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Sein Leben lang hat Torben Berg den Fall der Mauer herbeigesehnt, dafür gekämpft. Doch als es endlich soweit ist, wird er von einer zerstörerischen Leidenschaft überwältigt. Ein großer Roman von Faustscher Art, in dem sich die große Geschichte mit dem Liebesschicksal eines einzelnen Mannes verwebt. Paris, Ende 1991. Der deutsche Journalist Torben Berg ist in die französische Hauptstadt geflogen, um fern von seiner Familie den Silvesterabend zu verbringen. Zwar weiß seine zwölfjährige Tochter von der Reise, nicht aber seine Frau: Ihre Ehe ist gescheitert. Der Ort ist nicht zufällig gewählt. Genau hier widerfuhr Berg anderthalb Jahre zuvor das größte Liebesglück und größte Liebesleid. Damals begleitete ihn die junge Studentin Henrike Stein aus Leipzig, die Berg nach einem Konzert Wolf Biermanns Ende 1989 kennengelernt hatte. Es begann eine gewaltige, eine erotische Liebe, die sich gleichwohl immer mehr verdunkelte und deren Schatten bis nach Paris ins Jahr 1991 reichen. Hier muss Torben Berg einen neuen Horizont finden, der sich endlich wieder aufzuhellen beginnt. „Ulrich Schacht gelingt das Kunststück, die Turbulenzen und Kapriolen des Nachwendejahres 1990 in einer radikalen, zärtlichen Liebesgeschichte zu erzählen. Zugleich entsteht ein ‚Seelendokument’, wie es Torben Berg, Held dieser Geschichte, nennen würde – ehrlich und unverstellt. Habt keine Angst vor dem Glück (und kämpft darum), liebe Leser, das ist es, was uns dieser Roman in jeder seiner Zeilen zuruft.“ Lutz Seiler. „Nichts weniger als eine weitgefasste Sprach-Kathedrale will mir dieser Roman sein, in dessen Längsschiff sich die leidenschaftliche Liebesgeschichte entwickelt und darin auch endet und auf deren Seitenaltären und in deren Andachtsnischen die quälenden Erfahrungen mit Diktatur und Menschenverachtung erinnert werden, kunstvoll eingebettet in erhebende Stunden größten Liebesglücks.“ Egon Ammann.
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Seitenzahl: 638
Veröffentlichungsjahr: 2017
Sein Leben lang hat Torben Berg den Fall der Mauer herbeigesehnt, dafür gekämpft. Doch als es endlich soweit ist, wird er von einer zerstörerischen Leidenschaft überwältigt. Ein großer Roman von Faustscher Art, in dem sich die große Geschichte mit dem Liebesschicksal eines einzelnen Mannes verwebt.
Paris, Ende 1991. Der deutsche Journalist Torben Berg ist in die französische Hauptstadt geflogen, um fern von seiner Familie den Silvesterabend zu verbringen. Zwar weiß seine zwölfjährige Tochter von der Reise, nicht aber seine Frau: Ihre Ehe ist gescheitert. Der Ort ist nicht zufällig gewählt. Genau hier widerfuhr Berg anderthalb Jahre zuvor das größte Liebesglück und größte Liebesleid. Damals begleitete ihn die junge Studentin Henrike Stein aus Leipzig, die Berg nach einem Konzert Wolf Biermanns Ende 1989 kennengelernt hatte. Es begann eine gewaltige, eine erotische Liebe, die sich gleichwohl immer mehr verdunkelte und deren Schatten bis nach Paris ins Jahr 1991 reichen. Hier muss Torben Berg einen neuen Horizont finden, der sich endlich wieder aufzuhellen beginnt.
»Ulrich Schacht gelingt das Kunststück, die Turbulenzen und Kapriolen des Nachwendejahres 1990 in einer radikalen, zärtlichen Liebesgeschichte zu erzählen. Zugleich entsteht ein ›Seelendokument‹, wie es Torben Berg, Held dieser Geschichte, nennen würde – ehrlich und unverstellt. Habt keine Angst vor dem Glück (und kämpft darum), liebe Leser, das ist es, was uns dieser Roman in jeder seiner Zeilen zuruft.« Lutz Seiler.
»Nichts weniger als eine weitgefasste Sprach-Kathedrale will mir dieser Roman sein, in dessen Längsschiff sich die leidenschaftliche Liebesgeschichte entwickelt und darin auch endet und auf deren Seitenaltären und in deren Andachtsnischen die quälenden Erfahrungen mit Diktatur und Menschenverachtung erinnert werden, kunstvoll eingebettet in erhebende Stunden größten Liebesglücks.« Egon Ammann.
Ulrich Schacht
Notre Dame
Roman
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
I Im Raum der Verwandlung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
II Die Straße zum Atlantik
III Am Ort der Gewissheit
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Über Ulrich Schacht
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
»Man umarmt einen Schatten und liebt einen Traum. Was weiß ich denn schon von ihr?«
Hjalmar Söderberg, Doktor Glas
Das Taxi hatte Berg schon am Vorabend bestellt. Auch hatte er gebeten, nicht zu klingeln, er würde pünktlich das Haus verlassen. Kurz vor sechs öffnete er die Tür zum Zimmer seiner Tochter, vom Flur her fiel Licht in den Raum, er hatte sie aus dem Tiefschlaf geholt:
Fliegst du jetzt?, flüsterte sie.
In anderthalb Stunden, sagte er, aber ich fahre gleich.
Zum Flughafen?
Natürlich, sagte er und dachte, dass er sie nun doch verwirrt hätte.
Rufst du mich morgen an, um zwölf?
Um zwölf?
In der Nacht, mein ich.
Es klang schon viel wacher.
Versprochen, hörte er sich sagen, obwohl er in diesem Moment noch gar nicht wusste, wo er morgen sein würde um Mitternacht, das neue Jahr zu erwarten. In Paris, ja. Aber wo dort, in welchem Restaurant? Es würde sich finden.
Feierst du im Hotel?
Er schüttelte den Kopf.
Feier trotzdem schön, sagte sie und erinnerte ihn an das »Le Coq«. Es läge doch um die Ecke, falls er wieder im »Baltimore« sei. Ihr jedenfalls habe es dort sehr gefallen.
Mir auch, sagte er, vielleicht.
Während er sie auf die Stirn küsste, schlang sie ihre Arme um seinen Hals.
Ich muss, sagte er und löste sich von ihr: Ihrer Mutter habe er einen Brief vor die Tür gelegt, sie solle ihr sagen, es sei besser so.
Beim Hinausgehen winkte Berg noch einmal ins Dunkel zurück. Im Haus war es still, totenstill. Er griff nach seiner Reisetasche, die neben der Tür zu seinem Schlafzimmer schon bereitstand, und ging auf Socken die Treppe hinab in den Flur, wo er sich Schuhe und Mantel anzog, einen Schal um den Hals warf und nach den Handschuhen griff, die auf dem Schränkchen lagen, über dem der Garderobenspiegel hing. Bevor er die schwere Eingangstür öffnete und nach draußen trat, warf er einen Blick in das silberne Oval:
Ja, das war er, der sich hier aus dem Hause stahl wie ein Dieb in der Nacht. Er, Torben Berg: vierzig Jahre alt, verheiratet, Vater einer Tochter, die er über alles liebte. Journalist aus Leidenschaft, an Politik interessiert, seit er denken konnte, an Polarländern anscheinend noch länger, an Expeditionen ins Unbekannte, mit dem Kinderschlitten in die vereisten Schilfgebiete der winterlichen Vorstadt. In jener Zeit waren auch seine ersten Gedichte entstanden.
Je älter er wurde, umso verschwommener gerieten die Grenzen nach rückwärts: So, wie er jetzt war, war er so nicht schon immer gewesen?
Mit dem Löschen des Flurlichts wurde das Spiegelbild zum flüchtigen Schatten, verschwand. Dann drückte er mit der linken Hand die Türklinke aus Messing herab, die vom Licht der Lampe vor dem Haus, das durch die Glasscheiben in den Flur fiel, matt schimmerte, trat hinaus und schloss hinter sich ab. Draußen war es kalt und glitzerte überall.
Der dreißigste Dezember des Jahres neunzehnhunderteinundneunzig zeigte sich ohne statistische Auffälligkeit.
Der Fahrer hatte Licht im Wagen gemacht und las eine Zeitung. Als er ihn kommen sah, faltete er die riesigen Blätter hastig zusammen, beugte sich nach rechts und öffnete die Tür. Eigentlich fuhr Berg lieber im Fond, aber der Mann meinte es gut, und Berg wollte so schnell wie möglich aus dem Sichtfeld seines Hauses verschwinden:
Manchmal geht es mit dem Teufel zu, dachte er.
Doch im Unterschied zu ihm schlief Karla fest, felsenfest. Selbst eine hochtourig rotierende Bohrmaschine in der Wand zu einer Nachbarwohnung, da waren sie noch Studenten gewesen und bei Freunden zu Besuch, hatte einmal ihren Tiefschlaf nicht aufbrechen können; es hatte ihn fasziniert und erschreckt zugleich, weil er sie für den Bruchteil einer Sekunde gestorben wähnte, so selig waren ihre Gesichtszüge trotz des nervenaufreibenden Geräusches gewesen.
Zum Flughafen, sagte er, während er die Tür zuzog, und gab sich müde, er hatte keine Lust, schon um diese Zeit ein Gespräch zu beginnen.
Wollen Sie?
Der Taxifahrer deutete auf die grob zusammengefaltete Zeitung.
