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Nummer Siebenhundertneunundneunzig. Sie hat keinen Namen mehr. Nur noch eine Nummer. Ist sie wirklich tot? Warum darf sie sich nicht erinnern? Und wer ist Nummer Achthundert, der Junge mit den silbrigen Augen? Ein mitreißender Fantasykurzroman, der das erste Mal im November 2013 erschienen ist.
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Seitenzahl: 201
Veröffentlichungsjahr: 2018
Yuna SternNr. 799
KURZROMAN 2. Auflage, 2018 Copyright © Yuna Stern, 2013
Alle Rechte vorbehalten. Umschlagmotiv: © Aleshyn_Andrei / Shutterstockshutterstock.com Umschlaggestaltung: Yuna Stern [email protected]
Ich blinzelte.
Das Licht kam näher. Dann verlöschte es wieder. Schattenhafte Gestalten beugten sich über mich, flüsterten miteinander. Ich verstand ihre Worte nicht und versuchte mich zu konzentrieren. Doch sie schienen in einer anderen Sprache zu reden.
Als sie meinen Körper abtasteten, bemerkte ich, dass ich nackt war. Ich wollte mich wehren, doch meine Handgelenke waren festgebunden. Die Fesseln kratzten und zogen sich zusammen, sobald ich mich auch nur ein wenig rührte.
»Scheiße«, wisperte ich.
Die spitzen Nägel der Gestalten glitten meine Hüften entlang, überprüften die Gelenkigkeit meiner Beine, kniffen mir in die Haut. Wer waren diese Leute? Was wollten sie von mir? Und was zur Hölle hatte ich hier verloren?
Ehe ich diese Fragen stellen konnte, spürte ich noch mehr Hände, die sich in meinen Mund drängten, meine Zähne kontrollierten, meine Zunge, meinen Rachen. Gerade wollte ich zubeißen, als die Gestalten sich wieder zurückzogen und die Köpfe schüttelten.
Gesichter konnte ich nicht erkennen. Nur wallende, schwarze Kleider und lange, schneeweiße Finger, die vor meinen Augen herumtanzten. Wieder sprachen sie miteinander, hektischer diesmal, lauter.
Ich wollte schreien, aber ich hatte meine Stimme verschluckt. Was hatten sie mit mir getan? Die Finsternis umarmte mich, erdrückte meine Lunge, während ich meinen Mund weit aufriss und schrie, schrie, schrie. Lautlos. Erfolglos.
Sie eilten zurück an meine Liege, zückten – was zückten sie da?! – Klemmbretter und Stifte? Ihre Finger flogen nur so über das Papier, während sie mich betrachteten, bewerteten. WAS WOLLT IHR VON MIR?! Meine Gedanken krallten sich tief in meinem Gehirn fest, ich riss meinen Mund immer weiter auf, bis mein angespannter Kiefer abzuspringen drohte. Meine Zunge trocknete aus. Ich musste etwas trinken. Ich musste den Mund schließen. Doch ich konnte mich nicht beherrschen. Wo war meine Stimme? Was passierte hier? Mein Rachen suchte nach der Antwort, suchte nach meinen Stimmbändern, während die Gestalten ihre Köpfe zusammentaten und die Situation beredeten.
Da wurde mir endlich klar, wo das Licht herkam. Eine einsame Glühbirne schaukelte über meinem Kopf hin und her, wie ein Pendel, das mich zurück ins Land der Träume befördern wollte.
Vielleicht war alles nur ein Traum? Ein Albtraum?
Einfach nur die Augen schließen, befahl ich mir. Und den Mund. Schließ deinen Mund. Sofort.
Widerwillig gehorchte mein Kiefer mir. Sobald meine Lippen aufeinanderlagen, lief wieder Speichel in meinem Mund zusammen, tränkte meine ausgedörrte Zunge, meinen ausgedörrten Rachen. Gut so.
Schließlich schloss ich auch meine Augen, ignorierte das feuerrote Licht der Glühlampe hinter meinen Lidern, konzentrierte mich erneut. Wie konnte ich aus diesem Albtraum wieder aufwachen? Was sollte ich tun?
Als Erstes: mich an die letzte Begebenheit vor dem Schlafengehen erinnern. Wie hatte mein gestriger Tag ausgesehen? Nichts. Mir fiel nichts ein. Als wäre alles in meinem Kopf ausgelöscht, von einem hungrigen Feuer verschluckt. Erinnerungen. Bilder. Wer war ich? Wie lautete mein Name?
