November achtzehn - Georg Hermann - E-Book

November achtzehn E-Book

Georg Hermann

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Beschreibung

Einige Tage im November 1918 zeigen uns Georg Hermanns Alter Ego Fritz Eisner im Kampf mit den letzten Kriegstagen. Auch nach Berlin kommt die Revolution - nicht nur die politische -auch die bürgerliche. Fritz Eisner zwischen drei Frauen. Seiner Ehefrau Annchen, die langsam einen Rosenkrieg beginnt, einer alten verpassten Liebe und jetzt der wesentlich jüngeren Journalistin Ruth, der Liebe seines Lebens, die nicht überall auf Akzeptanz stößt. Ehebruch, Kampf der Konventionen und ein Hymnus an die Frauen, Georg Hermann erweist sich einmal mehr als ein Psychologe der Geschlechterbeziehung. Auch an deftigen erotischen Anspielungen lässt es der Autor nicht fehlen. Die erhoffte Zukunft zeichnet sich ab, aber auch Todesahnung ... Und ein alter Selbstmord wird enttarnt! Abschied von liebgewonnen Menschen bleibt dem inzwischen bekannten Schriftteller ebenfalls nicht erspart. Die Politik erhält auf des Autors humorvolle und scharf sezierende Art ihr Fett weg. Nach Großmannspolitik und Großmaulpolitik wird jetzt unter Gewehrschüssen die Republik ausgerufen: Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Das wird dem frisch verliebten Paar alles etwas zu viel Revolution und Chaos - es verlässt Berlin. »November achtzehn« ist vielleicht einer der schönsten und unter-haltsamsten Teile innerhalb der Ketten-Romane in einer äußerst spannenden Zeit - ein beeindruckendes Zeitgemälde. Wie in allen Ketten-Romanen aus der Edition R sollen auch in diesem Band 3 zahlreiche erläuternde Fußnoten den Lesefluss erleichtern und so die Lesefreude steigern!

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Man muß feststellen, daß die Ulmen am Wasser auch keine Blätter mehr hatten. Das heißt, das stimmt nicht ganz. Sie hatten schon noch Blätter. Jeder Ast sogar drei bis fünf. Jeder hohe Baum mindestens vierzig bis sechzig. Aber sie waren eben von einem toten Grün und verschrumpelt schon. Oder sie waren braun und zitterten da hoch oben an den dünnen Zweigspitzen über dem Wasser, wie Kinder auf dem Turmbrett in der Badeanstalt, die sich fürchten, ins Nasse, Kalte hinunterzuspringen.

An den Kastanien jedoch waren die letzten Blätter ... und von den grünen, breiten Blatthänden von einst waren höchstens zwei oder drei Finger noch stehengeblieben (meist sogar nur noch einer!), so, als ob die anderen draußen abgeschossen worden wären, oder als ob beim Granatdrehen sie daheim in einen Treibriemen gekommen wären, oder in eine Welle ... an den Kastanienblättern waren auch nur noch einzelne Finger stehengeblieben: flach, groß und dunkelgolden.

Nein, eigentlich nicht mehr ganz dunkelgolden. Das war vorbei schon. Jetzt begannen sie gerade trüb, matt und bronzefarben zu werden und standen ganz still und – den Zeitläuften entsprechend – nachdenklich und sehr traurig in der graublauen, etwas dunstigen Mittagsluft, die noch milder war, als sie gerade der Jahreszeit nach an dieser allzu nördlichen Stelle der Erdkugel sein durfte, an der sich aus unerklärlichen Gründen der Riesenkörper Berlins zusammengeballt hatte.

Drüben im Vorgarten die Ligusterhecken halten zwar noch ihre grünen Lackblätter. Aber auch nur sie. Alle anderen Büsche dagegen auf dem Rasen (ebenso wie die jungen Lindenbäume!) waren schon ganz kahl und kümmerlich und hielten ihre welken und ausgewachsenen, lange nicht beschnittenen Gerten mit den mehligen und schwarzen und bläulich bereiften Beeren in dem kleinen Rondell über die Lehne der Bänke und um den gußeisernen Leib der Normaluhr, die – und sie tat recht daran! – seit wer weiß wie lange schon auf drei Minuten vor halb neun stand.

Denn seit über einundfünfzig Monaten war ja schon die Zeitrechnung in Verwirrung geraten, und das Wort »Zeit« hatte hier in Berlin – und in der ganzen Welt wohl ebenso – langsam jeden Sinn und Inhalt verloren. Es war ganz gleich, ob es Tag oder Nacht, Morgen oder Abend war; und man hatte auch andere Sorgen, als auf solche Nebensächlichkeiten wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter zu achten.

Gewiß war es im Sommer besser in Berlin. Man brauchte weniger zu essen, fror nicht, brauchte nicht zu heizen und bekam seltener nasse Füße durch die Pappsohlen der Stiefel. Winter aber war immer schlechter. Da fror man zu Hause, weil man nichts zu heizen hatte, nachdem die letzte alte Kiste durch den Schornstein geflogen war. Und fror auf der Straße, weil man keine warmen Kleider auf dem Leib mehr hatte, und weil man Fleisch und Fett gebraucht hätte, die man nicht bekam (und nicht mal für viel Geld hinten herum auftreiben konnte) und keine Kohlrüben, die Frost gekriegt hatten, und die kein Stück Vieh deshalb noch berührt hätte.

Aber es war im Winter nicht so lange hell. Und das war wiederum gut für die draußen. Denn die Kanonen drüben schossen des Nachts immerhin etwas ungenauer als am Tage, und die Verlustlisten wurden deshalb etwas weniger dick.

Alle aber waren hier doch irgendwie mit denen da draußen noch mit unsichtbaren Fäden verbunden, und es gab kaum ein Haus mehr, in das der Blitz noch nicht eingeschlagen hatte.

Der Krieg war nun allgemach schon wie der Tod geworden. Er holte so langsam jeden. Es war nur eine Zeitfrage. Er übersah kein Haus mehr. Schwarz war die große Modefarbe für Frauen und Kinder, und in Armbinden aus Flor gut eingedeckt sein, war immer noch ein sicheres Geschäft.

Gott – dem Menschen ging’s gewiß schlecht in Berlin; aber der Rasen hätte doch deshalb keinen Grund gehabt, ein anderes Gesicht zu machen als sonst, auf dem Lützow-Platz. Was ging das alles ihn an?! Aber auch er, der ehedem so erfreulich schön und glatt wie eine grünsamtene Tischdecke im Salon gewesen war, war (wie aus Gram über diese Zustände) ganz mottenfräßig geworden und allenthalben mit welken Stellen durchsetzt. Während wieder anderwärts einzelne Grasbüsche lang und wirr geworden waren, und strohig und sonnengebleicht, wie das Haar eines alten Landstreichers.

Nur der Herkules steht eben wie all die Zeit vorher hinten gegen den Seidenhimmel, sieht ebenso kühn und leer durch die Friedrich-Wilhelm-Straße nach dem Tiergarten hinunter, der weit in der Ferne wie eine graublaue Wolke träumte, und schultert, wie all die Jahre vorher, unternehmungslustig seine Keule über seinem Baumkuchenaufsatz von Brunnen.

Aber der Brunnen weht, sprüht und plätschert nicht wie sonst früher immer, und spritzt auch nicht seinen Wasserstaub über den Platz hin, sondern um sein vergrüntes und verschlammtes Becken jagen sich, weil sie heute die Schule geschwänzt haben, stolpernd und kreischend armselige und abgehungerte Kinder, so daß die Holzklepper – denn Schuhe haben sie längst nicht mehr – wie Kastagnetten auf dem Sandsteinrand klappern.

Aber der grauköpfige, mürrische Verkehrsschutzmann von der Herkules-Brücke in seiner blauen Litewka droht nicht einmal herüber. Er weiß, das hat schon längst keinen Sinn mehr, und wird bald gar keinen mehr haben. Er hat sogar Order bekommen, gegen so etwas nicht mehr einzuschreiten.

Er kümmerte sich auch nicht mehr um die paar feldgrauen Autos, die, wie der Teufel, Benzindampf um ihn fauchen und Dreck nach ihm spritzen, und so dicht an ihm vorbeirattern, daß sie ihn beinahe umreißen. Die lassen sich doch nichts von ihm sagen, diese Jungens von Leutnants da drin. Schnauzen ihn noch an.