Oh, nein, sagte Berg, vielen Dank, um diese Zeit dieses Blatt, das geht gar nicht.
Um diese Zeit, lachte der Mann und startete den Motor, ist das das Einzige, was geht. Davon wird man wach, glauben Sie mir, ich würde jetzt auch gerne im Bett liegen.
Schon oder noch, fragte Berg: Wann haben Sie denn angefangen?
Vor acht Stunden, sagte der Mann, sonst lohnt es ja nicht. Sie sind der Letzte für heute.
Das ist hart, hörte Berg sich sagen und schloss die Augen.
Es gibt Schlimmeres, sagte der Mann und gab Gas, um eine Ampel zu schaffen, die Straßen waren noch ziemlich leer.
Es gibt immer Schlimmeres, murmelte Berg.
Dann herrschte Schweigen.
Eine Viertelstunde später, es war schneller als sonst gegangen, hatten sie den Flughafen erreicht und hielten vor dem Eingangsbereich, am Ende einer sich stetig verlängernden und wieder verkürzenden Schlange von Taxis, denen eilig Menschen entstiegen. Rollkoffer lärmten, Türen klappten, Motoren heulten auf oder erstarben, und über allem lag die Geräuschkulisse startender und landender Flugzeuge.
Mein Gott, dachte er, der sonst immer äußerst knapp kalkulierte: Bin ich früh. Schließlich zahlte er reichlich, wartete auf die Quittung und ging ohne Eile in die verschachtelte Empfangshalle, die er vollkommen stillos fand, ein zusammengestückelter Bau, der zwar bald, wie die Zeitungen schrieben, einem neuen, moderneren weichen sollte, aber noch jedes Mal, wenn Berg ihn betrat, fragte er sich, warum eine so reiche Stadt sich ihren Gästen aus aller Welt, die sie auf dem Luftwege erreichten, so kleinkrämerisch zeigte. Doch hatte sie sich nicht auch erst sehr spät eine Universität geleistet?
Der Flughafenbetrieb war schon in vollem Gange, die Schlangen der Wartenden vor den Schaltern lang. Das geschäftige Treiben störte ihn nicht, es lenkte ab, beruhigte. Einen Moment überlegte Berg, ob er erst einchecken oder in den Presseshop gehen sollte. Die Nähe zu den Schaltern mit dem Kranich nahm ihm die Wahl jedoch ab, er stellte sich in die nächstgelegene Reihe und spürte, wie eine Last sich von seinen Schultern zu lösen begann, ein Gefühl wie in Kindheitstagen, wenn er wieder einmal geflohen war, aus der Schule, oder vorbeigeschlichen an dem Betrieb, in dem er gelernt hatte, später ließ er Vorlesungstermine an der Universität verstreichen, Seminarzeiten, Repetitionskurse. Fast immer endeten diese Fluchten am Meer, an dem die Städte lagen, in denen er Schüler gewesen war, Lehrling, Student. Das war lange her und die peinliche Seite der Erinnerung daran längst untergegangen in einem Privatmythos von Selbstbestimmung, an dem nicht alles falsch war, das meiste jedoch nur versunkener Ärger, den er sich und anderen damit bereitet hatte, vor allem seiner Mutter, die, ein Ausbund an Pflichtbewusstsein, nicht begreifen konnte, was ihn jedes Mal trieb, was ihn anstiftete, und sie immer wieder in helle Wut versetzte, aus purer Verzweiflung. Die schweigende Verachtung seiner Mutter nach anfänglichem Zorn traf ihn trotz seiner weitschweifigen Ausreden, die ihm unerschöpflich zur Verfügung standen, ohne wirklich etwas zu klären, und nur wie freche Lügen wirkten, härter als alles andere. Die eigenartige Neigung, in der Flucht das Seelenheil zu suchen, war aber geblieben, auch wenn sie sich mit den Jahren immer seltener zeigte und dann in anderer Gestalt als einst und in Zusammenhängen, die kaum einer seiner Freunde begriff.
Die Maschine startete pünktlich und hob, wie vorgesehen, wenige Minuten nach halb acht ab, zog steil nach oben und ließ das Lichtermeer der großen Hafenstadt schnell unter sich zurück. Kurze Zeit später, nach der Ansage, dass gleich das Frühstück serviert werden würde, und dem Vorschlag, die gesamte Flugzeit über angeschnallt zu bleiben, flammte auch das komplette Licht in der Kabine wieder auf, gleich darauf begann das routinierte Treiben der Stewardessen.
Berg hatte sich noch während der Unruhe am Boden durch das zähflüssige Eintreffen der meisten Passagiere, die in aller Gemütsruhe ihr Gepäck verstauten und Staus bis tief in die Zugangsbrücke verursachten, entschlossen, seinen Walkman in der Reisetasche zu lassen und mit ihm das schmale Repertoire an Kassetten, das ihn seit jenem Sommer im vergangenen Jahr auf fast allen seinen Reisen begleitete: Sinéad O’Connor, Tina Turner, die Piaf und alle Brahmssymphonien. Elton John hatte er aussortiert; dafür war Sinatra wieder notwendig geworden, I did it my way.
Statt Musik zu hören, begann er sogleich, in dem Zeitungsstapel auf seinen Knien zu blättern. Wie immer sortierte er zunächst die Wirtschaftsteile aus, auch Technikseiten, Sport und Businessbeilagen, so vorhanden, wurden ungelesen zur Seite gelegt. Übrig blieben die Feuilletons, die er sich zuerst vornahm, danach kamen, gab es sie, Wissenschaftsseiten und Reiseteile, zuletzt das jeweils erste Buch, in denen sich die Welt als fortlaufendes Politikereignis darstellte und, entsprechend der Linie der Zeitung, kommentiert wurde. Die Kommentare fanden seine höchste Aufmerksamkeit, er las sie mit Leidenschaft, nie kalt, ebenso die Leserbriefe, sie waren oft besser, für Realitäten offener, weniger Partei. Berg konnte sich das Urteil erlauben, war er doch selber ein Journalist, der Kommentare schrieb, ein leitender Redakteur, wie es auf seiner Visitenkarte hieß, der aber niemanden anleitete, nur sich selbst, unter dem Namen einer Zeitung, die zu den großen des Landes zählte.
Seit frühsten Kindheitstagen war ihm das gedruckte Wort fast die ganze Welt, waren Bücher für ihn der größte Schatz, so sehr, dass er während der Schulzeit zwar wie alle anderen in seiner Klasse auch regelmäßig Altpapier sammelte, nicht selten aber verzichtete er auf Geld vom Altwarenhändler und damit auf die schnelleren Süßigkeiten: auf Bonbons in Form von rosa Himbeeren und grünen Blättern, auf gezuckerte Schürzkuchen, braun und saftig vom heißen Fett, in dem sie gebacken worden waren, auf sprudelnde Limonade, die einem die Tränen in die Augen trieb, so sehr, dass man lachen musste und dabei Gefahr lief, viele Schlucke einfach nur zu verspritzen, auf Brühwürfel schließlich, die ganze vier Pfennige das Stück kosteten, aber herrlich salzig schmeckten und gierig gelutscht wurden, wie Eis, bis Lippen und Gaumen fast taub waren. Stattdessen ließ er sich die eingelieferte Papiermenge in Büchern aufwiegen, um danach mit euphorischen Gefühlen aus dem dämmrigen, von stockigem Geruch erfüllten Kellergewölbe, in dem der Altwarenhändler wie ein Unterirdischer hauste, durch die Gassen der alten Hafenstadt nach Hause zu eilen und die gerade erworbenen Kostbarkeiten drei steile Treppen hinaufzuschleppen, bis in ihre Wohnung, wo er in den nächsten Stunden für die Welt draußen und die Rufe oder Pfiffe der Freunde von der stillen Straße unerreichbar war.
Am Beginn seiner Universitätszeit jedoch hatte ihn seine Bücherleidenschaft fast umgebracht. Das Zimmer im Studentenwohnheim, einer lagerähnlichen Anlage mit mehreren Baracken, das ihm und vier weiteren Kommilitonen seines Studienjahres von der Fakultät zugeteilt worden war, glich mit seinen drei Doppelstockbetten, sechs Spinden, Stühlen und einem großen Tisch eher einer Armeestube als einer Studentenbude. Es gab weder Nachttischlampen noch Klemmleuchten, und so hatte er eine nackte Glühbirne in einer Fassung mit Schalter an einem Kabel um das Gestänge seines Bettes geschlungen, damit er fortan über eine separate Beleuchtung verfügte, wenn das Deckenlicht längst ausgeschaltet war und rings um ihn herum tiefe Atemzüge verrieten, dass alles schlief. Weil er gerne bis weit nach Mitternacht las, war das einer der Gründe, warum er in aller Frühe so schwer unter den drei Decken im karierten Bettbezug hervorkam; der zweite waren die Pflichtvorlesungen für alle Studenten, ganz gleich, welcher Fakultät sie angehörten und für welche Studienrichtung man immatrikuliert worden war. Sie wurden vom parteiphilosophischen Institut der Universität veranstaltet und waren für denkende Menschen eine einzige Zumutung, man konnte sie nur mit vollkommen geistiger Abwesenheit überstehen, aber auch winzige Zettel halfen, gespickt mit sarkastischen Kommentaren zum Verhältnis von Phrase und Wirklichkeit. Die konterrevolutionären Kassiber wanderten wie Weberschiffchen zwischen den nebeneinandersitzenden Vertrauten im Hörsaal hin und her und zogen unweigerlich eine gewisse unruhestiftende Heiterkeit unter den Beteiligten nach sich, die den jeweils vortragenden Dozenten, allesamt blasse, nichtssagende Figuren, die nur wegen des weithin sichtbaren Parteiabzeichens am Revers auffielen, bei seiner routinierten Tour durch den ewigen ideologischen Himalaja des Öfteren von einem Phrasenschritt zum anderen abstürzen ließ, in eine Tiefe vollkommener Nichtigkeit. Es war eine Art situativer Entmachtung, befriedigend vor allem für die, denen sich darin eine geschichtliche Perspektive eröffnete, auch wenn sie noch so unwahrscheinlich war. Dass Berg zu ihnen gehörte, verstand sich von selbst, eine seiner gelegentlichen Fluchtvarianten aus dem öden Ideologie-Zirkus hieß, einfach im Bett zu bleiben.
