Nowhere to run - Michael Krausert - E-Book

Nowhere to run E-Book

Michael Krausert

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Beschreibung

Die Reise geht weiter. Trotz Umekos Verschwinden müssen Nobu und seine Freunde nach Tokio gelangen. Gerade noch hatten sie darüber nachgedacht, ein Maid-Café nach dringend benötigten Vorräten zu durchsuchen. Doch plötzlich, wie aus dem Nichts, erschüttern zwei gewaltige Explosionen die Luft. Der eiserne Griff der gefürchteten Yakuza schließt sich nun unaufhaltsam um sie. Doch damit noch nicht genug: Ein gewaltiges Erdbeben erfasst das gesamte Land, seine erschütternde Wucht lässt die Erde und den Himmel erzittern. Die Landschaft zerreißt, Gebäude stürzen ein und die unerbittliche Natur scheint ihren Zorn über die Unerschrockenen zu entfesseln. In „Nowhere to Run“ wird jeder an seine Grenzen gebracht.

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Seitenzahl: 431

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Nowhere to run

1. Auflage, erschienen 07-2023

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: Michael Krausert

Layout: Romeon Verlag

ISBN (E-Book): 978-3-96229-627-8

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Jüchen

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Gewissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Michael Krausert

NOWHERETO RUN

INHALT

Kapitel 1 Bekannte Umgebung

Kapitel 2 Endlich frei

Kapitel 3 Ein kleines Spiel

Kapitel 4 Runde zwei

Kapitel 5 Vorbote

Kapitel 6 Schlechte Neuigkeiten

Kapitel 7 Rei und Jinpei

Kapitel 8 Daisuke und Harui

Kapitel 9 Vier von fünf

Kapitel 10 Geisterhaus

Kapitel 11 Erschreckende Wahrheit

Kapitel 12 Samuel

Kapitel 13 Die verlorene Wette

Kapitel 14 Waisenhaus

Kapitel 15 Versprechen

Kapitel 16 Gewonnen und doch verloren

Kapitel 17 Ohne Nobu

Kapitel 18 So viele Bücher

Kapitel 19 Ein simpleres Leben

Kapitel 20 Bosozoku

Kapitel 21 Interviews

Kapitel 22 Endlich allein

Kapitel 23 Noah

Kapitel 24 Rundgang

Kapitel 25 Letzter Wunsch

Kapitel 26 Hannah

KAPITEL 1 BEKANNTE UMGEBUNG

Auch in Okayama gab es, wie überall, keine Anzeichen dafür, dass Umeko dort gewesen sein könnte. Selbst nach der Bitte, nicht nach ihr zu suchen, kamen sie nicht umhin, immer wieder nach Spuren von ihr Ausschau zu halten. Während sie Tokio um einiges näher gekommen waren, hatte sich auch „das Nichts“, eine schwarze Masse, die sich seit über einem Jahr unaufhaltsam über die Erder ausbreitet, seinen Weg gebahnt. Wenn der Rest ihres Weges genauso ruhig wie die letzten zwei Wochen verlaufen würde, hätten sie noch genug Zeit, um nach Tokio zu gelangen.

Der einzige Zwischenfall hatte sich vor fünf Tagen ereignet. Für die Nacht hatten sie sich in einem Haus niedergelassen. Noch vor der ersten Nachtwache hatte sich ein Rudel Wölfe im Vorgarten versammelt. Der Geruch des Fleisches, das es zum Abendessen gab, hatte sie angelockt. Es waren insgesamt 7 Tiere, die vor der Haustür auf und ab tigerten und auf eine Gelegenheit zuzuschlagen warteten. Am nächsten Morgen war das Rudel weitergezogen, nicht aber ohne die Gruppe noch für eine ganze Stunde aufzuhalten. Indem sie noch eine Weile vor der Tür campierten. Erst danach hatten sie es aufgegeben und sich neue Beute gesucht.

Selbst die Tempelritter waren in den letzten zwei Woche unauffällig gewesen. Der Adler mit dem Bild und dem achten Gebot war ihre letzte Botschaft gewesen. Aus den Köpfen der Kinder waren sie aber noch lange nicht verschwunden. Ihre Geschenke erinnerten sie jedes Mal aufs Neue wieder an ihre Existenz. Ob Nobu, der bei jeder Erwähnung von Schach an den mysteriösen Großmeister Noah denken musste. Oder Rei, die bei jedem Beerenstrauch an ihr Geschenk, den roten Lippenstift in schwarzer Halterung, erinnert wurde. Daran wie sie selbst in den intimsten Momenten nichts vor ihnen verstecken konnten. Die Templer hatten sich in die Köpfe der Jugendlichen gefressen.

Jeden Abend, bevor sie schlafen gingen, überprüften sie noch einmal, ob ihre Waffen geladen und entsichert waren. Auch wenn es nach dem Vorfall in der Sternwarte zu keiner gewaltsamen Auseinandersetzung mehr kam. Für den Ernstfall wollten sie auch weiterhin gewappnet sein.

Ein kleines Apartment sollte ihnen in dieser Nacht Unterschlupf bieten. Die Gegend war auch vor dem Verschwinden der Menschen kein allzu schöner Ort gewesen. Da er zu den von Banden kontrollierten Vierteln gehörte. Überall befanden sich Graffitis an den Wänden sowie Müll, der in jeder Ecke herumlag. Besonders die Wohnung selbst erinnerte die Zwillinge an ihr eigenes Zuhause, das inzwischen vom „Nichts“ verschlungen worden war. In allen Zimmern war Müll verteilt, der bereits angefangen hatte zu stinken. In der Luft hing der Gestank von Urin, Alkohol und Tabak. Die Wohnung eines Messies wäre ein Traum dagegen gewesen.

Als sie die Tür aufbrachen, mussten sie erstmal schwer schlucken, sie wollten die Wohnung nicht sofort betreten. Lieber hätten sie noch weitere aufgebrochen, das wäre jedoch nicht sehr erfolgversprechend gewesen. Nobu war sich sicher, dass die anderen Wohnungen in dieser Gegend nicht viel besser ausgesehen hätten. Allerdings waren solche Wohnungen am leichtesten zu knacken. In den letzten Tagen waren sie öfter in Häuser eingestiegen, um die Nacht dort zu verbringen. Die Türen dort waren immer schwer aufzubrechen gewesen. Diese Billigwohnungen hingegen konnte man leicht aufbrechen. Niemand besaß viel, das zu stehlen sich gelohnt hätte. Sicherheit war darum nicht sehr großgeschrieben, sondern wurde gerne auch mal mit den Fäusten geregelt.

Erst nachdem der erste Mief verflogen war, betraten sie den Eingangsbereich, womit sie auch schon halb im Wohnzimmer standen. Es war eine sehr kleine Wohnung, alles war in einem Raum vereint. Einzig das Bad und die Schlafzimmer waren in separaten Räumen. Drinnen verbarrikadierten sie die Tür mit einem Sofa und zusätzlich noch einem Regal. Vor die Fenster zogen sie Vorhänge, kippten diese aber, um ein wenig Frischluft zu bekommen. Im Kühlschrank befand sich nur eine angefangene Packung mit einer Fertiglasagne, die schon ewig da drinstand. Lasagne war Nobus Lieblingsessen, dennoch verging ihm bei diesem Anblick jeglicher Appetit. Ein grüner Pelz hatte sich darüber ausgebreitet.

„Ich kann einfach nicht verstehen, wie jemand in so einem Saustall leben kann.“ Harui und Jinpei fühlten sich persönlich angesprochen. Das merkte Rei auch und berichtigte sich gleich darauf in ruhigem Ton. „Bei euch war das was anderes. Ihr musstet in so einer Wohnung leben und hattet keine andere Wahl.“

„Ihr hättet ausziehen können“, sagte Nobu trocken.