Und deshalb tut der mürrische Verkehrsschutzmann in seiner Sommerlitewka – er sollte schon längst einen wärmeren Rock fassen für den Außendienst, aber es wurde nie etwas daraus – tut, als bemerke er das gar nicht: weder die Kinder auf dem Brunnenrand, noch die vorbeirasenden Autos, die wie schreiende Vögel nach dem Tiergarten zu sausen; und blinzelt statt dessen nur apathisch von seinem Brückenplatz über die Sandsteinsphinxe hin nach dem Kanal hinunter, der da unten arm, schwarz und still zwischen seinen grauen Wänden entlang kriecht, und das kahle Bild des silbrigen Himmels, der entlaubten Rüstern und der Häuserreihen dahinter leise mit sich zieht. Das Paar Mandarinenten mit seinem bunten chinesischen Gefieder, das aus dem Zoo entwischt ist (vielleicht, weil es da auch längst nicht mehr Rechtes zu fressen kriegte), und das nun wie ein kleines zärtliches Ehepaar nebeneinander durch das Wasser seine schmalen Furchen zieht, und dazu bei jedem Ruderschlag mit seinen blanken kleinen Häubchen nickt, das kleine, bunte Wunder da unten scheint ihn viel mehr zu beschäftigen, als all das, dessentwillen man ihn hier hingestellt hat von Staats wegen.

›Jott, die armen Biester‹, sagt sein Blick ... und unterirdisch denkt es dabei in ihm: Nun hat der Bengel, der Karl, seit drei Wochen nicht mehr geschrieben. Die Olle ist schon jar nicht mehr recht bei sich, ›die armen Biester, denen hat jewiß auch seit Jahr und Tag keiner mehr eine Krume Brot zugeworfen. Wo soll er es auch hernehmen?‹

Dann aber streift sein Blick weiter über ein mohnblumenrotes Plakat, das da an einer Hauswand seit heute früh klebt, gerade neben dem Konditorladen mit der Torte aus rotem Krepp und giftgrünem Flammeri. Doch es kümmert sich keiner um das Plakat. Man ist so etwas in vier und einem Vierteljahr so gewohnt – denn der Krieg ist allgemach aus einem unbegreiflichen Ereignis ein fester Zustand geworden, man lebt in ihm, weil man eben leben muß – so gewohnt ist man so etwas, daß man kaum noch stehenbleibt (was kann es schon groß sein?!). Wer kann auch alle Maueranschläge lesen?! Richtig, ja: Das haben sie bei ihm im Revier ja auch heute in den Torgang gekleistert: Es ist mir zu Ohren gekommen, daß man beabsichtigt, Arbeiter- und Soldatenräte zu bilden. Ich mache darauf aufmerksam, daß das nach den Militärgesetzen verboten ist, Oberkommandierender der Marken, General von Linsemann1 oder so steht darunter.

Was soll denn das nu wieder?

Ja, ja, man hat ihm ja noch eigens beim Appell gesagt, daß sie von heute ab jeglicher Unbotmäßigkeit mit aller Schärfe entgegentreten sollen. Aber es ist wirklich keine Unbotmäßigkeit da, so weit man nur sehen kann. Die Elektrische und die Omnibusse und die Geschäftswagen und die alten roten Plüschdroschken fahren ruhig wie immer, und da drüben im Rondell unter den Büschen sitzen die gleichen Leute, die auch sonst da sitzen. Die paar leichtverwundeten Feldgrauen, und die, die da immer ihre Prothesen sonnen, aus dem Lazarett in der Landgrafenstraße. Und die dicke Straßenbahnschaffnerin, die da auf der Ecke mit ihrer Tasche auf ihre Tour wartet, die sie um zwölf anfangen muß, die tut gewiß auch keinem was, und das andere ist doch alles braves, graues Tuch ... die machen so was nicht. Und der eine traurige Zivilist dazwischen, das ist auch schon ein oller Mann. Der wird mir auch nichts tun und etwa gleich hier eine Handgranate abziehen und nach mir schmeißen. Der ist zufrieden, wenn man ihn in Ruhe läßt. Bei mir hier in mein’ Revier ist alles ruhig ... Gott, hier wohnen ja auch bloß reiche Leute.

Denn damit, daß der »olle« Mann da auf der Bank im Rondell, der da mitten zwischen dem herzkranken Bergarbeiter aus Dortmund mit den blutlosen, angeblauten, wie geschminkten Lippen, und dem Bauernsohn aus Uslar am Soller, dem es ein Bein abgerissen hatte, ganz ruhig saß, und der da schon eine ganze Viertelstunde lang mit den Händen in den weiten Taschen seines großmustrigen, fremdartigen, und deshalb verdächtigen Ulsters und den Stock im Arm ... ohne sich zu regen vor sich hin starrte ... daß gerade der da nicht nach ihm mit Handgranaten oder auch nur mit Eiergranaten schmeißen würde, darin hatte der ehrliche, aber beschränkte Graukopf von Schutzmann unter seiner Pickelhaube durchaus recht.

Der da war nicht sehr für so etwas, solange es nicht alle taten. Und auch dann nicht. Was gewann er dadurch? Er hatte zwar den Krieg, der ihn persönlich wie durch ein Wunder unbelästigt gelassen hatte, von der ersten Sekunde an negiert, ihn nie begriffen, dicke Tagebücher mit Sentenzen gegen ihn vollgeschmiert, die heimlich zirkulierten unter Leuten, die von vornherein der gleichen Meinung waren. Aber für ihn war das trotzdem nichts. Das waren nicht die Waffen, an die er glaubte.

Also das mit den Handgranaten und den Eiern, darin hatte der Schutzmann unbestreitbar recht. Aber das andere stimmte nicht so ganz. Nämlich, daß dieser olle Mann in Wirklichkeit ein oller Mann war. Das war eine Kriegsbezeichnung.

Nein – um nur ehrlich zu sein! – endlich sah der olle Mann auf der Bank im Rondell da drüben in seinem Ulster nicht viel älter aus, wie gerade ein Mann von achtundvierzig Jahren aussehen konnte nach einundfünfzig Monaten Kriegszeit über Deutschland. Das heißt: nicht allzu gesund, braungrau, stark abgehungert, mit ein paar Falten mehr als gerade nötig, die aber leicht wieder ausgeplättet werden konnten. Mit vorzeitig grauen Schläfen und nicht zu dichten schwarzen Haaren, unter dem, wie in Juliwärme, zurückgeschobenen Hut. (So daß die ganze überhohe Stirn frei wurde.) Und mit jenem lauschenden, nachdenklichen Ausdruck in den dunkelbraunen Augen, den ein aufmerksamer Beobachter an jedem Mensch von geistigem Kolorit, an jedem Mitglied dieser Weltbrüderschaft, hätte in eben jener Zeit gewahren können. So, als ob der immer aus der letzten Ferne auf das Grollen der Geschütze hören müsse, Tag und Nacht, jede Minute.

Die einfachen Menschen hatten es eigentlich darin besser gehabt, und waren, wie stets, klüger gewesen, als die sogenannten Intellektuellen, die Geistigen. Und so zu etwas ähnlichem gehörte der Mann da auf der Bank sicher. Das sah selbst der Schutzmann, der ihn beobachtete. Was sollte er sonst sein? Man mochte durchraten, was man wollte, immer wieder blieb man bei so was hängen. Und gerade die Leute waren jetzt die gefährlichen. Die einfachen Menschen nämlich hatten, als sie aus der Massenpsychose erwacht waren, die neue Umstellung des Krieges eben schwer oder leicht hingenommen. Genau so wie sie ihr Leben vorher auch hingenommen hatten. Und ihr Sterben. Mit vorbildlichem Anstand. Erst war Frieden gewesen. Und nun war Krieg. Darin lag alles. Das eine war eine Form des Lebens. Und das andere war auch eine Form des Lebens. Solange die Welt stand, war das nun mal so und nicht anders. Man kann darüber fluchen. Aber es lohnt sich nicht, darüber nachzudenken. Vor allem, wenn man in dem Schlamassel drin ist. Bisher war das so über vier Jahre gegangen. Und wie lange das noch weiter gehen sollte, wußte niemand. So lange jedenfalls, bis es eben nicht mehr ging. Bis es allen zu dumm wurde, und die ganze Sache in sich zusammenpurzelte. Das konnte morgen sein. Das konnte in sechs Wochen sein, oder auch erst in vier Monaten. Das war gar nicht vorher abzusehen. Aber in sich zusammenbrechen mußte das doch mal.

Also eine Schönheit war der olle Mann nun gewiß nicht. Ziemlich braun, schwerfällig, mittelgroß, eigentlich athletisch und breitschultrig, schmalköpfig und mit einer großen Hängenase, die dem Gesicht etwas Herrisches gegeben hätte, wenn nicht der Mund weich, und das Kinn fast hilflos gewesen wären. Und wenn nicht die dunkelbraunen Augen meist eher mild, als hart, eher beobachtend, als unterjochend, eher umwerbend und schmeichelnd, als an-sich-reißend gewesen wären ... Augen, die nie »Ja«, selten »Nein«, und immer »Vielleicht« zu sagen schienen, und hinter denen es immer lauerte: gewiß, du hast recht; – aber was geht das mich an?!

Und so gut angezogen war er auch nicht gerade mehr wie die Lausejungen mit Hornbrillen und Saffianmappen; und die Kriegsgewinnler, die Granatendrehereien in einem Hinterhof aufgezogen hatten, und regenerierten Gummi schoben.