Seine Zimmergenossen, die, wie er, alle dasselbe Fach studierten und mit denen er bald enger befreundet war und deshalb mehr teilte als nur die gemeinsame Unterkunft, ließen ihn jedes Mal ohne mahnende Erinnerung an den Pflichtcharakter dieser Vorlesungen zurück, kannten sie doch seine riskante Neigung, ideologischer Primitivität mit erhöhter Provokationslust zu begegnen. Nicht ohne Grund hatten sie ihm mit schöner Ironie und versteckter Bewunderung schon zum ersten Geburtstag, den er mit ihnen zusammen feiern konnte, in das gemeinsame Geschenk eine Widmung geschrieben, die, so stand dort nun schwarz auf weiß zu lesen, nicht nur dem »unruhigen Zimmergeist« galt, der er für sie geworden war, sie ging bald über in einen Hymnus auf den »großen Dichter, Theologen, Philosophen und Revolutionär Torben Berg«, um schließlich zum eigentlichen Anlass zu kommen: seinem zwanzigsten Geburtstag. Danach las man sechs Unterschriften, er selbst war der siebte des Studienjahrgangs gewesen. Es war, natürlich, ein Buch: »Schuld und Sühne« von Dostojewski, dem er bislang, was er aber nicht verriet, Turgenjew vorgezogen hatte. Dessen Roman »Väter und Söhne« liebte er besonders, die Schlussszene mit den knienden Eltern am Grab ihres so jung und, verstrickt in politische Wahngebilde, irgendwie sinnlos gestorbenen Sohnes hatte ihn auf eine Weise erschüttert, als stünde er selber am Grab Basarows, neben den beiden Alten, um da zu sein für sie, ihnen aufzuhelfen, sie zu trösten.
Bergs Vater, ein Offizier der Roten Armee, war kurz vor Bergs Geburt wegen der unerlaubten Beziehung zu seiner Mutter arretiert worden und dann in den Weiten der Sowjetunion verschwunden. Sie hatten nie wieder etwas von ihm gehört. Auch seine Mutter hatte man verhaftet; sie kam für lange Zeit nicht mehr nach Hause. Er verbrachte die ersten Jahre bei seiner Großmutter; aber das alles hatte man ihm später erzählt, viel später. Eine Erinnerung daran besaß er nicht, und so träumte er seinem verschwundenen Vater, von dem es weder Fotografien gab noch Briefe, zu keiner Zeit hinterher. Natürlich war sein Vater, wie Berg längst begriffen hatte, eine unabdingbare Voraussetzung seiner Existenz, eine spürbare Wirklichkeit aber hatte er ihm trotzdem nicht werden können. Er wuchs auf von Frauen umgeben: von Mutter, Großmutter und Schwester. Das genügte. Allesamt waren sie willensstark und liebevoll und hatten ihn beschützt wie ein Mann. Doch schon auf der ersten Seite von »Schuld und Sühne« wurde seinem Helden Raskolnikow eine Eigenschaft attestiert, die spätestens mit jenem Tag, da Berg sein Studium angetreten hatte, immer deutlicher auch bei ihm zum Vorschein kam:
»… er befand sich seit einiger Zeit in einem aufgeregten und gereizten Gemütszustand, der große Ähnlichkeit mit Hypochondrie besaß…«
Der Vertrauteste unter seinen Zimmergefährten, ein Pfarrerssohn aus der Altmark, der seine unnachgiebige Ablehnung der politischen Verhältnisse mit ihm teilte, nicht aber das Risiko, sie durch freimütige Bekenntnisse denunzierbar werden zu lassen, hatte sich Bergs Unterschrift antrainiert, um sich für ihn, war er im Bett geblieben, in die im Vorlesungssaal ausliegende Anwesenheitsliste einzutragen; es konnte kaum auffallen, weil es zu viele Studenten verschiedener Fakultäten und Fachrichtungen waren, die hier in aller Herrgottsfrühe ihre Zeit totschlagen mussten. Nur einigen Studentinnen gelang das Wunder, die sinnlosen Stunden trotzdem sinnvoll zu verbringen: sie strickten einfach unter den Pulten, hinter denen sie saßen, an Socken, Schals und Handschuhen, unsichtbar für den Dozenten oder Professor, der sich in der Tiefe des Raumes, einem ansteigenden Hörsaal des »Instituts für Marxismus-Leninismus«, ebenso ahnungslos wie vergeblich mühte, seinen ideologischen Unsinn als unvergängliches Sinnereignis in die Köpfe seiner Zuhörer zu implantieren, deren erzwungene Masse ihm vorgaukeln mochte, einer unschlagbaren Wahrheit Diener und Stimme zu sein.
Auch an jenem Wintermorgen, der ihn beinahe das Leben gekostet hatte, war er gegen sieben Uhr alleine im Zimmer des Wohnheims am Rande der alten Hafen- und Universitätsstadt zurückgeblieben. Die Geräusche seiner Mitbewohner hatten ihn wach werden lassen, Geschirrgeklapper, das Brodeln des Tauchsieders, gedämpftes Sprechen, auf die beiläufige Frage, ob er mitkäme, hatte er nur abgewinkt, die Augen wieder geschlossen und versucht weiterzuschlafen. Nach ihrem Verschwinden, in der Stille danach, war er jedoch schlagartig munter geworden und hatte sogleich wieder nach demselben Buch gegriffen, das ihm erst gegen drei Uhr früh, übermannt von der Müdigkeit, aus der Hand geglitten und zwischen Kopf und Wand auf dem Keilkissen zu liegen gekommen war, wo es immer noch lag, aufgeschlagen auf derselben Seite: Gesammelte Aufsätze eines im Lande nicht gedruckten Philosophen, der als besonders rückschrittlich galt, aber weltberühmt war. Er hatte es in der Fakultätsbibliothek entdeckt, die über solche Schätze nach wie vor frei verfügte, man musste sich nur in eine Kladde eintragen, wenn man an dem geistigen Glanz oder gefährlichen Genuss teilhaben wollte. Weil es draußen noch dunkel war und die anderen das Deckenlicht im Zimmer beim Verlassen gelöscht hatten, knipste Berg die Glühbirne über seinem Kopf an und vertiefte sich erneut in die geistigen Welten des Denkers aus dem Schwarzwald, dessen Sprache ihm so mystisch erschien wie sie magisch war, und in denen es um den »Ursprung des Kunstwerks« ging, um »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, um den »Spruch des Anaximander«:
»Was sollen uns alle nur historisch ausgerechneten Geschichtsphilosophien, wenn sie nur mit dem Übersehbaren der historisch beigebrachten Stoffe blenden, Geschichte erklären, ohne je die Fundamente ihrer Erklärungsgründe aus dem Wesen der Geschichte und dieses ausdem Sein selbst zu denken?«
Nur klang das gar nicht mystisch und magisch, es klang klar, überklar, erkenntnisgrell geradezu, vor allem aber war es wie eine radikale Antwort auf das ideologische Gefasel, das die abwesenden Kommilitonen auch an diesem Morgen über sich ergehen lassen mussten. Doch bald glitten ihm erneut die verführerischen »Holzwege« aus der Hand, Kopf und Körper wurden von einem wohligen Gefühl erfasst, das ihn, wie aufsteigendes warmes Wasser, widerstandslos machte und bald versinken ließ in jenem Ozean, in dem man so unendlich tief und sanft hinabschweben konnte, bis zum Grund aus vollkommener Stille und Schwärze, an dem man nichts spürte, nichts wusste. Oder alles.
Als er urplötzlich jedoch wieder nach oben schoss, noch im blitzartigen Auftauchen, da immer mehr bitter schmeckendes Wasser in seinen Mund zu dringen schien, begriff er, dass er im allerletzten Moment niemand anderem entkommen war als dem Tod: Bei sich rasend schnell ausbreitenden Qualmwolken stürzte er vom Bett, riss instinktiv das von Glut durchfressene Keilkissen mit sich herab, und während ein Funkenschwarm über den abgetretenen Linoleumboden stob, öffnete er die Fenster und hielt seinen Kopf so weit wie möglich in die kalte Novemberluft, um wieder und wieder durchzuatmen, das in Schwelbrand gesetzte Matratzenstück glomm weiter vor sich hin, jetzt aber in sicherer Entfernung von Laken, Kopfkissen, Bettbezug, von ihm. Dann holte er, ruhig geworden, einen Eimer Wasser aus dem Waschraum, goss es vorsichtig über das nur noch schwach qualmende Keilkissen, bis die Glut darin restlos erloschen war. Später säuberte er das Zimmer gründlich, entsorgte die Kopfablage, aus der versengtes Seegras hervorquoll, in eine der verbeulten und angerosteten Mülltonnen vor dem Studentenwohnheim, froh, dass offenbar niemand etwas von der nicht nur für ihn gefährlichen Geschichte mitbekommen hatte. Noch lange starrte er auf die nach wie vor leuchtende Glühbirne an seinem Bett und versuchte zu ergründen, warum sie während seines Schlafs so tief herabgerutscht war, dass sie die hintere Kante seines Keilkissens hatte berühren, ihre Hitze sie in Brand setzen können. Dabei stieg eine zweite Frage in ihm auf, die sich unabweisbar vor die erste schob und die nie mehr aus seinem Gedächtnis verschwunden war:
Was hatte ihn tatsächlich aufwachen lassen aus jenem Nirwana, in dem er so selig versunken gewesen war?
