Nur Augen für dich - Marie Force - E-Book
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Nur Augen für dich E-Book

Marie Force

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Beschreibung

Der 11. Band der romantischen Spiegel-Bestseller-Reihe Lost in Love - Die Green-Mountain-Serie von Marie Force Landon Abbott kann es kaum fassen: Amanda, die Frau seiner Träume, sucht bei ihm Unterschlupf. Doch wie kann er ihr seine Liebe gestehen, nach allem, was mit seinem Zwillingsbruder Lucas vorgefallen ist? Nachdem Amanda im Feuer des Admiral Butler Inns beinahe umgekommen wäre, sieht sie die Welt in einem neuen Licht. Sie ist fest entschlossen, einmal im Leben wahre Liebe zu spüren, und Landon lässt ihr Herz wie wild schlagen. Doch bestehen ihre Gefühle füreinander auch, wenn sie getestet werden? Die prickelnde »Lost in Love - Die Green-Mountain-Serie« von Bestseller-Autorin Marie Force geht weiter: In dieser Kleinstadt in Vermont findet jedes Familienmitglied der Familie Abbott seine große Liebe.

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Seitenzahl: 491

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Marie Force

Nur Augen für dich

Lost in Love Die Green-Mountain-Serie 11

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Lena Kraus

FISCHER E-Books

Inhalt

123456789101112131415161718192021222324252627282930313233EpilogDanksagung

1

»Sag mir, was hast du mit deinem einzigen, wilden, kostbaren Leben vor?«

Mary Oliver

Noch Tage nach dem Brand im Hotel konnte Amanda den Rauch auf ihrer Haut und in ihrem Haar riechen. Der Gestank haftete hartnäckig an ihr, selbst nach unzähligen Duschen und so vielen Haarwäschen, dass ihre Kopfhaut unangenehm brannte. Am Ofen in Landon Abbotts gemütlicher Hütte dachte sie über die Ironie nach, die darin lag, dass sie das Feuer brauchte, um warm zu bleiben, obwohl Feuer jetzt genau das war, was ihr am meisten Angst machte.

Während an diesem späten Maitag draußen ein wilder Nordostwind wütete, hatte Amanda viel zu viel Zeit, nachzudenken und den Schrecken ihrer Nahtoderfahrung wieder und wieder zu durchleben.

Es war jetzt eine Woche her, seit das Admiral Butler Inn niedergebrannt war und sie mit einem böse verstauchten Knöchel festgesteckt hatte, bis Landons eineiiger Zwilling, Lucas, sie gerettet hatte. Sie waren auf dem Weg aus ihrem Zimmer gewesen, als das Dach über ihnen einstürzte und sie unter sich begrub.

Amanda erschauerte jedes Mal, wenn sie an diesen Moment dachte und daran, wie Lucas sich auf sie geworfen hatte, um sie vor den brennenden Trümmern abzuschirmen. Er war schlimmer verletzt worden als sie, ein gebrochener Arm, der eine Operation nötig gemacht hatte, und eine böse Rauchvergiftung.

Amanda war kurz im Krankenhaus gewesen, um mit Sauerstoff und intravenös mit Flüssigkeit versorgt zu werden. Als sie mit einer Schiene für ihren Knöchel entlassen wurde, hatte Landon sie mit zu sich nach Hause genommen, damit sie sich dort erholen konnte. Das nächstgelegene Hotel war zwei Städte entfernt.

Weil die meisten ihrer Sachen verbrannt waren, hatte Landon ihr im Green Mountain Country Store, dem Geschäft seiner Familie, neue Jeans, Pullover, Schlafanzüge, Socken und Unterwäsche gekauft, wahrscheinlich mit Hilfe einer oder aller seiner drei Schwestern. Sie hatten ihre Größe perfekt erraten. Landon hatte ihr sogar einen neuen Wintermantel und Stiefel mitgebracht, damit sie für die nach wie vor anhaltende Schlammsaison gerüstet war, und seine Familie hatte genug Essen für zehn vorbeigebracht.

Ihre eigene Mutter hatte richtig Panik bekommen, als sie von dem Brand erfahren hatte. Als es Amanda endlich gelungen war, ihr zu versichern, dass es ihr gutging, hatte ihre Mom, die auch ihre Chefin war, ihr einen neuen Laptop und ein neues Handy geschickt. Sie waren schon auf dem Server der Firma konfiguriert, so dass sie wieder arbeiten konnte, wann immer sie sich danach fühlte.

