Nordsee im Herz - Alica H. White - E-Book

Nordsee im Herz E-Book

Alica H. White

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Beschreibung

Nordseeliebe samt Fischbrötchen, Flirts und falschen Fährten.
Rhea Thomsen kehrt nach ihrem Studium zurück in ihre Heimat Cuxhaven, dort, wo die Nordseewellen an den Strand fließen, die Möwen im Sturmwind kreischen und die Fischbrötchen nach Meer schmecken. Sie soll ihren Vater nach einem Unfall in dessen Imbissbuden-Kette unterstützen. Womit sie aber nicht rechnet, ist die Begegnung mit Rune Petersen, ihren besten Freund aus Jugendtagen. 
Von der alten Vertrautheit fehlt zunächst jede Spur – Rune ist wortkarg, grummelig und … verdammt attraktiv. Doch gerade als er Rheas Herz wieder zum Schmelzen bringt, wird’s kriminell. Ist Rune wirklich der, für den er sich ausgibt?
Zwischen Möwengeschrei, alten Wunden und neuen Rätseln entspinnt sich eine Liebesgeschichte über zweite Chancen, die Tücken der Vertrautheit – und die Frage, wie gut wir die Menschen wirklich kennen, die wir lieben.

“Nordsee im Herz” von Alica H. White ist eine romantische Komödie voller Charme und norddeutschem Tiefgang – für alle, die das Meer, das Leben und ungewöhnliche Liebesgeschichten lieben. Dies ist der siebte Band der "Herz über Kopf"-Reihe. Alle Bände der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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NORDSEE IM HERZ

ALICA H. WHITE

Verlag:

Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH

Werinherstr. 3

81541 München

_____________________

Texte: Alica H. White

Cover: Zeilenfluss

Korrektorat: TE Languages Services – Tanja Eggerth

Satz: Zeilenfluss

_____________________

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

_____________________

ISBN: 978-3-96714-486-4

1

RÜCKKEHR UND MEER

RHEA

Heimat, du hast mich wieder!

Meine gemischten Gefühle schlagen sich ins Negative, als mir beim Aussteigen aus dem Auto eine raue Bö ins Gesicht bläst. Seufzend schlage ich die Tür meines alten VW Golf zu.

Nun fängt es auch noch an zu regnen!

Mist! Wer braucht so ein Schietwetter zum Empfang!

Und ich weiß wieder, warum ich das Wetter in Heidelberg so liebe: Dort erlebt man ganze vier Jahreszeiten. Hier, an der Nordseeküste, geht der schmuddelige Winter direkt in einen grün angestrichenen über. Eine Jahreszeit, die seltsamerweise in diesem Landstrich ›Sommer‹ genannt wird. Man hat hier eben nichts Besseres, das diesen Namen verdienen würde. Die Einheimischen müssen dieses Wetter mögen, die Urlauber aber auch. Ich bin kein Fan davon – nie gewesen.

Leider habe ich es versäumt, meine Regenjacke griffbereit zu legen, dadurch werde ich beim Herausholen des großen Koffers in Windeseile vom fast horizontalen Niederschlag durchnässt. So schnell es das Gepäck zulässt, haste ich auf den Eingang meines Elternhauses zu und schlüpfe rasch unter das schützende Vordach. Die Regenrinne ist undicht, deshalb bleibe ich auch da nicht von Feuchtigkeit verschont, während ich nach dem Haustürschlüssel krame.

Endlich, da ist er ja!

»Hallo, Papa! Ich bin daha!«, rufe ich, während ich die Tür öffne.

»Hallo, Rhea! Warte, ich bin nicht so schnell.«

»Du brauchst nicht aufstehen! Wo bist du?«

»In der Stube!«

Ich stelle den Koffer im Flur an die Wand und gehe zur Begrüßung erst einmal ins Wohnzimmer.

Meine Mutter hat sich früher immer über den Namen ›Stube‹ amüsiert. Nicht so lustig fand sie die anderen Gewohnheiten in unserer Familie, die sie irgendwann in die Flucht getrieben haben. Als ich in die weiterführende Schule kam, zog sie zunächst nach Heidelberg, einem Geschäftsmann hinterher, in den sie sich angeblich verliebt hatte. Doch diese ›Liebe‹ war anscheinend kürzer als das Leben einer Eintagsfliege.