Seit diesem Ereignis ahnte er, dass ihn etwas beschützte. Doch durfte man zu anderen darüber reden, sich lauthals glücklich schätzen deswegen, gar rühmen?
Er verbot es sich, und so blieb es ihm Geheimnis, das ihn noch jedes Mal bestärkte, Kraft zufließen ließ, wenn er in Gefahr geriet.
Langsam wurde es ruhig in der Maschine, das Kabinenpersonal hatte mit dem Austeilen von Getränken und der Frühstücksmenüs begonnen, einige der Passagiere blätterten, wie Berg auch, etwas ziellos in ihren Zeitungen, andere hielten die Augen geschlossen, nur wenige waren dabei, sich noch vor dem Frühstück eine Zigarette anzuzünden. Da die beiden Plätze neben Berg frei geblieben waren, hatte er den Zeitungsstapel auf den Mittelsitz gelegt und fing an, es sich bequem zu machen, spürte im selben Moment aber, dass auch ihn die Müdigkeit wieder einzuholen begann, und so sagte er sich, dass er wohl nach einem Schluck heißen Kaffees erst die nötige Aufmerksamkeit haben würde. Ein Blick in den Gang machte ihm allerdings klar, dass es noch etwas dauern konnte, bis die Stewardessen bei ihm angekommen wären, die Maschine war vollbesetzt, wenn man von den wenigen Lücken absah. Dass ausgerechnet die beiden Plätze neben ihm frei geblieben waren, betrachtete er als besonderes Glück: zusammengepfercht zu sein auf engstem Raum war ihm seit seiner Gefängniszeit ein Gräuel. Deshalb faltete er die Zeitung wieder zusammen, legte sie neben sich auf den Stapel zu den anderen, rutschte ein Stück weit in seinen Sitz hinein und schloss die Augen.
Er wurde wach von ihrer Hand, die sich um die seine geschlossen hatte.
Was hast du? Berg fragte, ohne die Augen zu öffnen.
Doch sie sagte nichts, nur der Druck ihrer Hand schien ihm fester zu werden. Er begriff, dass etwas nicht stimmte, öffnete die Augen, wandte sich ihr zu: Ihr Gesicht war blass, in ihrem Blick lag etwas ganz und gar Fremdes.
Hast du Angst? Er fragte ohne glauben zu wollen, dass es so sein könnte.
Die Antwort, die sie gab, konnte er nicht hören, er spürte sie aber: der Druck ihrer Hand hörte nicht auf, wurde stärker. Er war jetzt hellwach, klappte die Armlehne zum Mittelsitz hoch, der frei geblieben war, und rutschte zu ihr hinüber. Dann löste er behutsam ihre Hand von der seinen, nahm sie in den Arm. Ihm schien, sie zittere am ganzen Körper, es war ein inneres Erzittern, wie von einem Fieberschauer.
Es ist alles in Ordnung, flüsterte er. Ob er um eine Tablette bitten solle, sie hätten immer welche an Bord?
Berg versuchte, so ruhig wie möglich zu sprechen, obwohl er von einer Sekunde zur anderen in ernste Sorge um sie geraten war.
Nein, erzähl einfach was, von Paris, da fliegen wir ja hin.
Natürlich, sagte er, direkt, ohne Umweg, schneller als du denkst. Zu essen gibt es auch gleich was. Er könne ihr auch einen Drink bestellen, der helfe bestimmt besser als sein Gestammel?
Wieder schüttelte sie den Kopf: Das sei doch peinlich, so früh. Sie nehme einen Tee, wenn die Stewardessen da wären.
Gut, sagte er und strich mit seiner linken Hand über ihr Gesicht: Gut, gut, wenn ein Tee dir hilft. Er habe die ersten Jahre, wenn er geflogen sei, immer Tabletten dabeigehabt, echte, keine Placebos. Einmal hätte er sogar drei Stück geschluckt, in einer Boeing 747, solche Riesenmaschinen, die sie bestimmt schon im Fernsehen gesehen hätte, mittendrin eine Wendeltreppe nach oben, zur Bar, wo man Cocktails und Champagner trinken könne, auf dem Weg nach China, über Bangkok und Hongkong, immer wieder starten, landen, starten, landen, Zwischenstation irgendwo im Persischen Golf, fast vierzehn Stunden lang, die reinste Tortur. Er lachte ein wenig über das Wortspiel, das er mitgedacht hatte. In einigen Momenten, sie könne es ihm glauben, habe er sogar gebetet. Er hätte es aber überstanden. Heute mache es ihm nichts mehr aus, sie könne ihm deshalb vertrauen, alles wäre in Ordnung, Flugzeuge seien ja …
Ich weiß, unterbrach sie ihn, sie hätte es auch gelesen, irgendwo, oder gehört: Aber was nütze ihr das, jetzt, wo sie am liebsten rauswolle? Da würde sie ja erst recht abstürzen, nicht?!
Berg war sich sicher, einen ironischen Unterton mitgehört, ein Lächeln, wenn auch eher ein resigniertes, über ihr Gesicht huschen gesehen zu haben.
Na also, flüsterte er und küsste sie auf ihr dunkelbraunes Haar, wir werden uns doch nicht den siebten Himmel verderben lassen!
Ach, hörte er sie fragen: Sind wir denn in dem?
Natürlich, sagte er, spätestens wenn wir wieder am Boden sind, sind wir da. Mittendrin.
Du kannst das, sagte sie, nicht?!
Was?, fragte er.
Einem einreden, dass man ruhig ist, dass man Grund dazu hat, meine ich.
Ich bin ruhig, sagte er.
Du gehst immer von dir aus, wenn du was willst, ja?
Warum sagst du das? Er war nicht mehr ganz so leise wie zuvor.
Ich mein es doch nicht böse, sagte sie, ich mein nur, dass du stark bist.
Du nicht? Berg zögerte: Würdest du sonst in diesem Flugzeug sitzen? Neben mir, auf dem Weg nach Paris, wo du das Fliegen so fürchtest, was ich ja gar nicht wusste, und dazu noch alles hinter dir lässt, wie ich?!
Das weiß ich doch gar nicht, sagte sie, kaum hörbar mehr, als spräche sie nur zu sich selbst: Vielleicht sind wir bloß leichtsinnig, spielsüchtig wie dumme Kinder?!
Vielleicht, sagte er, vielleicht auch nicht. Warum zweifelst du?
So bin ich, sagte sie, drehte ihren Kopf zum Fenster, das nach Westen ging und das Licht der Morgensonne nur indirekt ins Flugzeug ließ. Dann hörte er sie sagen, ihre Stimme war dunkel, wie vor einem halben Jahr, als er sie kennengelernt hatte: Ich hasse es ja selbst. Ich versteh es auch nicht. Es ist alles so schwer.
Es war der Abend jenes ersten Dezembers neunzehnhundertneunundachtzig, den die Zeitungen historisch nennen würden, wegen des Konzerts des legendärsten Barden des geteilten Landes, der viele Jahre zuvor aus seiner östlichen Hälfte hinausmanipuliert worden und nun zurückgekommen war, durch die zerbrochene Mauer, wie so viele in diesen Tagen, um endlich vor all den Menschen singen, spielen zu können, für die er seine Lieder einst geschrieben hatte.
Berg war ebenfalls unter den Zuhörern gewesen, mit einem Dienstauftrag in der Tasche. Sie drängten sich vor der Bühne in einer unwirtlichen Halle aus Beton auf dem Messegelände der Stadt. Es waren Tausende, denen die Kälte nichts ausmachte, weil sie den kleinen Mann mit dem Seehundsbart, den rollenden Augen und der Gitarre endlich einmal wirklich sehen und hören wollten, laut und krächzend, kehlig und girrend, und nicht bloß auf einem schneeigen Bildschirm oder von abgenutzten Tonbändern wie aus dem Jenseits, in Widerstands-Séancen, mit denen man sich in größte Gefahr begeben hatte.
Er war noch immer der zauberhafte Poet und eitle Pfau, als den man ihn seit langem kannte, der mit seinen Schwächen kokettierte, um sie nicht zugeben zu müssen. Ein Grimassenschneider, der ständig Gefahr lief, aus seinen Auftritten vor erwachsenen Menschen Kasperletheater für Kinder werden zu lassen, und dem es dennoch immer wieder gelang, die Kurve zu kriegen in die Gefilde seines großen Talents: Sein gesungenes Leiden am zerrissenen Land klang glaubhafter denn je, seine Liebeslieder betörten noch immer, seine ätzend scharfen Balladen gegen die Einheitspartei und ihre Diktatur stärkten auch jetzt, obwohl deren Macht zur Stunde und vor aller Augen in rasendem Tempo verfiel.
Nach dem Konzert, sie kannten sich seit langem, hatten sie sich kurz begrüßt und miteinander gesprochen:
Na, hatte Berg zu ihm gesagt, haben wir jetzt gesiegt oder die anderen nur verloren?