Sie hatte alles, was sie brauchte, um ihr Leben da wieder aufzunehmen, wo es unterbrochen worden war, wenn nur ihre Hände aufhören würden, zu zittern. Wenn sie nur nicht immer, wenn sie die Augen schloss, das Feuer sehen und hören und riechen würde. Wenn sie nur die Angst, die ihr so tief in den Knochen steckte, hinter sich lassen könnte. Es war verdammt knapp gewesen. Sie hatte es tausend Mal in Gedanken durchlebt, von dem Moment an, als sie in einem vom Feuer umgebenen Zimmer aufgewacht war, aus dem Bett gesprungen war und sich den Knöchel verstaucht hatte, bis hin zu dem Moment, als Lucas hereinstürzte und sich schützend auf sie geworfen hatte.

Vor seinem Auftauchen hatte sie gerade genug Zeit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen, dass sie sterben würde, entweder im Feuer oder an dem giftigen Rauch, der das Zimmer so unglaublich schnell füllte. Sie hatte kaum Zeit gehabt, überhaupt zu verstehen, was los war, und schon gar nicht, zu reagieren, bevor es zu spät war, um noch irgendetwas zu unternehmen.

Bis zum Brand war sie auf Autopilot gewesen. Sie hatte ihr Leben ohne Bindungen und, von ihrer Arbeit abgesehen, auch ohne Verantwortung gelebt und sich stur geweigert, sich ihre schmerzhafte Vergangenheit näher anzuschauen. Nach dem Brand konnte sie kaum an etwas anderes denken als daran, was sie alles verpasst hätte, wenn sie in jener Nacht gestorben wäre.

Zum Beispiel hatte sie sich noch nie wirklich verliebt. Sie hatte Lust verspürt, die sie mit Liebe verwechselt hatte, aber das zählte nicht. In den Sekunden, bevor Lucas sie gerettet hatte, war ihr klargeworden, dass sie sterben könnte, ohne je wahre Liebe gespürt zu haben. Sie war noch nie Ski gefahren, hatte noch nie Ziplining gewagt oder war in Europa gewesen oder im Pazifik geschwommen. Obwohl sie schon mindestens sechsmal geschäftlich in Los Angeles gewesen war, war sie kein einziges Mal im Meer geschwommen. Sie hatte immer angenommen, dass sie massig Zeit für all diese Dinge haben würde. Es gab immer noch mehr Zeit, in der Zukunft.

Jetzt wusste sie es besser.

Nachdem sie daran erinnert worden war, dass Zeit endlich ist und wie schnell ihr ihre Zukunft genommen werden konnte, hatte Amanda angefangen, eine Liste mit Dingen zu schreiben, die sie noch nie getan hatte. Sie wollte Klavierstunden nehmen, einen Berg besteigen, lernen, ein Auto mit Gangschaltung zu fahren, und einen Orgasmus mit einem Mann haben. Amanda unterstrich diese Worte mehrfach. Sie hatte mehr als genug Solo-Orgasmen gehabt, und auch ein paar beim Ausprobieren neuer Produktlinien des Familienbetriebes, aber noch keinen einzigen mit einem echten, lebendigen Mann.

Ihr Körper bebte unter dem Schluchzen, dass sie jetzt so oft überkam, wenn sie daran dachte, was sie alles verpasst hätte, wie nahe sie daran gewesen war, alles zu verlieren, zu sterben, bevor sie je wirklich gelebt hatte.

Zusätzlich zu der Liste mit Dingen, die sie noch nie getan hatte, hatte sie ihre Fehler aufgelistet.

Das College abbrechen, bevor ich meinen Abschluss hatte.

Mir nie wirklich einen Beruf auszusuchen, weil ich in einem Job hängenblieb, mit dem ich meinen Lebensunterhalt bestreiten konnte.

Eine zweite Kreditkarte. Die erste war mehr als genug gewesen.

Mich auf Dates mit Landon und seinem Zwilling, Lucas, einzulassen – Riesenfehler.

Sie war schuld an Problemen zwischen Landon und seinem Bruder, der auch sein bester Freund war. Als beide sie gefragt hatten, ob sie mit ihnen ausgehen würde – gleichzeitig –, hatte sie Panik bekommen und beiden zugesagt. Sie hatte nicht darüber nachgedacht, dass das katastrophale Folgen haben könnte. Vor allem hatte sie vermeiden wollen, irgendjemanden zu verletzen, weil die Firma ihrer Familie gerade einen Riesendeal mit dem Geschäft der Familie Abbott gemacht hatte.

Wenn sie ehrlich war, hatte sie auch gedacht, dass die beiden sie nur nach Dates gefragt hatten, weil eine Frau, die über Sexspielzeug sprach wie andere Frauen über ihren Lieblingssport oder Schmuck, sie faszinierte. Sie war abgestumpft, nahm gar nicht mehr wahr, wie ungewöhnlich die Dinge, über die sie in ihrem Beruf täglich redete, für andere waren. Aber Lucas und Landon hatten wirklich Interesse an ihr gehabt.