„Und wo hätten wir dann bitte hingehen sollen?“ Jinpei war aufgewühlt, was hauptsächlich daran lag, dass der Kommentar von Nobu stammte. Nach Umekos Verschwinden waren die beiden noch schlechter aufeinander zu sprechen als ohnehin schon.

„Ich bin mir sicher, dass euch jeder von uns aufgenommen hätte“, entschärfte Daisuke die Sache nur an der Oberfläche. Den Hauri musste an die vielen Wochenenden denken, die sie bei ihrer besten Freundin verbracht hatte, um aus genau so einer Umgebung zu fliehen. Doch jetzt gab es diesen Rückzugsort nicht mehr und sie bekam jede Menge Flashbacks an die Zeit von vor 2 Monaten. Ohne es zu bemerken, fing sie an, am ganzen Körper zu zittern. Nobu erkannte die Situation und wollte etwas unternehmen. Doch da er nicht einfach so die Einrichtung oder Struktur der Wohnung ändern konnte, begann er den Müll wegzuräumen und allgemein sauber zu machen. Seiner Schulter ging es inzwischen wieder einigermaßen gut. Vor zwei Wochen steckte in seiner rechten Schulter ein benutztes Küchenmesser. Die Wunde wurde jedoch so gut wie möglich von Rei versorgt. Jetzt hatte er nur noch selten Schmerzen, meistens dann, wenn er in der Nacht besonders unbequem gelegen hatte. Die anderen verstanden sein Vorhaben und packten mit an. Da es nur zwei Mülleimer in der ganzen Wohnung gab, die auch schon zum Bersten gefüllt waren, räumten sie alles, was nach persönlichen Gegenständen aussah, in eine Ecke. Solange man nicht dorthin sah, kam einem die Wohnung relativ ordentlich aus. Der Rest, wie zum Beispiel Plastikverpackungen oder leere Flaschen, warfen sie einfach aus dem Fenster.

„Wird sowieso bald vom ‚Nichts‘ verschluckt“, sagte Rei sich, um die Umweltverschmutzung, die ihr früher immer absolut zuwider war, zu rechtfertigen. Je mehr die Menschen die Natur zumüllten, desto weniger Lebensraum hatten die Tiere, die sie und ihr Vater so sehr liebten.

Stück für Stück wurde die Wohnung ordentlicher und Haruis Zittern ließ langsam nach. Bis alles ordentlich aussah, konnte man ohne künstliches Licht nichts mehr sehen, da die Sonne bereits untergegangen war.

Um keine Aufmerksamkeit mehr zu erzeugen, machten sie sofort das Licht aus, als sie mit dem Aufräumen fertig waren. Ihr Abendessen nahmen sie nur im Licht der Flamme des Gasherdes zu sich.

Harui und Jinpei schmeckte das Essen anders, obwohl es dasselbe Fertigessen wie auch schon die letzten Wochen war. Sie hatten wieder das Gefühl, in ihrem alten Zuhause zu sein. Während es normal besser schmeckte, wenn man zu Hause war, schmeckte es für sie dort immer am schlechtesten. Manchmal haben sie es deswegen einfach ausgelassen. Es gab einfach zu viel, das sie an ihr altes Leben erinnerte. Trotz der Tode und der ganzen Gewalt, die sie erleben mussten, hatte sich ihr Leben in den letzten zwei Monaten um Welten verbessert. Gegen ihr früheres Leben würden sie es niemals eintauschen wollen. Die Schule und auch die Freunde, die sie dort hatten, waren immer schön. Dennoch hatten sie immer im Hinterkopf, dass sie irgendwann zurück zu dem Freund ihrer Mutter mussten, welcher sie immer wieder misshandelt hatte.

Vor drei Jahren lernten Harui und Jinpei Masahiro das erste Mal kennen. Er war der letzte Freund ihrer Mutter, bevor sie Selbstmord beging. Anfangs wirkte er noch ganz nett.

Er und ihre Mutter warteten schon in der Wohnung, als die Zwillinge gemeinsam von der Mittelschule kamen. Er war ein stämmiger Mann, Mitte 40 mit einem schwarzen Kurzhaarschnitt, der gerade aus der Armee ausgetreten war. Sie waren von Beginn an von ihm abgeschreckt, und als sie sich an ihn gewöhnt hatten, fing das Misshandeln an. Um mit ihrer Mutter zusammenzukommen, hörte er zeitweise mit dem Trinken auf, konnte aber nicht lange abstinent bleiben. Als er dann wieder damit begann, hatte er sich nicht mehr unter Kontrolle. Auch wenn er mal nüchtern war, versuchte er erst gar nicht sich zu kontrollieren. Er hat sie geschlagen, getreten und alles mögliche andere. Meistens nur wenn sie in seinen Augen einen Fehler gemacht hatten. Wie zum Beispiel, dass sie zu laut ein Zimmer verließen oder betraten oder er keinen Alkohol mehr hatte und sie ihm welchen bringen sollten. Manchmal tat er ihnen aber auch nur so die grausamsten Dinge an. Den Gedanken zur Polizei zu gehen hatten sie überhaupt nicht, sie fürchteten sich davor, nicht ernst genommen zu werden. Sie befürchteten auch, dass er es rausfinden würde und ihnen als Strafe noch viel schlimmere Dinge antun könnte.

Als sie dann endlich in die Oberschule kamen, hatten sie es gerade so mit den schlecht möglichsten Noten geschafft. Für Jinpei wurde es selbst in der Schule, die früher für die beiden ein schöner Ort war, schnell zur Hölle. Er kannte das alles zwar schon, es hatte ihn aber noch mehr gebrochen. Er dachte, es würde auf der ganzen Welt niemanden geben, der ihm oder seiner Schwester helfen könnte.

Schon recht zügig wurde er dann allerdings vom Gegenteil überzeugt, als Nobu und Daisuke ihm halfen die Mobber loszuwerden. Nachdem sie ihm dort geholfen hatten, lief er ihnen eine Weile nach, bis sie ihn gefragt haben, ob er mal was mit ihnen machen möchte. Das war der Zeitpunkt, als er fragte, ob er seine Schwester mitnehmen könnte. Obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch nichts von der Misshandlung wussten, stimmten sie zu. Harui hatte sich zu dieser Zeit auch schon mit Umeko angefreundet und wollte sie ihrem Bruder vorstellen. Am Ende gingen sie dann zu fünft zum Bowling. Auch danach hatten sie zusammen noch sehr viel Spaß. Damit hatten sie zwar eine Blase aus Freundlichkeit um sich herum, doch wenn sie nach Hause kamen, ging das Leiden weiter. Es dauerte danach nicht mehr lange, bis alle davon erfuhren. Jeder riet ihnen zur Polizei zu gehen, aber sie hatten noch immer zu viel Angst davor, was alles hätte schiefgehen können.

Von all diesen Gefühlen wurden sie in dem Moment erschlagen. Ihnen war klar, dass sie ohne die Misshandlung ihre jetzigen Freunde, außer Umeko, vermutlich nie kennengelernt hätten. Trotz der vielen schrecklichen Dinge, die sie durchmachen mussten, sahen sie vor allem die schönen Dinge, die ihnen widerfahren waren.

„Was, denkst du, ist ihr wirkliches Ziel?“ Jinpei und Harui hatten mittlerweile gemeinsam Nachtwache. Nobu, Daisuke und Rei, die Einzigen, die bereit waren allein Nachtwache zu halten, vertraten der Meinung das die beiden keinen „Großen“ mehr an ihrer Seite brauchen würden. Dennoch wollten sie sie nicht allein Wache halten lassen.

„Von wem redest du?“ Harui merkte, dass Jinpei immer noch an Umeko denken musste. Er war, seitdem sie verschwunden war, fast jeden Abend wach, um nach ihr Ausschau zu halten. Auch in dieser Nacht schaute er nur aus dem Fenster in der Hoffnung, dass Umeko auf der Straße auftauchen würde. Er hatte die Hoffnung, dass sie wieder zurückkommen würde, noch nicht aufgegeben.