»Nummer Siebenhundertneunundneunzig.« So klangen die ersten beiden Wörter in diesem Raum, die ich verstand. Sie kamen aus dem Mund einer – ja, ich konnte endlich ihr Gesicht genauer erkennen – untersetzten Brillenträgerin, mit zugeknöpftem rosafarbenen Hemd und blonder Hochsteckfrisur. Sie trat einen Schritt näher und lächelte mich mechanisch an. Ihre Augenfarbe konnte ich nicht genau bestimmen. So als besäße sie gar keine richtige, nur einen Wirrwarr aus unterschiedlichen Farbtönen, die sich zusammenschlossen und funkelten. Mal grau. Mal grün. Mal weiß. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, begrüßte sie mich mit einer hohen Stimme, die mich an die eines kleinen Mädchens erinnerte. »Ich darf Sie willkommen heißen in der Anstalt für Überführer.«
Albtraum. Ich steckte fest in einem Albtraum. Augen zu. Sieh sie nicht an. Versuch aufzuwachen. Ich wandte mein Gesicht ab und presste meine Lider aufeinander. Gleichzeitig biss ich mir so fest auf die Zunge, dass sie anfing zu bluten. Nein, sie blutet nicht. Das ist alles nicht echt. Du träumst, scheiße, du träumst, was auch immer dein Name ist.
»Was tut sie denn da?« Die Stimme der Frau kam immer näher. »Sie sieht mich gar nicht an. Was stimmt nicht mit ihr, Boss?«
Ich vernahm ein tiefes Räuspern, das mir einen Schauer über den Rücken jagte. Daraufhin hörte ich eine tiefe Stimme, die erneut in dieser mir unbekannten Sprache kommunizierte.
»Ah.« Ein gleichzeitiges Raunen von allen Seiten erklang, als hätte die Stimme eine langersehnte Lösung geboten und mein Verhalten ausreichend erklärt.
Wieder spürte ich eine Hand auf meiner Schulter, die mich diesmal jedoch vorsichtig tätschelte. »Ist schon gut«, sagte die Frau mit einem tröstenden Tonfall in der Stimme. »Sie brauchen keine Angst zu haben.«
Angst? Warum sollte ich Angst haben, wenn ich doch nur nackt auf dieser Liege thronte und von allen Seiten befummelt wurde? Nein, ich hatte keine Angst. Überhaupt keine.
Das wiederholte Räuspern des Bosses – jedenfalls nahm ich an, dass er es war – ließ mich zusammenzucken. Er sprach kurz, woraufhin aus jeder Ecke des Raums wie im Kanon ein knappes »Ja!« zu hören war. Ich schielte rüber und konnte gerade noch sehen, wie sich die schwarzen Umhänge zurückzogen. Einer nach dem anderen verschwand aus dem Zimmer. Geräuschlos, als wäre die ganze Truppe nie dagewesen. Nur die blonde Frau blieb zurück, mit ihrem Klemmbrett in den Händen, das sie nun fester umklammerte, als wäre es ein Rettungsanker. Ihre Augen quollen aus ihren Höhlen hervor, als sie alleine mit mir zurückblieb und mich anblickte. Ein wenig verloren schaute sie sich um, runzelte die makellos glatte Stirn und hüstelte. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich.
Blitzartig drehte ich mich weg und schloss meine Augen.
»Nummer Siebenhundertneunundneunzig«, sagte sie nun schroffer, »bitte konzentrieren Sie sich jetzt auf mich. Dies ist eine wichtige Angelegenheit, über die ich Sie aufklären muss.«
»Meine Eltern haben mich schon früh aufgeklärt«, zischte ich. Das nahm ich ebenfalls nur an. Ich konnte mich nicht an sie erinnern. An niemanden. Nicht einmal an mich selbst. Ich war nur noch eine nackte Hülle – ohne Vergangenheit. AUFWACHEN!
»Hm, ach ja? Das muss ich einmal nachsehen.« Ich hörte Papiere rascheln, das mehrfache »Hm!« der Frau und – ja, auch das – das Klopfen meines eigenen Herzens. »Mit vier Jahren, genauer – am siebten August des Jahres Neunzehnhundertvierundneunzig. Ja, stimmt, das ist im Gegensatz zu anderen Kindern früh. Doch ich muss Sie in einer anderen Angelegenheit aufklären, Nummer Siebenhundertneunundneunzig.«
AUFWACHEN!