Es hatte nicht lange gedauert, bis Amanda klarwurde, dass sie besser beide Einladungen freundlich abgelehnt hätte. Die Situation hatte sich binnen zwei Tagen von unschuldigem Spaß zu einem gefährlichen Durcheinander entwickelt. Nach einem wunderbaren Abend mit Lucas hatte sie sich wirklich mit Landon verbunden gefühlt, was sie sehr verwirrte. Wie konnte sie derart unterschiedlich auf eineiige Zwillinge reagieren? Es ergab einfach keinen Sinn, aber es war, wie es war: Sie fühlte sich zu Landon hingezogen, aber nicht zu Lucas. Lucas war toll, witzig und nett und interessant.

Aber irgendetwas an Landon …

Er hatte alles, was sein Bruder auch hatte, aber irgendwie noch mehr. Wenn sie seine goldbraunen Augen und sein dunkelblondes Haar und seine süßen, sexy Lippen sah, dann wollte sie mit ihm Dinge tun, die sie noch nie mit irgendjemandem getan hatte.

Nicht dass das jetzt noch irgendeine Rolle spielen würde. Sie hatte alles kaputtgemacht, als sie mit ihm und seinem Bruder ausgegangen war. Und obwohl Lucas seitdem Dani und ihre kleine Tochter Savannah kennengelernt und sich in sie verliebt hatte, war die Stimmung zwischen Landon und ihr schon vor dem Brand verkrampft gewesen – und seither noch mehr.

Kein Wunder, dass sie sich noch nie wirklich verliebt hatte. Sie hatte offensichtlich nicht das geringste Talent für Dates. Und jetzt war sie in Landons Haus, um sich von ihren Verletzungen zu erholen, und sie hatte es mit einem emotionalen Tsunami zu tun, der jeden Mann in die Flucht schlagen würde, erst recht einen, mit dem sie erst ein Date gehabt hatte, bevor die ganze Situation so angespannt geworden war. Sie sollte sich so schnell wie möglich aus Butler davonmachen und zu ihrer Mutter nach St. Luis fahren. Ihre Mom rief seit dem Brand täglich an, um zu fragen, ob es ihr gutgehe.

»Ich schicke dir ein Ticket«, sagte sie. »Komm nach Hause, damit ich mich um dich kümmern kann.«

Amanda liebte ihre Mutter, aber sie hatte Angst, dass sie sich dort auf unbestimmte Zeit verkriechen würde, wenn sie jetzt nach Hause fuhr. Sie würde sich die Decke über den Kopf ziehen und nie wieder nach draußen gehen. Das war keine Option. Sie plante, bei Landon zu bleiben, bis ihr Knöchel so weit geheilt war, dass sie wieder mobil war. Dann würde sie wieder arbeiten und sich überlegen, was sie als Nächstes tun sollte. Sie hatte vor einiger Zeit ihre Wohnung aufgegeben, weil sie ohnehin ständig geschäftlich unterwegs war und sich die Miete genauso gut sparen konnte.

Vor dem Brand hatte sie beschlossen, noch eine Weile in Butler zu bleiben, um den Katalog zu überarbeiten, und sie war ungefähr bis zur Hälfte gekommen, als ihr Laptop den Flammen zum Opfer gefallen war. Glücklicherweise hatte sie eine Sicherungskopie auf dem Firmenserver, so dass sie nicht wieder von vorne anfangen musste. Allerdings hatte sie nicht die geringste Lust, daran zu arbeiten, ganz davon abgesehen, dass ihre Konzentration gerade so gut wie nicht vorhanden war.

Draußen heulte der Wind, und der Regen fiel so stark und dicht, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte, bevor sie hierher in die Berge im Nordosten von Vermont gekommen war. Landon war irgendwo da draußen und suchte mit der Bergwacht nach ein paar Kindern, die sich verlaufen hatten.

Er war jetzt schon seit Stunden unterwegs, was Amanda viel zu viel Zeit gab, um Dinge auf ihre Listen zu schreiben. Ein weiterer ihre vielen Fehler war, dass sie immer noch in Landon verknallt war, obwohl sie ihm so viel Ärger bereitet hatte. Und zwar nicht nur mit seinem Bruder. Seine Hütte war nicht groß – sie lebten auf engem Raum zusammen. Er hatte ihr sein Bett gegeben und schlief selbst auf einer Luftmatratze im Wohnzimmer. Er sagte, dass ihm das nichts ausmache, aber das tat es wahrscheinlich trotzdem. Er war nur zu nett, um es zu sagen.

Sobald sie wieder laufen konnte, ohne zu humpeln, würde sie ihm sein Haus wieder für sich alleine überlassen. Dann würde sie sich Gedanken darüber machen, wo sie bleiben wollte, und sich dort nach einem Zuhause umsehen. Sie würde eine Wohnung nehmen und ihre Angelegenheiten in Ordnung bringen. Vielleicht konnte sie dann anfangen, ihre Liste abzuarbeiten.