„Das ist doch wieder eine ihrer kleinen Streiche, sie kommt wieder. Umeko möchte nur sehen, wie lange wir es ohne sie aushalten können.“ Das war immer die Antwort, die er gab, wenn ihn jemand fragte, wieso sie überhaupt gegangen war. Je öfter er die Antwort gab, desto missmutiger war ihm zumute. Mittlerweile glaubte er selbst nicht mehr an das, was er sagte, er hoffte es einfach nur noch. Er sah richtig fertig aus, so als hätte er schon seit Tagen nicht geschlafen. Darum war sie es, die es diesmal zu ihm gesagt hatte.

„Ich rede von den Tempelrittern, was, glaubst du, ist ihr wirkliches Ziel, wofür gibt es sie überhaupt?“ Seine Schwester war überrascht so etwas von ihm zu hören. Das war das erste Gespräch mit ihm seit zwei Wochen, das sich nicht um Umeko drehte.

„Soweit ich weiß, ist ihr momentanes Ziel, Nobu mitzunehmen.“

„Das meine ich nicht.“ Jinpei war es inzwischen egal, ob Nobu von ihnen entführt werden soll. Für ihn war er der Grund für alles, das passierte. Wegen ihm mussten sie sich zu Fuß auf den Weg nach Tokio machen. Wegen ihm wurden sie immer wieder in lebensgefährliche Kämpfe verwickelt. Und wegen ihm verließ Umeko die Gruppe. Jinpei wäre sogar froh, wenn Nobu endlich aus seinem Leben verschwinden würde. „Dafür wurden sie nicht gegründet, und ich kann einfach nicht glauben, dass sie nur gegründet wurden, um die Welt von Ungläubigen zu befreien.“

„Das weiß ich nicht, ich denke auch, dass es nichts bringt sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wir würden es vermutlich sowieso nie begreifen können.“ Sie hoffte nur, dass sie es alle fünf sicher nach Tokio schaffen würden. Sie lehnte sich an der Schulter ihres Bruders an, so wie sie es früher schon immer getan hatte, wenn es ihr schlecht ging und die beiden unter sich waren. Als Kind fand Jinpei das immer peinlich. Doch jetzt war er es, der die Geborgenheit von anderen gebrauchen konnte.

Als Nächstes hatte Daisuke allein Nachtwache. Für ihn war das kein Problem mehr. Bis auf die beiden Zwillinge hielten nun alle allein Nachtwache. So wurden die Zeiten kürzer und jeder konnte länger schlafen.

Anders als seine immer gut gelaunte Miene ahnen ließ, war er derjenige, der sich mit am meisten Sorgen über das Gelingen ihrer Reise machte. Um sich die Zeit bis zur Ablösung ein wenig zu verkürzen, machte er das, was ihn Ishikawa einmal lehrte, wenn er auf andere Gedanken kommen wollte. Es war ein alter Armeetrick, der von seinen Vorgesetzten genutzt wurde. Eigentlich war er dazu gedacht, Soldaten, die sich nicht benommen hatten, zu bestrafen. Doch im Einsatz machten es laut seinen Aussagen viele, die unter Stress standen, um diesen abzubauen. Er selbst gehörte auch dazu. Daisuke konnte ihm das nie wirklich glauben, da er immer so wirkte, als könnte ihm nichts etwas anhaben. Aber jetzt verstand er sehr gut, was in ihm vorging. Zumindest dachte er das. Doch konnte er selbst in seiner aktuellen Lage nicht erkennen, was alles hinter Ishikawa lag, all die Dinge, die er gesehen oder getan hatte, nur damit Daisuke so aufwachsen konnte, wie er es tat.

All diese Kriege lagen so weit in der Vergangenheit. Der Junge hatte keinen von ihnen miterleben müssen. Dafür hatte er nun seinen ganz eigenen Krieg. Um sich davon abzulenken, begann er damit seine Waffe zu demontieren und zu säubern. Doch alles, was er wollte, war noch einmal ganz gemütlich im Bett liegen bleiben und gemeinsam mit Nobu die Schule zu schwänzen. Selbst wenn er dafür Ärger bekommen würde. Egal ob von Ishikawa wie früher oder seiner Freundin, die schon immer Wert darauf legte, dass sie die Schule besuchten. Die Zeiten, in denen die beiden gemeinsam die Schule schwänzten, waren weniger geworden, seitdem sie Rei kannten. Einfach mal wieder einen Tag Auszeit vom ganzen Alltag nehmen und das machen, was ihnen Spaß bereitete. Es war genau das, was er jetzt gerne tun würde. Doch würde er einfach so vor seinen Pflichten davonrennen, würden seine Freunde vielleicht sterben.

Wieder zusammengebaut lag die Waffe in seinen Händen, alles, was noch fehlte, war, das Magazin einzufüllen. Anstatt dass er es tat, schaute er die beiden Teile kurz an, bevor er sie auf den Stuhl neben sich legte und zum Kühlschrank ging. Er war leer, was nicht anders zu erwarten war. Einzig das klinisch weiße Licht strahlte ihn an. Er schloss die Tür und in der Hoffnung, dass nun etwas zu Essen darin war, öffnete er sie erneut. Doch weiterhin herrschte Leere.

Wieder erinnerte ihn das an ein Gespräch mit Ishikawa.

„Wusstest du, dass man am Inhalt des Kühlschranks erkennen kann, wie ein Mensch so drauf ist.“ Es war einer der Tage, an denen Daisuke minutenlang vor der geöffneten Kühlschranktür stand und sich nicht entscheiden konnte, was er nehmen sollte.

„Nein, das wusste ich nicht.“ Damals gingen ihm diese ganzen weisen Sprüche auf die Nerven, alles, was er wollte, war etwas zu Essen und jetzt musste er sich wieder einen Vortrag über die Weisheiten des Lebens anhören. Was würde er jetzt nicht alles für einen dieser Sprüche, die ihm sagen, was er zu tun hatte, geben.

„Wenn der Kühlschrank leer ist, bedeutet das, dass sein Besitzer einfach in den Tag hinein lebt und nicht an morgen denkt. Ein mit leckeren Speisen gefüllter Kühlschrank hingegen bedeutet, dass die Person voller Hoffnung und Zuversicht in die Zukunft schaut und ihren Träumen hinterherjagt.“

„Was bedeutet das dann in deinem Fall?“

„Das ich ein armer Schlucker bin, der zu wenig Geld hat.“ Ishikawa lachte und tätschelte dem Jungen den Kopf, bevor er ihm einen Pizzakarton vors Gesicht hielt. Daisukes Augen strahlten wie die Sterne am Nachthimmel. Er riss den Karton an sich und rannte schnell ins Wohnzimmer, um dort bei seinem Lieblingsanime „One Piece“ die Pizza zu verschlingen. Es war zwar nur die Wiederholung einer Folge, die er bereits kannte, doch trotzdem konnte er mit den Strohhüten mitfiebern. Nie hatte er auch nur eine Folge davon verpasst. Selbst vor dem ganzen Chaos schaute er noch gespannt jede neue Folge. Sogar am Tag vor alldem war seine größte Sorge, die neueste Folge zu verpassen.

Bis heute verstand er nicht, was ihm der alte Mann damals damit sagen wollte. Stattdessen hatte es in ihm den Heißhunger auf eine leckere Pizza und auf die neueste Folge „One Piece“ geweckt. Wie gerne würde er jetzt einfach in diese Welt eintauchen und gemeinsam mit Ruffy und dem Rest der Crew ihr neuestes Abenteuer bestehen.