Zwar habe ich sie, seit sie ging, öfter in den Ferien besucht, fühlte mich aber wie ein Fremdkörper in ihrem neuen Leben. Da war ich – trotz des Wetters – dann doch lieber hier in der Heimat und habe meinem Vater geholfen, seinen Liebeskummer zu überwinden. Einer musste es ja tun, denn seine Eltern wurden nicht müde zu betonen, dass man mit den Urlauberinnen zwar Spaß haben kann, aber am Ende doch besser eine Einheimische heiratet. Mein Vater stammt aus einer traditionsreichen Fischerfamilie, da bleibt man unter sich und heiratet norddeutsch.

Meine Mutter fehlte mir ungemein, zumal auch mein Vater sehr um sie trauerte. So zog ich zum Studieren zu ihr nach Heidelberg. Doch schon bald ist sie mit einem gutaussehenden Immobilienmakler nach Ibiza ausgewandert. Sie interessiert sich nicht für mich. Es war schwer, sich damit abzufinden.

Paps sitzt wie immer in seinem Ohrensessel, hat sein verletztes Bein auf einem Hocker vor ihm gelagert und schaut aus dem Fenster. Ich sehe zuerst nur das graue Haar, das trotz seines Alters noch ziemlich voll ist. Früher war er in Rauchwolken seiner Pfeife gehüllt, aber inzwischen hat er diese Angewohnheit aufgegeben.

Die alten Dielen knarren unter dem abgewetzten Perserteppich, während ich auf ihn zugehe. Er dreht sich zu mir. Sein Gesicht hat ein paar Falten mehr bekommen, doch die Augen blitzen immer noch so lebhaft wie eh und je.

»Pass auf die Fransen auf«, mahnt mein Vater.

Ach du je! Ich rolle insgeheim mit den Augen.

»Oma ist schon lange tot«, antworte ich. »Du solltest den frischen Wind nicht aussperren.«

»Es regnet draußen. Außerdem könnte man über die Fransen stolpern«, knurrt Paps.

Ich kann diese Aussage zwar nicht wirklich nachvollziehen, beschließe aber, nicht weiter drauf einzugehen. Erst mal richtig ankommen.

»Entschuldige. Die Fahrt war lang und anstrengend.« Ich drücke ihm ein Küsschen auf die vom Fischen wettergegerbte Wange.

Mein Vater nickt versöhnlich. »Hattest du einen Stau?«

»Nein, aber der Verkehr wird nicht weniger.«

»Setz dich. Ich mache dir einen Kaffee.«

Ich blicke auf die Schienen am Bein, das er mit leisem Schnaufen vom Hocker hievt. »Kommt nicht infrage, das kann ich doch selber. Ich habe lang genug im Auto gesessen, du lagerst dein Bein brav hoch«, verlange ich streng.

»Wie du meinst.« Mein Vater grinst. Neben den altbekannten Lachfalten, die sich immer tiefer in sein Gesicht graben, erscheinen auch die Grübchen auf seinen Wangen. Als junger Mann hat er damit sicher viele Herzen zum Schmelzen gebracht. Doch gleich darauf wird er wieder ernst und legt brav das gebrochene Bein auf den Hocker zurück. Er scheint doch froh, dass sich jemand um ihn kümmert.

»Wie wäre es mit einem Tee?«, schlage ich vor. »So spät am Abend könnte Kaffee dir den Schlaf rauben.«

Paps reibt sich den Drei-Tage-Bart. »Tee ist nur was für Ostfriesen, wir trinken Kaffee.«

»So ein Blödsinn«, antworte ich lachend. Trotzdem folge ich seinem Wunsch und stelle fest, dass der Kaffee koffeinfrei ist.

Mit zwei Bechern in der Hand komme ich zurück, reiche ihm einen und setze mich ihm gegenüber auf einen Sessel.

Mein Vater verdient sein Geld mit einer Kette von Fischimbissbuden. ›Fietes Fischbrötchen‹ sind in Cuxhaven eine Institution, auch dank des treuen Personals, das seine Arbeit immer sehr zuverlässig und gewissenhaft erledigt. Paps springt mal hier, mal da ein und kümmert sich um die Buchhaltung. Aber die Angestellte, die die Bude betrieben hat, in der ich aushelfen soll, ist in Rente gegangen. Paps hatte Schwierigkeiten mit einem geeigneten Nachfolger und stand nun selber im Wagen. Übergangsweise, wie er immer noch fest behauptet.

»Hast du die Fischbude geschlossen?«, erkundige ich mich.