Ein Klopfen ließ sie zusammenzucken, eine willkommene Unterbrechung für ihre wild kreisenden Gedanken.

Landons Mutter Molly steckte den Kopf zur Tür herein. »Ich bin’s nur, mit dem Abendessen. Steh nicht extra auf.«

»Komm rein. Bitte sag nicht, dass du in diesem Sturm rausgegangen bist, nur um mir Abendessen zu bringen.«

»Ach, das ist doch noch gar nichts. Ein altes Sprichwort besagt, dass man, wenn man in Vermont nicht bei schlechtem Wetter rausgeht, nie einen Fuß vor die Tür setzt.«

»Trotzdem. Das ist wirklich sehr nett von dir.«

»Ich habe an dich gedacht, wie du hier so alleine sitzt, während Landon mit der Bergwacht unterwegs ist, und da wollte ich dich fragen, ob du vielleicht gerne Gesellschaft hättest?«

Es war Amanda peinlich, dass Mollys Freundlichkeit sie schon wieder zum Weinen brachte. »Tut mir leid. Ich kann nicht fassen, dass ich immer noch Tränen übrig habe. Ich mache seit dem Brand nichts anderes als Weinen. Ich weine sogar bei Werbespots.«

»Das ist ja auch sehr verständlich.« Mit gewohnter Effizienz zog Molly ihre Stiefel und ihren Mantel aus und brachte eine Stofftasche mit ins Haus. »Du hast einen fürchterlichen Schreck bekommen, es ist ganz normal, dass du danach durcheinander bist.«

Es war so viel mehr als nur der Brand, aber das konnte Amanda Molly natürlich nicht sagen.

»Ich stelle dein Essen zum Warmhalten in den Ofen, dann kannst du es dir nehmen, wann du willst. Ich habe Schmorbraten gemacht.«

»Vielen Dank, es riecht wirklich gut.« Sie verschluckte sich an einem weiteren Schluchzer und zog ein zweites Taschentuch aus der Box, die Landon ihr gekauft hatte. »Tut mir wirklich leid wegen der Tränenflut. Landon sagt, ich sei eine heiße Quelle.«

Molly lächelte und setzte sich neben sie. Ihr graues Haar war wie immer zu einem Zopf geflochten, und ihr hübsches, jugendliches Gesicht machte es schwer zu glauben, dass sie zehn Kinder großgezogen hatte. »Du siehst aus, als könntest du eine Umarmung von einer professionellen Mom gebrauchen. Wäre das hilfreich?«

Die brauchte Amanda mehr als alles andere. Sie nickte und ließ sich widerstandslos in die Arme von Landons Mutter sinken.

»Meine arme Kleine. Es ist doch ganz normal, dass du emotional bist nach dem, was du durchgemacht hast.«

»Ich hatte solche Angst. Aber das ist gar nicht alles.«

»Wenn du mit jemandem reden möchtest, ich höre sehr gerne zu.« Molly setzte sich auf und strich Amanda übers Haar. »Und ich verspreche dir, alles, worüber wir reden, bleibt zwischen uns.«

Amanda musste unbedingt mit jemandem reden, und sie heulte Landon schon seit Tagen die Ohren voll. »Ich würde gerne darüber reden.« Vielleicht konnte sie dann aufhören, alle fünf Minuten in Tränen auszubrechen. Sie sah Molly an, dann zwang sie sich, weiterzusprechen. »Mir ist etwas passiert, vor zwölf Jahren. Etwas wirklich Großes, über das ich nie spreche.«

Landons Mutter hörte einfach nur zu, und Amanda wusste das wirklich zu schätzen.

»Danach war es, als hätte ich einfach zugemacht. Ich habe mich in mein Studium gestürzt und dann in den Beruf.« Sie wischte sich mit einem dritten Taschentuch die Tränen ab. »Ich habe meine Arbeit wirklich gut gemacht, ich wurde schnell die beste Verkäuferin der Firma. Ich war so gut wie ununterbrochen auf Reisen, von einer Messe zur nächsten, von einem Produkt-Launch zum nächsten, ich habe einfach den Rücken durchgedrückt und immer weitergemacht. Und dann war da der Brand, und seitdem … Seitdem kann ich alles, was ich seit Jahren unterdrückt habe, einfach nicht mehr zurückhalten, und all die Gefühle, die ich nie fühlen wollte, bahnen sich einen Weg nach draußen, einfach so. Und ich glaube, deswegen kann ich nicht aufhören zu weinen.«

»Das ist eine Menge, die du zusätzlich zu dem Brand zu verarbeiten hast.«

»Ja, das stimmt, und Landon ist der reinste Heilige. Er bereut es sicher, dass er mir angeboten hat, hierzubleiben, bis mein Knöchel wieder heil ist, vor allem nach meinen täglichen Schauspieleinlagen.«

