­nem klei­nen grau­en Spitz­bart, der schon längst in ei­nem of­fen­bar wis­sen­schaft­li­chen Buch las, blick­te auf.