Die Antwort war typisch gewesen, er zitierte sich selbst, irgendeinen seiner populären Verse. Dabei lachte er ein wenig angestrengt und ließ seinen Blick, wortlose Zustimmung heischend, in der Runde der Vertrauten kreisen. Bevor er mit seiner Entourage aus der Halle verschwand, zu den Wagen, die sie noch in der Nacht nach Berlin zurückbringen sollten, dort war am nächsten Tag ein weiteres Heimkehrkonzert angesetzt, fragte er Berg zu dessen Überraschung, ob er mitwolle, Platz sei vorhanden.
Berg dankte, aber er sei für seine Zeitung hier und würde noch zwei Tage bleiben, in Hamburg wollten sie eine Reportage haben, er müsse weitere Eindrücke sammeln, bis jetzt habe er nur das Gefühl, als tauche er, ganz abgesehen vom Dauersmog, durch ein Meer der Unwirklichkeit auf den Grund einer Realität, die vor langer Zeit versunken sei.
Und ich?, hörte er sein Gegenüber in leicht erhöhter Tonlage fragen: Wo liege ich in deiner Geschichte herum? Am Grund? Oder oben, im Kahn?
Mein Lieber, sagte Berg und lächelte einen nach dem anderen an: Du? Du sitzt natürlich im Kahn und singst hinunter, während dein AlterEgo am Grund ausharrt und nach oben blickt, um sich zuzuhören.
Das hatte ihm gefallen, er lachte, und weil er lachte, übertrieben wie immer, lachten die anderen ebenfalls, auch Berg hielt sich nicht zurück.
Gleich danach hatte er ihm und seinem Tross lässig nachgewinkt – dem Star des Abends, einem scheinbaren Vertrauten –, bis sie zwischen den Massen, die ihnen eine Gasse gebildet hatten, verschwunden waren. Dann schwamm er im breiten Strom der anderen mit aus der Halle hinaus, davongetragen wie ein Stück Holz auf reißendem Wasser, und war wenig später an einer nahen Straßenbahnhaltestelle, von der aus man schnell in die Innenstadt kam, hängengeblieben. In der Bahn herrschte Gedränge, es ging laut zu, der Singsang des Dialekts der Konzertbesucher schwoll unentwegt an und wieder ab, es störte ihn nicht, er versuchte vielmehr, im Stimmenchaos um sich herum Details wahrzunehmen, Sinneinheiten zu erfassen, sie im Kopf abzuspeichern. Was er so hörte, mithörte, war besser als jedes Interview: Berg hörte sich mit ihnen zurück in eine Welt, aus der er selber gekommen war, wenngleich vor langer Zeit. Es überraschte ihn, was er trotzdem davon noch verstand, auch wenn er schnell begriff, wie groß die Entfernung zu den ununterbrochen um ihn herum Redenden tatsächlich geworden war. In diesem Moment war er sich sicher, dass das Konzert ein furchtbarer Kraftakt gewesen sein musste: die Beschwörung einer Zeit, die jetzt vorüber war. Das, was passiert war, war etwas ganz anderes als das, was passieren sollte. Die Lieder und Balladen von einst hatten ihre Zukunftsfarbe verloren, und die Gegenwart, in der sie erklangen, schminkte sich in steigendem Tempo unaufhaltsam um, ins Grelle, Gegengrelle geradezu.
Nostalgie war nichts anderes als Heimweh, das war klar. Aber wonach? Wonach wirklich?
Am Hauptbahnhof stieg er aus, von dort war es nicht mehr weit bis zu seinem Hotel. Der riesige Kasten trug den schönen Namen »Merkur«.
In seinem Zimmer im vierundzwanzigsten Stock ließ er sich aufs Bett fallen, schloss für einen Moment die Augen, hinter denen es zu kreisen und die Frage aufzutauchen begann, ob er denn tatsächlich hier sei?
Er sah sich vor Stunden, nachdem er in Hamburg gestartet war, via Frankfurt am Main und, nach einem Schlenker über tschechoslowakisches Territorium wegen der noch geltenden alliierten Rechte, auf dem schäbigen Flughafen am nordwestlichen Rand der Messestadt ankommen, mit der ersten Lufthansaverbindung, die jemals von Hamburg aus hier angekommen war, nachdem sie eine dichte bräunliche Smogschicht durchstoßen hatte, aber ohne ein Visum, das man nach wie vor benötigte, um die Grenzkontrolle passieren zu können. Er hatte es einfach riskiert und war, vorbei an verlegen lächelnden Interflug-Mitarbeiterinnen am Ende der Gangway und mehreren Fernsehteams, die das Ereignis für die Sekundenewigkeit der aktuellen Nachrichtensendungen festhalten wollten, durchgekommen mit seinem Wortschwall, den er auf einen der Grenzkontrolleure losgelassen hatte, nachdem der ihn um sein Visum bat.
Visum?, hatte Berg zurückgefragt, scheinbar überrascht, und dabei den merkwürdig brandigen Geruch, der über allem lag, registriert: Brauche man das denn noch?
Der Mann vor ihm, korpulent, in der Uniform eines Majors der Grenztruppen, eine leicht zurückgerutschte, viel zu klein wirkende Schirmmütze auf dem darunter hervorquellenden schwarzen Haar, vor sich eine Art Bauchladen, in dessen Fächern Stempelkissen, Stempelmaschine und andere hoheitliche Gerätschaften und Papiere verwahrt waren, starrte ihn einige Sekunden lang regungslos an, er schien kurz davor, einen Schreikrampf zu kriegen, schließlich begannen seine Augäpfel hin und her zu irren, Berg sah ziemlich viel Weiß aufblitzen, aber dann presste eine gequälte Stimme nur den Satz heraus:
Also bitte: Warum, wie lange und wo?
Bergs Antwort ließ der Uniformierte stoisch über sich ergehen, hantierte dabei mechanisch in seinem Bauchladen herum, ein Stempel knallte auf ein Formular, Berg zahlte eine Gebühr. Dann konnte er passieren.
Natürlich hatte er sich ausdrücklich bei dem Offizier bedankt, dessen zwischen Wahn und Verzweiflung irrlichternde Augen ihn bis zur Ankunft im Hotel regelrecht verfolgten. Irgendwie empfand er Mitleid mit dem Mann, der die Welt nicht mehr verstand: Bis eben noch betoniert für die Ewigkeit, brach ihm die seine gerade unter den Füßen weg, während er, Berg, auf demselben Boden fest und sicher voranschritt, fast wie ein Eroberer. Aber das war er nicht, das war er nur in den Augen des Uniformierten. Er selber kehrte bloß zurück.
Der Blick auf seine Uhr zeigte ihm an, dass es in einer guten Stunde Mitternacht sein würde. Er war nicht müde, noch lange nicht. Was konnte man jetzt noch in der Stadt anfangen, um diese Zeit? Vor fast zwanzig Jahren war er zum letzten Mal hier gewesen, die Freunde lebten längst wie er im Westen, und so gut hatte er die Stadt auch damals nicht gekannt, hatte sie nur zur Messe im Frühjahr besucht, um sich, wie seine Freunde, Literatur zu besorgen, Westliteratur, von den Ständen der Aussteller aus Hamburg und München, Frankfurt oder Stuttgart. Sie alle legitimierten ihren Diebstahl mit der Formel vom geistigen Mundraub, die meisten Aussteller ließen sie gewähren. Es war dennoch gefährlich, der Geheimdienst wusste um die Verführungskraft des Ortes nur zu gut, besetzte das Terrain rund um die Uhr mit seinen Agenten, die, genau wie die Bücherdiebe, harmlose Besucher spielten. Sie schafften es dennoch nicht, jeden zu stellen. Auch Berg war nie überführt worden. Abends traf er sich mit jenen Freunden, die in der Stadt studierten, in einer heruntergekommenen Wohnung unter dem Dach, durch das es tropfte, unentwegt und geräuschvoll, war der Regen nur stark genug: in eine Unzahl aufgestellter Schüsseln und Eimer. Immer aber saßen sie unter einem wabernden Gewölbe aus Zigarettenqualm, Pfeifen- und Zigarrenrauch, zwischen Bierflaschen, Weinflaschen, Schnapsflaschen, die geöffnet, geleert wurden, geleert und geöffnet. Dabei zeigten sie sich, gefühlte Mitglieder der Bande von Robin Hood, unter lautstarker Nennung von Titeln, Namen, Verlagen die geraubten Schätze, das dabei emporschießende Hochgefühl wurde durch eine Kölner Radiostimme, die in ihrem Tagesbericht aus Leipzig auch den jeweiligen Prozentsatz der verschwundenen Bücher meldete, ins schier Unermessliche gesteigert.
Gab es nicht einen Studentenclub?, fiel ihm jetzt ein. In der Nähe des gigantischen Universitätsturms? Ein Gewölbe, unterirdisch? Berg versuchte, sich zu erinnern, der Name blieb verschüttet. Er überlegte einen weiteren Moment, dann griff er zum Telefonhörer, rief die Rezeption an. Keine Minute später wusste er Bescheid, stand auf und ging ins Bad, um sich frisch zu machen. Es war noch immer der erste Dezember neunzehnhundertneunundachtzig, als er das Hotel verließ.