Sein Hut zum Beispiel war von Leroy und Mercier aus der Rue Boétie und hatte 1908 zehn Franken gekostet. Gewiß war er eigentlich unverwüstlich. Aber reibe du mal einen Hut einundfünfzig Monate lang alle vier Wochen mit Kriegsbenzinersatz ab, er wird nicht sauberer dadurch.

Der Havelock, der Ulster natürlich war ein schwieriges Problem mit seinen Riesenkaros. Er war schon 1909 eine Unmöglichkeit gewesen. Viel zu groß war er ihm gewesen, der Ulster. Aber das war ja sein Glück; sonst hätte er ihn wirklich 1918 nicht mehr tragen können, so herunter war er. Denn kein Schneider wollte ihn mehr in Ordnung bringen.

Ja ... und da hatte er einfach selbst, weil keiner den Mut dazu hatte, unter Geschrei von Annchen und dem Gelächter der Kinder – den Unglücksulster auf den Eßzimmertisch gelegt, die ganzen schadhaften Bahnen an einem Meterstock entlang mit einem alten Rasiermesser huit huit weggeschnitten ... hatte drei neue Knopflöcher eingeschnitten, hatte die Knöpfe zurücksetzen lassen, hatte von einem verjährten Schlafrock einer vergangenen Generation den grauen Seidenpaspel abtrennen lassen, und die Vorderseiten, die Revers, die Knopflöcher damit einfassen lassen, bei sich zu Hause, bevor er jetzt wieder nach Berlin gefahren war. Und selbst auf der Redaktion hatte man ihn schon gefragt, wo er eigentlich diesen schönen, neuen Mantel her hätte.

Und sein blauer Anzug! ... Wer nicht darauf achtete, merkte nicht, daß die Knöpfe auf der falschen Seite saßen, weil er gewendet war. Gewiß: man konnte den Ärmelaufschlag als Taschenspiegel benutzen. Aber das ist nun mal bei Kammgarn nicht anders. Und das englische Kammgarn macht da keine Ausnahme.

Doch der Kragen scheuert ihn. Ist durchgestoßen. Wenn man bloß nicht wieder solch Furunkel am Hals kriegt. Das wird man dann nie los. Alle Leute haben das jetzt wieder. Soll vom Brot kommen, sagen die einen; von den Kohlrüben die anderen.

Doch wer sieht auf den Kragen, wenn der Schlips gleich ins Auge fällt? Gegen den läßt sich nichts sagen. Ist sehr gut. Ist apart. Gewiß, er paßt nicht mehr ganz in die Saison, ist zu sommerlich. Eher schon ein leichter Frühlingsschlips. Hingehaucht wie eine Abendwolke. Und wie diese meergrün mit orangenen Tupfen. 1908 habe ich ihn auf Capri gekauft – vier Lire hat er gekostet damals.

Aber er stimmt doch vorzüglich zu der kleinen violetten Aster im Knopfloch, der letzten Blume, die es da noch draußen bei mir in den Vorgärten gibt. Das ist seit Jahren solche Narretei von mir. Wo immer ich bin in der Welt, solange diese kleinen Astern blühen, vom September bis in den November hinein, jeden Tag knips’ ich mir solch ein Blütchen ab, und steck’ es ins Knopfloch. Nuck hat schon gesagt: Du gehörst zum »Klub der violetten Aster«. Und da hat sie vielleicht gar nicht unrecht. Das ist etwas für meine Jahre; ›Herbstfrühling ... kann man sprechen‹ (würde Kerr2 schreiben).

Nun ja, die Stiefel sollte man nicht so vorschieben? Haben Sprünge bekommen im Oberleder wie ein alter persischer Topf in der Glasur. Aber wer redet überhaupt von Schuhwerk? Schuhwerk ist ein dunkles Problem.

Und außerdem ist das ja alles ganz gleich. Man hat sich an so vieles gewöhnt. An Kriegsbrot, das wie Glaserkitt schmeckt, aber schwerer verdaulich ist. An Hunger, der einem den Magen zusammenzieht, wie einen Pompadour. An jede Lüge und jeden Widersinn. An Krüppel, Einbeinige, Leute mit zerfetzten Gesichtern. An Kriegsblinde, die lachen, und wie Kinder miteinander dalbern ... An alte Frauchen, die noch eben die Hauswände entlang schleichen, und plötzlich klack! zusammenbrechen, daß sie nur noch ein wirres Bündel grauer Kleider sind, das dann weggeschafft wird. Man lebt einfach. Es erstaunt einen nichts mehr, außer der Tatsache, daß man lebt. »Schöne Zeit, in der man die Toten im Grab beneidet!«

Der olle Mann in seinem Ulster sieht sich selbst. Hier über diesen Platz ist er mal gegangen, vor nicht zu langer Zeit, das ist wohl so im Juni gewesen. Es war die miserabelste Zeit gerade. Es war nach dem Mittagsbrot in irgendeinem Massengasthaus mit Massenfraß. Er hatte die Taschen so voll Geld, daß er Monate hätte davon leben können, aber es gab einfach nichts zu kaufen. Die Läden waren wie ausgeschleuderte Bienenwaben, dies war wie weggepustet und verzaubert. Und ich kann doch die Suppen aus Trockenbohnen und Fischmehl, diesen Glaserkitt von Brot, ich kann ihn nicht essen. Ich kann ihn nicht vertragen. Ich beginne zu brechen, als ob ich seekrank wäre. Wirklich: ich habe damals hier, auf diesem Platz, vor Hunger deliriert und geweint. Laut geheult habe ich. Die Leute müssen mich für verrückt gehalten haben. Nachher ... ja da hat es eben Nuck immer herangeschafft, mir alles zugeschoben, was man ihr geschickt hat. Sagt immer, sie braucht’s nicht. Wovon das Mädchen lebt, kann kein Mensch ergründen, und sieht gut und stark dabei aus. Und warum ich eigentlich heute hier sitze, weiß ich auch nicht. Aber was will denn dieser Schutzmann da drüben nur, und warum sieht er immer zu mir ’rüber? Seit wann ist es verboten, in Berlin auf Bänken zu sitzen?

Der Soldat mit dem leeren Hosenbein ruckt sich mühselig von der Bank auf, schwankt etwas hin und her, bis er in den Krücken fest sitzt, und humpelt fort. Fünfmal hintereinander hat er erzählt, wie er in dem Knick der Chaussee lag im Graben, im Dreck, im Wasser, und immer weiter die Kurbel vom Maschinengewehr gedreht hat und gar nicht gemerkt hat, wie ihm die Hose und die Schnürschuhe voll Blut gelaufen sind.

Die mürrische dicke Straßenbahnschaffnerin hat ihre Bahn kommen sehen, ist aufgesprungen und ihr entgegengelaufen, ohne auch nur adieu zu sagen. Sieht in ihren Hosen von der Kehrseite wie ein Taucher aus.

Ein Müllwagen, ganz in braunen Staub gehüllt und verkrustet, rattert vorbei und scheppert mit allen Wänden und Türen. Zwei französische Gefangene – schmutzig, aber lustig – stehen hinten auf dem Tritt und halten sich an den Eisenstangen fest, und singen laut und froh. Muß ihnen doch sehr gut gehen ... plötzlich! Und der eine schwenkt das Käppi und winkt dem »ollen« Mann im Ulster auf der Bank zu. Ach richtig, das ist doch Monsieur Chatelier, der Baßbuffo von der Opera Comique, der gleich November 14 gefangen genommen wurde, dem habe ich doch manchmal, wenn er bei mir das Müll holte, im Keller abgelauert, um ihm heimlich eine halbe Flasche Lafitte zuzustecken.

»Au revoir, monsieur ... au revoir, sale cochon3«, ruft Chatelier strahlend und froh und schwenkt das Käppi.

Warum denn au revoir plötzlich? Und warum beschimpft er mich? Ich habe ihm nichts Böses getan.

Die Kinder aber rennen immer noch um den Brunnenrand herum. Vielleicht sind es auch schon längst wieder andere. Wer kann das wissen?! Sie haben jedenfalls auch Holzklepper und schwänzen gleichfalls die Schule.

Warum sitzt man denn eigentlich hier herum und gähnt? Vor zwanzig Minuten wollte ich schon da nach dem Tiergarten herübergehen, aber ich kann mich nicht dazu entschließen. Sicher krieg ich da eine Tasse Tee. Kaum ein Mensch hat gewiß mehr echten Tee in Berlin, nichtmal mehr Brombeerblätter und Hagenbuttenkerne. Aber die alte Frau hat noch einen ganzen Vorrat. Es ist so undankbar von mir; seit zehn Jahren habe ich keinen Sonntag fast in ihrem Cenaculum4 gefehlt, hab’ mit den anderen alten Knaben den halben Weinkeller mit austrinken helfen, und plötzlich läßt man solch altes Wesen ganz allein, kümmert sich nicht mehr um sie, einfach, weil man keine Aussprache haben will. Hockt da ganz allein in der Riesenwohnung mit den Sälen und der Bildergalerie. Sitzt nun fast den ganzen Tag, den lahmen Fuß von sich gestreckt, den schwarzen Krückstock mit dem Silbergriff und der Gummizwinge im Arm in ihrem Sessel. Nur der alte Waldmann ist noch neben ihr. Und die verrückte Anna schleicht um sie ’rum.