»Das bezweifele ich. Er hat dich sehr gerne hier.«

»Wirklich? Woher weißt du das?«

»Weil er es mir gesagt hat, als ich ihm geholfen habe, die Kleider für dich auszusuchen.«

»Vielen Dank dafür.« Amanda musste sich schon wieder ein Taschentuch nehmen. »Alle sind so nett zu mir, deine Familie ist einfach toll!«

»Das ist wirklich schön zu hören. Es freut mich, dass du das denkst.«

»Alle denken das.«

»Ich bin sehr stolz auf sie.«

»Es ist wirklich gut, mit jemandem zu reden. Danke. Ich wollte nicht mit meiner eigenen Mom oder meinen Freunden reden, weil sie nicht hier sind, und es würde sie nur traurig machen. Und Landon hat schon mehr als genug für mich getan.«

»Ich höre dir sehr gerne zu, Süße, und du hast recht. Es würde sie traurig machen. Es gibt nichts Schlimmeres, als zu wissen, dass es einem meiner Kinder nicht gutgeht, und nichts dagegen tun zu können.«

Nickend wischte Amanda sich Tränen aus ihren mittlerweile schmerzhaft wunden Augen. »Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich das hier überhaupt nicht bin. Ich bin nicht verrückt, ich schwöre es. Ich bin eine Planerin. Ich plane jede Minute jeden Tages, so dass ich immer genau weiß, was ich zu jeder Zeit mache. Ich plane exakte Marketingstrategien für die Arbeit.«

»Der Brand hat deine Pläne durcheinandergebracht und zwingt dich, eine Weile ohne auszukommen.«

»Ja, genau, und es fühlt sich an, als würde ich völlig haltlos irgendwo auf dem Meer treiben oder so was.«

»Das bleibt wahrscheinlich noch eine Weile lang so, und dann fängst du an, einen neuen Plan zu machen. Mir ist auch etwas passiert, als ich fast mit der Highschool fertig war. Ich habe jemanden verloren, der mir sehr nahestand. Es hat Jahre gedauert, bis ich darüber hinweg war, und erst als ich Linc getroffen und mich in ihn verliebt habe, konnte ich mich wirklich mit dem Verlust auseinandersetzen. Ich verstehe dich wahrscheinlich besser, als du denkst.«

»Es tut mir leid, dass dir das passiert ist.«

»Danke.«

»Du glaubst also nicht, dass ich komplett verrückt bin, weil ich nicht aufhören kann zu weinen?«

Molly lächelte. »Kein bisschen. Ich habe in meinem Leben mit einigen verrückten Menschen zu tun gehabt. Was du empfindest, ist ganz normal. Der Brand hat dich einfach richtig durchgeschüttelt, dir gezeigt, dass im Leben nichts selbstverständlich ist.«

»Ja, das stimmt. Immer wenn ich denke, dass es mir bessergeht, tut Landon etwas Nettes für mich, und ich breche schon wieder in Tränen aus. Der Arme hat einfach nie seine Ruhe vor mir.«

»Ich bin mir sicher, es geht ihm sehr gut. Er versteht, wie es dir nach dem Brand geht.«

»Ich bin aber wirklich übertrieben emotional. Es nimmt zurzeit einfach ungeheure Ausmaße an. Ich würde es ihm nicht verübeln, wenn er mich achtkantig rauswirft.«

»Das würde er nie machen. Du warst ja nicht dabei, sonst würdest du wissen, dass er darauf bestanden hat, dass du nirgendwo anders hingehst als zu ihm, als wir darüber gesprochen haben, wo wir dich unterbringen, wenn du aus dem Krankenhaus kommst.«

»Das … das wusste ich nicht.«

»Du bist hier, weil er dich hier haben wollte. Sehr. Die Leute unterschätzen ihn und Lucas ganz gerne. Sie denken, die beiden sind oberflächliche Clowns – und das können sie auch sein, aber darunter haben die beiden mehr Substanz, als die meisten denken.«

»Das sehe ich seit dem Brand jeden Tag. Er weicht mir nicht von der Seite, außer wenn er zur Arbeit muss. Er ist wirklich unglaublich.«

»Das klingt ganz nach ihm. Er ist sehr beständig, aber das muss ich dir ja nicht sagen. Du hast es selbst erlebt.«

»Habe ich.«

»Scheu dich nicht, ihm deine Gefühle zu zeigen. Er kann damit umgehen.«

»Ich weiß nur nicht, ob ich das kann.«

Molly lachte. »Ich wette, du bist stärker, als du denkst. Seit ich dich kenne, habe ich jedenfalls immer nur eine starke, fähige, kompetente und intelligente Frau gesehen.«