»Nein, Rune hilft mir.«

»Du hast eine Aushilfe?«

Paps zuckt mit den Schultern. »Schon lange, ich kann ja nicht immer da sein.«

»Welcher Rune eigentlich? Kenn ich den?«

»Petersen, dein ehemals bester Freund.«

»Echt?« Ich hebe die Brauen. »Rune Petersen? Der lebt noch hier? Und er arbeitet in deiner Fischbude?«

»Jupp. Wollen ja nicht alle hier die Segel streichen. Eigentlich fährt er Taxi, aber er ist immer sehr hilfsbereit.«

Ich lege den Kopf schief. »Segel streichen, so wie ich? Sag’s ruhig.«

Mein Vater blickt mich versöhnlich an und lächelt. »Jetzt bist du ja da. Das ist die Hauptsache. Wir brauchen deine Hilfe.«

»Ist denn wirklich in der ollen Fischbude so viel los?«

»Olle Fischbude? Deern!«, rügt Paps.

»Vadder!«, gebe ich zurück. »Als ich wegging, plätscherte das Geschäft so dahin.«

Mein Vater nickt wichtig. »Seit der neue Thea-Tietjen-Krimi durch die Decke geht, kann ich mich dort vor Arbeit nicht retten.«

»Thea Tietjen?«

»Ja, die Kommissarin der Cuxhaven-Krimis. Kein Begriff?«

»Ich lese keine Krimis.«

»Der erste Band: Der Tote an der Kugelbake soll sogar verfilmt werden.«

»Der Tote an der Kugelbake?«

»Joh. Manche glauben, dass Theas Fischbude, also die, an der die Kommissarin immer ihr Fischbrötchen isst, von meiner inspiriert ist.«

Ich kichere. »Echt? Glaubst du das auch?«

»Ich halte das für Schnackerei … auch wenn man schon auf den Gedanken kommen könnte, dass die Autorin sich hier auskennt. Aber ist ja egal, Hauptsache, das Geschäft brummt.«

»Wie nennt sie sich denn?«

»Wer?«

»Die Autorin, natürlich.«

»Freya Freese.«

Meine Stirn legt sich in Falten. »Klingt nach einem Pseudonym.«

Paps nickt. »Is wohl so, sonst würde ja auch keiner mit ihr schnacken, wenn er nicht in ihren Büchern auftauchen will«, antwortet er in seinem breiten norddeutschen Akzent. »Willste das Buch lesen? Da liegt es. Hab ich geschenkt bekommen.«

»Und? Wie ist es?«

»Na ja, Krimi halt. Ich lese zu wenig davon, um es wirklich beurteilen zu können.«

Nachdenklich drehe ich die Tasse in der Hand, während der Regen gegen die Butzenscheiben des Wohnzimmers prasselt und damit unser Schweigen betont.

»Und was ist eigentlich mit Rune? Was macht der so? Erzähl mal«, erkundige ich mich, um die Pause zu unterbrechen.

»Das frag ihn mal besser selber.«

Ich unterdrücke ein Seufzen. »Ich meine, er war immer der Beste in unserer Klasse. Nein, des ganzen Jahrgangs. Ich kann gar nicht glauben, dass er nur Taxi fährt und ab und zu in einer Fischbude arbeitet. Es wundert mich, dass er kein Stipendium in Harvard bekommen hat.«

»Nur in einer Fischbude!«, entrüstet sich mein Vater.

»Na ja«, wiegle ich ab. »Er war in der Schule eher introvertiert, nicht gerade ein Döntjeserzähler. Kann er denn mit Kunden?«

»Ich weiß nicht, was du von ihm in Erinnerung hast, aber der Jung is’n plietschen Kerl.«

»Hm.« Ich nehme einen Schluck aus der Tasse. »Plietsch war er auch schon früher, aber wahrscheinlich auf eine andere Art, als du meinst; mehr so eine Art Nerd.«

»Nerd?«, fragt mein Vater.

»Streber, Papa. Du solltest dich wirklich nicht nur mit Boomern unterhalten.«

Paps schnappt nach Luft. »Du lebst zu sehr in deiner Bubble, das finde ich ehrlich gesagt … Sus. Natürlich weiß ich, was ein Nerd ist. Rune ist nur keiner, er ist eher smart.«

Nun kann ich ein Kichern nicht mehr unterdrücken. »Es will mir nur immer noch nicht in den Kopf, dass er sein Potenzial nicht nutzt.«

»Wie auch immer du das siehst. Allein wird er die Fischbude nicht rocken, wie er selbst sagt. Wir brauchen dich.«

Ich nicke. »Nun bin ich ja da. Aber ich werde mich zwischendurch auf die Verteidigung meiner Masterarbeit vorbereiten müssen.«

»Wat mutt, dat mutt.«

»Ich habe Hunger. Soll ich uns ein paar Eier in die Pfanne hauen?«, erkundige ich mich.