Zurück in der Realität ging er zu dem Stuhl, auf dem er die Waffe und die Munition abgelegt hatte. Jetzt endlich nahm er sie und steckte das Magazin ein, bevor er durchlud. Danach setzte er sich auf den Stuhl und starrte auf die Pistole in seiner Hand. Er würde sie so gerne gegen ein einziges Stück Pizza mit schön viel Belag und extra Käse tauschen. Sogar sein Magen hatte sich bereits darauf eingestellt Pizza zu bekommen und fing enttäuscht an zu knurren.

Als Nobu zur Wachablösung kam, merkte er, wie müde und hungrig Daisuke doch war.

„Wenn jemand klingelt und eine Pizza dabeihat, lass ihn bitte rein und weck mich“, bat er Nobu, bevor er schläfrig zu Rei ins Bett stieg. Diese war ebenfalls so müde gewesen, dass sie nicht dadurch aufwachte. Trotzdem bemerkte sie, dass jemand mit ihr im Bett war, und kuschelte sich an ihn.

„Wenn hier ein Pizzabote klingeln würde, würde ich ihn mit offenen Armen willkommen heißen. Aber das wird wohl leider nicht passieren“, dachte Nobu sich.

Nobu grübelte nicht über die Vergangenheit, die sich nicht mehr ändern ließ. Viel lieber wollte er dafür sorgen, dass die Zukunft genauso schön werden würde wie die Zeit vor der Apokalypse. Wieder einmal schaute er sich die Schachfigur, die er von den Tempelrittern bekommen hatte, an. Immer wieder, wenn er allein war oder sich fragte, wovor sie überhaupt wegliefen, betrachtete er sie. Das „Nichts“ war zwar nicht aus seinen Gedanken verschwunden, wurde aber von den Templern und ganz besonders diesem mysteriösen Noah überschattet. Für ihn waren sie die wichtigere Bedrohung, eine, vor der man nicht einfach fliehen konnte. Einmal in Tokio angelangt würden sie alle in der Höhle des Löwen sitzen. Sein Vater hatte ihm zwar gesagt, dass sich das Hauptquartier der Ritter im Vatikan befand, doch fand er Tokio bedeutend gefährlicher. Im Vatikan war klar, dass jeder eine Bedrohung war, in Tokio konnte jeder Feind aber auch Freund oder ganz einfach nur ein Statist am Rande sein.

Wie jedes Mal untersuchte er die Figur genauestens, immer hoffte er irgendeinen neuen Hinweis zu finden. Er hatte auch schon versucht den Boden abzudrehen, wie es in einigen Filmen zu sehen ist. Doch es funktionierte nicht, außerdem hörte sich die Figur massiv an. Nicht so, als wäre innen ein Hohlraum, in dem jemand eine Nachricht verstecken könnte. Das Einzige, was er jedoch jedes Mal erkannte, war, dass sie schon sehr alt sein musste. Vielleicht sogar ein Familienerbstück einer früheren Adelsfamilie, so schön und filigran, wie sie bearbeitet war.

„Die müssen sich ja so einiges auf meine Fähigkeiten einbilden. Dabei war ich noch vor wenigen Wochen nichts mehr als ein einfacher Schüler.“ Er hielt kurz inne und seufzte. „Aber ich nehme die Herausforderung an, wer auch immer dieser Noah sein mag. Ich werde ihn finden und ihm diese Figur in seine toten Hände legen.“ Er hoffte jedoch, dass seine Freunde nicht der Preis dafür sein würden, um dieses Versprechen einzulösen.

Plötzlich begann sein Magen zu knurren.

„Verdammt, Daisuke, jetzt hast du sogar mir mit deinem Gerede über Pizza Hunger gemacht.“ Er ließ den Kopf in den Nacken fallen und starrte an die Decke. Dass sie unterernährt waren, wusste er, doch bis jetzt konnte er es immer gut unterdrücken. Aber nun musste er ununterbrochen an das leckere Essen von früher denken. Noch zu gut hatte er all die 3-Gänge-Menüs aus der Zeit in der Villa, Umekos Zuhause, im Kopf.

„Wie stark hat sich unsere Essgewohnheit bitte in der kurzen Zeit geändert? Und wieso mussten wir ausgerechnet in die Wohnung mit einem leeren Kühlschrank einbrechen?“ Er dachte sich, wenn sie sich in einer anderen Wohnung eingenistet hätten, dass dort ein gedeckter Tisch mit vollen Tellern und jeder Menge Nachschub auf sie wartete. Der Gedanke daran, dass in der Wohnung direkt neben ihnen ein Festmahl bereitstand, ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Doch die Einzigen, die ihn vermutlich mit einem Festessen überraschen würden, wären seiner Meinung nach die Templer. Bei dem Gedanken, dass sie direkt in der Nachbarwohnung saßen, verging ihm der Appetit sofort wieder. Er versuchte sich wieder auf andere Gedanken zu bringen, doch selbst die Schachfigur in seiner Hand erinnerte ihn jetzt an einen Schokoriegel.

Als Nobu nach seiner Schicht Rei wecken wollte, sah er, dass sie sich eng an Daisuke gekuschelt hatte. Die Blutergüsse, die sie durch die Schießerei vor etwas mehr als zwei Wochen hatte, verschwanden langsam. Dennoch musste sie aufpassen ihren Rücken nicht zu sehr zu beanspruchen. Auch musste Daisuke aufpassen, wenn er sie umarmte, denn dabei durfte er sie nicht zu fest drücken, da er ihr sonst wieder wehtat.

Nobu passte auf, dass er Daisuke nicht mit aufweckte. Doch dieser war so müde, dass er überhaupt nichts mitbekam.

„Wenn du irgendwie ein Festmahl zustande bekommst, wäre ich dir echt dankbar. Ich bin am Verhungern.“ Er begann leicht zu lachen.

„Sonst noch Wünsche?“ Der sarkastische Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

„Nein, das wäre erstmal alles.“

„Na dann, versuch lieber noch ein bisschen zu schlafen, anstatt über sowas nachzudenken.“

KAPITEL 2 ENDLICH FREI

Am Morgen wurden alle von dem Geruch von Räucherpaprika geweckt, der aus der Küche stammte. Es war jedoch nicht der übliche Geruch, der sie am Morgen erwartete, er war noch mit etwas anderem gemixt. Im Wohnbereich angekommen, sahen sie einen Kochtopf auf dem Gasherd stehen. Wasserdampf stieg daraus empor, für alle das Zeichen, dass es gleich so weit sein würde. Daneben auf der Anrichte stand der Grund für den andersartigen Geruch, eine Palette an Gewürzen, die Rei offenbar noch in ein paar der Schränke gefunden haben musste. Die Fertiggerichte, die es nun zu jeder Tageszeit zu essen gab, egal wie ungesund sie eigentlich waren, wurden damit geschmack- und geruchlich aufgebessert.

„Was riecht hier denn so gut?“, wollte Daisuke wissen.

„Auf jeden Fall keine Pizza“, meinte Nobu scherzhaft. Die anderen verstanden den Witz nicht und ignorierten ihn. „Du hast mir damit ganz schön Hunger gemacht, du Arsch“, fügte Nobu noch hinzu.

„Gut so, ich will nicht der Einzige sein, dem der Magen in der Kniekehle hängt.“

„Aber jetzt gibt es ja was zu essen, also setzt euch hin und gebt Ruhe.“ Rei war diejenige, die die Lage letztendlich beruhigte.

„Ja Mama“, kam es simultan von Nobu und Daisuke.

Als Reaktion funkelte Rei die beiden böse an, woraufhin niemand mehr etwas sagte und alle sich hinsetzten.

Rei schmeckte noch einmal ab, um danach zufrieden den Herd abzustellen. Sie stellte den Topf auf einige Topflappen, die sie auf dem Tisch, der gestern noch voll mit Müll war, ausgebreitet hatte. Dort ließ sie den Inhalt erstmal ein paar Minuten abkühlen.