Diese lieben Worte, vor allem von Molly, vor der sie so großen Respekt hatte, brachten sie schon wieder zum Weinen. »Siehst du? Es muss nur jemand kurz nett zu mir sein, und schon bin ich wieder die reinste Katastrophe.«

Molly nahm sie erneut in die Arme. »Ich verspreche dir, du wirst diese Phase überstehen, und dann gewöhnst du dich daran, wieder alles zu fühlen. Es kann gut sein, dass all das, was passiert ist, letztendlich zu deinem Besten war. Es ist nicht gut, seine Gefühle jahrelang in eine Kiste zu sperren. Das geht auf lange Sicht einfach nicht.«

»Hast du das gemacht?«

Molly nickte. »Ich war fünf Jahre lang wie betäubt. Ich bin Linc kurz nach meiner Graduierung an der Universität begegnet, und als ich begann, so viel für ihn zu empfinden, war meine Reaktion ganz ähnlich. Ich konnte endlich um den Freund trauern, den ich verloren hatte. Wie eine verspätete Reaktion. Ich wusste, dass Linc der Richtige für mich ist, als er nicht mit der Wimper gezuckt hat, obwohl ich um einen anderen Mann weinte.«

»Ich habe in der letzten Woche mehr über die Highschool-Sache geweint als in all den Jahren, seit es passiert ist.«

»Weil der Brand die Tür zu all den alten Gefühlen geöffnet hat. Es tut mir leid, dass es dir so weh tut. Ich wünschte, ich könnte etwas tun.«

»Du hast schon etwas getan. Mehr, als du denkst. Vielen Dank fürs Zuhören und für dein Verständnis.«

»Ich verstehe es, und ich fühle mit dir. So eine emotionale Überbelastung nach jahrelanger Taubheit ist keine Kleinigkeit.«

»Ja, wirklich. Zu hören, dass es vielleicht ganz normal ist, auch wenn es sich nicht so anfühlt, hilft mir.«

»Es ist völlig normal.« Molly reichte ihr ein neues Taschentuch. »Ich verspreche dir, dass du das hier überstehst und dass es dir wahrscheinlich noch viel besser geht, wenn du herausgefunden hast, wie du alles, was du fühlst, verarbeiten kannst.«

»Da muss ich mich auf das, was du sagst, verlassen.«

»Du hast meine Nummer, wenn du reden willst. Ich bin für dich immer erreichbar.«

»Vielen, vielen Dank, Molly. Für das Abendessen und fürs Zuhören.«

»Jederzeit. Halte durch. Genau wie der Sturm da draußen ist auch der Sturm in deinem Inneren irgendwann vorbei, und ich verspreche dir, es wird alles gut.«

Amanda umarmte Molly. »Ich hoffe, dass du recht hast.«

»Habe ich meistens. Frag meine Kinder.«

Amanda lachte. »Wie hältst du es nur aus, zu wissen, dass deine Söhne in diesem furchtbaren Sturm unterwegs sind?«

»Sie sind sehr gut ausgebildet, und sie lieben ihre Arbeit. Außerdem sind alle Vermonter an schlechtes Wetter gewöhnt. Das macht uns nichts aus.«

»Ihr seid aus hartem Holz geschnitzt, wie meine Mutter sagen würde.«

»Müssen wir sein. Ruf mich an, wenn irgendetwas ist. Du bist nie alleine, wenn du die Familie Abbott auf deiner Seite hast.«

Amanda stand auf und humpelte zur Tür, um sich von Molly zu verabschieden. »Danke noch mal.«

»Pass gut auf dich auf, Amanda.«

»Mache ich.«

Amanda winkte an der Tür, als Molly wegfuhr, und schloss dann ab, weil sie nicht wusste, wann Landon nach Hause kommen würde. Dann nahm sie ihr Abendessen aus dem Ofen und genoss jeden Bissen der herzhaften Mahlzeit, die Molly ihr mitgebracht hatte. Es war so lieb von ihr, dass sie das getan hatte, und auch, wie sie sich ihre Sorgen angehört hatte.

Molly hatte ihr eine neue Perspektive gegeben, als sie sagte, dass auf den Regen Sonnenschein folgen würde und dass die Gefühle, mit denen sie sich seit dem Brand herumschlug, eine sehr gesunde Reaktion waren, auch wenn sie sich momentan scheußlich fühlte.

Das waren die besten Neuigkeiten, die sie seit Tagen erhalten hatte.