Gewiß, sie ist ja schon etwas merkwürdig geworden; aber in diesem Häufchen menschlicher Asche glimmt immer noch ein feines kluges Feuer wie vor sechzig, fünfundsechzig Jahren. Ich kann es an meiner Mutter mir ausrechnen, wie alt sie jetzt sein muß. Mutter wäre jetzt sechsundachtzig, also muß sie dreiundachtzig oder vierundachtzig sein. Sie geht seit Jahren kaum mehr auf die Straße, als ob sie eingesperrt hier wäre; aber des Nachts um zwölf fängt sie an lebendig zu werden und durch das Haus zu tappeln, knipst überall Licht an, stapft in ihrer Riesenwohnung ganz allein zwischen ihren Menzels 5 und Böcklins 6 und Makarts 7 und Knaus 8 und Daubignys9 und Troyons10 und Genellis11 durch die Bildergalerie hin, stößt mit ihrer Gummizwinge schwer auf, geht durch den Salon, öffnet hundert Schubladen, wühlt in alten Papieren und Briefen, fängt an die Bibliothek neu zu ordnen, schlägt eine Stelle auf in Goethe, die sie schon lange suchen wollte, oder im Dante, schreibt Briefe an allerhand Menschen, und endlich so um drei, tappt sie in ihr Bett. Einen Tag wie alle Tage. Eine Nacht wie alle Nächte. Man kann so spät vorbeikommen an ihrer Villa, wie man will, immer ist noch Licht. Ich habe sie da mal auf solcher Nachtfahrt bei sich selbst begleitet (wie silbern die Vögel schon um das Haus sangen, in den silbernen Morgen hinein ... das muß im Juli gewesen sein ... mindestens vor vier Monaten). Seitdem hab’ ich sie nicht mehr gesehen. Wollte sie auch nicht mehr sehen. Sie ist der einzige Mensch, vor dem ich Angst habe. Sie kann so hart sein. Und so furchtbar ungerecht. Und ich will nicht, daß sie mir Unrecht da gibt. Hab’ sie da begleitet. Mußte immer an den Asturienpapagei denken dabei. Der letzte, der die Sprache eines ausgestorbenen Volkes noch spricht. Wirklich: genau, wie solch ein uralter Papagei, mit ganz verschlissenem Federwerk, aber ganz klugen Augen dabei, in einem riesigen, alten, verschnörkelten und vergoldeten (wie man sie gar nicht mehr kennt), in so einem Prunkbauer Stunden und Stunden ruhig auf einer Stelle hockt und dann plötzlich so langsam von Stange zu Stange klettert, lebt sie so dahin. Ohne jede Verbindung mit der Welt draußen, außer den paar Leuten, die noch zu ihr kommen – und die haben eigentlich auch keine mehr – und den Zeitungen voller Lügen, die ihr täglich auf den Tisch fliegen. Aber, da sie gewissenhaft ist, so liest sie der Reihe nach, läßt sie aufstapeln, und ist in den Jahren immer mehr zurückgeblieben. Doch die Gedichte von Werfel12 haben ihr Freude gemacht, weil sie selber nämlich Verse macht, die Paul Heyse13 mal sehr lobte und Alfred Meißner14. Schade, daß sowas mal doch aus der Welt gehen muß!! Gestern aber schreibt sie mir plötzlich aus hellem Himmel mit ihren huschenden Buchstaben: »Mein Lieber, gehen Sie nicht so verschwenderisch mit Ihren Freunden um« (als ob ich sie höre). »Man hat deren nicht so viele im Leben« (als ob ich sie höre). »Sie sind mir einen Besuch und einige Mitteilungen schuldig, die Sie mir machen werden« (muß also doch wohl von der anderen Seite wie so viele schon in die Mache genommen worden sein). »Es kann sein, was es will. Für alles, was Sie angeht, werde ich versuchen, Verständnis aufzubringen« (als ob ich sie höre). »Jedenfalls bleiben Sie gesund und aufrecht in dieser schweren Zeit« (als ob ich sie höre). Preußentum ist doch eine eigene Sache. Gefühl haben, aber es nicht zugeben.

Aber ich will heute keine Auseinandersetzungen mehr, habe genug davon. Liebe überhaupt keine Auseinandersetzungen. Eben, weil ich mein halbes Leben mit ihnen zugebracht habe, und weiß, wie sinnlos und unproduktiv sie sind. Man soll einfach tun, was man tun muß, und nicht fremde Leute – und wenn sie einem durch Jahrzehnte nahestehen: es sind fremde Leute! – zum Richter über sich selbst machen.

Auseinandersetzungen sind ganz sinnlos. Man sagt ja dem anderen doch nie das, was man eigentlich im allerletzten Grunde denkt.

Warum sitzt man hier herum und gähnt. Gewiß, man ist so ein ganz klein bißchen heruntergekommen. Direktionslos geworden. Es ist so schwer heute, man selbst zu bleiben. Nein, nein, ich bin gar nicht anders geworden! Ich bin noch der, der ich immer war. Ich bin nur jetzt müde. Müde durch die Zeit, den Krieg und durch alles. Sie sagen, ich bin schwierig, unzuverlässig. Nicht richtig. Ich bin nur anders als die anderen. Denn, wenn ich wie sie wäre, hätten sie doch meine Bücher geschrieben, und nicht ich. Hätte vielleicht doch nicht aus Berlin wegziehen sollen?! Merkwürdig, wie schnell die Ehe und die Provinz einen Mann herunterbringt. Wo sagt das doch Oscar Wilde?15 Aber erst diese dreizehn Jahr Ehe, die immer von Tag zu Tag neu aufgebaut werden mußte, und von Tag zu Tag neu zusammenbrach, und dann eben nur aus Zusammenbrüchen, Heulszenen um nichts als wieder nichts, Schlaflosigkeit, Veronal und schlechter Laune, und endlosen Reden bestand, jeden Tag einem die Seele neu wundriß, so daß sie eigentlich nie heilte. Und dabei lag doch kein Grund vor: Sorgen wie anfangs, plumpe Sorgen um das Zwanzigmarkstück gab’s doch nun wirklich nicht mehr. Hätte so viel verdienen können, wie ich wollte. Wollte nicht. Das Geld zog sich von selbst nach, wie die Schokoladetafeln in einem Automaten. Aber kein Geld genügte eigentlich. Es zerrann wie nichts. Es stieg nie richtig höher. Man reiste, um sich zu finden, und kam nur noch weiter entfernt zurück, als man fortgefahren war. Aber »Venedig war himmlisch«, wurde an allen Teetischen herumgeschrien. Man schwieg sich tagelang an, und degoutierte sich dort, wo man sich entzücken sollte. Das hat Nietzsche über die Ehe vergessen: Ehe nenne ich den Willen zu zweien unglücklicher zu sein, als es jedem allein möglich wäre.

Ja, und wenn ich es dann eben vor Schmerzen einfach nicht mehr aushalten konnte – zwischendurch habe ich gespielt mit tausend Dingen, mit Büchern, mit Kunst, mit Frauen, mit Sammeln ... mit Zeitungsschreibereien und wieder mit Frauen ... mit Botanisieren und Naturwissenschaften, mit Schachspielen, mit Schmetterlingen und mit Tennis, ... und wenn ich es gar nicht mehr aushalten konnte und in tiefster Unbefriedigtheit tagelang und wochenlang herumgelaufen war, wie ein streunender Hund, dann habe ich plötzlich wieder angefangen zu schreiben, und habe eine Mattscheibe zwischen mich und mein Leben geschoben, durch die all die Dinge um mich seltsam verdämmerten.