In der Zwischenzeit packte sie die Gewürze, die nicht aufgebraucht waren, in ihre Tasche. Die Mühe, die Küche aufzuräumen, sparte sie sich und gesellte sich zu den anderen.

Schon beim ersten Bissen fiel allen auf, was das Hauptgewürz war, Chilipulver. Direkt waren alle wach und nahmen vergnügt einen zweiten und dritten Löffel davon in den Mund.

„Warum hast du eigentlich früher nie für uns gekocht?“, wollte Daisuke mit vollem Mund wissen.

„Ich hatte schon vor, euch irgendwann mal einzuladen, aber eben erst nach den Prüfungen“, erwiderte sie.

„Wieso denn erst danach, wie wäre es zum Beispiel mal mit einer Lerngruppe gewesen, auch wenn ich vermutlich der Einzige von uns dreien gewesen wäre, der da wirklich was gelernt hätte.“ Es war ihm überhaupt nicht peinlich so etwas zuzugeben, immerhin waren seine beiden Freunde die größten Genies des Jahrgangs.

„Es hätte ja nicht bei uns drei bleiben müssen. Ihr hättet auch kommen können“, Nobu zeigte auf die Zwillinge, „auch wenn ihr einen Jahrgang unter uns seid. Das wäre bestimmt eine gute Wiederholung gewesen.“ Er hatte es zwar nicht direkt gesagt, doch wusste jeder, dass er auch Umeko einbezogen hatte. Jeder hatte bisher aufgepasst, was er sagte. Auch wenn ihr Verschwinden schon zwei Wochen her war, traf es die beiden noch immer hart. Die Älteren wiederum hatten sich bereits damit abgefunden, dass sie nie wieder zurückkommen würde. Es war damals ihre eigene Entscheidung gewesen, die Gruppe zu verlassen, nachdem ausversehen zweimal auf Daisuke geschossen hatte.

„Das hätten wir machen können, da hast du Recht. Da habe ich überhaupt nicht dran gedacht“, unterbrach Rei die aufgekommene Stille.

„Wie, denkt ihr, wird es mit Prüfungen und so weitergehen, wenn wir in Tokio sind. Denkt ihr, sie machen einfach so weiter, als wenn nichts gewesen wäre?“, änderte Jinpei das Thema zu einem, über das er lieber reden wollte.

„Ich denke mal, sie werden erst schauen müssen, wie alles mit so vielen Menschen auf so engem Raum funktioniert. Und vielleicht werden wir auch ohne Abschluss direkt in die Berufe geschickt, für die wir geeignet sind, oder die gerade am wichtigsten sind, einfach nur weil dort Personalmangel herrscht“, meinte Nobu.

„Aber wird es nicht überall Personalmangel geben?“, gab Harui zu Bedenken.

„Nicht unbedingt, sie werden sich erstmal auf die Bereiche konzentrieren, die fürs Überleben wichtig sein werden. Wie zum Beispiel die Forschung oder auch die Landwirtschaft“, brachte sich Rei in das Gespräch mit ein.

„Dann sollten wir uns wohl schon mal überlegen, wo wir mit anpacken können“, erwähnte Jinpei.

„Ich würde sagen, dass wir uns erstmal darum sorgen sollten überhaupt dahin zu kommen“, würgte Nobu ihn ab. „Alles andere kommt dann.“

Daisuke hatte in der Zwischenzeit seinen Teller leergegessen und wollte Nachschlag. Beim Rausnehmen fiel ihm auf, dass es viel mehr zu essen gab als normalerweise.

„Ich habe heute die doppelte Menge gemacht. Wir haben alle in den letzten Tagen hungern müssen und ich wollte nicht riskieren, dass jemand von uns umfällt.“ Rei war noch immer für Essen und die Gesundheit von allen verantwortlich.

„Das heißt aber leider auch, dass wir bald wieder neue Vorräte auftreiben müssen.“

„Wir können später noch in den Supermärkten hier nachschauen. Dafür hatten wir ja gestern leider keine Zeit mehr.“ Seitdem Umeko nicht mehr da war, kam es nur noch selten vor, dass jemand Nobu widersprach. Nicht weil sie sich nicht trauten, sondern einfach, weil sie meist seiner Meinung waren. Bis auf Jinpei, der meckerte öfter an Entscheidungen, die schon Tage zurücklagen, herum. Hauptsächlich, weil sie von Nobu gefällt wurden, nicht wegen der Entscheidungen per se.

Insgesamt gab es drei Märkte, bei denen es sich für sie lohnen würde, das Risiko einer Konfrontation mit anderen einzugehen. Zwar hatten sie schon länger keine Konfrontation mehr mit anderen Menschen, brannten aber trotzdem nicht darauf, ihr Leben für möglicherweise nichts und wieder nichts aufs Spiel zu setzen.

Sie durchsuchten die Wohnung noch einmal nach allem Möglichen, das sie vielleicht gebrauchen könnten. Doch Fehlanzeige, alles, was von Wert sein könnte, befand sich entweder nie in dieser Wohnung oder wurde beim Verlassen mitgenommen. Diesmal konnten sie ohne schlechtes Gewissen ihren Müll einfach dort lassen und mit leichteren Taschen weiterreisen. Mittlerweile schon zu leicht. Selbst durch ihre Sparmaßnahme beim Essen hatten sie nur noch drei Mahlzeiten, wenn sie so wie jetzt wieder die doppelte Portion aßen, sogar weniger als zwei.

Keine halbe Stunde später verließen sie die Wohnung auch schon. Als die Wohnung nicht mehr in Sichtweite war, waren Harui und Jinpei bereits viel entspannter, fast so, als hätte ihnen jemand den Druck von der Brust genommen.

„Ich hätte mir gerne mal die Burg von Okayama angeschaut“, gab Rei zu.

„Vielleicht hast du ja Glück und wir kommen zufällig an ihr vorbei“, beschwichtigte Daisuke sie, als sie gerade an einem Maid-Café vorbeikamen. „Wie wär’s, wenn du sowas mal anziehst?“, fragte Daisuke, teils aus Spaß, teils aus Ernst.

„Wenn du dafür eine Buttler-Uniform anziehst“, konterte sie.

„Also eigentlich ist das kein übler Tausch“, warf Nobu ein.

„Dann ziehst du eben auch eine an“, meinte Rei sofort.

„Und was hätte ich dann davon?“, wollte Nobu wissen.

„Ich würde Harui dazu bringen auch eine anzuziehen.“ Nobu fühlte für sie nur freundschaftliche Gefühle, und das wusste Rei auch. Dennoch gefiel ihr der Gedanke. Das war der Moment, in dem Harui hellhörig wurde; bei dem Gedanken, eine Maid-Uniform anzuziehen, lief ihr Kopf rot an. Dazu noch der Gedanke, wie man sich in so einem Outfit normal verhielt, das war zu viel für ihren Kopf.

„Zieh meine Schwester da nicht auch noch mit rein“, versuchte Jinpei sie zu verteidigen. Er machte sich schon darauf gefasst, dass sie sagte, er solle auch gleich eine anziehen. Er vergaß aber, dass sie zwar auch ihren Spaß an so etwas hatte, ähnlich wie Umeko, allerdings nur bei Daisuke und auch nicht so extrem wie Umeko. Darum glaubte er langsam, dass etwas an Daisukes Theorie, dass sie ihn mochte, dran gewesen sein könnte. Umeko hätte für ihn dann zwar definitiv auch eine Maid-Uniform angezogen, doch nur um ihn noch weiter zu ärgern.

Die Unterhaltung jedoch wurde von einem lauten Knall unterbrochen. Er war zu leise, um direkt in der Nähe zu sein, da man sonst auch Erschütterungen hätte wahrnehmen müssen. Aber gleichzeitig auch wieder nah genug, damit sie sich Sorgen darum machen müssten. Sie standen einige Zeit einfach nur da, ohne zu sprechen, stattdessen schauten sie sich um. Denn sie konnten sich alle genau vorstellen, was passiert war. Irgendwo in der Nähe hatte eine Explosion stattgefunden. Sie alle suchten am Himmel nach der Rauchsäule, doch bevor jemand sie sehen konnte, ertönte auch schon die zweite Explosion.

