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Felix Huby

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Beschreibung

Erst zocken sie Gleichaltrige ab, dann einen wehrlosen alten Mann. Sie liefern sich Schlachten mit feindlichen Banden und bezeichnen sich als Original-Gangster und Megachecker – Jungen ohne Chance, zumeist aus der Türkei und den arabischen Ländern. Osman Özal, Chef einer neuen Jugendbande in Berlin-Neukölln, glaubt zu wissen, wie man ein OG, ein Original-Gangster, wird. Man muss wilder, rücksichtsloser und brutaler sein als alle anderen. Er und seine Gang verlangen Respekt und fordern ihn mit ihren Fäusten und ihren Messern ein. Aber dann wird Osman Özal überraschend ermordet. Hauptkommissar Peter Heiland muss den Mörder finden, bevor die Rächer aus Osmans Bande oder aus dessen Familie ihn stellen.

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Seitenzahl: 272

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Felix Huby

Null Chance

Peter Heilands vierter Fall

Roman

Fischer e-books

Roman

MITTWOCH, 14.JANUAR

1

»Entschuldigen Sie«, sagte Peter Heiland, »darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind?«

Die Frau, die ihm gegenübersaß, hob den Kopf. »Warum?«

»Nur so. Nein, eigentlich nicht nur so, ich habe Ihnen beim Lesen zugeschaut und gesehen, wie Sie immer wieder eine oder zwei Zeilen in Ihrem Buch unterstrichen haben. Und Sie haben dabei das kleinere Büchlein als Lineal benutzt.«

Die Frau sah ihn verständnislos an. »Ja, und?«

»Mein Großvater hat die gleiche Angewohnheit. Er benutzt auch einen kleinen Taschenkalender als Lineal.«

»Und was hat das mit meinem Alter zu tun?«

»Nichts«, sagte Peter Heiland und schaute aus dem Fenster. Der Bus hatte grade die Haltestelle Hermannplatz verlassen und fuhr Richtung Kreuzberg.

»Ich bin zweiundachtzig«, sagte die Frau.

Peter Heiland nickte, als ob er nichts anderes erwartet hätte. Sein Blick fiel durch das zerkratzte Fenster auf ein quadratisches Spielfeld zwischen grauen Häusern. Drei Jungs spielten dort Streetball unter einem zerfledderten Korb.

»Das ist ein Losungsbüchlein, kein Kalender«, sagte die alte Frau.

»Ein was?«

»Kennen Sie das nicht? Jeden Tag gibt es ein Bibelwort und eine Erklärung dazu.«

»Und was steht für heute drin?«

Die Frau schlug das Büchlein dort auf, wo ein rotes Band zwischen den Seiten lag. Dann las sie vor:

»Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zum frischen Wasser.«

Noch während sie vorlas, stand Peter Heiland auf und ging zur Tür. »Danke!«, rief er von dort und drückte auf den Türknopf.

»Ihre Tasche!«, rief die alte Frau.

Peter Heiland schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Ich bin aber auch ein Schussel!« Er kehrte zurück, schnappte seine Tasche und hörte noch, wie die Frau sagte: »Ich hab auch so einen Enkel. Zu dem sage ich immer: ›Wenn dein Hintern nicht angewachsen wäre, würdest du den auch vergessen.‹«

Die Tür ging zischend zu. Peter Heiland zwängte sich im letzten Moment grade noch hinaus. Die alte Frau kicherte leise.

 

»Gib doch ab, Mann!«, rief der hoch aufgeschossene blonde Junge. Doch sein kleinerer Mitspieler versuchte einen dritten zu umdribbeln, blieb prompt hängen, der andere nahm ihm den Ball ab und versenkte ihn im Korb. »Mensch, Fabian! Musst du immer alles alleine machen?« Der große Blonde schüttelte den Kopf. Richtig sauer schien er nicht zu sein. Er verstand einfach nicht, warum der andere so egoistisch war.

»Tut mir leid, Marc«, nuschelte Fabian, während er den Ball mehrfach vor sich aufprallen ließ.

»Tut mir leid, tut mir leid«, kam es hämisch vom Rand des Streetballplatzes. Von den Spielern unbemerkt, waren drei Jungs herangekommen. Ihr Anführer, Osman Özal, stieß das Drahtgittertor auf und betrat den Platz. Seine beiden Kumpels bezogen am Eingang des Spielplatzes Posten. Osman trat auf die drei Streetballspieler zu. Lässig zog er einen Schlagring über die Finger seiner linken Hand. Mit der rechten holte er ein Springmesser aus der Tasche und ließ die Klinge herausschnappen. »Ey, siehst du das? Richtig gemeines Ding, ey. Da schau, der kleine Finger sitzt in ’ner Fassung aus Metall. Deshalb kann’s dir keiner aus der Hand schlagen. Heißt Schlitzundschlag.« Er lachte. »Weil, damit kannst du gleichzeitig schlitzen und schlagen. Kapiert? Also, Freunde, alles, was ihr in den Taschen habt, hier vor mir auf den Boden: Geld, Armbanduhren, Handys. Alles, kapiert?!«

»Ey, Osman, spinnst du?« Die Stimme kam von der anderen Seite des Spielplatzes. Ein untersetzter Junge um die sechzehn lehnte von außen am Gitterzaun. Eine Zigarette hing locker in seinem linken Mundwinkel.

»Halt du dich da raus, Kevin!«, schrie einer der Jungen an der Eingangstür.