2

»Ein Ziel ohne Plan ist nur ein Wunsch.«

Antoine de Saint-Exupéry

Landon stapfte durch Wind, Regen und knöcheltiefen Schlamm, der ihm jedes Vorwärtskommen erschwerte. Die Helmlampe half ihm ein wenig, durch den dichten Regen zu sehen, der schon seit Stunden nicht nachließ. Mutter Natur war dieses Jahr wirklich nicht besonders nett. Der regnerischste Mai aller Zeiten hatte die Schlammsaison um Wochen verlängert, und dieses neuerliche Unwetter würde noch mehr Schlamm bedeuten, genau zu der Zeit, wenn normalerweise der Sommer anfangen würde.

Seine Rufe nach den drei Jugendlichen, die vor mehr als vier Stunden verschwunden waren, klangen mittlerweile heiser. Die drei waren Touristen aus Südconneticut, die keine Ahnung gehabt hatten, dass die Vermonter Berge eine völlig andere Welt waren als die, die sie kannten. Sie hatten gedacht, es wäre eine gute Idee, an einem solchen Nachmittag zum Wandern das Hotel zu verlassen.

Bei Nordostwind.

Und jetzt versuchten Landon, vier seiner sechs Brüder, ihre Cousins Grayson und Noah und zehn weitere Mitglieder der Bergrettung, sie zu finden. Na toll. Unterdessen regnete es munter weiter, während die Temperaturen stetig sanken. Es bestand mittlerweile ernste Hochwassergefahr. Vor ein paar Jahren hatte ein Frühlingssturm wie dieser dafür gesorgt, dass alle Bäche anstiegen und einen Großteil der Stadt überschwemmten.

Niemand wusste, was die Kinder getragen hatten, als sie das Hotel verließen, aber der Suchtrupp ging von der Annahme aus, dass sie keineswegs für einen längeren Aufenthalt im Freien bei diesem Wetter ausgerüstet waren.

Landon war über Satellitenfunkgeräte, die ihre Standorte anzeigten, mit seinen Kollegen verbunden. Dadurch konnten sie weit ausschwärmen und in kürzerer Zeit ein größeres Gebiet abdecken, als wenn sie zu zweit im Buddy-System hätten arbeiten müssen. Das war nötig gewesen, bevor die Technik das Arbeiten alleine sicherer machte.

Er genoss die Zeit für sich, weil er endlich über die verwirrende Situation mit seiner attraktiven Mitbewohnerin Amanda nachdenken konnte. Dass Amanda bei ihm in der Hütte wohnte, war wundervoll – und die reinste Folter. Das Haus war so klein, dass ihr aufregender Geruch jede Ecke und Nische einnahm. Er musste ihre Zahnbürste verschieben, um an seine zu kommen, und über ihren Stapel frisch gefalteter Klamotten steigen, um seinen Kleiderschrank öffnen zu können. Sie war überall, wo er hinschaute – und er schaute sehr gerne hin. Ein bisschen zu sehr vielleicht, wenn er ehrlich war.

Er hatte versucht, Abstand zu halten, ihr Raum zu geben, um mit dem Übermaß an Emotionen zurechtzukommen, das sie seit dem Brand belastete, aber es war nicht leicht, Abstand zu halten, wenn man praktisch aufeinandersaß.

Nicht dass er etwas gegen aufeinander gehabt hätte.

»Lass es«, murmelte er, als er einen Moment lang stehen blieb, um wieder zu Atem zu kommen. Der Schlamm war jetzt so tief, dass fast kein Durchkommen mehr war, und so langsam bahnte sich auch die Kälte einen Weg durch seine Regenausrüstung und kroch ihm tief in die Knochen. Er kramte in seiner Tasche nach einem Powerriegel, aß ihn in drei Bissen und spülte ihn mit Gatorade herunter.

Amanda befand sich nicht in einem Zustand, in dem er auf diese Weise an sie denken sollte. Die Arme hatte seit dem Brand kaum aufhören können zu weinen, und das Letzte, was sie brauchte, war, dass er ihr hinterherhechelte. Aber was sagte es eigentlich über ihn, dass sie in seinen Augen die schönste Frau war, die er je gesehen hatte, selbst wenn ihre Augen und ihr Gesicht vom vielen Weinen angeschwollen waren? Was sagte es über ihn, dass er die Arme um sie schlingen und alles, was ihr weh tat, wiedergutmachen wollte? Er traute sich nicht, das wirklich zu tun, aber oh, wie sehr er es wollte.

Das Funkgerät erwachte zum Leben, eine Frage seines Bruders Wade. »Wie lange suchen wir weiter?«

Sein Bruder Will antwortete: »Ich komme gerade von der Feuerwache. Die Eltern sind völlig aufgelöst. Sie haben immer wieder gesagt, dass es gute Kinder sind – gehören zu den Besten der Schule, spielen in der Schulmannschaft … Wir müssen weitermachen!«

Landon hatte gewusst, dass jemand das sagen würde. Sie gaben nie auf, bevor sie die vermissten Personen fanden. Meistens lebten sie noch, wenn auch unterkühlt und halb erfroren. Es war einige Jahre her, dass sie jemanden auf dem Berg verloren hatten. Dabei wollte Landon es gerne belassen, und er wusste, dass seine Brüder, Cousins und Freunde das genauso sahen.