Die Frau trippelte mit offenbar hochhackigen Schuhen davon – das Klick und Klack ließ mich flüchtig aus meinem Widerstand aufschrecken. Ich blickte ihr neugierig hinterher und entdeckte einen Schrank aus Aluminium, der eine ganze Wand auf der hinteren Seite des Raums einnahm. Sich absichernd, drehte die Frau ihren Kopf zu mir um – als könnte ich mich einfach so wegschleichen –, dann zog sie aus ihrer Hosentasche einen klappernden Schlüsselbund.
Sie öffnete die rechte Schranktür. Ich konnte nun wieder scharf sehen und bemerkte, dass sich hinter der Schranktür eine Armee aus Kleidungsstücken verbarg. Wieder durchforstete sie ihre Unterlagen und murmelte: »Größe Null.« Anschließend zog sie einen Kittel hervor, der aus einem Krankenhaus zu stammen schien. Blassblau. Mit freiliegendem Rücken.
»Ahem. Genau. Hm.« Sie nickte sich selbst zu, hielt den Kittel zwischen Zeigefinger und Daumen, wie eine übelriechende Kakerlake, während sie zurück zu mir eilte. »Hier. Ziehen Sie das an, Nummer Siebenhundertneunundneunzig.«
Ich starrte den Kittel an und schüttelte langsam den Kopf. »Sie sind ja wohl irre, oder?«, flüsterte ich. »Wie soll ich mich anziehen, wenn meine Hände festgebunden sind?«
»Festgebunden?« Zum ersten Mal breitete sich ein verschmitztes – ehrliches – Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Sie zuckte mit den Schultern und wies mit dem Kinn auf meine Hände. »Ich sehe da keine Fesseln.« Ihre Stimme hüpfte weiter in die Höhe. Amüsiert. Scheiße, sollte sie sich doch ihren Humor in den ...
Ich warf einen perplexen Blick auf meine Handgelenke. Es waren tatsächlich keine Fesseln zu sehen. Nur Fingerabdrücke, die allmählich verblassten und das unangenehme Gefühl hinterließen, dass mich etwas – oder nein, jemand – festgehalten hatte. Und noch etwas war zu sehen: eine Nummer. Ein Barcode? Da stand: 654-375-020-799. Ich rieb mit meinen Fingern darüber, versuchte die Nummer abzukratzen, jedoch ohne Erfolg. Sie blieb an meiner Haut haften. Wie eine Narbe.
»Sie haben Ihre wahre Nummer entdeckt, wahnsinnig spannend, nicht wahr? So viele von uns gibt es tatsächlich hier. Eine bemerkenswerte Anzahl, finden Sie nicht? Doch nun ja, der Einfachheit halber ... zählen stets die letzten drei Ziffern. Merken Sie sich das.« Sie hob den Zeigefinger und wiederholte wie eine Lehrerin: »Zählen stets die letzten drei Ziffern.«
Nachdem sie meine Bestürzung einen Moment lang ausgekostet hatte, begann sie wieder: »Setzen Sie sich bitte auf, Nummer Siebenhu –«
»Halten Sie Ihre Fresse«, fauchte ich die Frau an, die daraufhin verstummte. Vorsichtig richtete ich mich auf und sah mich genauer im Zimmer um. Noch immer baumelte die Glühbirne über meinem Kopf hin und her, ihr künstlich gelber Lichtkegel wanderte von der einen Ecke des Zimmers zur anderen. Ich entdeckte einen glänzenden Mülleimer mit überquellenden Papiertaschentüchern, die allesamt blutverschmiert waren. Und einen weißen Fliesenboden, der so sauber geputzt war, dass er seine gesamte Umgebung spiegelte – wie Wasser. An den blassblau getünchten Wänden hingen Karten mit eingezeichneten Notausgängen, außerdem befanden sich dort vereinzelte, eingerahmte Zertifikate, in denen so etwas stand wie »Abteilung C der Untersuchungsstation der Neuankömmlinge – bewertet mit Prädikat A Stern Wertvoll – gezeichnet vom Präsidenten des Überführerkomitees, Nummer Nullnulleins«.
»Darf ich mich jetzt endlich vorstellen?«, bat die blonde Frau nach einer Weile.
Ich nickte langsam. Aufwachen würde ich jetzt sowieso nicht mehr. Wahrscheinlich steckte ich in der – wie nannte man das noch einmal? – REM-Phase. Vielleicht spielte ich erst einmal mit und ließ mich von den Einfällen meines Gehirns überraschen. Ich musste mich darauf einlassen. Mir blieb nichts anderes übrig.