»Sag mal, hast du neuerdings etwas zu sagen, Malik?«, rief Kevin zurück. »Ihr wisst wohl nicht, dass das hier Didis Territorium ist? Der wird sich das nicht gefallen lassen.« Kevin spuckte seine Kippe auf den Boden und trat sie aus.

»Stimmt das?«, fragte der andere Junge am Eingang. »Das ist Didis Territorium?«

»Und wenn schon!« Osman machte mit dem Messer in der Hand einen Schritt auf die drei Jungs zu. »Habt ihr nicht verstanden?«

Zwei der Angesprochenen räumten ihre Taschen leer. Der dritte, den sein Mitspieler vorher Marc genannt hatte, blieb unbeweglich stehen.

»Du auch!«

»Nein.« Der Junge rührte sich nicht. Er war schlank und ungefähr ein Meter achtzig groß, hatte lockiges Haar, hellblaue Augen und ein ebenmäßiges Gesicht. Als Kind schon hatte man ihn deshalb »Engel« genannt.

»Doch. Grade du. Und du weißt auch, warum!«

»Ja, und grade darum machst du mir keine Angst!«

Osman bückte sich und hob auf, was die beiden anderen auf den Boden gelegt hatten. Dann wandte er sich wieder drohend Marc Schuhmacher zu. Der sagte: »Osman, überleg noch mal, was du da tust.«

Osman spuckte aus. »Ich weiß ganz genau, was ich mache. Das ist Rache, Scheißalaman. Und diesmal legst du mich nicht wieder rein mit deinen Tricks.«

»Ja«, sagte Marc, »so ein Messer macht natürlich ganz schön stark.«

Während Osman weiter die drei Jungs mit dem Schlagring und dem Messer bedrohte, zischte er in Richtung Kevin über die Schulter: »Didi kann seiner Mutter sagen, dass sie heute Abend saubere Wäsche anziehen soll, weil Osman sie ficken kommt.«

»Hey, Osman, hast du Drogen genommen, oder was? Weißt du, was das bedeutet?!« Der Blonde sprach ganz ruhig und sehr ernst.

»Das zeig ich dir gleich, was das bedeutet, du Drecksau!«

»Osman!«, schrie Malik. »Nicht!«

2

Peter Heiland kam erst ein paar Stunden später ins Büro. Er hatte beim Landgericht in der Turmstraße noch einen Ermittlungsbericht abgegeben und erläutert. Die Abteilungssekretärin, Christine Reichert, empfing ihn mit den Worten: »Wir haben einen versuchten Mord Nähe Hermannplatz.«

»Das ist in Neukölln, nicht wahr? Ich bin dort vorbeigefahren. Wo genau?«

Christine Reichert ging zu einem Stadtplan, der an die Wand gepinnt war, und deutete mit einem Bleistift auf eine Stelle. »Auf einem Streetballplatz. Ein sechzehnjähriger Junge. Er hat ein Messer zwischen die Rippen bekommen.«

Peter Heiland setzte sich. »Ich habe vom Bus aus drei Jungs gesehen, die dort ganz friedlich gespielt haben.«

Christine ging nicht darauf ein. »Wischnewski und Hanna sind schon vor Ort. Die Leute von der Spurensicherung sind auf dem Weg.«

 

Peter Heiland zog eine Akte zu sich heran. Er wurde am Tatort nicht gebraucht. Also machte er sich an den Abschlussbericht eines Falles, den sie vor drei Tagen endgültig aufgeklärt hatten. Eigentlich war es von Anfang an klar gewesen, wer der Täter war. Aber da es an Beweisen mangelte, musste man den jungen Mann zu einem Geständnis bringen.

»Du tust dich leichter, wenn du alles zugibst!« Peter Heiland hatte irgendwann während des Verhörs begonnen, den Mann, der nur wenige Jahre jünger war als er selbst, zu duzen, was er sonst bei Tatverdächtigen vermied. Aber er spürte, dass er damit die Distanz zu dem Tatverdächtigen verringern konnte. »Mein Chef hat mir mal erzählt – also nicht mein Chef hier, sondern mein früherer in Stuttgart –, dass sich ein Mörder bei ihm bedankt hat, als er ihm endlich seine Tat hat nachweisen können. Der Täter konnte irgendwie besser leben mit seiner Schuld und die Strafe als Buße annehmen.«

Der Tatverdächtige, David Ebeling, einundzwanzig, hatte Heiland nur stumm angestarrt.

»Er heißt übrigens Bienzle, mein früherer Chef«, sagte Peter Heiland.

Danach hatten sie sich lange angeschwiegen.

Heiland wartete. Er ließ die Stille größer werden. Der Mann, der ihm gegenübersaß, würde sie nicht lange ertragen. Der junge Kommissar bewegte sich nicht. Seine Augen ruhten auf dem Gesicht des anderen.

An der Längswand der Verhörzelle befand sich ein Spiegel, dessen Fläche leicht nach vorne geneigt war, so dass man den gesamten Raum darin überblicken konnte. Der Spiegel war von der anderen Seite her durchsichtig. Dort befand sich ein kleines Zimmer, in dem Kriminalrat Ron Wischnewski, Peter Heilands Chef, stand und die Szene beobachtete. Jetzt nickte er anerkennend. Dazu gehörte was, das wusste er aus eigener Erfahrung, einfach nur dazusitzen und zu warten, wenn man sein Gegenüber am liebsten packen würde, um die Wahrheit aus ihm herauszuschütteln.