„Was geht denn jetzt ab?“, brach Daisuke die Stille.

„Terroristen werden das wohl kaum sein. Hier was zu sprengen würde wenig Sinn machen“, klärte Nobu sie auf.

„Dann vielleicht die Tempelritter?“ Das Thema wurde in so einer Situation immer zur Sprache gebracht, diesmal war es Harui, die es tat.

„Was könnte bitte ihr Ziel sein, außer uns einen Schrecken einzujagen.“ Jinpei war in Panik ausgebrochen. Sein normaler Ruhepol seit Anfang der Apokalypse, Umeko, fehlte, um ihn zu beruhigen, und der Rest der Gruppe war nicht besonders gut darin.

„Wenn ja, dann haben sie es erreicht, wir haben uns auf jeden Fall erschrocken“, gab der sonst so gelassene Nobu von sich. Anders als bei Menschen konnte er gegen eine Explosion nichts ausrichten, genau das machte ihm Sorgen.

„Da, seht mal.“ Harui deutete ihn den Himmel links neben dem Maid-Café. Dort war nun endlich eine dichte, nicht zu übersehende schwarze Rauchwolke zu sehen, die zweite verschmolz mit der ersten.

„Wenn wir Glück haben, ist da nur eine Fabrik oder so etwas in die Luft geflogen.“ Jinpei war versucht nun sein eigener Ruhepol zu sein.

„Und wenn nicht, ich habe ehrlich gesagt keine Lust rauszufinden, was passiert ist.“ Nobu wusste, dass die Fabriken schon seit Wochen nicht mehr betrieben wurden. Und selbst wenn konnte es nicht so einfach zu einer so gewaltigen Explosion, geschweige denn zwei, kommen. Die in einander verschmolzenen Rauchwolken stiegen immer weiter aus.

„Also ziehst du den Schwanz ein, sonst hattest du doch auch nicht so viel Angst davor in irgendeine gefährliche Situation zu rennen.“ Alle waren erstaunt, wie sehr sich Jinpei gegen Nobu stellte.

„Weil ich sonst aus großer Entfernung beobachten kann.“ Seine nächsten Worte betonte er besonders. „Ohne mich dabei in Gefahr zu begeben! Aber jetzt, selbst wenn ich einen Kilometer entfernt bin, kann ich noch draufgehen. Je nachdem wie groß der Explosionsradius der nächsten Explosion wird.“

„Nochmal und da rennst du einfach davon, du weißt doch gar nicht, ob überhaupt noch eine kommt.“ Jinpei stichelte weiter und hoffte auf einen Nerv bei ihm zu stoßen, er wollte, dass Nobu sich das Ganze mal allein aus der Nähe anschaut. Insgeheim wünschte er sich, dass er dann bei einer dritten Explosion ums Leben kommen würde.

„Ich weiß, du bist mit meiner Art alles zu regeln vielleicht nicht ganz zufrieden, trotzdem setze ich weder mich noch sonst jemand dieser Gefahr aus.“

„So wie damals, als es darum ging Umeko zu suchen, da hast du auch einfach klein beigegeben, als es auf die Schnelle keine Ergebnisse gab.“

„Willst du das wirklich jetzt diskutieren?“ Nobu tippte mit seinem Zeigefinger auf Jinpeis Brust und bäumte sich vor ihm auf, um ihm zu sagen, er sollte jetzt lieber die Klappe halten.

„Ja, sonst würden wir es doch für immer verschweigen, du weichst mir nämlich ständig aus.“ Jinpei schlug die Hand weg und ging einen Schritt auf seinen Gegenüber zu. Er ließ sich von dem deutlich größeren Jungen vor ihm nicht einschüchtern, nicht diesmal.

„Gut, du willst wissen, wieso ich aufgehört habe nach ihr zu suchen. Ich sag dir wieso, weil sie es so wollte.“

„Hat sie dir das etwa gesagt, als du nach ihr gesucht und angeblich nichts gefunden hast.“

„Sie hat es in ihrem Brief geschrieben, dem Brief, den du wie einen Schatz behütest. Jeder hat gehört, was da drin steht, und du hast es seitdem bestimmt schon hundertmal gelesen.“

„Jungs!“ Rei versuchte ruhig die Diskussion zu beenden, konnte die Unsicherheit in ihrer Stimme jedoch nicht verschleiern. „Beruhigt euch bitte, euer Streit bringt uns nicht weiter.“

„Sie war nicht bei Verstand, als sie das alles geschrieben hatte, das hab doch nicht nur ich gemerkt.“ Tränen fingen an Jinpei über die Wange zu laufen. Endlich konnte er sagen, was er wirklich über all das dachte.

„Ja, das haben wir gemerkt, aber wenn ich mal kurz eure kleine Unterhaltung unterbrechen dürfte. Wir wüssten gern, was wir jetzt machen.“ Rei stellte sich nun zwischen die beiden, brachte Jinpei dazu auf Abstand zu gehen und zeigte auf die Rauchsäulen. Die anderen beobachteten diese unablässig und warteten gespannt auf eine Entscheidung.

„Jaja, ich weiß. Wir können keine komplett neue Richtung einschlagen, da es zu lange dauern würde, das Ganze großräumig zu umwandern. Zeit, die wir nicht haben. Wir gehen links dran vorbei. Mit genug Abstand.“

„Und was ist mit dem Essen?“

„Das können wir wohl vergessen, außer genau auf dem Weg liegt ein Laden, den wir plündern können.“ Nobu gefiel es genauso wenig, jedoch konnte er nicht mit Sicherheit sagen, dass sie in der Nähe der Explosion etwas zu essen finden würden.

Die gesamte Stadt war so ruhig, dass man die Stimmen von mehreren Menschen hören konnte, die wild durch die Gegend brüllten. Obwohl sie nicht nahe zu sein schienen, versteckten sich die fünf in einer kleinen Seitengasse. Als die Stimmen näher kamen, waren endlich die ersten Brocken zu verstehen. Jeder schien sich darüber zu freuen endlich frei sein zu können.

„Frei, was meinen die damit bitte?“, fragte Daisuke berechtigterweise. Er hätte gerne die Gesichter zu den Stimmen gesehen. Doch auch ohne sie zu sehen, war ihm klar, dass er lieber mit gezückter Waffe darauf warten sollte sie zu sehen. Die Stimmen wurden leiser, dennoch kamen sie näher und waren weiterhin verständlich. Den Kindern mit Ausnahme von Nobu schlug das Herz bis zur Brust. Er war selbst überrascht, wie ruhig er in dieser Situation bleiben konnte.

„Ich wusste doch, dass ich hier was Gutes gerochen hab.“ Die Kinder waren zu Salzsäulen erstarrt, als sie eine fremde Stimme hinter sich hörten. Einzig Nobu war dazu im Stande sich umzudrehen. Ganz langsam wendete er seinen Blick von der Straße vor ihm ab. Hinter ihnen stand ein Mann mit langem schwarzem Haar, der in einem grauen Overall steckte. Er lächelte ihn an, die Mundwinkel ganz nach oben gezogen und die Augen so stark zusammengepresst, dass er nur noch durch einen Schlitz sehen konnte. Plötzlich fing er an sich mit der Zunge über seine Lippen zu lecken.

„Gleich fünf von euch, das wird ja immer besser.“ Nobu fuhr plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken. Ihm war sofort klar, was das für einer war:

„Ein Perverser, und dieser graue Overall, ist das Gefängniskleidung? Jetzt verstand er auch, was die anderen Stimmen mit endlich frei meinten. Die beiden Explosionen von vorhin waren Teil eines Gefängnisausbruches. Jetzt war immerhin die beste Zeit für so etwas, das ganze Personal befand sich in Tokio oder war bei den Aufständen umgekommen. Es kam sogar noch schlimmer, die anderen Mitinsassen, die entkommen waren, waren auf die Kinder aufmerksam geworden und standen nun alle versammelt vor ihnen, es waren zu viele, um sie zählen zu können.