Und dabei die Kinder – schon allein der Gedanke an sie treibt dem »ollen« Mann das Wasser in die Augen, daß ihm alles – die kahlen Bäume, die Bahnen, die belichteten, langen Häuserreihen, der Brunnenherkules – wie hinter Gazeschleier zu schwanken beginnt, als ob sie Dekorationen zu Flick und Flock16 wären ... die Kinder, die Kinder, die einen eben endlich innerlich ja doch nicht fortlassen werden; denn man kann sie doch unmöglich einem so destruktiven Menschen überlassen. Was ist einem denn nun von der ganzen Ehe geblieben, außer ihnen. Gott – vielleicht ist sie gar nicht von Hause her so, sondern einfach weil sie es jetzt sein will, weil sie unglücklich ist, weil sie erkennt, daß sie mich nicht halten kann ... Und, weil sie Mittelpunkt sein muß ... Weil sie die Wut, die Rabies17 hat, alles um sich nun auch unglücklich zu machen und zugrunde zu richten. Ich seh sie mir manchmal so an: es war doch mal etwas da ... vor zwanzig, vor zehn Jahren noch! Wo ist das hin? Es kann sich doch nicht vollkommen in nichts gelöst haben?! Aber es hat es getan! Vierundzwanzig Stunden hintereinander kann sie reden und heulen und stier herumsitzen und alles im Hause lähmen und zittern machen, daß keiner auch nur den Fuß auf den Boden zu setzen wagt. Und dann, wenn alle um sie tot sind, selbst die alte Hanna versagt hat und zusammengebrochen ist, dann ist sie plötzlich munter, als ob nichts geschehen, rast an den Flügel und paukt die Donauwellen. Und das schlimmste: kein Mensch ahnt draußen, wie die Dinge liegen. Denn, sowie fremde Menschen kommen, ist ihr Gesicht wie ausgeplättet, glatt und lächelnd. Ist das nur ihr Gesicht, oder das? Oder ist beides Mache? Vielleicht ist sie überhaupt irrsinnig? Einem solchen Menschen kann ich doch keine Kinder überlassen. Nicht wahr? Ich weiß nicht mehr weiter.

Gott, und seit dem Krieg, die vier Jahre, wo ich meist hier gewesen bin, und sie mit den Kindern da unten, weil ich dummerweise die Wohnung hier aufgegeben habe, und vorerst mal in unser Sommerhaus gegangen bin ... da haben wir uns doch eigentlich fast schon ganz voneinander gelöst und völlig auseinandergelebt. Das kann sie doch auch nicht bestreiten. Nicht viel anders eben wie das in Millionen Ehen jetzt geschehen ist, wo der eine hier war, und der andere dort. Und auch da, die kurze Zeit, wann immer ich dort war, immer, hier mal acht Tage und da mal einen Monat ... da ist die Quälerei nur noch schlimmer gewesen, als vorher ... Ich hab’ gehungert nach den Kindern, gekämpft, um sie unter meinen Einfluß zu bekommen, um sie zu Menschen zu machen, die einmal ahnen sollen, daß es wichtiger ist, nach innen zu leben, als nach außen, und daß ein Rembrandt schwerer wiegt, als ein Rehbraten ... Jedesmal bin ich noch mit dem Herzen bis zum Zerplatzen voll hingekommen, und jedesmal, ganz gleich, wie lange ich geblieben bin, habe ich doch zum Schluß die Türe lieber hinter mir zugemacht, als ich sie mit klopfenden Pulsen mir wieder aufgeschlossen hatte.

Gewiß, zugegeben: ich bin in diesem plötzlichen Junggesellentum etwas heruntergekommen. Aber welcher Mann ist das heutzutage nicht. Und diese elende Sinnlosigkeit gerade eines Seins, wie ich es mir geschaffen habe, unfest und zwischen den Berufen und der Welt schwimmend, das Überflüssigste aller Überflüssigkeiten: Kunst, Literatur, Bücher, Romane, Appelle an das Gewissen des Menschen in einer Zeit, wo die Welt nur noch auf das Brüllen der Kanonen hört. Und dann dieses ewig zentrumlose Herumwohnen bei Freunden, in Pensionen, möblierten Zimmern, dieses Hocken in möblierten Wohnungen, allein die Abende, mit der Krähe Schwermut auf der Schulter, bei denen man das Grauen lernte. Dieses Hocken in Lokalen, halbe Nächte ... in Cafés ... bei Freunden, die noch Schnaps hatten, auf Buden von Mädchen, immer wieder hörend: Nun ist auch der gefallen! Nun der! Nun der! Der liegt in Königsberg im Lazarett, wird nicht aufkommen ... ›All die Jungen, mit denen ich getanzt habe, sind tot.‹ Das war immer so. Wir werden nicht auf unserer Hochzeit tanzen (»Nous ne danserons pas à notre noce. Voilà tout«18 steht schon unter einer französischen Kriegskarikatur von siebzig). Diese falschen Sensationen ... dieses nutzlose Orakeln und Schwatzen auf Redaktionen, die alles zu wissen glauben, und genau so wenig erfahren, wie die anderen. Diese ganze Atmosphäre einer kranken Neugier! Dieses Hin und Her von Dingen, die ganz belanglos waren und sich wichtig machten ... aufgebauschte Siege, die sich morgen als Niederlage herausstellten. Und endlich dieses elende, gottverfluchte Warten durch Jahre, von einem Tag in den anderen, ob es Frieden wird, ob irgendwo in der Ferne die Taube mit dem Ölblatt gesichtet wird. Und immer wieder morgens das Aufwachen und Sich-langsam-wieder-ins-Bewußtseinträufeln-lassen: sie morden ja immer noch weiter! Während du schliefst, haben sich dreitausend Menschen ... junge Burschen, die eine Welt aufbauen könnten ... in ihrem eigenen Blut gewälzt! Das macht müde. Das verwirrt etwas. Nicht wahr?

Junggesellentum wieder plötzlich ohne dessen Vorzüge. Heute mit der. Morgen mit jener. Nur sich nicht binden!

Und doch: All ihr Namenlosen, Hungernden, Unterernährten, die ihr schamhaft lächeltet, wenn euer Magen vor Hunger nachts, wenn ihr neben uns lagt, zu knurren begann ... ihr Hilfsarbeiterinnen in den Ämtern, Verkäuferinnen, Schreiberinnen, Bürostunden absitzend, bis ihr vor Schwäche vom Schemel fielt ... Mädchen, deren Schätze draußen den Kopf hinhielten ... Junge Frauen, von Sorgen zerfressen um den Mann, und ausgehungert an Leib und Seele ... Ihr wart nicht leichtsinnig, ihr wolltet nur euer Elend vergessen, ganz gleich wie, und wünschtet nur, daß euch jemand mal wieder im Arm hielt. Wenn ich die Kraft des Segnens hätte, ich würde jeder von euch die Finger auf den Scheitel legen, damit es euch wohlergehe auf Erden. Was seid ihr weich gewesen im Krieg und lieb! Was habt ihr denn von uns Männern gehabt? Kaum eine Tafel Schokolade aus Belgien. Selten ein gepaschtes seidenes Cachenez.19 Gehungert habt ihr mit uns. Schmutzig waren wir, schlecht gewaschen und unglücklich. Stundenlang habt ihr vor einer Tasse Gerstenkaffee gesessen und uns die Hände gestreichelt. Im Dunklen mußten wir uns ausziehen, damit wir nicht sehen sollten, wie hager, armselig und kindlich euer Körper geworden war, und wie nötig euer Hemd es hatte, gewaschen und geflickt zu werden. Und oft weintet ihr plötzlich in unseren Armen auf, wenn ihr an jemand anders dachtet, und verkrochet euch nur noch mehr an unsere Brust. Wenn ich die Macht des Segnens hätte, ich würde euch – euch allen, die ich kenne, und euch Millionen, die ich nie gesehen habe – die Finger auf die Scheitel legen.

Ich bin ja doch eigentlich, wie Nuckelino immer sagt, ein Groschen gewesen in der ganzen Zeit, der auf der Straße lag, und den jede aufheben konnte, die es wollte. Sie mußte sich nur wirklich danach bücken. »Ja warum hat dich denn deine Frau nicht festgehalten«, sagt sie immer. »Ich kann doch nur jemand etwas wegnehmen, was ihm gehört!«

Nun ist es ja wohl so weit. Aber es ist nicht leicht, siebzehn Jahre ganz wegzuwischen und wegzudenken, auch wenn sie schlimm waren, und Stahl und Stein eigentlich nie Funken gaben. Von Anfang an nicht. Noch hab’ ich keine Ahnung, wie das werden soll. Ich weiß nur, wie es ist. Gott sei Dank!

Seit drei Monaten, seit Anfang August sind wir jede freie Stunde zusammen gewesen, Tag und Nacht, jede freie Stunde, die dir der Dienst und mir die Arbeit ließ. Ich glaube, man hat uns fast nie ohne einander über die Straße gehen sehen. Ich kann in der Zeit nachblättern, wie in einem Buch, von dem ich jede Zeile kenne. Na ja, es hat sich schnell rumgesprochen in Berlin. Man kennt mich. Ich bin so gut wie eine öffentliche Person hier. Und wer Nuck einmal sieht, vergißt sie nicht: ein reifes, junges Menschending, seltsam, stolz und apart wie eine schwarze Rose.