Eine Wespe ließ sich auf einem halben Brötchen nieder, das, mit Butter bestrichen und einer Scheibe Wurst belegt, auf einem Teller zwischen den beiden Männern lag. Das Insekt drehte sich um sich selbst und begann plötzlich, mit seinen Schneidewerkzeugen ein kreisrundes Stück aus der Mortadella abzulösen. Als die Wespe das Rondell herausgeschnitten hatte, versuchte sie, damit von dem Brötchen abzuheben, was ihr sichtlich schwerfiel. Sie landete schon nach zwanzig Zentimetern Flug auf dem rechten Unterarm des Mannes, der Heiland gegenübersaß. Der Mann hob die linke Hand.

»Nicht!«, sagte Heiland. »Die wird dich stechen!«

Die Hand verharrte auf halbem Weg. Die Wespe machte einen zweiten Startversuch und flog mit ihrer Beute durch das vergitterte Fenster davon.

»Ich war es nicht«, sagte der Mann. »Ich könnte keiner Fliege etwas zuleide tun!«

Heiland sagte: »Ich bin sicher, dass du es warst!«

»Seit fünf Stunden verhören Sie mich, und Sie sind keinen Schritt weitergekommen.«

»Du hast recht. Wir bohren ein dickes Brett«, sagte Peter Heiland.

Dann schwiegen sie wieder. Es mochten zehn Minuten vergangen sein, als Heiland mit einem kleinen Lachen sagte: »Das ist wie Sauerkrautgucken. Wir haben das als Kinder gespielt. Man musste sich in die Augen schauen, und wer zuerst geblinzelt hat, hatte verloren.«

»Dann haben Sie jetzt verloren«, sagte der junge Mann auf der anderen Seite des Tisches.

»Das wird sich zeigen.« Peter Heiland atmete tief durch die Nase ein und stieß die Luft durch den Mund wieder aus. Er bückte sich, zog einen Holzknüppel aus einem Plastiksack heraus und legte ihn links von Ebeling auf den Tisch. Er hatte dies von Anfang an vorgehabt, aber immer wieder verschoben.

Peter Heiland kehrte zum »Sie« zurück. »Das ist die Mordwaffe. Das Blut Ihrer Freundin klebt noch dran. Nehmen Sie den Knüppel bitte in die Hand.«

Plötzlich standen dicke Schweißperlen auf David Ebelings Stirn. Der junge Mann rührte sich nicht. Er hielt seinen Kopf starr.

»Schauen Sie ihn wenigstens an«, sagte Peter Heiland.

David Ebelings Kopf ruckte ein wenig nach links. Dabei drehte er aber die Augen nach rechts. In dieser Stellung verharrte er. Behutsam schob Peter Heiland den Knüppel in Ebelings Blickfeld.

»Damit ist Susanne erschlagen worden. Wir haben keine Fingerabdrücke daran gefunden.« Peter Heiland schwieg ein paar Augenblicke und fuhr dann leise fort: »Es war kalt in jener Nacht. Wir fanden zwar Spuren von Handschuhen, aber Sie müssen die Handschuhe entsorgt haben. Nehmen Sie jetzt bitte den Knüppel in die Hand.«

David Ebeling schloss die Augen. Er rührte sich nicht.

»Nicht einmal anschauen können Sie Ihr Mordwerkzeug, geschweige denn noch einmal in die Hand nehmen. Aber am 23.Dezember, abends um neun Uhr, konnten Sie es. Warum?«

Tränen quollen unter den geschlossenen Augenlidern Ebelings hervor.

»Sie wollten es nicht tun«, sagte Peter Heiland leise. »Es ist plötzlich über Sie gekommen. Der Holzknüppel lag da. Sie brauchten sich nur zu bücken. Susanne stand Ihnen direkt gegenüber. Sie muss Ihnen etwas Schlimmes gesagt haben … «

»Ausgelacht hat sie mich. ›Du wirst doch nicht glauben, dass ich bei dir bleibe‹, hat sie gesagt. ›Da weiß ich weiß Gott was Besseres.‹ Genau das hat sie gesagt und noch viel mehr.«

Peter Heiland lehnte sich weit gegen die Stuhllehne zurück und verschränkte seine Hände im Nacken. »Weiter!«, sagte er mit sanfter Stimme.

David Ebeling legte am Ende das Geständnis ab, seine Freundin, Susanne Lorenz, die er eigentlich als seine Verlobte betrachtet hatte, erschlagen zu haben.

Nach fünf Stunden und vierzig Minuten waren Heiland und Ebeling aufgestanden und hatten sich die Hand gereicht. Zwei Beamte der Schutzpolizei hatten den überführten Mörder aus dem Verhörzimmer begleitet, und Peter Heiland war noch einmal auf seinen Stuhl zurückgesackt. Erst jetzt spürte er, dass er völlig durchgeschwitzt war.

Ron Wischnewski, der die ganze Zeit im Nebenraum hinter dem von der anderen Seite durchsichtigen Spiegel gestanden und mitgehört hatte, kam herein und sagte: »Verdammt gute Arbeit, Heiland!«

Der junge Hauptkommissar konnte sich nicht darüber freuen.