Ich schlüpfte in den Kittel, dessen plastikähnlicher Stoff auf meiner Haut leicht kratzte. Dennoch fühlte er sich unglaublich bequem an. Eine wohlige Wärme stieg meine Brust hinauf.
»Danke Nummer Sieben –«, die Frau biss sich auf die Zunge und unterbrach sich selbst, sie hüstelte, »hm, danke. Jetzt möchte ich mich Ihnen vorstellen. Meine Identifikation lautet Nummer Dreihundertvierundfünfzig. Kurz nennt man mich auch Fräulein Ingrid W., im Sinne der Vergangenheit meiner körperlichen Hülle.«
»Ah, das ist also kurz, Fräulein Ingrid W.«, stellte ich ungläubig fest. Ich ließ meine Beine baumeln und betrachtete Nummer Dreihundertvierundfünfzig genauer. Ihre augenblicklich silbernen Pupillen vergrößerten sich mit einem Mal, woraufhin sie mit zitternden Händen meine Unterlagen durchblätterte. Aus ihrem Dutt lösten sich mehrere strohblonde Strähnen, als sie sich nervös darüberfuhr. Und ihr Kinn bebte, als würde sie meinem prüfenden Blick nicht standhalten können.
Erst als ich meine Aufmerksamkeit wieder den Zertifikaten an den Wänden widmete, schien die Anspannung von ihr abzufallen. Sie pustete erleichtert aus und fuhr mit ihren Erklärungen fort: »Ihre körperliche Hülle gehörte einer Person mit dem Namen«, Fräulein Ingrid W. versicherte sich mit einem flüchtigen Blick auf die Papiere, »Hanna M.« Die eckige Brille rutschte ihre Stupsnase herunter, doch mit einer geübten Fingerbewegung beförderte Fräulein Ingrid W. sie zurück an ihren Platz.
Hanna M. Das war also mein Name. Sollte ich jetzt nicht irgendetwas fühlen? Ein Wiedererkennen? Eine glühende Freude darüber, dass ich meine Identität wiedererlangt hatte? Aber nein, da war rein gar nichts. Der Name bedeutete mir nichts. Er gehörte seltsamerweise nicht zu mir. Oder?
»Sie wurden am neunzehnten Januar Neunzehnhundertneunzig geboren, einem Freitag. Ihre Eltern hießen Joseph und Karin. Bevor Sie vier Jahre alt wurden, ließen sie sich am vierten November Neunzehnhundertdreiundneunzig, einem Donnerstag, scheiden. Von da an lebten Sie bei Ihrer Mutter in Berlin-Schöneberg, Postleitzahl eins-null-sieben-sieben-sieben. Ihre Hobbys waren ...«, wieder wühlte sie in den Unterlagen. »Mit sechs Jahren spielten Sie gerne mit Puppen – genauer mit der Barbie Stewardess und mit der Barbie Reiterin, die Sie jeweils zu Ihrem fünften und sechsten Geburtstag geschenkt bekamen. Mit zwölf Jahren liebten Sie Bücher – besonders Momo von einem gewissen Michael Ende, das lasen Sie nämlich ganze sechzehn Mal und stellten damit Ihren eigenen – zugegeben niedrigen – Rekord auf. Ebenso gingen Sie mit dreizehn Jahren gerne mit Ihren Freunden ins Kino oder – ich zitiere – shoppen. Schließlich bestand Ihre Lieblingsbeschäftigung mit siebzehn Jahren darin, Alkohol zu – wieder zitiere ich – saufen und unverhüteten Geschlechtsverkehr zu treiben.«
Wie erschlagen hockte ich weiterhin auf meiner Liege und starrte Fräulein Ingrid W. an, während sie mehrfach nach Luft schnappte. Sie fuhr fort: »Am vierzehnten Dezember Zweitausendsieben – einem Freitag kurz vor Ihren Weihnachtsferien – feierten Sie mit Ihren Freundinnen Nina und Rebecca und mit Ihrem festen Freund Bastian bis spät in die Nacht – genauer vier Uhr vierunddreißig. Sie verabschiedeten sich von Ihren Freundinnen und setzten sich in den königsblauen Volkswagen Polo Ihres angetrunkenen Freundes, der mit eins Komma neun Promille losfuhr. In der Bahnhofstraße Berlin-Köpenick, Postleitzahl eins-zwei-fünf-fünf-fünf, ereignete sich der Unfall. Ihr Freund raste in einen Lastwagen der Marke Iveco Deutschland. Sie erlitten eine Kopfverletzung. Die Reanimationsversuche der Rettungssanitäter scheiterten. Sie verbluteten noch im Wagen.« Fräulein Ingrid W. stockte und nickte zufrieden. Anschließend schenkte sie mir das wärmste Lächeln, das ich mir bei ihr vorstellen konnte.