»Ich hab schon gegessen. Anke hat mir Birnen Bohnen und Speck rübergebracht.«

»Welche Anke?«

»Unsere Nachbarin, natürlich. Wer sonst?«

»Anke hat dir Essen rübergebracht?«, frage ich ungläubig.

»Ja, sie hätte auch was für dich mitgebracht, aber du magst das Gericht ja nicht.«

»Stimmt. Ich wundere mich nur, weil ihr euch doch sonst nicht so gut verstanden habt.«

Paps winkt ab. »Das war, als Kuddel noch lebte.«

»Kuddel ist gestorben? Das hast du ja gar nicht erzählt.«

Mein Vater zieht die Brauen hoch. »Niiich?«, fragt er lang gezogen, dann stellt er die leere Tasse auf den kleinen Tisch und lehnt sich zurück. »Na ja, Telefonieren ist eben nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung. Du hast doch sowieso nichts mit unseren Nachbarn am Hut gehabt.«

Ich schüttle mit dem Kopf. »Und nun bist du mit Anke auf einmal ein Herz und eine Seele?«

»Sie sagt, dass es keinen Spaß macht, nur für eine Person zu kochen. Ich bringe ihr dafür frischen Fisch mit.«

»Soso.« Ich unterdrücke ein Grinsen. »Geht da was zwischen euch?«, frage ich und sehe ihn durchdringend an.

»Wo denkst du hin?« Paps’ Lächeln wirkt trotzdem nervös.

»Bist du mir dann böse, wenn ich jetzt zu Freddys Imbiss gehe?«, frage ich und stehe auf.

»Freddys Imbiss ist doch schon seit zwei Jahren zu, hat Corona nicht überstanden.«

Ich schlucke, als mir wieder klar wird, wie lange ich nicht hier war.

»Ist hier überhaupt noch etwas so, wie es mal war?«, knurre ich.

»Wie es mal war, bevor du weggingst? Oder welchen Zeitraum setzt du an?«

Verschämt lasse ich mich wieder in den Sessel fallen. »Sorry, es tut mir leid, dass ich mich so lange hier nicht hab blicken lassen. Aber erst war Corona und danach … Ich hatte wirklich viel zu tun.«

Und dann war da noch Leon, den es so gar nicht nach Norddeutschland gezogen hat. Er hat mich nicht nur vom Studium abgelenkt, sondern in letzter Zeit auch ganz schön vor den Kopf gestoßen. Aber das ist natürlich kein Thema für Telefongespräche mit dem Vater.

»Und wenn ich mit dir telefoniere, fällt mir so was nicht ein, mien Deern.«

Ich hebe die Hände. »Touché.«

Mein schlechtes Gewissen lässt mein Herz schwer werden. Nur allzu gern habe ich das Gespräch mit ihm beendet, wenn mir seine Fragen zu brenzlig wurden. Paps mag Leon nicht, was aber auf Gegenseitigkeit beruht.

»Wo kriege ich denn nun noch was zu essen?«, versuche ich, zum ursprünglichen Thema zurückzukehren.

»Am Strand natürlich. Da ist immer was los.«

Ich nicke seufzend. Der Weg zum Strand ist nicht weit, aber im Dunkeln nicht besonders attraktiv. Ich werde mit dem Auto fahren.

2

BEGEGNUNG MIT SCHISS

RHEA

Kalter Wind empfängt mich, als ich auf die Straße trete. Dass es aufgehört hat zu regnen, ist dabei nur ein schwacher Trost. Warum muss es hier nur immer so ungemütlich sein? Einen Vorteil hat das Wetter dennoch: Es hat die Wolken weggeblasen und einen grandios funkelnden Sternenhimmel freigelegt. Ich schließe meine Strickjacke und steige ins Auto.

Nach der kurzen Fahrt parke ich direkt hinter dem Deich. Ich höre Meeresrauschen, als ich den Weg zur Strandpromenade antrete. Es ist bald Ebbe, das Wasser zieht sich zurück und Mondlicht spiegelt sich auf dem freigelegten Watt. Ein paar Urlauber laufen darin herum. Das Ufer fällt hier sehr schwach ab. Das ist zwar gut für Kinder, aber Erwachsene können am Strand kaum schwimmen, selbst wenn sie weit hineinlaufen. Wer nicht in der Elbe kurz hinter der Kugelbake schwimmen will, muss in eins der Schwimmbäder gehen.

Ich schüttle den Kopf über die unerschrockenen Wassertreter. Mir wäre es zu kalt an den Füßen. Ich mag lieber im Watt laufen, wenn die Sonne den sandigen Matsch vorher erwärmt. Am Tag kann man auch besser abschätzen, wo man am besten hintritt, ohne zu tief zu versinken.