Die Schlange der Wartenden vor dem Eingang des Clubs verlor sich im Dunkel der Bäume, die das Gelände umstanden. Irgendwo rauschte der Verkehr, immer noch, aber das war Brandungslärm, von weit her, der Partystrand lag unmittelbar vor ihm. Berg zögerte dennoch weiterzugehen, ihm fehlte auf einmal jegliche Lust, sich um diese Zeit noch anzustellen, es war unangenehm frostig, und ob man hineinkam, in kleinen Schüben, das sah er sofort, hing davon ab, wie viele Personen den Club gerade verließen. Die Tür, durch die man ins Innere der Zitadelle gelangte und aus der, wenn sie sich öffnete, das Hämmern harten Rocks herausdrang, gedämpft, unerlöst, öffnete sich keineswegs in so kurzen Abständen, dass er hoffnungsvoll hätte sein können. Aber irgendetwas hinderte ihn, zum Hotel zurückzukehren.
Wie so oft in ähnlichen Situationen, besann er sich auf seinen Presseausweis. An den Wartenden vorbei ging er mit größter Selbstverständlichkeit auf die Eingangstür des Clubs zu, und wieder hatte er Glück, wieder erwies sich ein scheinbar schwieriges Hindernis als leicht überwindbar: Während die Herauskommenden sich an ihm vorbeischoben, trat er einen Schritt vor, hielt dem Türwächter den Ausweis vor die Augen, sagte, dass er aus Hamburg käme, wegen einer Reportage über Leipzig in diesen Tagen, gerne würde er auch den Club erwähnen, vielleicht sogar mit der Clubleitung sprechen, falls sie noch da sei, oder mit einem anderen Verantwortlichen, sich im Haus umgucken, eine tolle, lebendige Szene sei das hier ja.
Der Angesprochene warf einen kurzen Blick auf das Dokument, sagte, der Chef wäre noch im Objekt, und ließ ihn, als handele es sich um die normalste Bitte der Welt, anstandslos passieren: der Club gehörte der Jugendorganisation der Einheitspartei. Doch das schien Berg nun Wissen aus einem anderen Jahrhundert zu sein, es spielte keine Rolle mehr. Sein Ausweis, bis vor kurzem vor solch einer Tür und ihren Bewachern nichts als ein hochverdächtig machendes Dokument, hatte sich stattdessen in einen Sesam-öffne-dich-Schlüssel verwandelt.
Sekunden später stand er wie benommen im Vorraum des mit zahllosen Backsteinen vermauerten Labyrinths, das erfüllt war von brachialer Musik, von einem über Treppen, durch Gänge und Räume lärmenden Menschenstrom, einer apokalyptischen Stimmenflut, in der jedes einzelne Wort, kaum geäußert, sogleich wieder versank, als wäre es nie gesagt worden.
Langsam blickte Berg sich um, versuchte, sich zu orientieren. Neben einer Tür, hinter der sich laut Schild die Clubleitung verbarg, prangten, in Glas gerahmt, mehrere Ehrenurkunden mit der aufgedruckten aufgehenden Sonne, dem Symbol des einheitlichen Jugendverbandes, dessen Mitglied er nie gewesen war. Unterschrieben hatte sie der Mann, der seit kurzem als neuer Führer von Partei und Staat fungierte, doch schmolzen beide, Staat und Partei, gerade wie Eisblöcke unter der Sonne dahin, mitten im Winter.
Die hängen nicht mehr lange, dachte er, sah, dass eine der Urkunden schon Wasserflecken zeigte. Wollte er wirklich wissen, was die politische Leitung des Clubs auf Fragen von ihm antworten würde?
Berg klopfte nicht an die Tür der Clubleitung. Stattdessen ging er langsam die breite Treppe, die zum Grund der Zitadelle führte, hinab und versuchte, mit allen wachen Sinnen, Stufe um Stufe, im abenteuerlichen Geschehen vor seinen Augen das Wunder zu entdecken, das hinter allem, was seit Wochen geschah, stand: in Gesichtern, Gestalten, Gesten, Gesprächen, im ganzen befreiten Leben, das ihm entgegenbrandete und in das er sich nun hineinzustürzen begann.
Keine zwei Stunden nach seinem Eintritt in den Club glaubte Berg, alles Wichtige gesehen, alles Wesentliche aufgenommen zu haben. Bei seinem Streifzug durch die lärmerfüllte Katakombenwelt aus großen und kleineren Tonnengewölben, schlauchengen Gängen und Restaurantnischen dazwischen, in denen die sich leidenschaftlich unter der Erde Verausgabenden Getränke, Zigaretten und einfache Speisen ordern konnten, um sich gestärkt, ja, befeuert, erneut ins Gewimmel auf den verschiedenen Tanzflächen unter der bunkerdicken Decke zurückzubegeben, hatte Berg in den Regalen einige bunte Flaschen aus dem Westen registriert, Whiskey-Marken und Cognac-Sorten, die er genauso in einer Diskothek der Stadt gefunden hätte, in der er seit fast zwei Jahrzehnten lebte. Der einzige auffällige Unterschied war die politische Propaganda, sie prangte an den verziegelten Wänden wie eine surrealistische Installation: Picassos Friedenstaube, blaue Fahnen, auf denen die Sonne erstrahlte, Plakate gegen die Stationierung amerikanischer Raketen, Marx-Ikonen, Che-Guevara-Poster, sogar ein Seidenbanner aus dem Westen, von goldenen Fransen gesäumt, hatte er entdeckt. Es stammte vom Studentenverband der Deutschen Kommunistischen Partei, MSB »Spartakus«.
Er kannte die Spartakistentruppe aus seiner Studienzeit in der Stadt, aus der er heute früh gekommen war, die Wände des Instituts für Politikwissenschaft, an dem er sich eingeschrieben hatte, waren damals zugepflastert mit Symbolen, Parolen und Kürzeln dieser und ähnlicher Organisationen. Die Gruppen, pathologisch verfeindet untereinander, waren winzig gewesen, blähten sich aber aktivistisch auf und stürmten schon mal Vorlesungen politisch missliebiger Professoren. Mit ihnen und ihren Symbolen, ihren Flugblättern, ihrem aggressiven Parolengeschrei stand eine Drohung im Raum, von der er geglaubt hatte, ihr mit seiner Ankunft im Westen ein für allemal entkommen zu sein. Hier aber hingen und lagen sie in seinen Augen nun nur noch herum wie weggeworfen, vergessen. Sie erinnerten Berg an Filmsequenzen und Fotografien aus dem Dritten Reich Anfang Mai 45, als der große Schrecken vorüber war, seine Orden, Ehrenzeichen und Bücher aber, all die Wimpel, Standarten und Fahnen in den verlassenen Zentren der Macht auf dem Boden lagen oder davor: in der Gosse, im Müll, unter den Stiefeln der einrückenden fremden Armeen – aufgerissene Schachteln voller goldener, silberner, schwarzer Medaillen, Schilder und Kreuze. Keiner wollte mehr gesehen werden damit, keiner mehr glänzen. Kampfabzeichen, heldenbrustlos. Trophäen allenfalls für die Sieger, für zukünftige Devotionalienhändler nie versiegende Umsatzposten.
Ins Gespräch war Berg mit niemandem gekommen; es mochte auch damit zusammenhängen, dass er sich bewusst treiben ließ, um so viel wie möglich zu sehen, aufzusaugen, einzuatmen. Atmosphären, das war es, darum ging es, am Schreibtisch in der Redaktion. Aber selbst an den Theken, die er angesteuert hatte, um sich erst einen Gin Tonic einschenken zu lassen, später ein Glas Rotwein, dann wieder einen Gin Tonic, hatte sich, abgesehen von ein paar freundlichen Floskeln, nichts Dauerhafteres ergeben. Zwischendurch dachte er einige Male an Karla und Charlotte, die im Hamburger Haus um diese Zeit schon fest schliefen, und daran, dass er übermorgen wieder zurückfliegen würde und noch etwas finden müsste, was er ihnen mitbringen könnte. Er kam nie ohne Geschenke von seinen Reisen zurück. Karla, bescheiden, wie sie war, erwartete nichts; es reichte ihr, sich mitzufreuen, wenn Charlotte auspackte.
Als die Zeiger seiner Armbanduhr auf halb drei vorrückten, entschied er sich, den unterirdischen Ort des Vergnügens zu verlassen und zu Fuß zum Hotel zurückzukehren, es war nicht wirklich weit, wenn er zügig ging, dauerte es höchstens so lange wie ein ohne jede Hast gerauchtes Zigarillo. Die kalte Luft würde ihn zudem abkühlen, seinen Kopf wieder klar werden lassen, was gut war, um einschlafen zu können. Berg hatte Schwierigkeiten, in fremden Betten zur Ruhe zu kommen.
Langsam löste er sich von seinem Platz an der Bar im Zentrum des Labyrinths, von dem aus er, zwischen Gewölbesäulen hindurch, einen Blick auf die Tanzenden werfen konnte, sie bewegten sich auf der größten Fläche in der Zitadelle wie ein einziger Organismus.
Konvulsivisch über die Köpfe hinwegzuckende farbige Lichtstrahlen sorgten für einen verwirrenden Effekt: zerfetzten Gesichter, fragmentierten Körper, zertrümmerten Bewegungsfiguren, vermischten schließlich alles zu Teilen eines paradoxen Bildes, in dem ein elastisches Ganzes ununterbrochen zerstört und wieder verquirlt wurde, durchgewalkt von der brachialen Musik zu einer Sekundenmasse, erneut riss, erstarrte, nur um danach ein weiteres Mal in Wallung zu geraten.
Im anderen Moment hatte Berg den Eindruck, in einen Hexenkessel zu blicken, in dem die Menschen herumwirbelten wie auf den Höllensturzbildern des Hieronymus Bosch.