»Und jetzt sind Sie hier, Nummer Siebenhundertneunundneunzig! Willkommen in der Anstalt für Überführer, gegründet von unserem Anüberführer Nummer Nullnulleins, kurz genannt Boss. In den nächsten zehn Wochen werden Sie ausgebildet, um den Weg für unsere Kunden zu ebnen und sie ins Licht zu geleiten. Vorher stehen noch einige Untersuchungen an, in denen wir zum Beispiel Ihre Herzfrequenz –«, sie kicherte leise, »oder auch genannt Ihr Leergut – überprüfen müssen. Bitte folgen Sie mir nun ins erste Untersuchungszimmer, in dem Sie Doktor – kurz – Aurelian P. empfangen wird.«
Als ich mich nicht von der Stelle rührte, nicht einmal mehr atmete, schnippte sie ungeduldig mit den Fingern. »Na, kommen Sie schon, hm, Fräulein Hanna M. Wir haben nicht ewig Zeit.« Über ihren eigenen Witz begann sie schallend zu lachen. »Der war gut, nicht wahr? Nicht ewig Zeit.« Dann zog sie ihre fein gezupften Augenbrauen zusammen, gespielt streng. »Aber nein, wirklich. Wir müssen einem festen Zeitplan folgen. Und Sie überziehen gerade Ihre Begrüßungsphase Null A ins Unermessliche. In fünf ...«, sie warf einen Blick auf eine silberne Armbanduhr, die mir erst jetzt auffiel, und wieder riss sie ihre Augen panisch auf, »... nein, ach-oh-Boss, drei Zeigern erwartet uns der nächste Neuankömmling. Das ist nun wirklich peinlich, Nummer Siebenhundertneunundneunzig. Wir müssen uns beeilen. Und hopp! Hopp, hopp!«
Sie griff nach meiner Hand und zog mich auf die Beine. Als meine nackten Füße den Fliesenboden berührten, jagte mir die Eiseskälte einen weiteren Schauer über den Rücken. Ich schwankte.
»Nur ruhig«, beschwichtigte mich Fräulein Ingrid W., als sie meine schlechte Verfassung bemerkte. »Wir haben ewig Zeit, nicht wahr?«
Als ich ihr ins Gesicht blickte, sah ich, dass sie mich wieder angrinste. Ihre perlweißen Zähne blitzten wie in einer Zahnpastawerbung.
Ich kannte keine Hanna M. Ich erinnerte mich nicht an sie. Und auch nicht an ihre Geschichte. Trotzdem wollte ich nicht, dass sie tot war. Weil ich ahnte, dass wir vielleicht ein und dieselbe Person waren? Mag sein. Wahrscheinlich. Weil ich nicht wollte, dass ich tot war.
Aufwachen!!!!!!!!!!!!!!!!!
Der Untersuchungsraum enthielt zahlreiche Apparate. Sie standen überall im Zimmer verteilt. Auf dem Pult, unter der Liege, neben der Tür. Sobald ich eintrat, blinkten ihre Signallichter rot auf und gaben einen schrillen Ton von sich. Nachdem sie sich offenbar aufeinander abgestimmt hatten, fuhren sie auf ihren Rädern los und reihten sich sorgsam in eine Schlange, um von meinem Körper – vermutete ich – Bilder zu schießen.
Fräulein Ingrid W. hüstelte und lächelte mich mit hocherhobenem Kinn an. »Sehr beeindruckend, hm, nicht wahr? Das sind die Erfindungen unseres Doktors. Er wird Sie gleich empfangen.«
Ich stellte mich mit dem Rücken gegen eine Wand und musterte die Maschinen ängstlich. Sie besaßen sogar Metallarme, mit denen sie gerade meine Beine bestrahlten. Was taten sie da? Röntgten sie mich?