Es ist ja nicht wahr, daß wir nicht voneinander los wollten. Denn endlich bin ich doch weit über doppelt so alt wie sie. Nuck sagt zwar, wir werden die Differenz teilen und dann wird sie von morgen an fünfunddreißig sein, ebenso wie ich, und älter wäre ich ja doch nicht, trotz meiner siebenundvierzig. Aber mir ist sie schon mit ihren wundervollen, zweiundzwanzigjährigen, klugen Fragezeichen von Augen lieber ... »Klug wie vier Männer.« Es ist nicht wahr, wir haben immer voneinander los gewollt.

Wir haben selbst das Unmögliche möglich gemacht: du bist sogar bei mir unten gewesen, um die Kinder zu sehen, Fränze und Grete und Annchen, die auch eigentlich ein Kind: vielleicht ein böses Kind, aber doch ein Kind ist, schwach, dumm, von engem Verstand, unmöglich für diese Welt, unendlich hilfebedürftig und sofort zusammenbrechend, sowie es hart auf hart geht; und um dich selbst davon zu überzeugen, daß man eben von so etwas nicht fort kann, von solchen Wesen. Wir haben beide mit ganz weit offenen Augen gesehen, was kommen muß. Wir sind nicht leichtsinnig. Wir sind nicht gedankenlos. Dazu zerspaltest du all deine Gefühle viel zu sehr. Wir haben alles getan, um uns voneinander loszuhaken. Um jedes wieder frei zu werden! Wir haben uns hundertmal geschworen, daß es heute das letztemal war, daß wir uns sahen, und hingen schon wieder am Telephon, sowie wir fünf Minuten auseinander waren.

Was reden denn die Leute? Hier ist die Tür. Da steh’ ich. Sie ist schon halb offen. Ich fühle die Klinke in der Hand, eine schwarze Holzklinke mit Messing. Warm das Holz und kühl das Messing. Sehe das Sofa, wie durch einen Schleier mit den Kissen und den gestickten blauen Rosen (da hat es begonnen: ich lag vor ihr, ich weiß nicht, wie es kam, und hatte plötzlich den Kopf in ihrem Schoß). Und den Schreibschrank aus silbergrauem Holz mit den beiden Säulen, in dessen blanker Platte sich die Krone mit brennenden Birnen spiegelt. Das Mädchen haben wir ins Kino geschickt ... Seh’ sie da sitzen, ganz vornübergebeugt und in sich zusammengesunken, mit dem wundervoll schweren Nacken, der sich aus der tiefblauen Matinee geschoben hat unter dem schwarzen Haarknoten – weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz – einen Nacken wie eine große Perlmuttermuschel hat sie.

»Geh doch, geh schon –, ich sag dir doch, du sollst gehen!« in die Ohren schreit sie mir. Ich seh’ zu Boden. Ich zwinge mich, damit sie es nicht merkt, wie es mich schüttelt, ganz ruhig zu sein. Ich weiß, wenn es mir gelingen wird, die Klinke hinter mir zuzuziehen, dann wird sie sich nie mehr für mich öffnen. »Mensch, siehst du denn nicht, daß ich dich nicht fort lassen kann. Was soll ich denn ohne dich noch machen?« Und da liegen wir beide, gleiten vom Sofa herunter auf den Teppich, bleiben da liegen, lachen und weinen und küssen uns so lange, bis wir wieder zusammenschmelzen, und wie trunken nach hinten schleichen. »Gib dem Mädchen morgen früh eine Mark ... Yorikchen!«

Vor fünf Wochen, vor sechs Wochen am Freitag war es. Also heute vor sechs Wochen. Nuck weiß jeden Tag und jede Stunde. In ihrem klugen Köpfchen bleibt jedes Datum ihrer Liebeschronologie. Seitdem sprechen wir nicht mehr davon, daß wir auseinandergehen wollen. Siebzig Tage, daß wir jetzt zusammen sind, Napoleons letzte Herrschaft hat nur fünfzig gedauert. Oder waren’s hundert ... nach Grabbe?20 Keine Ahnung ... wie das enden soll. Herr, wir wissen wohl, wie die Dinge beginnen, aber nie, wie sie enden werden. Annchen hat gestern geantwortet darauf, daß ich ihr schrieb, wir sollten wenigstens versuchen, den Rest unseres Daseins als Freunde miteinander auszukommen, weil es uns doch nicht gelungen ist, Mann und Frau zu spielen, hat geschrieben, »wenn diese Dame dich rumkriegt, dann knallt es!« Hatte doch nie bei ihr so kriegerische Tendenzen erwartet.

Aber Nucks Mutter kann doch nicht ewig bei ihrer Schwester in Dessau bleiben, wird nun auch mal bald wieder kommen, ist schon über fünf Monate fort jetzt. Soll eine sehr geldstolze, hochfahrende ältere Dame sein. Aber ich glaube ... ich fürchte ... mir ahnt so ... sie hat nicht allzuviel Grund mehr dazu. Wird einen harten Tanz mit ihr geben, wenn’s aufkommt. Mütter verstehen so etwas nicht. Deswegen ist Nuck wohl auch in der letzten Zeit, wenn sie sich unbeobachtet glaubt, so ernst. Gestern hat sie ganz rote Augen gehabt. Ich dispensier sie gern, die gute Frau, denn sie schickt ganze Eßwarenlager rüber. Muß wirklich noch das Land Kanaan sein, wo Milch und Honig fließt. Nuck rührt doch kaum was an davon. Verstehe nicht, wovon das Mädchen lebt, und so groß und so schön und so blühend bleibt. Sagte, sie hat sich durch die Bürostunden abgewöhnt, zu Mittag zu essen. Hihihi ... »Armer jüdischer Waisenknabe bittet um eine Kleinigkeit!« So haben wir uns doch kennengelernt. ›Fräulein Block, Ruth Block, unsere neue Redaktrice.‹ Oben bei den Frauenblättern. ›Vielleicht kann die ihnen etwas verschaffen.‹ Bloß die Augen habe ich zuerst gesehen. ›Unsere Literatur soll nicht verhungern.‹ ›Ich habe eigentlich nur eine Frau mit Augen von ähnlicher Größe und ähnlich lebender Sprachgewalt gekannt, Lena? Lena? Lena ... Block! Aber vor fünfzehn Jahren war sie schon vielleicht sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig, das kann doch nicht mehr eine Schwester sein?‹

»Nein, meine Mutter war die zweite Frau meines Vaters.« Die Stimme ist etwas rauh und männlich. »Es war meine Halbschwester.«

»War?«

»Ja, sie ist im Anfang des Krieges in Madrid gestorben an Typhus« ... (ach Gott, Typhus ist billig. Wie ich jetzt so weiß ... meine ich, fürchte ich, sie hat sich damals das Leben genommen. Dieser schöne und stolze und wilde und kultivierte und begabte Kerl von einer Malerin!)

»Wissen Sie, daß Lena Block einmal im Leben eines Menschen, der mir ehedem sehr nahestand, eine entscheidende Rolle gespielt hat? Nein? Gott! Woher sollen Sie das auch wissen, das war ja lange vor Ihrer Zeit!!«

Und dann hat Nuckelino mich immer heimlich nachgemacht zum Gaudium des ganzen Hauses, wenn ich so einen kohlenden Zigarrenstummel im Mundwinkel, den Stock Marley unterm Arm, den Hut schief und zurückgeschoben, und den Mantel über die eine Schulter gehängt, durch die Redaktion geschlendert bin, von Zimmer zu Zimmer, mit meinem Schlachtruf: »Armer jüdischer Waisenknabe bittet um eine Kleinigkeit!« Sie kann jeden Menschen imitieren, den sie einmal gesehen hat. Und Nuck hat mir Schinken und Wurst und Eier herangeschleppt, die ich gräßlich teuer fand, wucherhaft teuer, und bei denen sie, wie ich jetzt langsam herauskriege, immer über die Hälfte zugelegt hat, weil sie sich genierte, mir zu sagen, wie teuer sie im Schleichhandel zu ihnen gekommen waren. Aber wirklich, ich sollte dankbar sein: eigentlich hat sie mir damit das Leben gerettet, denn ich war gräßlich runter. Ich vertrage doch diesen Glaserkitt nicht, der sich Brot schimpft. Und ich kann eben auf die Dauer keine Kartoffeln mit gebranntem Malz fressen, wenn ich nicht vor die Hunde gehen soll.

»Schade, daß Lena tot ist«, sagt sie immer. Und da hat sie recht. Doppelt schade. Doch um wen ist es nicht schade? »Lena hätte uns helfen können«, meint sie. »Mutter wird uns wohl nie verstehen. Dazu ist sie zu altmodisch.«

Donnerwetter, da habe ich ja noch die Briefe von heute früh in der Tasche. Was wollen Sie denn?! ›Überweisen Ihrem Konto das Honorar für die sechsundneunzigste und siebenundneunzigste Auflage, für die dreiundsiebzigste und fünfundzwanzigste!‹ Also ich sage ja: Gott verläßt die Seinen nicht. Seitdem die Leute draußen in den Gräben nichts mehr zu rauchen haben außer diesem Gemisch von Buchenblättern und Seegrasmatratze, lesen sie wie wild und verbiestert meine Bücher. Aber wozu sitzt man hier eigentlich herum? Auf die Dauer wird’s mir auch kühl. Wenn man eine Weile so in die Straße sieht, scheinen am laufenden Band immer die gleichen Menschen, die gleichen Droschken, die gleichen Autos, die gleichen Urlauber, die gleichen Geschäftsräder, die gleichen Kinder und die gleichen Straßenbahnen vorbeizuziehen.