„Bist du deswegen vorhin weggerannt“, fragte einer von ihnen in rauem Ton.

„Weißt du eigentlich, wie der Oyabun deswegen drauf war“, wollte ein anderer wissen.

„Wenn ihr näher kommt, verpass ich euch ne Kugel, direkt zwischen die Augen.“ Nobu hatte sich wieder gefasst und zielte nun mit seiner Waffe auf die Typen, die von der Straße kamen, und ließ den einzelnen hinter sich links liegen.

„Genau lasst uns lieber in Ruhe, wenn ihr leben wollt.“ Nun war auch Daisuke endlich wieder vom Schock befreit und zielte. Die Angst vor den Männern blieb aber dennoch, doch mit der Waffe in seiner Hand fühlte er sich schon gleich viel sicherer.

„Und Sie gehen lieber weg von den beiden, haben Sie mich verstanden.“ Rei wiederum wandte sich dem einzelnen Mann hinter ihnen zu.

Doch alle fingen sie nur vergnügt an zu lachen.

„Was ist daran bitte so witzig, ihr Arschlöcher?“ Daisuke wurde zornig.

„Ihr solltet lieber aufpassen, wo ihr damit rumfuchtelt, das ist nämlich kein Spielzeug, müsst ihr wissen.“ Sie wurden überhaupt nicht ernst genommen.

„Das wissen wir, du Arschloch!“ War es wirklich eine gute Idee, dass Nobu sie noch provozierte.

„Ihr wärt bei weitem nicht die Ersten, die wir erschießen würden.“

„Jetzt krieg ich aber Angst.“ Ein groß gebauter Mann schaffte es trotz der Waffe, die Nobu auf ihn richtete, ruhig zu bleiben. „Nein wirklich, aber genau das gilt auch für die meisten von uns hier. Wir sind eigentlich nur gekommen, weil wir dachten, der Spinner da hinten führt uns zu ein paar hübschen Frauen. Aber Fehlanzeige.“ Bei Nobu, der selbst größer als viele Erwachsene war, kam es selten vor, dass jemand über einen Kopf größer war als er. Für den 1,87 m großen Mann war es nicht das erste Mal, dass man auf ihn zielte, er konnte gut einschätzen, wie er sich zu verhalten hatte. Er erkannte, dass es keine gute Idee war Nobu zu reizen, denn er war definitiv bereit dazu jeden von ihnen zu erschießen. In seinen Augen brannte der Wille, alles zu tun, was nötig war, um zu überleben. Falls ihm die Munition ausgehen würde, würde er sich ihnen dennoch mit allem, was er hatte, entgegenstellen. Auch wenn es einfach zu viele für ihn wären und er früher oder später mindestens zu Brei geschlagen worden wäre.

„Aber das schwarzhaarige Mädchen ist doch ganz passabel“, meinte ein Mann in der zweiten Reihe.

„Das ist ein Kind, du Perverser“, sagte wieder der ganz vorne.

„Ist doch egal, weißt du, wie lange ich keine Frau mehr gesehen hab, außerdem gilt das hier jetzt eh nicht mehr. Die Welt hat sich verändert.“ Viele der anderen ließen ein lautes „Genau“ von sich erklingen. Nobu merkte, dass Daisuke darauf brannte diesen Typen das Maul zu stopfen, doch sollte das passieren, würde die Hölle losbrechen.

Einer der Typen näherte sich den Kindern.

„Einen Schritt weiter und du hast ne Kugel im Kopf “, warnte Daisuke ihn. Den Mann ließ die Drohung kalt und er machte demonstrativ einen weiteren Schritt auf Daisuke zu. Doch noch bevor sein Fuß wieder den Boden berührte, ertönte ein Schuss. Mit einem Loch im Kopf ging der Typ zu Boden.

Bevor ein Tumult entstehen konnte, versuchte der Mann ganz vorne die Situation wieder zu glätten.

„Ganz ruhig.“ Der Hüne stellte sich den anderen entgegen. „Der Junge hatte womöglich einen guten Grund, habe ich nicht Recht, bestimmt ist die Kleine mit den schwarzen Haaren deine Schwester oder Freundin.“ Daisuke nickte nur. „Dann ist alles gut, er hat nichts Falsches getan, einige von euch haben wahrscheinlich eingesessen, weil sie etwas Ähnliches getan haben. Er hat nichts weiter getan, als seine Familie zu beschützen, würden wir das nicht alle tun?“ Die Meute entspannte sich wieder ein bisschen.

„Ich heiße Kobe, wie heißt ihr?“ Der Mann, der sich als Kobe vorstellte, versuchte eine Vertrauensbasis zu den Kindern aufzubauen. Nachdem er sich leicht verbeugt hatte, ging er einige Schritte auf sie zu. Daisuke zielte sofort auf ihn. Mit erhobenen Armen blieb Kobe stehen.

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht“, kam es von Daisuke.

„Hör mal Kleiner, ich weiß, du vertraust weder mir noch sonst jemandem außer deinen Freunden, aber in dieser Situation wäre es besser zu kooperieren, kapiert? Besonders weil ich gerade der Einzige bin, der euch davor bewahren kann, von dieser Meute da hinten auseinandergenommen zu werden.“

„Er heißt Daisuke und ich bin Nobu.“ Nobu erkannte, dass Kobe mit sich reden ließ und das wollte er nutzen, um sicher aus der Situation rauskommen.

„Freut mich Nobu, ein interessanter Name, erinnert an Nobunaga Oda.“

„Das höre ich öfter.“

„Und weißt du was, ich kann ein paar Parallelen zwischen euch beiden erkennen.“ Nobu ließ die Waffe sinken, um zu zeigen, dass er keinen Ärger will.

„Was ist denn hier los? Aus dem Weg.“ Die Meute machte Platz und ließ einen Mann durch, der ungefähr genauso alt wie Ishikawa zu sein schien. Sofort war Nobu wieder in Alarmbereitschaft, wie von allein erhob sich seine Waffe wieder. „Was ist das denn, na ist ja eigentlich auch egal?“ Er stieg über die Leiche des Mannes, der von Daisuke erschossen worden war. Er stach deutlich aus der Maße heraus, und das nicht nur wegen der Tätowierung in seinem Gesicht, sondern auch dadurch, dass er den Overall nur als Hose trug und ein Tanktop anhatte, das einen Blick auf die Tätowierungen auf seinen Armen zuließ. Rote Rosen, die in rot-orangene Flammen übergingen.

„Einer von der Yakuza, und der Anzahl der Tattoos nach zu urteilen, kein kleiner Fisch.“ Nobu konnte die Situation blitzschnell analysieren.

„Oyabun“

„Oyabun, das ist also ihr Anführer.“ Nobu konnte die Anspannung in der Maße nun deutlich spüren, und auch er konnte nicht leugnen, dass der Mann vor ihm eine enorme Ausstrahlung hatte. Er war zwar sogar kleiner als Nobu, trotzdem hat er das Gefühl zu ihm hinaufsehen zu müssen. Als er den schnellen Blick nach hinten wagte, konnte er sehen, wie Jinpei und Harui noch immer wie versteinert dastanden, die einzige Bewegung, die sie machten, war das Zittern ihres Körpers vor Angst.

KAPITEL 3 EIN KLEINES SPIEL

Der Oyabun begann damit die fünf Schüler und die Leiche, über die er kaltherzig drübergestiegen war, zu begutachten, bevor er sich wieder Kobe widmete. Die Leiche war kein Mitglied seiner Familie, sondern nur ein einfacher Verbrecher, der zusammen mit ihnen geflohen war. Deshalb trauerte er, anders als bei seinen eigenen Leuten, nicht um ihn.