Der Weg bis zur Strandbude ist gut beleuchtet, dadurch herrscht zu jeder Jahreszeit ein gewisser Betrieb. Zahlreiche Gäste machen einen Abendspaziergang, um sich nach dem Regen noch einmal die Beine zu vertreten und zum Abendbrot vielleicht ein Fischbrötchen zu verdrücken. Auswahl gibt es hier ja genug.

Auch im Strandlokal herrscht Hochbetrieb. Es ist kein Sitzplatz in Sicht, als ich eintrete. Doch ich habe Glück, ein Platz direkt am Fenster wird frei. Freudig stürme ich zum Tisch, in dem Moment hat sich schon jemand anderes da hingesetzt. Mist!

Genervt scanne ich das Lokal erneut ab. Doch in der nächsten Zeit scheint keiner aufbrechen zu wollen. Im selben Moment drängt die nächste Gruppe in den Laden. Will ich mich mit denen um den nächsten frei werdenden Platz schlagen? Nein. Ich entscheide mich für ein Fischbrötchen auf die Hand, auch wenn ich davon in der nächsten Zeit sicher noch genug bekommen werde.

Eilig verlasse ich den Laden, aber selbst an der Imbissbude muss ich Schlange stehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit halte ich endlich mein Essen in den Händen. Krabbenbrötchen, mein absoluter Favorit. Ich beiße sofort genüsslich hinein. Mhm! Nichts geht über den köstlich aromatischen Geschmack der Nordseekrabben. Wenn ich in Papas Imbiss arbeite, werde ich jeden Tag eins essen.

Doch ich möchte in Ruhe genießen und sehe mich nach einer Sitzgelegenheit um. Nach einiger Zeit entdecke ich eine freie Bank in einer schlecht beleuchteten Ecke. Ich haste hin. Diesmal soll mir keiner meinen Platz wegschnappen. Geschafft! Mit einem Seufzen lasse ich mich nieder.

Schon bald bemerke ich etwas Feuchtes am Hintern. Oh Mann! Das wird doch nicht … Mit mulmigem Gefühl ziehe ich mein Handy hervor und mache die Taschenlampe an.

»Scheiße!« Im wahrsten Sinne des Wortes. Vogelkacke, um genau zu sein. Nun weiß ich auch, warum sich keiner um den freien Platz gekümmert hat. Warum hatte ich es bloß so eilig? »Verdammt!«, fluche ich, während ich meine Sitzfläche reinige, obwohl es ja eigentlich zu spät ist. Wie gut, dass ich immer Desinfektionstücher dabeihabe.

Ich schimpfe vor mich hin, während ich auf der Bank herumwische.

»Alles in Ordnung?«, fragt plötzlich jemand hinter mir.

In meinem Nacken stellen sich die kleinen Härchen auf, denn die Stimme kenne ich. Langsam drehe ich mich um.

»Darf ich mich dazuset…? Rhea?!«

»Rune! Moin!«

Er kann sich ein dämliches Grinsen nicht verkneifen, ich aber auch nicht.

»Was machst du hier?«, fragt er.

»Ich versuche, im Sitzen ein Krabbenbrötchen zu essen. Und du?«

»Ich auch. Ich bin nur überrascht, dich hier zu sehen.«

»Und ich bin überrascht, dass du noch Fischbrötchen magst, wenn du im Imbiss meines Vaters arbeitest.«

Er lacht leise. »Ja, wundert mich auch. Eigentlich wollte ich in die Strandbude, aber die quillt ja aus allen Nähten.«

»Schrecklich«, bestätige ich nickend. »Hat mein Vater dich nicht informiert, dass ich komme, um dir im Imbiss zu helfen?«, erkundige ich mich.

»Ach so, ja … er hat gesagt, dass er dich fragen wollte. Ich bin nur erstaunt, dass du so schnell auf der Matte stehst.«

»Erst mal sitze ich im Möwenschiss.«

Runes Grinsen wird noch breiter. »Als Einheimische sollest du doch eigentlich wissen, dass er nur Glück bringt, wenn er von oben kommt.«

»Witzbold. Aber setz dich, ist frisch gereinigt«, lade ich ihn mit einer Handbewegung ein, schmeiße das Tuch in den Papierkorb neben der Bank und lasse mich nieder.

»Echt nice, dass wir uns hier treffen.« Rune nimmt neben mir Platz und reicht mir meine Pappschale mit dem Krabbenbrötchen.