 

Jetzt tippte er den Abschlussbericht in seinen Computer. Er hätte ihn auch der Sekretärin diktieren können, aber wenn er selber schrieb, fiel ihm das Formulieren leichter. Irgendwann einmal hatte er gelernt, im Zehnfingersystem zu tippen.

3

Osman, Malik und Johannes, den alle nur Jo nannten, schlurften die Manteuffelstraße hinunter und bogen in die Muskauer Straße ein.

Keiner sprach, bis Jo sagte: »Warum hast du das heute bloß gemacht, Osman?«

»Du weißt, was in der Schule passiert ist.«

»Ja! Aber er ist nicht mit dem Messer auf dich losgegangen.«

»Ihr Deutschen versteht das nicht. Es geht um Respekt. Respekt und Ehre, verstehst du?! Ihr seid meine Offiziere. Ihr müsst das kapieren. Wie sollen denn die Männer aus unserer Gang Respekt vor mir haben, wenn ich so was auf mir sitzen lasse?!«

Malik sagte: »Ich bin Syrer. Wir wissen genauso gut wie du, was Ehre ist. Aber wir sind doch auch Deutsche. Ich bin hier, seitdem ich fünf Jahre alt war, und du noch länger.«

»Was spielt denn das für eine Rolle? Die Ehre, die hast du hier drin!« Osman klopfte sich mit der geballten Faust gegen die Brust.

»Trotzdem«, sagte Malik, »wenn er stirbt, hast du einen Mord am Hals.«

Die Abenddämmerung kroch in die Stadt. Von den kahlen Zweigen der Alleebäume fielen einzelne Tropfen, obwohl es in den letzten Stunden nicht geregnet hatte. Die ersten Straßenlaternen flammten auf. Im diffusen Nebel bildeten sich kleine helle Höfe um die Lampen.

Die drei Jungen erreichten den Mariannenplatz. Auf der anderen Seite des Parks reckten sich die beiden schmalen, ins Mauerwerk eingezogenen Türme des Kulturzentrums Bethanien in den düsteren Himmel. Dort residierte das Kunstamt Friedrichshain-Kreuzberg, eine Musikschule, das Kreuzberger Kunsthaus und die alte Fontaneapotheke. Der langgezogene gelbe Klinkerbau machte um diese Zeit einen verlassenen Eindruck. Nur hinter dem kleinen quadratischen Fenster neben dem Spitzbogentor sah man die Silhouette des Pförtners und das bunte Flimmern e ines Fernsehers.

Osman und seine Freunde gingen weiter Richtung Thomaskirche. Einen Augenblick hielten sie beim Zugang zur Wagenburg inne, der von zwei alten Lastwagen flankiert wurde. Die Stadtverwaltung hatte den Bewohnern ein Ultimatum gestellt. Der »Schandfleck« müsse beseitigt werden, hatte ein CDU-Abgeordneter getönt. Dabei wirkte jeder Wohnwagen, jeder Container, jeder Bretterverschlag wie eine sorgfältig erarbeitete Installation. Unter einem roten Schirm beispielsweise stand ein Amboss, an den zwei alte Fahrradgestelle gelehnt waren, denen die Räder längst abhandengekommen waren. Eine rote Kinderrutsche endete in einem kleinen Sandkasten. Um einen alten Holztisch standen vier verschiedene Gartenstühle. Zwischen den Hütten waren kleine ummauerte Rondelle angelegt, in denen schwarze, halbverkohlte Äste lagen. Es mochte schon eine Weile her sein, dass da ein Feuer gebrannt hatte und Würste gegrillt wurden.

Die drei Jungen ließen die Wagenburg links liegen.

Auf einer Bank schräg gegenüber der Thomaskirche, einem mächtig aufragenden Bau aus rotem Klinker mit zwei quadratischen Türmen und einer Kuppel über dem Kirchenraum, saß ein alter Mann. Er hatte die Hände hinter dem Kopf gefaltet, seine Lippen bewegten sich tonlos. Zwischen seinen Füßen stand eine Bierflasche.

»Sieh dir den an!«, zischte Osman.

»Lass ihn in Ruhe«, sagte Jo. »Er kann nichts dafür.«

»Für was?« Malik lachte.

»Natürlich kann er was dafür«, sagte Osman. »Hast du ’ne Ahnung, was son alter Sack uns kostet?«

»Dich?« Nun musste auch Jo lachen.

Osman trat nach ihm und traf den Jüngeren am Schienbein.

»He, du! Was ist denn mit dir los?«

»Hört auf!«, sagte Malik.

Aber Osman beachtete ihn nicht. Er zog sein Messer und trat vor den Alten hin. »Na?«

Der Mann schaute auf. Das zerfurchte Gesicht war dunkel. Die Farbe zeigte, dass dieser Mensch sein Leben im Freien verbrachte. Neben ihm auf der Bank lag ein grauer Seesack. Die Augen des alten Mannes waren wässrig blau. Er beugte sich nach vorne und griff nach der Bierflasche. Aber Osman war schneller. Er hob die Flasche auf, nahm einen Schluck und sagte: »In deinem Alter sollte man nicht so viel trinken.«

Der Alte sagte nichts. Er fasste mit beiden Händen nach dem Kragen seines Mantels und zog ihn hoch.

»Steh auf!«, sagte Osman. Und als der Mann nicht reagierte, brüllte der junge Kurde: »Du sollst aufstehen, hab ich gesagt!«

Langsam erhob sich der alte Mann. Leise sagte er: »Was hab ich dir getan?«

»Es reicht, dass du auf der Welt bist.« Osman boxte den Mann mit der Bierflasche gegen die Brust und fuchtelte mit dem Messer in seiner anderen Hand vor dem Gesicht des Mannes herum.