Doch die hier stürzten, litten nicht, das war unübersehbar. Sie lebten, vielleicht mehr als je zuvor, stiegen auf ins Licht, nach langem Winter und Dunkelheit.
Das Schönste aber, so schien es Berg, war das ganz und gar Unbewusste daran.
Wirkliche Freiheit, er hatte es oft gedacht, jetzt dachte er es wieder: Wirkliche Freiheit – war sie zuletzt nicht doch unendlich mehr als bloßer Wille? Natur also, reine Natur?! Dem Menschen geschenkt, nicht erfunden von ihm. Deswegen brach sie in der Geschichte ja immer wieder so überwältigend auf: elementar wie Erdbeben, Vulkaneruptionen, Springfluten – wenn der Druck zu groß wurde, der Terror zu hemmungslos, die Lüge zu dreist. Doch wenn das stimmte, wirklich stimmte, würde der Mensch die Freiheit nie ganz vergessen können. Dann steckte sie tief in ihm, unendlich tief, um jemals endgültig herausgerissen werden zu können: in seinen Zellen, seiner Seele, seinem ganzen Sein, und dem war, wenn es darauf ankam, nichts gewachsen. Nichts! Der Beweis wurde gerade wieder einmal erbracht, niemand konnte ihn übersehen, selbst die nicht, die keine Seele hatten oder nur eine verkümmerte, die sie leugneten oder gar ausschalten wollten, um eine gänzlich neue konstruieren zu können: eine Seele ohne Seele, eine Maschine mit menschlichem Antlitz.
Irgendwo auf der Welt, in irgendeinem Kopf oder Labor, wurde daran gearbeitet; aber den ersten Theoretiker eines solchen Konstrukts hatte, noch in seinen besten Jahren, eine Riesenportion Trüffelpastete dahingerafft, verschlungen an einer königlichen Tafel, an der zwar französisch parliert wurde, zuletzt aber doch preußisch gehandelt.
Das tröstete nicht nur, das hatte einen Geschmack von höherer Gerechtigkeit: LaMettrie, auch so eine Gestalt, die Berg, seit er von ihr und ihren Visionen wusste, verachtete.
Am Ende des ersten Treppenabschnitts, der auf eine Zwischenebene führte, unterbrach er seinen Aufstieg und Gedankengang in Richtung Reportage, die er nach seiner Rückkehr ins Hotel zu schreiben gedachte, morgen, wenn er ausgeschlafen und weitere Eindrücke gesammelt hätte, trat ans Geländer und blickte noch einmal, wie zum Abschied, auf die Tanzenden. Er tat es nicht alleine, hinter ihm drängten weitere Vergnügungssüchtige, unter denen, Berg hatte es schon wenige Minuten nach seiner Ankunft bemerkt, auffällig viele Geschöpfe von betörender Schönheit waren.
Es war genau die Sekunde, in der urplötzlich alle Geräusche erstarben, aller Lärm, alles Tosen nur noch äußerst gedämpft zu ihm drangen, überlagert von einer Stimme, die dicht hinter ihm erklang, dunkel, samtdunkel, von vorsichtiger Neugier, zugleich spürte er in seinem Rücken eine leichte Berührung:
Schreibst du wirklich?
Die junge Frau, die jetzt vor ihm stand, Berg hatte sich ohne jede Hast umgedreht, lächelte ihn an, unbefangen, einfach so, ihre Augen jedoch, in denen etwas Herausforderndes aufblitzte, erwarteten offenbar wie selbstverständlich eine Antwort, eine Reaktion, eine Spur Zugewandtheit jenes Fremden, den sie gerade angesprochen hatte. Der Fremde aber war er.
Woher sie das wisse? Er klang freundlich, ohne sein Überraschtsein zu verbergen.
Geheimnis, sie machte eine Pause, in der sie kurz ihren Blick senkte. Doch dann, mit einem Anflug von Verschmitztheit: Es sei bloß ein Zufall gewesen. Sie hätte in der Nähe der Tür gestanden, als er in den Club gewollt habe, hätte alles mitgehört und gedacht: Toller Trick, so ein Westausweis.
Das war kein Trick, sagte er, der Ausweis ist echt.
Und wie heißt deine Zeitung?
Berg nannte den Namen; er schien ihr nicht unbekannt zu sein:
Aber er sei nicht wirklich für seine Zeitung hier, im Club?, meinte sie.
Ja und nein, antwortete Berg, in der Stadt bin ich wegen des Konzerts vorhin.
Ach, unterbrach sie ihn: Warst du auch beim Bänkelsänger?!
Ja, sagte Berg und lachte, weil sie Bänkelsänger gesagt hatte. Nach dem Konzert wollte ich noch irgendwo hin und bin hierher, und gerade dachte ich daran zu verschwinden, zurück ins Hotel, doch du warst schneller. Mit wem spreche ich eigentlich?
Henrike, sagte sie und gab ihm ihre Hand, aber alle sagen Rike zu mir.
Hallo, Rike, sagte er, du bist die Erste heute Abend, die mit mir spricht. Was machen wir daraus?
Ich weiß nicht, sagte sie, ich bin nicht alleine hier, mein Freund ist da und zwei Bekannte, wir wollten gerade weiter, zu einer anderen Party, du kannst mitkommen, hast du Lust?
Während sie das sagte, gab sie drei jungen Männern, die schon, wie Berg jetzt gewahr wurde, auf dem nächsten Treppenabschnitt standen und zu ihnen hinunterblickten, ein Zeichen, dass sie warten sollten. Dann wandte sie sich ihm wieder zu und fragte, als kennten sie sich schon lange:
Kommst du?
Warum nicht, sagte er und merkte, wie seine Müdigkeit, die ihn eben noch zu überwältigen schien, einer merkwürdigen Wachheit gewichen war: War es wirklich klug, um diese Zeit wildfremden Menschen zu folgen, auf eine Party, die wer weiß wo stattfand? Aber es war zu spät, Berg hatte ja gesagt und wollte sich vor dem Mädchen nicht lächerlich machen, auch packte ihn die Neugier, Reporterneugier, die ihn in den zurückliegenden Jahren schon an ganz andere Orte getrieben hatte.
Schnell waren sie bei den jungen Männern, die ihnen entgegensahen, angekommen. Er gab jedem die Hand, hörte ihre Namen, nannte den seinen und sagte:
Nett, dass ihr mich mitnehmen wollt. Wo es denn hinginge?
Nur ein paar Straßen weiter, sagte Rike, während sie alle zusammen die steinernen Treppen hinaufstiegen und immer noch herabkommenden neuen Gästen auswichen: Er brauche keine Sorge zu haben, außerdem würden sie fahren.
Womit denn?, fragte Berg: Gibt’s hier Taxis?
Natürlich, Rike lachte ihn an. Jetzt merkte Berg, dass sie ein wenig betrunken war: Wir brauchen aber keins, wir nehmen die Pappe. Sie lachte immer noch.
Berg verstand nicht das Geringste.
Meinen blauen Mercedes, sagte Rike. Sie machte zur Abwechslung ein angestrengt ernstes Gesicht, dahinter jedoch funkelte reines Vergnügen.
Wo hast du denn den her? Irgendetwas trieb Berg, ihr Spiel mitzuspielen.
Wirst du gleich sehen, sagte sie und nannte ihn zum ersten Mal bei seinem Vornamen. Es klang seltsam schön in Berg nach, wie sie es gesagt hatte.
Vor dem Club liefen die vier auf das Quartier hinter dem Neuen Rathaus zu, Rike schwankte ein wenig. Berg versuchte Schritt mit ihnen zu halten, auf den Straßen war es glatt geworden, ein glitzerndes Grau hatte Pflaster und Fassaden überzogen. Die Stadt schien dabei zu sein, sich zu verwandeln.
Berg schoss urplötzlich Perle in den Sinn, und er dachte, während er neben Rike herlief, die unentwegt, wie ein aufgedrehtes Kind, redete, wie es wohl sein würde, nachher, auf der anderen Seite. Es lag ewig zurück, dass er den Roman gelesen hatte. Er hatte ihn vollkommen vergessen, nun lieferte er ihm Stichworte, die sich mit den Bildern vor seinen Augen vermischten. Oder waren es diese Bilder, die in ihm den Roman aufriefen, ihn zu illustrieren begannen? Dann standen sie vor Rikes blauem Auto, es war tatsächlich ein himmelblauerTrabant, und Berg sagte, während ihm der Schlager durch den Kopf fuhr:
Wie sollen wir denn da alle reinpassen?
Das geht, sagte Rike und öffnete die Tür auf der Fahrerseite: Die anderen hinten, wir beide vorne, erst einmal müssen die Jungs rein.
Die Jungs, wie sie sie nannte, lachten und rissen Witze über das Gefährt, mit dem sie gleich davonfahren wollten. Schließlich verschwanden sie auf der Rückbank, und als Berg Platz genommen und sich noch einmal kurz umgeblickt hatte, sah er, dass einer quer über den Knien der beiden anderen lag. Rike hatte unterdessen, so gut es ging, die Frontscheibe vom Reifüberzug frei gekratzt, dann schmiss sie sich geradezu in den Fahrersitz, schloss die Tür und startete den Motor. Er sprang überraschend schnell an, was die drei hinter ihnen im Wagen in hymnische Lobgesänge auf ein gewisses Autowunder aus Pappe ausbrechen ließ, nur Berg wurde immer nüchterner und dachte, das lange nicht mehr gehörte Fahrgeräusch im Ohr:
Hoffentlich macht die Kleine keinen Mist, wenn die Kiste an eine Hauswand kracht, können sie uns alle abkratzen davon.