»Ich sehe, ich kann Sie nun alleine lassen«, stellte meine Einweiserin fest. »In wenigen Minizeigern wird Sie Doktor Aurelian P. empfangen. Er steckt noch in einer wichtigen Behandlung.« Sie schenkte mir ein letztes Mal ihr Zahnpastalächeln. »Willkommen auf der anderen Seite, Nummer Siebenhundertneunundneunzig oder auch Hanna M. Ich bin mir sicher, dass Sie sich hier bald – wie die Lebenden wohl sagen – pudelwohl fühlen werden. Unser Komitee freut sich, dass Sie ein Teil unserer Gemeinschaft werden. Sollten Sie Fragen haben, wenden Sie sich an Nummer Sechshundertzweiundzwanzig, kurz genannt Eleonore S. Das ist die zuständige Leiterin Ihrer Abteilung. Eine überaus mitfühlende Überführerin. Sie wird Ihnen zu jeder Zeit zur Seite stehen. Also, gehaben Sie sich wohl!«
Fräulein Ingrid W. zupfte ihre Bluse zurecht, verbeugte sich vor mir und verschwand aus dem Zimmer. Hinter der Tür konnte ich sie erneut mit dem Schlüsselbund klappern hören. Sie sperrte mich ein, damit ich nicht davonlaufen konnte. Aber wohin sollte ich abhauen? Wenn ich tatsächlich tot war, wo sollte ich mich vor ihr und ihrer kranken Anstalt verstecken?
Ich sah mich wieder um. Auch dieser Raum besaß keine Fenster, nur einen Lüftungsschacht. Sonst war alles weiß, wie in dem Zimmer zuvor. Auf dem Pult stapelten sich mehrere Aktenordner, die mit Nummern beschriftet waren. Ganz oben lag die Nummer – na, welche wohl – Siebenhundertneunundneunzig. Meine Akte also.
Als ich einen Schritt in die Richtung tat, versperrte mir eine Maschine den Weg. Sie blitzte mich an, so dass ich erneut zurückwich. Wurde sie von jemandem gesteuert, der mich mithilfe einer Kamera beobachtete? Misstrauisch wandte ich mich von der Maschine ab. Ein anderer Apparat, der zwei Augen besaß – besser gesagt Linsen – streckte seinen Metallarm aus, um über meinen Rücken zu streichen. Ich zuckte zurück und stellte mich an meinen vorherigen Platz.
Dort verharrte ich, bis ich vor der Tür Schritte vernahm. Das Schloss wurde vorsichtig geöffnet, die Klinke heruntergedrückt. Alles in behutsamer Langsamkeit. Als Nächstes trat ein hochgewachsener Mann ein. Um mit dem Kopf nicht gegen den Türrahmen zu stoßen, zog er ihn ein. Sein weißer Kittel war glattgebügelt und faltenfrei, im Gegensatz zu seinem Gesicht. Das erinnerte mich an zerknittertes Zeitungspapier, grau und bedruckt mit schwarzen Stoppelhärchen, die sich über seinen gesamten Kiefer zogen.
Bei seinem Eintreten verstummten jegliche Apparate und glitten zurück an ihre Ausgangsplätze. Doktor Aurelian P.s Hakennase war in meine Unterlagen vertieft. Er strich mit seinem blitzenden Kugelschreiber mehrere Abschnitte durch, kreuzte andere an und kritzelte schnell etwas nieder – ehe er mich überhaupt ansah.
»Nummer Siebenhundertneunundneunzig«, brummte er dann, noch immer, ohne mir einen Blick zu widmen. »Ich begrüße Sie, blabla, seien Sie willkommen in der Hölle. Schön, dass Sie da sind, das geht mir eigentlich am Allerwertesten vorbei. Was kann ich für Sie tun? Alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sehen überfordert aus. Vielleicht kann ich Ihnen einen Termin mit Doktor Nummer Dreiundfünfzig empfehlen, unserem Psychologen, blabla, kurz genannt Alfred B., und so weiter und so fort ...« Er leierte die auswendig gelernte Rede herunter, als würde sie ihm unheimlich auf die Nerven gehen, als würde ihm alles auf die Nerven gehen – auch ich.
Seine grauen Haare standen zu allen Seiten ab und ließen ihn wie einen typisch verrückten Wissenschaftler aussehen. Ein wenig eingeschüchtert senkte ich meinen Kopf und murmelte: »Nein, Psychologen waren mir noch nie geheuer.« Verrückte Wissenschaftler auch nicht.