»Ich habe viel von der Welt gesehen«, sagte der Mann mit großem Ernst, »aber ...«

Osman lachte. »Du?« Wieder stieß er ihn gegen die Brust. »Wer bist du denn? Wie heißt du. Hä?«

»Burick«, sagte der andere ruhig und verbeugte sich dabei ein klein wenig. Als er den Kopf wieder hob, hatte sich sein Blick verändert. Die Augen waren hart geworden und glichen grauen Kieseln.

Malik stand stumm daneben. Jo zog sich ein paar Schritte zurück, stellte sich hinter einen Busch und tat so, als müsste er pinkeln.

Der alte Mann schaute sich um. Weit und breit war niemand zu sehen.

Osman hob die Flasche über den Kopf des Mannes. Langsam drehte er sie. Die braune, schäumende Flüssigkeit ergoss sich über das schüttere Haar. Malik lachte.

Die Tür der Thomaskirche öffnete sich. Ein schmaler, großgewachsener Mann trat heraus, erfasste die Szene mit einem Blick und ging schnell auf die Gruppe zu. »Lasst den Mann in Ruhe!«

Jo trat hinter dem Busch hervor. Endlich konnte er auch etwas sagen. »Misch dich nicht ein, ja?«

Der Mann maß den Jungen mit einem abschätzigen Blick: »Gehörst du nicht nach Hause ins Bett?«

Osman rief über die Schulter: »Lässt du dir das gefallen, Jo?«

Malik trat auf den Neuankömmling zu: »Verschwinde, oder es passiert was!«

Der Mann holte ein Handy aus der Tasche und wählte. Malik trat ihm das Telefon aus der Hand und schlug im gleichen Moment mit der rechten Faust zu. Mit einem leisen Aufschrei knickte der Mann nach vorne. Das Telefon landete dicht vor Buricks Füßen an der Bank und trudelte auf dem kiesbestreuten Weg aus.

»Was ist?«, rief Osman über die Schulter.

»Er wollte die Bullen rufen!«

»Was??« Osman ließ von dem Mann an der Bank ab und kam herüber. »Du wolltest wirklich die Bullen holen? Tz, tz, tz. So dumm kann man doch gar nicht sein. Wer bist du überhaupt?«

Burick bückte sich und hob das Handy auf.

»Ich bin der Mesner der Kirche. Ich bitte euch … «

»Das ist gut. Das ist sehr gut. Bei uns muss man ganz schön bitte, bitte machen, wenn man was von uns will. Aber richtig. Auf die Knie, du Arsch!«

Der Mesner schaute Osman ungläubig ins Gesicht. Leise sagte er: »Ich beuge mein Knie nur vor Gott!«

Osman lachte laut auf. Er kriegte sich gar nicht mehr ein vor Lachen. Es klang kehlig, laut und hässlich über den menschenleeren Platz. Dann brach es plötzlich ab. »Vor eurem Gott?«, schrie Osman. Und noch mal: »Vor eurem Gott?! Auf die Knie, und dann bitte Allah, dass er dir Schweinefleischfresser vergibt!«

Hinter Osmans Rücken schulterte Burick seinen Seesack und ging mit kräftigen Schritten davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Hinter einem dicken Baumstamm blieb er stehen und wählte 110.

»Hinknien!, haben wir gesagt.« Malik war hinter den Mesner getreten, packte ihn an beiden Schultern und trat ihn mit dem rechten Fuß in die Kniekehlen.

»Hilfe!«, schrie der Mann.

Osman lachte. »Dich hört keiner, und wenn, dann rennt er weg. Das will niemand sehen, was dir jetzt gleich passiert.« Er holte mit dem rechten Fuß aus und trat dem Mann mit dem klobigen Stiefel so hart ins Gesicht, dass der nach hinten fiel.

Jo kam hinzu und trat nun dem Mann in die Seite. Osman goss seinem Opfer das restliche Bier aus der Flasche ins Gesicht und spuckte hinterher. Malik lehnte an einem Baumstamm, die Arme über der Brust gekreuzt und schaute zu.

»Bitte, ihr habt keinen Grund … «, keuchte der Mann am Boden.

»Wir brauchen keinen Grund!« Osman trat erneut zu. Seine Stiefelspitze traf die Schläfe des Mannes. Aus einer klaffenden Wunde trat Blut.

»Es reicht!«, sagte Malik.

»Ich bestimme, wann es reicht!«, schrie Osman. Er beugte sich über den Mann, der das Bewusstsein verloren hatte, packte ihn mit beiden Händen am Kragen seines Mantels und zog ihn hoch.

Auf der anderen Seite des Parks tauchten Scheinwerfer auf. Ein Auto bog beim Bethanienhaus in einen Parkweg ein. Das Licht erfasste die Gruppe vor der Kirche. Im gleichen Moment begann das Blaulicht des Polizeiautos zu kreiseln, der Motor heulte auf, die Reifen drehten auf dem Kiesweg durch.