Mit einer Handbewegung stoppe ich ihn. »Halte bitte das Brötchen noch ein bisschen.«

Geduldig wartet er, bis ich meine Hände mit einem neuen Desinfektionstuch gereinigt habe, dann kann ich endlich entspannt essen.

Auch er holt ein Fischbrötchen aus dem Papier und beißt hinein.

»Womit ist das belegt?«, erkundige ich mich.

»Matjes.«

»Lecker.«

»Jupp.«

Die Geräusche der Strandbesucher dringen nur noch gedämpft zu uns. Wir essen schweigend. Ich genieße die Spezialität, die hier an der See einfach am besten schmeckt.

Kauend betrachte ich Runes Profil im spärlichen Licht. Er hat sich nicht viel verändert. Die wilden dunklen Locken kringeln sich wie eh und je in beeindruckender Dichte um seinen Kopf. Doch sein kantiges Kinn wird von einem dichtem Drei-Tage-Bart bedeckt, der verrät, dass er kein Teenager mehr ist.

»Ganz schön viel los hier«, beginne ich ein Gespräch zwischen zwei Happen.

»Jupp.«

Ich muss lächeln und überlege, ob ich die norddeutsche Einsilbigkeit vermisst habe.

»Das sind doch mehr Urlauber als früher, oder habe ich es falsch in Erinnerung?«, versuche ich noch einmal, ein Gespräch zu beginnen.

»Kann sein.«

»Kann sein was?«, hake ich nach. »Warum sind es mehr geworden?«

»Liegt vielleicht an diesen neuen Cuxhaven-Krimis.«

»Ach, davon hat Paps schon erzählt. Sind die so gut, ja?«

»Keine Ahnung.«

»Hast du sie noch nicht gelesen?«

»Eher nicht, aber die Kunden reden ständig davon.«

»Ach so.« Ich habe keine Lust mehr, ihm ständig was aus der Nase zu ziehen, deshalb beiße ich lieber von meinem Brötchen ab. Nachdem ich den letzten Bissen heruntergeschluckt habe, falle ich in eine Art Meditation.

Das Mondlicht glitzert auf dem Wasser. Die Grillen geben in der Düne hinter uns ein lautstarkes Konzert, das die anderen Geräusche in den Hintergrund treten lässt. Ich sauge die gute Luft ganz tief in mich hinein. Wenn sie aus Norden kommt, ist sie oft eiskalt, aber das ist auch der Grund, warum sie so rein ist – außer es zieht mal wieder ein dicker Dampfer mit einer Rußfahne vorbei … Na ja, das dürfte auch weniger geworden sein. Offiziell dürfen die bei der Einfahrt in die Elbe nicht mehr mit Schweröl betrieben werden.

»Hast du noch Lust, ein bisschen spazieren zu gehen?«

Ich schrecke ein wenig zusammen, denn ich habe die Anwesenheit von Rune fast ausgeblendet.

»Wohin zieht es dich?«, frage ich.

Er zuckt mit den Schultern. »Nur ein bisschen die Beine vertreten.«

»Okay, dann lass uns zur Kugelbake laufen.«

»Da ist mir zwar gerade zu viel los, aber na schön … dein Wunsch ist mir Befehl«, brummt er.

»Na, dann …«, antworte ich und erhebe mich.

Rune tut es mir gleich. »Willst du oben auf dem Deich gehen oder lieber unten lang?«

»Unten ist es besser beleuchtet«, stelle ich fest.

Eine Horde Kinder läuft uns vor die Füße.

»Als ich so alt war wie ihr, musste ich um diese Zeit schon im Bett sein«, knurrt Rune.

Eins der Kinder streckt ihm die Zunge raus. »Blöder Opa!«

Rune tut es ihm gleich. »Dann pass bloß auf, dass du nicht in meinem Altenteil landest. Da gibt’s nämlich kein WLAN und nur Grünkohl mit Schweinebacke.«

Das Kind zieht eine Grimasse. »Was ist denn Schweinebacke? Klingt eklig!«

Rune nickt langsam, mit ernster Miene. »Ganz genau. Und davon gibt’s ‘nen ganzen Teller voll. Jeden Tag. Mit extra viel Kohl. Und Fencheltee zum Runterspülen.«

Die Kinder schauen sich an.

»Iiih!«, ruft eins.

Rune zuckt mit den Schultern. »Tja. Willkommen in der Erwachsenenwelt.«

»Lass gut sein, Rune. Du machst ihnen noch Albträume vom Altersheim«, mische ich mich ein.