Zum ersten Mal hüpfte sein Blick in meine Richtung. Er ließ sich auf den Drehstuhl hinter seinem Pult fallen und betrachtete mich mit zuckenden Mundwinkeln. Seine Augen flogen über meinen Körper und blieben an meinem Gesicht hängen. Schließlich zückte er wieder sein Klemmbrett und verschwand für eine Weile dahinter. Ich konnte nur noch seine gerunzelte Stirn und seine buschigen Augenbrauen sehen, die auf und ab sprangen.
Irgendwann seufzte er und murmelte: »Ach, Hanna ...« Er legte meine Akte beiseite und stand nachdenklich auf. Dabei sah er mich plötzlich so freundlich an, dass ich mich wunderte. Mit einem Mal kam er mir bekannt vor, aber ... Nein. Ich verwarf den Gedanken wieder. Ich musste mich irren.
Da er meine Verwirrung zu spüren schien, wandte er seinen Blick schnell wieder ab. Mit seiner Zunge fuhr er sich über die Zähne, als wäre er auf der Suche nach Essensresten. »So darf ich Sie doch nennen, richtig?«
»Hanna?«
»Ja, Hanna. Das ist Ihr Name. Hanna M.«
»Meinetwegen.« Ich zuckte mit den Schultern. Ich wusste nicht mehr, wie mein Name lautete. Er hätte mich auch Winnetou oder E.T. nennen können. Das spielte für mich keine Rolle mehr.
»Sie erinnern sich – natürlich – nicht.« Er spazierte zu der Liege und stützte sich mit einer Hand darauf ab. »Wo glauben Sie, sind Sie hier gelandet? In einem A–«
»Albtraum«, unterbrach ich ihn und nickte heftig. »Klar. Wo auch sonst? Das ist ganz sicher nicht die Hölle«, bezog ich mich auf seine Begrüßung. In der Hölle gab es schließlich Feuer. Und den Teufel. Richtig? Ich glaubte jedoch nicht, dass ich in meinem früheren Leben – ach, Mist, jetzt fing ich auch schon an daran zu glauben, dass ich tot war – religiös gewesen war.
Doktor Aurelian P. begann leise zu lachen. »Hach, ja, die Neuankömmlinge.« Seine Augen hefteten sich wieder auf mich. »Sie glauben wirklich, Sie stecken in einem Albtraum fest, richtig? Wissen Sie was, ich kann Psychoscheißer auch nicht ausstehen, insbesondere den hirnverbrannten Alfi, aber vielleicht sollte ich doch einen Termin mit ihm vereinbaren. Für Sie natürlich.« Er fuhr sich mit seiner linken Hand über den Dreitagebart. Immer wieder. Mit einem leicht überheblichen Grinsen auf den Lippen. »Alfi klärt Sie mit Samthandschuhen auf. Er ist unsere Ballerina. Ein absolut feinfühliger Überführer. Wahrscheinlich wird er sogar selbst Tränen in den Augen haben, wenn er mit Ihnen spricht. So ist er nun mal.« Er schmunzelte über seine eigenen Worte. »Eigentlich müsste ich Sie jetzt untersuchen. Aber Sie haben wahrscheinlich schon gemerkt, dass unser Boss Sie bereits einer eingängigen Prüfung unterzogen hat. Mit den neuen Komiteemitgliedern, die sich noch in der Assistenzphase befinden.«
Sprach er von diesen seltsamen Gestalten am Anfang? Deren Prüfung hatte ich – zu meinem Bedauern – allzu gut mitbekommen. Also nickte ich einfach mal.
»Na ja. Und wenn Sie wollen, können Sie sich wieder ausziehen und mich überprüfen lassen, ob mit Ihnen alles in Ordnung ist. Aber ich glaube, dass Sie für heute genug durchgemacht haben, oder? Wir sehen uns sowieso bald wieder, zu den anstehenden Komplett-Innen-und-Außen-Überprüfungen. Also?« Mit seinen Fingern trommelte er auf das glänzende Metall der Liege.
»Ich verzichte auf eine weitere Untersuchung«, wisperte ich dankbar.
Flüchtig lächelte Doktor Aurelian P. mich an und hastete anschließend zu seinem Pult. Er vermerkte in rapider Geschwindigkeit etwas in meiner Akte. Dann nickte er mir zu und wies auf die Tür. »Sie dürfen jetzt gehen, Hanna.«
Verwirrt warf ich einen Blick zurück und fragte mich, ob dieses ganze Theater vielleicht doch eine Art Untersuchung gewesen war. Hatte er mich irgendwie getestet? Ob ich so wie alle anderen Neuankömmlinge reagierte? Und was hatten die Maschinen für eine Funktion?