Osman ließ den leblosen Mann fallen und rannte los. Gefolgt von seinen Kumpels, spurtete er die Waldemarstraße hinunter und verlangsamte sein Tempo erst, als er den Görlitzer Park erreichte. Dort ließ er sich auf eine Bank fallen. Jetzt grinste er zufrieden. Die beiden anderen hatten ihn eingeholt und setzten sich links und rechts neben Osman auf die Bank. Er legte seine Arme um ihre Schultern, zog sie an sich und sagte: »Hab ich nicht gesagt, wir verschaffen uns Respekt?«

Etwa zwanzig Meter entfernt tauchte Burick auf. Er lehnte sich gegen einen Baum, zog aus seiner Jackentasche ein Päckchen Tabak und Zigarettenpapier und begann sich mit einer Hand eine Zigarette zu drehen. Er wollte sie sich grade anzünden, als die drei Kumpels aufstanden und den Görlitzer Park verließen. Burick schulterte seinen Seesack und folgte ihnen.

 

Die beiden Schutzpolizisten hatten den blutenden Mesner auf die Bank gebettet. Während der eine nach dem Notarzt telefonierte, fragte der andere: »Verstehen Sie mich?«

Der Verletzte nickte und stieß einen Klagelaut aus.

»Haben Sie die Täter erkannt?«

Der Mann schüttelte den Kopf und stöhnte dabei auf.

»Aber Sie würden sie wiedererkennen, wenn Sie die Kerle wiedersehen?«

Der Mann nickte. Dann sagte er leise: »Ich versteh das nicht.«

Der Polizist tupfte dem Mesner das Blut aus dem Gesicht. »Wir verstehen das alle nicht.«

Ein Notarztwagen näherte sich. »Gott sei Dank!«, sagte der Polizist.

4

Hanna Iglau und Ron Wischnewski kamen von der Tatortermittlung zurück. Der Kriminalrat warf Heiland nur ein knappes »Tach« hin. Hanna fuhr ihm kurz mit der Hand über den Nacken, beugte sich hinunter und küsste ihn aufs Haar.

»Ein Fall für Sie, Heiland«, sagte Wischnewski.

Peter sah ihn nur fragend an.

Wischnewski holte sich einen Kaffee von der Maschine, die auf dem Fensterbrett leise vor sich hin gurgelte. »Liegt vielleicht so ähnlich wie der Fall Ebeling. Ist der Bericht eigentlich endlich fertig?«

Peter Heiland deutete auf den Drucker. »Ich druck ihn grade aus.«

»Soll ich berichten?«, fragte Hanna.

Wischnewski nickte. Christine Reichert zog einen Stenoblock zu sich heran, griff nach einem Bleistift und schickte sich an mitzuschreiben.

»Wir sind telefonisch informiert worden. Ein Mann, der einkaufen gehen wollte, sah den Jungen in einer Ecke des Spielplatzes liegen.«

»Ich bin heute dort vorbeigefahren«, warf Peter Heiland ein. »Da haben drei Jungs ganz friedlich Streetball gespielt.«

»Vielleicht war das Opfer dabei«, sagte Hanna.

»Weiter!«, brummte Wischnewski.

»Der Verletzte heißt Marc Schuhmacher, ist sechzehn Jahre alt und wohnt in der Emserstraße 137 in Neukölln. Eine Frau, die dem Spielplatz gegenüber wohnt … «

»Name?«, fragte Christine Reichert dazwischen.

»Lore Dreiss. Sie hat den Jungen erkannt.«

»Weiß man, wer die anderen beiden waren?«, fragte Peter Heiland.

»Woher hätten wir wissen sollen, dass da noch zwei waren?«, bellte Wischnewski.

»Wir haben keine entsprechende Zeugenaussage«, ergänzte Hanna milde. »Es gibt überhaupt keine Zeugen bisher.«

»Was wissen wir über den Jungen?«, fragte Peter Heiland.

»Nichts. Außer, dass er beinahe tot ist«, erwiderte Wischnewski übelgelaunt. »Er ist fast verblutet. Ob die Ärzte ihn retten können, weiß niemand.« Peter Heiland sah seinen Chef an. Der Fall schien ihm an die Nieren zu gehen. Der Kriminalrat fuhr sich mit der flachen Hand über die Augen. »Sie hätten sein Gesicht sehen sollen.«

Peter Heilands Blick ging zu Hanna hinüber. Leise sagte sie: »Ein wirklich hübscher Junge. Eigentlich sah er überrascht aus, als ob er nicht glauben könnte, was ihm passiert ist.«

»Was ist denn nu passiert?«, wollte Christine wissen.

»Irgendeiner hat ihm sein Messer in die Rippen gerammt. Zum Glück ist er nicht bis zum Herzen durchgekommen, sagt der Doc.« Ron Wischnewski hatte zu seiner alten Sachlichkeit zurückgefunden. »Die Kollegen befragen weiter die Nachbarn.«

»Und sie gehen in die Schulen im Umkreis«, ergänzte Hanna Iglau. »Wir werden bald mehr wissen.«

»Wenn er zu sich kommt, kann er uns vielleicht sagen, wer es war.«

»Ja, wenn … « Ron Wischnewski stand auf, nahm Peter Heilands Bericht über den Fall David Ebeling aus dem Drucker und zog sich wieder hinter seinen Schreibtisch zurück. Er warf einen Blick auf die Papiere, verdrehte die Augen zur Decke und schrie: »Das darf doch nicht wahr sein!«

Die anderen sahen zu ihm hin. Wischnewski hielt die Seiten des Berichts über den Kopf und wedelte damit. »Was haben Sie denn da wieder gemacht?«

Peter sah ihn verständnislos an. Hanna ging zu Wischnewski hinüber und nahm ihm die Seiten aus der Hand. Sie musste ein Lachen unterdrücken. »Du hast bedrucktes Papier genommen.«

»Ja sicher, Schmierpapier. Die Rückseite kann man doch noch verwenden. Wird doch eh noch drin rumkorrigiert.«

»Aber du hast das Papier falsch eingelegt und auf die schon beschriebene Seite gedruckt.«

»Hä?« Peter Heilands Gesicht wirkte in diesem Moment nicht besonders intelligent.