Ach nein ... wer kommt denn da?! Ist das da in Kaisers grauem Ehrenrock nicht der brave Artur, Hannchens edler Schwager?! Sieht noch gut und ausgefressen aus. Der Krieg bekommt ihm wie eine Badereise. Gottlob, er geht auf die andere Seite und sieht mich nicht. Er hat mutig, soweit mir bekannt, den Feind als Schreiber auf der Kommandantur bekämpft, sozusagen den inneren Feind. Und bei jeder Kriegsauszeichnung sofort seinen feldgrauen Waffenrock hingehalten und dreimal »Hier!« geschrien. Aber scheint heute bekümmert zu sein. Jungechen, Jungechen: die Ulmen auf dem Kurfürstendamm sind sehr zurückgeschnitten worden in diesem Jahr. Kurze dicke Äste. Immer wenn ich da lang komme, muß ich an eine Reihe von Galgen denken, die warten. Soll ihm nebenbei auch sonst sehr gut gehen. Solch kartesianisches Taucherchen kommt immer wieder hoch. Liebenthal läßt ja zum Schluß doch keinen fallen. Und außerdem braucht er Strohmänner.

Es ist doch lächerlich, was guckt der Schutzmann immer rüber: man wird doch am Lützow-Platz noch auf ’ner Bank sitzen dürfen!

Also ... auf in den Kampf, Torero!

Der »olle« Mann will endlich aufstehen, knackt jedoch bei dem Versuch beinahe in den Kniekehlen zusammen, denn plötzlich hat er eine schwere Hand von der Seite her auf seiner Schulter, solche ganz dicke und breite, mit einem Polster von Handteller, und Fingern, jeder wie eine Zervelatwurst.

»Jott, Mensch, Fritz Eisner, beriehmter Mann! Was ist denn mit Ihnen los? Was sitzte denn so traurig uff de Bänke?!«

Fritz Eisner reißt den Kopf rum: natürlich kenne ich ihn! Und diese schmalzige Bärenstimme kann ja nur einer haben. Aber – wie heißt denn nur dieser Koloß eigentlich, dieser alte, aufgepustete See-Elefant, mit der dicken runden Nase und den Glubschaugen unter dem schiefen, viel zu kleinen Kneifer?! Mit dem einen Auge scheint er drüber, mit dem anderen drunter wegzugucken. Und mit der Wölbung des dicken Bauches, ... wie er sich den nur in all der Zeit bewahrt hat, ist ein Wunder; denn Bäuche sind selten geworden. Nicht einmal unter den Kriegsgewinnlern sind sie aufzutreiben ... mit diesem dicken Bauch aus dem offenen hängenden Lodenmantel?! Ach richtig, – das ist ja mein oller Berufszyniker wieder. Zwanzig Jahre kennen wir uns schon, aber wenn ich nur ahnte, wie er eigentlich heißt. Ob er immer noch Morphinist ist? Und wenn schon. So an die sechs- bis achtundfünfzig ist er ja schon dabei geworden. Zum Donnerwetter, – aber wie heißt er denn nur? Ich kann doch unmöglich, »Tag, Gummischweinchen!« zu ihm sagen. Denn so haben wir ihn doch immer genannt. Früher nämlich, da fiel er alle paar Stunden zusammen wie das sterbende Schweinchen auf dem Weihnachtsmarkt ... mal war’s ein paar Jahre gut, und dann war’s wieder ganz schlimm. Genau so wie ein sterbendes Gummischweinchen fiel er plötzlich zusammen. Nur daß er nicht gequietscht hat. Und dann ging er ’raus auf das WC oder rüber nach Hause in seine Praxis, machte sich so’n Spritzchen, ... wenn sich mal zufällig die Manschetten hochschoben, war da Stich bei Stich in den Armen ... und kam nach einer Weile wieder und war den ganzen Abend genau so prachtvoll wie immer. Denn prachtvoll ist er, ein piekkluger Bursche und grundanständig ... und ein ganz feiner und kultivierter alter Junggeselle mit wirklichem Sinn für alles, was gut ist. Er spielt nur so ab und zu den Pöbel, damit die Banausen nicht merken, daß er mehr ist. Und außerdem soll er ein fabelhafter Diagnostiker sein.

»Ach, Tag, lieber Herr Sanitätsrat!«

»Fangen Sie doch nicht gleich hier an zu schimpfen. Viereinviertel Jahr haben wir uns bald nicht gesehen ... fängt er gleich wieder an, auf mein Alter anzuspielen und mit beleidigender Äußerung deswegen gegen mich vorzugehen. Wissen Se, wat mir von all Ihre Biecher am meisten gefallen hat, das beste, was Sie bisher gemacht haben?!«

Fritz Eisner lächelt geschmeichelt. »Nein?«

»Daß Sie nich über den Saukrieg geschrieben haben«, brüllt der Koloß über den Lützow-Platz weg.

»Sch, stille, Herr Doktor!« ruft Fritz Eisner und denkt an den Schutzmann.

»Wat heißt hier heute noch: stille?! Es ist aber auch jut, daß Sie nicht draußen waren. Det wär nichts für Sie gewesen. Können Sie neidlos den andern überlassen. Ick hab’ doch den ganzen Vormarsch September 14 gleich mitgemacht, obwohl mir die Sache jarnischt anjejangen mehr hat ... nach meine Jahre. Aber vor mir als Arzt ist det was. Da lernt man wat draußen. Da sieht man wat. Früher, wenn einem die Gedärme raushingen, denn haben wir den Menschen angepatscht, und denn is er prompt tot gegangen. Jetzt lassen wir ihn fünf Tage ruhig liegen und kümmern uns nicht um ihn, und in sechs Wochen ißt er wieder Kartoffelklöße. Und haben Sie schon mal ’ne anständige Kieferoperation gesehen, wie man sie heute alle Tage macht?! Wo sieht man so wat in Frieden? Oder die Aufschlüsse, die die Gehirnverletzungen geben könnten, ob und inwieweit ein Zentrum die Funktionen von einem anderen übernimmt, wenn des zerstört is, ... na, wo hat man wieder zu so was Gelegenheit jehabt?! Ja also, den Vormarsch habe ich mitgemacht, nur ’n Rucksack hab’ ich mitgenommen. Mein Gepäck hab’ ich hinten gelassen. Haben Sie mich alle ausgelacht. Warum nehmen Sie ’n Rucksack, Herr Stabsarzt? Paßt uff, Jungens, hab’ ich zu de Offiziere gesagt, det kann ja nich so weiter jehn, Ihr werd alle beim Rückzug Euer Gepäck verlieren, und vielleicht noch janz was anders. Ich mit meinem Rucksack komm heil wieder raus aus’m Suppentopp. Und so ist es gewesen. Ich bin wieder rausgekommen. War denn auch mal ’ne Weile vorne im Graben. Aber des ist zu langweilig, ßu langweilig. Also denken Sie, Eisnerchen, Sie hocken da vorn in so’n Erdloch ... een Tag wie alle Tage und langweilen sich. Und plötzlich schmeißt einer mit Sand. Solange det Sand is, jeht’s ja noch. Eklig wird’s erst, wenn auch heiße Eisenstücke mit dabei sind. Und zuletzt war ich noch in Oberost in Minsk. Aber hat es mir nich jefallen. Und nu bin ich jetzt wieder nach Hause gegangen. Wir haben uns immer eingeredt: der Deutsche ist unbestechlich, is nich wahr. Es hat bei uns nie an Leuten gefehlt, die genommen hätten, nur immer an solchen, die gegeben haben.«

»Sagen Sie«, richtig, war das eigentlich das ›Gummischweinchen‹ oder wer sonst? »Sagen Sie, Herr Sanitätsrat, haben Sie nich mal anfangs gleich gesagt: Sie wollten als Schiffsarzt mit rüber nach England gehen?«, das kann doch nur er gewesen sein, denn er ist ja lange Jahre als Schiffsarzt gefahren.