„Also ich frage noch ein letztes Mal: Was ist hier passiert?“ Seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu.

Kobe erzählte dem Mann alles, was geschehen war.

„Verstehe.“ Der Mann überlegte kurz. „Wer von euch würde auch gerne eine Nummer mit den Mädchen da hinten schieben?“ Mit einem breiten Grinsen schaute er in die Menge. Mit lautem Gebrüll wurde seiner Frage von vielen zugestimmt.

Ohne zu zögern, zog er einen Schraubenzieher aus der Hose und stach auf den Mann ein, der ihm zujubelte und ihm am nächsten stand. Auch dieser war kein Mitglied seiner Familie, weshalb er keine Gewissensbisse hatte. Wäre es ein Mitglied seiner Familie gewesen, hätte er ihm befohlen das oberste Glied seines kleinen Fingers abzuschneiden … Wie es für einen Yakuza üblich war, wenn dieser einen schwerwiegenden Fehler begangen hatte.

Während der Niedergestochene am Boden röchelnd verblutete, fragte Goro erneut. Diesmal antwortete niemand.

Er überlegte kurz und ging zu dem, der ihm am nächsten stand,- der zuvor mitgejubelt hatte.

„Wolltest du eben nicht noch eine Nummer mit der Kleinen da hinten schieben?“, fragte Goro mit aufgesetzter Freundlichkeit.

„Nein, nein, auf keinen Fall.“ Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, schon wurde auch ihm der Schraubenzieher, an dem noch das Blut des anderen runtertropfte, mehrfach in den Bauch gerammt.

„Das gilt für euch alle, lügt mich noch einmal an und ihr endet wie die beiden.“ Dieses Mal nahm er auch seine eigenen Leute nicht aus, auch wenn diese im besten Falle nur den Verlust eines Fingergliedes zu befürchten hatten.

„Jawohl“, kam es von allen, auch von Kobe, der noch immer ganz vorne stand.

Als Goro sicher war, dass jeder Anwesende seine Nachricht verstanden hatte, wandte er sich wieder den Kindern zu: „Eure Augen gefallen mir, sie sagen mir, dass ihr schon einiges durchgemacht habt. Ihr seid bereit alles zu tun, um zu überleben. Ganz besonders du“, er blickte zu Nobu, „mit den tiefschwarzen Augen.“ Fast schon bewundernd schaute er ihn mit seinen gelben Augen an. „Sie verraten, dass du dazu bereit bist, jeden hier, ohne zu zögern, zu töten, wenn nötig werden würde.“ Der alte Mann hatte Respekt vor Nobu. „Deinen Namen trägst du definitiv zu Recht Nobunaga. Mein Name ist Goro, es freut mich dich kennen zu lernen.“ Er versuchte überhaupt nicht die Hintergedanken in seiner Stimme zu verstecken.

„Ihre Stimme verrät mir, dass Sie noch irgendetwas wollen.“

„Du bist gut, und du hast Recht. Weißt du, ich wollte mich schon immer mit den Größten der Geschichte messen. Doch das ist auch gleichzeitig das Problem, sie sind Geschichte. Doch jetzt habe ich hier das Ebenbild von Nobunaga Oda vor mir. Skrupellos und ein taktisches Genie. Also was hältst du davon ein kleines Spiel zu spielen?“

„Was denn für ein Spiel?“

„Zum Aufwärmen erst einmal eine Runde Shogi, ich möchte erst herausfinden, ob ich richtigliege mit meiner Vermutung.“

„Und was springt dabei für mich raus?“

„Ich könnte dir zum Beispiel anbieten deine Freunde nicht zu töten.“

„Aaah!“ Hinter ihm hörte er, wie Harui anfing zu schreien. Als er sich umdrehte, waren die drei, Harui, Jinpei und Rei, überwältigt worden. Sie wurden zu Boden gedrückt und ihre Waffen auf sie gerichtet. Auch Daisuke, der sich umdrehte, um ihnen zu helfen, wurde innerhalb weniger Sekunden überwältigt.

„Wenn ich gewinne, dürfen wir gehen.“ Er stellte eine Forderung, damit Goro nicht auf die Idee kam ihm irgendetwas Unwichtiges für seinen Sieg zu geben.

„Einverstanden, und wenn ich gewinne, erlaube ich meinen Männern, dass sie ihren Spaß mit euch haben dürfen.“ Ein breites Grinsen verriet, dass er das alles viel zu sehr genoss. Nobu wusste, diese Typen würden niemals gegen die Tempelritter ankommen, sollte es zu einem Kampf kommen. Dennoch war die Yakuza kein Gegner, bei dem man unaufmerksam sein durfte. Irgendwie gefiel Nobu der Oyabun, schon vom ersten Moment an hatte er Respekt vor dem alten Mann. Er sah, dass sie beide vom selben Schlag waren, und genau das wollte er ausnutzen. Normal brauchte er eine Weile, um herauszufinden, wie jemand tickt, doch jetzt war es einfach, er hatte hier eine ältere Version von sich selbst stehen. Zwar eine, die etwas von der Spur abgekommen war, dennoch eine ältere Variante seiner Selbst. So dachte er zumindest. Gewissheit würde ihm das Shogispiel verschaffen, da war Nobu sich sicher.

„Na gut.“ Nobu war sich sicher nicht zu verlieren, er hoffte nur, dass seine Zuversicht in nicht trügen würde, „aber sie wollen doch sicher nicht hier auf offener Straße spielen.“ Er versuchte noch etwas Zeit zu schinden, um einen Weg zur Flucht zu finden, sollte es nötig werden.

„Nein, nein, natürlich nicht, wo denkst du hin? Mir gehörten hier einige Pachinkohallen, bevor ich verhaftet wurde. Eine davon ist ganz in der Nähe, dort werden wir spielen.“ Goro wartete die Antwort nicht ab, sondern machte sich bereits auf den Weg, gefolgt von vielen seiner Leute. Nobu wartete darauf, dass seinen Freunden auf die Beine geholfen wurde, er war überrascht von niemandem ein Wort gehört zu haben, seitdem Goro aufgetaucht war. Geführt von den wenigen Männern, die noch dort waren, machte sich nun auch Nobu gemeinsam mit seinen Freunden auf den Weg.

„Du musst gewinnen.“ Daisuke verfluchte, dass er wieder einmal nichts ausrichten konnte.

„Ich weiß.“ Das musste Nobu niemand sagen. Doch sein Gegner war keiner, der mit Kraft gewinnt. Goro war ein Stratege, und das schon sein ganzes Leben lang.

„Du schaffst das schon, ich habe noch nie gesehen, dass du verloren hättest.“ Harui versuchte ihm Mut zu machen.

„Danke, aber ich kann überhaupt nicht einschätzen, wie gut dieser Typ ist, und das macht mir Angst.“ In der gesamten Unterhaltung hatte er überhaupt nicht an die Konsequenzen für seine Freunde gedacht. Seine Zuversicht schwand ein wenig, als er die Zwillinge ansah.

Der Gedanke, dass die Tempelritter die einzige ernstzunehmende Bedrohung für sie wären, war einfach nur naiv gewesen, und das bekamen sie jetzt zu spüren.

Sie waren ein paar Minuten unterwegs, bis sie endlich an einer Pachinkohalle ankamen. Der 74 Jahre alte Mann wartete auf seine Gäste und trat dann ein. Die Kinder und ein Teil seiner Männer taten es ihm gleich. Der Rest blieb draußen, um Wache zu halten, doch vor was? Die Stadt war wie ausgestorben. Selbst wenn Menschen vorbeikommen würden, stünde ein Pachinko ganz sicher ganz unten auf der Liste der Orte, die zu durchsuchen es sich lohnen würde.