»Ich druck’s noch mal aus«, sagte Christine eifrig.

»Diese schwäbische Sparsamkeit!« Wischnewski konnte nur den Kopf schütteln.

»Ja«, sagte Peter zerknirscht. »Mein Opa Henry sagt auch immer: ›Du glaubst gar net, was ein Schwabe ausgibt, wenn er was schpare kann!‹«

Opa Henry war inzwischen auch in der 8. Mordkommission des Berliner Landeskriminalamtes eine bekannte Figur. Nicht nur, weil Peter Heiland ständig von seinem Großvater erzählte, sondern weil der erst im letzten Sommer leibhaftig in der Abteilung aufgetaucht war – ein sympathischer alter Kauz, wie Wischnewski fand.

»Recht hat er«, sagte Ron Wischnewski und fuhr dann, schon wieder versöhnlicher, fort: »Heiland, Sie übernehmen erst mal diesen Mordversuch. Sobald wir wissen, wo der Junge zur Schule ging, setzen Sie dort an. Und natürlich bei den Eltern, wenn wir sie gefunden haben.«

 

Peter Heiland legte auf seinem Computer einen neuen Ordner an und gab ihm den Titel »Marc Schuhmacher«. Dann setzte er das Datum darunter: »Mittwoch, 14.Januar 2009«.

5

Osman, Malik und Jo waren am Görlitzer Bahnhof in die U-Bahn eingestiegen und eine Station bis Kottbusser Tor gefahren. Dass Burick in letzter Sekunde in den nächsten Wagen geklettert war, hatten sie nicht bemerkt. Jetzt schnürten sie die Skalitzer Straße hinunter.

»Ich geh nach Hause«, sagte Jo plötzlich.

»Das denkst aber auch nur du!«, konterte Osman. »Dich davonschleichen, das würde dir so passen. Du hast einen Eid geschworen. Los, hier rein!« Er stieß die Tür zu einem Zeitungsladen auf. An der Tür hing ein Schild: Geöffnet bis 22 Uhr.

Burick war auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu einem Obsthändler getreten. Die beiden schienen sich zu kennen. Nach einer kurzen Verhandlung nickte der Mann hinter den Obstkisten und nahm Buricks Seesack entgegen. Er verstaute ihn hinter der Ladentür. Burick ging ein paar Schritte weiter, lehnte sich gegen eine Hauswand und zündete endlich seine selbstgedrehte Zigarette an.

 

In dem Zeitungsladen gab es auch Getränke, Snacks, Schokoriegel und Schreibwaren, außerdem betrieb der Besitzer eine Lotto-Annahmestelle, und ein Schild verwies darauf, dass er Schuhe zur Reparatur annahm.

Hinter dem Ladentisch stand ein großer, breitschultriger Mann. »Na, was darf's sein?«, fragte er gemütlich.

»Das ganze Geld aus der Kasse und drei Flaschen Schnaps!« Osman ließ die Klinge seines Messers aus der Scheide springen. »Dafür garantieren wir dir auch Schutz!«

Der Ladenbesitzer schien unbeeindruckt zu sein. »Hältst du das für professionell, Ali?«

»Ich heiße nicht Ali!«

»Für mich heißen alle Türken Ali«, sagte der Mann hinter dem Ladentisch.

»Ich bin Kurde!«

»Das macht für mich keinen Unterschied.«

Osmans Augen glitzerten gefährlich. »Wir machen deinen Laden zu Kleinholz.« Er beugte sich weit über den Tresen. Das Messer kam dem Zeitungshändler gefährlich nahe. Der machte einen Schritt zurück, behielt aber die Ruhe.

»Vergiss es. Werd du erst mal trocken hinter den Ohren. Du kannst meinen Laden kaputtmachen, aber das wird für dich teurer als für mich! Ich hab nämlich bereits Schutz. Und die Leute, die mir den garantieren, rauchen dich in der Pfeife, mein Sohn.«

»Red nicht sone Scheiße!«, sagte Osman, aber es klang längst nicht mehr so selbstbewusst.

»Du hast es nicht bemerkt«, fuhr der Ladenbesitzer ungerührt fort, »aber als ihr hier hereinkamt, habe ich meinen Beschützern Signal gegeben. Da, siehst du den Knopf?« Er deutete unter die Kante des Ladentisches.

Osman beugte sich noch weiter über den Tisch und suchte den Knopf mit den Augen. Im gleichen Moment packte ihn der Ladenbesitzer im Nacken, drückte Osmans Kopf über die Kante des Tisches und griff mit der anderen Hand nach dem Messer.

»Malik!«, keuchte Osman. Aber sein Freund machte nur einen halbherzigen Schritt nach vorne. Der Ladenbesitzer zog den Daumen Osmans aus dem metallenen Ring, und schon hatte er das Messer in der Hand. »Raus hier, aber schnell!«, sagte er mit schneidender Stimme.