So viele Fragen lagen mir auf der Zunge, doch ich traute mich nicht, sie zu stellen. Doktor Aurelian P. vergrub seinen Kopf in den nächsten Aktenordner und markierte fleißig weiter. Nummer Achthundert würde offenbar bald eintreffen. Als ich einen Schritt in Richtung Tür tat, schaute er kurz wieder auf und rief: »Ach ja, Hanna. Sie haben mir mit Ihrer Anmerkung über Psychologen wirklich den Tag gerettet. Mir geht es nicht am Allerwertesten vorbei, dass Sie hier sind. Ein klein wenig bin ich nun froh darüber.«
»Äh, ja. Danke –« Bevor er mir noch eine Liebeserklärung an den Kopf schmeißen konnte, stürmte ich aus dem Untersuchungszimmer.
Ich erwartete wieder in dem ersten Raum zu landen, in dem mich Fräulein Ingrid W. begrüßt hatte. Stattdessen betrat ich einen weitläufigen, grell beleuchteten Korridor, von dem mehrere Türen abgingen. Messingschilder, auf denen Pfeile eingraviert waren, wiesen den Weg.
Ich folgte ihnen mit torkelnden Schritten. Sie führten mich in eine Halle, in deren Mitte eine sprudelnde Fontäne stand. Der Architekt – Nummer Wasweißich – schien sie als eine Art gigantische Sonne konstruiert zu haben: Zwischendrin hing eine Marmorkugel, getragen von unzähligen goldenen Fäden, die an Sonnenstrahlen erinnerten. Gleichzeitig verstärkte das fliegende Wasser diesen Eindruck.
Die Decke der Halle bestand aus Glas. Draußen entdeckte ich einen Himmel, der – Moment mal, der war gar nicht echt! Ich kniff meine Augen zusammen, um besser sehen zu können, was das da draußen war. War das eine blaue Plane? Und grüne Plastikblätter, die den Anschein erwecken sollten, dass man sich in freier Natur befand? Nicht gerade gut umgesetzt.
Die Wände sahen so aus, als ob sie aus Holz bestünden. Doch als ich näher trat, entdeckte ich, dass es nur braun lackierte Fliesen waren. Das traf auch auf den Boden zu.
Ich schüttelte ratlos den Kopf. Was war das hier für ein Ort?
Von der Glasdecke baumelten klitzekleine Glühbirnen, die mit Sicherheit die Sterne am Nachthimmel darstellen sollten.
»Sie sind schon fertig?«, hörte ich plötzlich eine piepsige Stimme hinter meinem Rücken.
Ich fuhr herum und sah eine lächelnde Märchenprinzessin.
»Was für’n Scheiß«, stieß ich entsetzt aus. Was war das denn für eine? Hatte sie sich auf dem Weg zum Kindergeburtstag verlaufen?
Ihre übertrieben langen – und übertrieben pinken – Haare reichten bis zu ihren nackten Fußknöcheln. Auf ihrem Hinterkopf thronte ein Plastikdiadem mit angemalten Steinchen. Und ihre glitzernden Wimpern wirkten so abscheulich unecht, dass ich fast schon würgen musste. Ich fange lieber nicht von ihrem Kleid an. Kitschig hoch Nummer Millionen.
Trotz meiner – zugegebenermaßen – unfreundlichen Begrüßung, wich ihr das engelsgleiche Lächeln nicht von den Lippen. »Sie – sind – schon – fertig?«, wiederholte sie diesmal so langsam, als ob sie es mit einer Minderbemittelten zu tun hätte. »Waren – Sie – beim – Doktor – kurz – Aurelian – P.?«
»Nö«, log ich genervt. »Und nu’?«
»Sind – Sie – sich – sicher? Normalerweise –«
Ich unterbrach sie, ehe wir – dank ihrer Sprechweise – noch eine Ewigkeit hier herumstanden: »Natürlich war ich bei Doktor – lang – Aurelian P.«
Erleichtert nickte sie und – was sonst? – lächelte. »Sehr schön. Begleiten Sie mich dann bitte zum Aufzug, der Sie in Ihre einstweilige Unterkunft befördern wird.«
Am liebsten hätte ich der Märchenprinzessin gesagt, dass ich ihr nirgendwohin folgen würde. Nicht ins Wunderland. Nir-gend-wo-hin. Stattdessen rief ich ein müdes: »Ja! Zeig mir den Aufzug!«