»Ich?« Der Koloß bläht sich auf wie ein Ochsenfrosch. »Ich nach England? Mensch, Eisner, Sie sind wohl ooch so einer von de Zeitungspolitiker gewesen, die sich eingeredt haben, wir werden abends um zehne heimlich mit der Flotte nach Dover rüber fahren, den Nachtwächter von Dover verhaften, und England for besetzt erklären.«

»Nich so laut, Herr Sanitätsrat, Sie reden sich sonst um Ihren ...!«

Der Dicke drückt Fritz Eisner wieder auf die Bank ’runter, aber er denkt gar nicht daran, sein Organ herabzustimmen. »Wat denn? Der Blaue da drüben steht doch morgen ja gar nich mehr da. Heute können Sie schon sagen, wat Se wollen. Aber Sie sind viel ungeschickter gewesen. Stellen Sie sich da in eine öffentliche Versammlung für die Zivilinternierten hin und sagen vom Podium ’runter: ›Wir müssen wieder anfangen, uns schämen zu lernen‹, Mensch, wissen Sie denn nich, wenn een wilder Stier sich losgerissen hat, bleibt man hinter’m Zaun. Das hätte mal ein anderer tun sollen, der nich Fritz Eisner heißt? Der kam doch aus der Schutzhaft gar nich wieder raus. Aber bei Fritz Eisner wäre das peinlich aufgefallen. Woher ick dat weeß? Weil icks weeß.

Also kommen Se, Eisner, beriehmter Schriftsteller, wollen wir zusammen irgendwo ’ne Tasse Kaffee trinken gehen? Det hebt mein Renommee, wenn ick mit Ihnen gesehen werd. Oder nich? Nee?? Sie haben ooch wieder recht. Es ist gleich, ob wir Kaffee trinken oder keenen. Keen Kaffee schmeckt sogar besser.«

Der Koloß setzt sich nun langsam, – denn bisher stand er halb gebückt neben Fritz Eisner und hat ihm die Hand auf die Schulter gelegt, – langsam, aber die Bank biegt sich trotzdem, neben Fritz Eisner, und hält dabei dessen Schulter immer noch wie in einem Schraubstock.

»Wie jehts Ihnen eigentlich? Wissen Se, jetzt gefallen Sie mir viel besser, wie vor’m Krieg. Da waren Sie mir in letzter Zeit so’n bißchen körperlich, geistig und seelisch verfettet (verstehen doch: ›so der Künstler in seinem Heim!‹ dritte Seite in der Illustrierte). Des stand Ihnen nich. Jetzt sind Sie wieder schlank geworden und sehen unzufrieden aus ... und verliebt. – Das steht Ihnen besser. Nu sind Se glücklich. Nu sind Sie wieder der, auf den ich damals vor zwanzig Jahren mit dem Finger gezeigt habe, in den kleinen Café und gesagt habe: den ziehn wir uff! Un tipp topp sehn Se aus mit den Ulster ... Wie von de Stange?«

»Ach Gott, von unserer Runde damals sind wohl auch nich mehr viel da.« Fritz Eisner zählte still an den Fingern: tot, und tot ... und tot. Viel können es auch nicht mehr sein. »Erinnern Sie sich noch an den jungen Referendar, der wäre sicher mal als Lyriker berühmter geworden als als Rechtsanwalt, und der ist doch gleich in Belgien in den allerersten Tagen gefallen. Wer denkt heut noch an ihn? Und ist Ihnen vielleicht nochmal in letzter Zeit der Alte mit der Samtjacke über’n Weg gelaufen. Ich hab’ ihn nie mehr gesehen. Man hätte sich doch mal um den alten Kerl kümmern sollen. Wie wird er sich eigentlich über die Jahre durchgeholfen haben.«

Der Dicke nickt nur: »Jut«, grunzt er, »vorzüglich. Sein Weizen hat geblüht wie nie zuvor.«

»Und was macht er denn eigentlich?«

»Was er macht? Und Sie fragen noch? Kriegsgedichte!« ruft der See-Elefant mit einem Mund, als ob er das Wort ausspuckt. »Ejalweg Kriegsgedichte. Die ganze Front hat er langjedichtet. Nur der Reim auf Prsemssll21 ist ihm schwergefallen. Seit vier Jahren straft er England. Aber ich hab’ ihm schon den Tip jejeben. Er soll sich bei Zeiten auf Revolutionsgedichte umstellen, damit er den andern um ’ne Nasenlänge voraus is. Aber wat jeht mir der Mann an, die Hauptsache is, daß ich mich freue, dat’s Ihnen jut jeht.«

»Es geht mir aber wirklich nich so gut, Sanitätsrat, gesundheitlich wenigstens. Aber eigentlich schämt man sich heute, gesund zu sein. Eigentlich schämt man sich, nicht tot zu sein.«

»Weeß schon durch Kollegen Spanier. Der hat Sie ja öfter gesehen. Ich war leider damals schon draußen, wo er Sie zu mir geschickt hat. Aber kommen Se doch mal. Weeß schon. Sie reden sich ein: Sie haben Zucker. Haben auch welchen. Achtzig Jahr werdense mit. Aber Zucker, selbst so ’n bißchen Zucker war einfach Gold wert die ganze Zeit über. Selbst ein Toter ist nicht KV22 geschrieben worden, wenn er Zucker hatte. Jetzt aber, wo der Frieden ausbricht, und der Krieg ja doch zu Ende geht (oder glauben Sie das nicht?), da brauchen Sie des nich mehr so tragisch zu nehmen.«

»Meinen Sie wirklich, Herr Sanitätsrat, daß der Krieg schon zu Ende geht. Ich bin nicht so ganz davon überzeugt. Gott, allein schon der Gedanke, des Morgens aufwachen, und wissen: da draußen wird nicht mehr geschossen, vergast, nicht mehr in die Luft gesprengt, abgekehlt und mit Bajonetten in die lebenden Menschen hineingerannt; und das Trommelfeuer zerstampft nicht mehr die Menschen in Schlamm und Dreck, als ob es nur Regenwürmer wären. Schon der Gedanke, daß das aufhört, ist mehr wert als zehn verlorene Kriege. Aber warum soll eigentlich der Krieg aufhören? Das ist doch für die Herren da oben ein Krieg am laufenden Band. Haben Sie schon mal gehört, Doktor, daß die Schlachthäuser in Chicago aufhören, solange es in Buffalo Viehherden gibt?! Ich nicht.«

»Ach Gott, Fritz Eisner, Romanschriftsteller, Sie haben wohl die janzen letzten Monate geschlafen? Die da oben schreien ja auch schon von ›unnützem‹ Blutvergießen ... als ob es vorher ein nützes Blutvergießen gegeben hätte. Ihr erster Direktor hat ’n Nervenzusammenbruch. Er braucht keine Angst zu haben. Die Deutschen sind keine Franzosen und er is kein MacMahon.23 Aber, wenn ick zu einem Kind komme, das ’ne schwere Diphtherie hat, denn frage ich doch auch nich mehr die Diphtheriebazillen, ob ich ’ne Serumspritze machen darf ... Also ich meinte nur, wie’s Ihnen so jeht? Zu Hause? Und überhaupt? Und die Kinder? Un Ihre liebe Frau? Die lebt doch jetzt die janze Zeit gar nich mehr hier. Da unten wo am Rhein oder am Neckar, wenn sie mir richtig erzählt haben. Landschaftlich sehr schön. Wissen Sie, wat hier so das Schönste an de Gegend is? Nee? Hier is gar keene Landschaft. Da stört Se einen auch nicht. Wenn schon, denn schon. Entweder Rio oder Colombo oder Haiti oder Ravello und Pästum ... oder jar nischt. Des andere sind doch alles bloß halbe Sachen. Aber wie geht’s so zu Hause?!«

Fritz Eisner zuckt mit den Schultern. Er schätzt derartige Herz- und Nierenfragen nicht.

»Sagen Se mal, Sie haben doch früher immer mit Trara behauptet, das Theater wäre Tempelschändung am Jeist der Dichtung oder so. Reden Sie nich, Eisner: det haben Sie jesagt. Ich merk mir so was. Mit einemmal entdecken Sie die Bühne als unmoralische Anstalt (oder hat das Schiller anders genannt?). Jedesmal, wenn ich jetzt ins Theater komme, wen sehe ich mit so’ne Stielaugen? Das raten Sie gar nicht! Na, ick hab’ mich nicht zu erkennen gegeben. Man stört doch nicht gerne. Wer ist denn eigentlich die junge, schöne, große, schwarze und elegante Person, mit der Sie da immer jetzt rumziehen? Also ich weiß schon. Brauchens mir gar nich zu sagen. Und mit Ihre Jahre, Fritz Eisner! Fritz Eisner, des jeht nich gut aus! So wat endet mit Ehe. Oder erst mal mit Scheidung. Na ja, det vorige Mal, da ist bei Ihnen nichts Ordentliches gewesen. Wer kann vor Unglück?«

Fritz Eisner streitet es nicht ab: Ehescheidungen wären sehr einfach, wenn es keine Kinder gäbe. Aber was soll aus denen werden?

»Na, glauben Sie etwa, daß Kinder besser in einer schlechten Ehe aufwachsen, als in gar keiner? Ich finde immer, Walderdbeeren sind kleiner, aber sie schmecken besser als