Es ging tatsächlich schnell. Rike schien wie im Schlaf zu wissen, wo sie hinmussten, ihr trunkener Übermut hatte in keine Katastrophe geführt. Als er aus dem Wagen stieg und sich kurz reckte, sah er sich in einer kaum beleuchteten Seitenstraße stehen, zwischen hohen Mietshäusern aus der Kaiserzeit, die selbst in der Nacht ihre von ätzendem Smog und giftigem Regen zerfressenen Fassaden nicht verleugnen konnten. Aber auch hier hatte ein kristallen glitzerndes Grau alles überzogen, hatte es gespenstisch verzaubert, dämonisch gemacht. Berg schien tatsächlich auf der anderen Seite angekommen, er konnte es nicht nur sehen, er fühlte es.
Verrückt, dachte er, völlig verrückt, ich bin offenbar wirklich in Perle, fehlt nur noch, dass Patera der Gastgeber ist. Und dann? Bin ich dann Bell? Doch wenn ich Bell bin, bin ich auch Patera. Das verführt mich, das rettet mich, das bringt mich um. Aber in ein paar Stunden werde ich wieder aufwachen und feststellen, es ist nichts gewesen, gar nichts.
Im Haus, in dem Rike, ihre Freunde und er nun verschwanden, war es stockdunkel. Flüsternd fragte sie einen der Jungs nach Feuer, um den Lichtschalter zu finden. Wenig später flammte ein Streichholz auf: Berg sah Rikes Gesicht im Schein der kleinen Flamme aufleuchten, sah überrascht, wie es schöner wurde und schöner, fast magisch, bis das Streichholz erlosch und ihr Freund ein neues entzündete. Gleich darauf sprang ein Lichtschalter an, mit tackerndem Geräusch, das anhielt. Es wurde hell im Treppenhaus, und Rike rief leise:
Es ginge bestimmt gleich wieder aus, vier Treppen müssten sie hoch, die Wohnung läge unterm Dach.
Berg folgte als Letzter und fragte sich mit jeder Stufe noch immer, worin die Pointe dieser Nacht wohl bestehen würde; aber er fragte sich nicht mehr beunruhigt, er hatte begriffen, dass die junge Frau vor ihm, von der er seit einer halben Stunde nur wusste, dass sie einen Freund hatte und ein kleines blaues Auto besaß, nichts anderes von ihm wollte als eine Geschichte hören, seine Geschichte: die Geschichte eines Lebens im Westen, mit einer Vorgeschichte im Osten, er hatte es während der Fahrt preisgegeben, vielleicht aufregend, vielleicht schön, vielleicht nur fremd, auf jeden Fall interessant. Dass es das war, hatte er in dem Moment begriffen, als er während der kurzen Fahrt von der Zitadelle ihre verstohlenen Blicke wahrnahm, mit denen sie ihn gemustert, abgetastet hatte, ohne dabei mit dem ironisch klingenden Unsinn aufzuhören, den sie auf der ganzen Strecke aus sich herausließ.
Mein Gott, dachte er, Perle! Du hast zu viel gelesen, mein Lieber, das ist alles, und hielt mit den anderen vor einer Wohnungstür, durch die gedämpftes Stimmengewirr drang, Musik, Gelächter. Irgendeiner der vier hatte geklingelt, dann öffnete sich die Tür, Licht fiel ins Treppenhaus, das längst wieder im Finstern lag, und Rike zog Berg mit energischem Griff hinter sich her, mitten hinein in eine fremde Gesellschaft, in der es für diese Uhrzeit noch auffallend lebhaft zuging und die kaum wahrnahm, dass gerade neue Gäste erschienen waren. Wenig später wurde Rike von einer jungen Frau umarmt, die danach fragend auf Berg blickte:
Mein neuer Freund aus Hamburg, sagte Rike und lachte.
Ach!, hörte Berg die offensichtliche Gastgeberin ausrufen, sie deutete sichtlich amüsiert auf Rikes Freund:
Ein Glück, dass er das schon weiß, sonst hätte ich es ihm ja verschweigen müssen.
Der kennt mich, sagte Rike fröhlich, aber Torben kennt mich noch nicht oder nur ein bisschen. Oder? Sie blickte Berg an, er sah ihren leicht geöffneten Mund, die schneeweißen Zähne, zwischen denen ein winziges Goldeckchen aufblitzte, ein kurzes, strahlendes Lächeln, das ein schalkhafter Zug umspielte.
Torben? Rikes Bekannte sah Berg an, ihr Blick verriet Überraschung: Den Vornamen habe ich ja noch nie gehört! Darf man fragen, wo der herkommt?
Dänemark, sagte Berg, ohne Rike aus den Augen zu lassen. Auch ihm begann das Spiel zu gefallen.
Ich denke, du kommst aus Hamburg?
Rikes Bekannte schien jetzt ein wenig verwirrt, aber Berg ließ sie nicht noch unsicherer werden, erzählte von seinem Großvater, dem Seemann von der Insel vor seiner Heimatstadt, der oft nach Skandinavien gefahren sei, von dort hätte er den Namen mitgebracht. Er wäre der dritte Torben in der Familie seit neunzehnhundert. Es sei so etwas wie eine Tradition.
Dänemark, hörte Berg Rikes Freundin antworten, da können wir jetzt ja auch hin, mal sehen, Rike, ob mir dort ebenfalls ein Torben über den Weg läuft, ich könnte gerade einen gebrauchen. Dann forderte sie sie auf, zu tanzen, zu trinken, zu essen, was sie wollten, wozu sie Lust hätten, und verschwand.
Was trinkst du?, fragte Rike.
Wein, sagte Berg, roten, falls es noch welchen gibt. Ich kann dir aber auch was holen.
Setz dich ruhig schon hin, sagte sie und schob ihn sanft auf eine Couch, die in der Nähe stand, ich bin gleich wieder da. Wenig später stießen sie ihre Gläser aneinander, von nun an ließ Rike ihn nicht mehr aus den Augen, zurückgekehrt war sie mit einer brennenden Zigarette im Mund. Einmal kam ihr Freund vorbei, blieb hinter ihr stehen und fragte sie etwas.
Rike sagte nur, er solle das doch mal lassen, auch drehte sie sich keine Sekunde lang zu ihm um.
Berg aber erzählte, alles, was sie wissen wollte von ihm, er erzählte von sich, seinem Leben in Hamburg und auf welchem Weg er in den Westen gelangt war.
Gab es keinen leichteren?
Rike fragte kaum mehr mit Worten, sie fragte fast nur noch mit ihren Augen, unentwegt, eindringlich, seltsam besessen.
Für mich irgendwie nicht, sagte Berg, doch sei er ja nicht der Einzige, der so rausgekommen sei!
Er hatte, während er redete und trank, nicht das Gefühl, dass sie ihn ausfragte, noch unwahrscheinlicher erschien es ihm, dass sie sich gerade erst kennengelernt haben sollten. Irgendwann gab es keine Musik mehr, kurz darauf kam ihr Freund erneut vorbei und sagte, es sei jetzt schon halb fünf, sie wären fast die Letzten, ob man nicht gehen wolle?
Berg sah Rike an, was sie dachte, die Müdigkeit, die nun schlagartig zu ihm zurückkehrte, machte es ihm leicht, ihrem Freund zuzustimmen.
Er griff in die Brusttasche seiner pelzgefütterten Lederjacke, die er nicht abgelegt hatte, zog eine Visitenkarte hervor, wischte sie über den Tisch, Rike entgegen:
Sie könnten ja ihre Adressen tauschen.
Hast du noch eine?, fragte sie, dann schreib ich dir unsere auch auf.
Er reichte ihr eine zweite, schob seinen Kugelschreiber ebenfalls zu ihr hin. Sie schrieb ein wenig mühselig, der Wein in ihrem Kopf, dachte er, schließlich versuchte sie aufzustehen, sackte aber gleich wieder in den Sessel zurück, nur um mit gesenktem Blick und ganz zu sich selbst zu sagen, dass das wohl doch ein bisschen viel gewesen sei heute.
Vor dem Haus, von dem Berg wusste, dass er es alleine nicht wiederfinden würde, hatte sie ihm noch erklärt, wie er laufen müsse, um zu seinem Hotel zu kommen, es sei wirklich nicht weit, unter der Straßenkreuzung mit den Überführungen hindurch, vorbei am Centrum-Warenhaus, zwischen Bahnhof und »Astoria«, das Ding, in dem er schlafe, sei so riesig, es wäre gar nicht zu übersehen, nicht einmal im Dunkeln. Aber dunkel sei es da vorne überhaupt nicht.
Dann verabschiedeten sie sich mit Händedruck, und Rike fragte, ob er ihr wirklich ein Buch von sich schicken wolle?
Ganz bestimmt, sagte Berg, noch vor Weihnachten hätten sie eins, aber er hoffe, dass sie ihm dann auch schriebe, was sie davon hielte.
Mal sehn, sagte sie, es klang spöttisch: Sie wisse ja gar nicht, ob er wirklich ein Dichter sei. Oder nur Journalist. Davon gäbe es viele.
Leicht unsicheren Schritts ging sie danach auf das kleine blaue Auto zu, dem er, als es losfuhr, so lange nachsah, bis es mit ihr verschwunden war.
Sie war rechts eingestiegen. Das hatte ihn beruhigt.
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