Osman richtete sich schwer atmend auf. »Wir kommen wieder, verlass dich drauf!«

»Das glaub ich nicht«, sagte der Ladenbesitzer und wog das Messer in der Hand. »Da sind Blutspuren dran.«

»Los, Leute«, sagte Osman zu Malik und Jo.

Sie verließen den Zeitungsladen. Der Ladenbesitzer holte eine Plastiktüte aus einer Schublade und ließ das Messer vorsichtig hineingleiten.

 

Draußen auf der Straße sagte Osman: »Die Leute müssen erst begreifen, dass eine neue Zeit gekommen ist. Aber das bringen wir denen schon bei, und dann wird kassiert ohne Ende!«

Malik schüttelte den Kopf. »Wir haben uns zu viel vorgenommen, Osman.«

»Stimmt nicht. Wir haben uns nur noch nicht den Respekt verschafft, der uns zusteht.«

Jo massierte seinen Nasenrücken mit den Kuppen von Daumen und Zeigefinger. »Ich weiß nicht … «, sagte er beklommen.

Osman schlug ihm leicht mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Klar, du weißt ja nie was. Los, ich lad euch ein.«

Sie gingen über die Straße und verschwanden in einem Falafel-Laden.

Burick hatte sich rechtzeitig aus ihrem Gesichtsfeld gebracht.

DONNERSTAG, 15.JANUAR

1

Marc Schuhmacher besuchte das Ludwig-Uhland-Gymnasium. Peter Heiland suchte das Gymnasium gegen neun Uhr am nächsten Tag auf. Marc ging in die zehnte Klasse, stand also kurz vor der mittleren Reife. Die Direktorin der Schule, Dr.Annemarie Wessel, war um die fünfzig. Eine großgewachsene Frau mit einem harten Zug um den Mund. Ihre blonden Haare trug sie in einer Männerfrisur, links gescheitelt und kurz geschnitten. Sie saß sehr aufrecht hinter ihrem Schreibtisch, als Peter Heiland ihr Büro betrat. Ohne ihm die Hand zu geben, sagte sie: »Guten Tag. Nehmen Sie bitte Platz.«

Peter Heiland blieb stehen. »Marc Schuhmacher ist ein guter Schüler«, sagte Frau Dr.Wessel, bevor Heiland etwas fragen konnte. »Und er engagiert sich für seine Mitschüler, was hier eher eine Seltenheit ist.«

»Ist er beliebt?«

»Akzeptiert. Er ist akzeptiert. Von den meisten wenigstens. Sie werden sich erkundigt haben, nehme ich an. Unsere Schule hat einen Ausländeranteil von über siebzig Prozent. Für viele ist es schwierig, sich zurechtzufinden. Und wer sich nicht in irgendeine Gruppe eingliedern kann, hat es besonders schwer, selbst wenn er noch so intelligent ist. Wir hatten zum Beispiel einen Syrer, Malik Anwar, ein hochbegabter Junge, sein Intelligenzquotient lag weit über dem seiner Mitschüler. Aber sein Sozialverhalten tendierte gegen null. Wir mussten ihn letztes Jahr von der Schule verweisen.«

»Und wie stand Marc Schuhmacher zu dem?«

»Schwer zu sagen. Sie haben oft gestritten, aber es kam nie zu einer Schlägerei.«

»Ist das etwas Besonderes?«

Frau Dr.Wessel lachte kurz auf. »Es ist die absolute Ausnahme.« Sie sah Peter Heiland an. »Wo sind Sie denn zur Schule gegangen? So lange kann das ja noch nicht her sein.«

»In Riedlingen.«

»Wo ist denn das?«

»Auf der Schwäbischen Alb.«

»Und wo ist die?«

»So ein Fach wie Erdkunde gibt es hier wohl nicht?«

Die Rektorin ging nicht darauf ein.

»Südlich von Stuttgart zwischen Geislingen und Ulm und zwischen Donaueschingen und Aalen, grob g’sagt«, erklärte der Kommissar.

Frau Dr.Wessel nahm ihren Faden wieder auf: »Jedenfalls haben wir hier eine hohe Gewaltbereitschaft. Ich muss Ihnen sicher nicht erklären, wo das herkommt. Das können Sie jeden Tag in irgendwelchen Zeitungen lesen. Nur dass die auch nicht wissen, wie man dagegen ankommt. Wir doktern an den Symptomen herum, aber solange die Ursachen nicht bekämpft werden … « Sie ließ den Satz in der Luft hängen.

»Gibt es andere Schüler, die Sie mir nennen können? Ich meine, die für die Tat vielleicht in Frage kommen.«

»Es muss doch kein Schüler von uns gewesen sein. Neuerdings haben wir immer mehr Fremde auf dem Schulgelände.«

»Fremde?«

»Sagen wir so: Leute, die nicht oder nicht mehr in unsere Schule gehen. Jungs vor allem, die hier eine Freundin haben, zum Beispiel. Erst neulich hat ein junger Türke, der früher in unsere Schule ging, einen Lehrer zusammengeschlagen, weil er ihm in der großen Pause den Zutritt zum Schulhof verwehren wollte. Marc Schuhmacher ist übrigens dazwischengegangen. Er ist genau der Typ, der bei so etwas nicht einfach zuschaut. Auch in dieser Hinsicht durchaus eine Ausnahme.«

»Und?«