Rune brummt: »Sollen sie ruhig mal wissen, was ihnen blüht.«

»Was ist nur mit dir los? Warum hast du schlechte Laune?«, frage ich, denn das Geknurre gefällt mir nicht.

»Warum ist die Banane krumm?«, brummt er.

»Wir können auch woanders hingehen. Du hast mich gefragt, wo wir langgehen sollen. Hättest ja was sagen können.«

»Is ja schon gut, wir sind ja gleich da.«

Der Deich endet und der Wind hat freie Bahn, als wir auf dem schmalen Damm zum Wahrzeichen von Cuxhaven laufen. Es ist nachts beleuchtet und sogar im Stadtwappen abgebildet. Das hölzerne Seezeichen kennzeichnet das Ende der Binnenelbe und war ein wichtiger Orientierungspunkt für die Seefahrt, bis es von Feuerschiffen abgelöst wurde.

Mit der Ankunft erreichen wir den nördlichsten Punkt von Niedersachsens Festland und ich verstehe, warum es Rune nicht mehr dort hinzieht. Man muss sich auf die Plattform unter der Bake drängeln, so viele Urlauber tummeln sich dort. Tapfer kämpfen wir uns zum Geländer durch, um einen ungestörten Blick auf die Elbe zu haben.

Leider ist gerade kein Schiff in Sicht. Wenn die Containerfrachter hier so dicht vorbeiziehen, ist das schon ein eindrucksvoller Anblick. Nun erkennt man ungestört die Küste von Schleswig-Holstein. Auf der anderen Seite der Elbe ist es dunkler, als ich es in Erinnerung habe.

»Wieso blinken die Windräder nicht?«, frage ich Rune.

»Die dürfen jetzt nur noch bei Bedarf ihre Lichtsignale senden.«

Mir fällt ein, dass ich sogar davon gelesen hatte und ich nicke.

Hier ist es definitiv vorbei mit der Ruhe. Durch das viele Geschnatter der Leute hört man das Plätschern des Wassers, das gegen die Mauer schlägt, leider kaum noch. Ob es jetzt hier immer so voll bleibt?

Einige der Anwesenden unterhalten sich sogar über den Kugelbake-Krimi. »Hier hat der Tote über der Mauer gelegen«, schnappe ich auf.

»Ich habe heute jemanden gesehen, der hatte genau so ein Tattoo wie die Leiche«, wirft ein anderer ein.

»Ach ja? Wie sah das denn aus?«, erkundigt sich eine Frau.

»Ein Schädel, mit gekreuzten Messern vor einem Anker. Auf einem Band davor steht: Likedeeler«, gibt er zum Besten.

»Der Verein von Klaus Störtebeker?«, staunt ein anderer.

»Verein!«, gackert die Frau.

»Na ja, vielleicht handelt es sich um einen Zeitreisenden«, wirft ein anderer Mann ein.

»Oh ja, klar, von Vierzehnhundertschießmichtot. Er will herausfinden, ob die Menschheit im Laufe der Jahrhunderte schlauer geworden ist«, ruft noch einer amüsiert.

Rune verdreht die Augen. Es ist schon eine seltsame Clique, die sich da unterhält.

»Muss man den Krimi gelesen haben?«, erkundigt sich die Frau.

»Wenn man auf Morde im Piratenmilieu steht.«

»Ach, ist das ein historischer Krimi?«, fragt sie.

»Nein!« Einer der Männer winkt ab. »Aber die Bande sucht nach einem Schatz, der angeblich von dem Störtebeker hier versteckt wurde.«

Die Gesprächspartnerin scheint angetan. »Ach, tatsächlich? Ist das nicht überall ein Gerücht, um Touristen anzulocken?«

Der Mann nickt. »Ist doch nur ein Krimi. Die Kommissare vermuten, dass der Tote den Schatz gefunden hatte und die Bande sich darüber verstritt.«

»Der Schatz ist wohl kaum goldglitzernd, sondern eher ein schneeweißes Pulver«, ergänzt noch ein anderer.

»Nicht alles verraten!«, jammert eine Frau, die bisher noch nichts gesagt hat. »Ich will das Buch noch lesen.«

Nun bin ich neugierig geworden, ich sollte das Buch lesen. Auch hier, an der Elbmündung, ranken sich Legenden um Klaus Störtebeker, den wohl bekanntesten Seeräuber der Hansezeit. Es wird erzählt, dass er und seine Mannschaft oft in der Umgebung von Cuxhaven und den umliegenden Inseln wie Neuwerk und Scharhörn Unterschlupf fanden. Soweit ich weiß, ist nicht viel davon historisch belegt.

Doch sicher ist, dass es in der Zeit viele Piraten gab, die den Handelsschiffen auf dem Weg in die Elbe auflauerten. Sie kannten sich in den hiesigen Gewässern sehr gut aus, haben ihre Überraschungsangriffe vorher geplant und oft fette Beute gemacht. Nachdem sie ein Schiff erobert hatten, plünderten sie die Ladung und nahmen Besatzung und Passagiere als Geiseln. Diese wurden oft nur gegen Lösegeld freigelassen oder als Sklaven verkauft.

Ein Zeitreisender würde sicher staunen, dass es auch in der heutigen Zeit noch Piraten gibt, die ähnlich agieren. Heutzutage dürften hier tatsächlich Schmuggler das größere Problem sein. Geschmuggelt wird ja immer.

»Komm, lass uns gehen. Mir sträuben sich hier die Nackenhaare«, raunt mir Rune zu und zerrt an meinem Jackenärmel.

Ich lasse mich mitziehen. Auf dem Rückweg kommen wir an der Strandbude vorbei, die sich inzwischen ziemlich geleert hat. Ich spüre spontan Durst.

»Wollen wir noch was trinken?«, frage ich meinen stummen Begleiter.

Der nickt zustimmend.

Diesmal haben wir reichlich Auswahl an guten Plätzen, denn das Lokal schließt bald. Wir setzen uns ans Fenster und bestellen jeder ein Bier.

»Mensch, dass hier so ein Hype um den Krimi gemacht wird, hätte ich nicht gedacht.«

Rune entlässt die Luft stoßartig. »Ich auch nicht.«

»Ich glaube, ich muss das Buch lesen. Bist du gar nicht neugierig darauf?«

»Nö. Mir geht dieser ganze Rummel auf den Keks.«

»Ist aber gut fürs Geschäft, oder nicht?«

»Kann man so sehen, muss man aber nicht«, brummt er.

Ich lege das Kinn auf meine Faust. »Wie soll ich das verstehen?«

»Na ja, man hat kaum noch Zeit für den einzelnen Kunden, weil es so viele sind.«

Ich nicke. Eine gute Gelegenheit, weiter vorzudringen. »Darf ich dich mal was fragen?«

»Wenn’s sein muss.«

»Warum bist du noch hier?«

»Was meinst du?«, fragt er und zieht interessiert die Brauen hoch.

»Na ja, du warst so gut in der Schule. Warum bist du nicht Doktor, oder so?«

»Du meinst Mediziner?«

Ich schüttle den Kopf. »Oder irgendein anderer Doktor.«

»Warum muss ich denn unbedingt einen akademischen Grad haben?«

Ich winke ab. »Schon gut. Tschuldige, dass ich gefragt habe. Es wundert mich nur, dass du hier immer noch in diesem Fischerdorf rumhängst.«

Er zuckt mit den Schultern. »Warum wundert dich das?«

»Na ja, du könntest mehr aus dir machen oder schon gemacht haben.«

»Muss ich das?«

»Nein«, antworte ich stöhnend.

Seine sturen Antworten machen mich nervös.

»Geht mich auch nichts an«, nuschle ich.

Das Bier kommt, und die Kellnerin erwähnt wie nebenbei, dass die Wirtschaft in einer Viertelstunde schließt. Macht nichts. Mit Rune laufe ich sowieso keine Gefahr, mich festzuquatschen. Ich proste ihm zu, indem ich mein Glas hebe. Er macht dasselbe und wir trinken synchron. Rune setzt nicht mehr ab, bis das Glas fast leer ist. Na prima! Er kann auch nicht schnell genug verschwinden. Das ist eine sehr merkwürdige Begegnung, da bin ich mal gespannt, wie es morgen läuft.

3

DER WATTWURM-ERSCHRECKER

RUNE

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass Rhea auf einmal wieder da ist und so viele Fragen stellt. Kann sie damit nicht noch ein bisschen warten?

Einerseits habe ich mich gefreut, sie wiederzusehen. Andererseits kann es ziemlich unangenehm werden, wenn sie hinter mein Geheimnis kommt.

Rhea setzt ihr Bier ab und grinst mich an. Ihr Lächeln fasziniert mich immer noch so wie früher. Stundenlang kann ich diese zwei Grübchen auf den Wangen betrachten und darüber sinnieren, wie dieses seltene Phänomen entsteht. Eine Veränderung des Gesichtsmuskels Musculus zygomaticus major ist dafür verantwortlich. Bei Personen mit Grübchen teilt sich dieser Muskel in zwei Stränge, die beim Sprechen oder Lachen eine kleine Vertiefung in der Wange erzeugen.