Die vermissten Jugendlichen waren jemandes Söhne, Enkelsöhne, Brüder, Freunde. Immer wenn sie da draußen nach jemandem suchten, stellte Landon sich vor, es wäre jemand aus seiner Familie. Er versuchte, sich für diese Fremden genauso anzustrengen, wie er es für seine eigene Familie getan hätte.

Er lief weiter, kämpfte sich durch den nassen, schweren Schlamm und bahnte sich einen Weg in Richtung der Stelle, wo die Gruppe zuletzt gesehen worden war. Niemand wusste, wie weit sie gekommen waren, bevor der Sturm intensiver wurde, sie suchten also praktisch nach Nadeln im sprichwörtlichen Heuhaufen.

»Connor! Jeremy! Michael!«

Er hatte mittlerweile so viele Male nach ihnen gerufen, dass seine Stimme fast weg war. Aber er machte weiter, rief alle paar Meter ihre Namen, während er versuchte, nicht über die Situation zu Hause nachzudenken. Leichter gesagt als getan. Er dachte gerne an Amanda, er liebte es, dass sie mit ihm in seiner Hütte wohnte, auch wenn er den Grund dafür natürlich ganz und gar nicht mochte. Landon würde das, was ihr passiert war, nicht einmal seinem schlimmsten Feind wünschen. In einem brennenden Gebäude gefangen zu sein war furchtbar, selbst wenn man wie er und Lucas Sauerstoff und feuerfeste Kleidung hatte. Unvorbereitet in einem Zimmer voller Rauch und Flammen aufzuwachen musste die Hölle sein.

Der Augenblick, in dem ihm klarwurde, dass das Dach über dem Zimmer, in dem sich Lucas und Amanda befanden, eingestürzt war, würde er nicht so bald vergessen. Zu wissen, dass zwei Menschen, die ihm so wichtig waren, sich in tödlicher Gefahr befanden, war eine der schlimmsten Momente in Landons Leben gewesen.

Sein eineiiger Zwilling war sein bester Freund. Der Gedanke an auch nur einen Tag ohne Lucas war unvorstellbar. Noch jetzt, eine Woche nach dem Brand, wurde Landon schlecht, wenn er daran dachte, was er in jener Nacht beinahe verloren hatte, vor allem, weil die Beziehung zwischen ihm und Lucas angespannt gewesen war, nachdem sie beide ein Date mit Amanda gehabt hatten.

Sie hatte nett sein wollen, als sie beiden gleichzeitig zusagte, aber dann hatten sich leider beide Brüder auf ihren Dates viel zu gut mit ihr verstanden.

Lucas hatte das Ganze so mitgenommen, dass er für eine Weile die Stadt verlassen hatte, um der Situation zu entkommen. Unterwegs hatte er Dani und ihre kleine Tochter Savannah gerettet und sich Hals über Kopf in die zwei verliebt.

Jetzt, wo Lucas kein Faktor mehr in der Situation mit Amanda war, hatte Landon versucht, sich darüber klarzuwerden, was er als Nächstes tun sollte. Er hatte versucht, herauszufinden, ob sie eventuell Interesse daran hätte, irgendwann wieder mehr als nur eine rein platonische Mitbewohnerin zu sein.

Vor dem Brand hatte Amanda beschlossen, in Butler zu bleiben und am Katalog ihrer Firma zu arbeiten. Lucas hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass sie das von überall aus hätte tun können und dass sie die Entscheidung zu bleiben ganz bewusst getroffen hatte, wahrscheinlich wegen Landon.

Landon war skeptisch gewesen und hatte vorgehabt, sie zu fragen, was – und ob überhaupt etwas – zwischen ihnen sei, aber dann hatte der Brand alles durcheinandergewirbelt. Seitdem gab es wichtigere Dinge, um die sie sich Sorgen machen mussten. Also hatte er immer noch keine Ahnung, wo er bei ihr stand, aber sie wohnte jetzt immerhin in seiner Hütte. Ein Vorteil, den er vorher nicht gehabt hatte.

Nicht dass ihm das bisher besonders viel genutzt hätte. Wenn sie nicht gerade weinte, sprachen sie kaum mehr als die paar Sätze darüber, welche der vielen Mahlzeiten, die seine Familie ihnen vorbeigebracht hatte, sie zum Abendessen aufwärmen wollten.

Sie war zurzeit sehr labil, und es war auf keinen Fall der richtige Zeitpunkt, sie zu irgendetwas zu drängen. Andererseits konnte er sich nur schwer damit abfinden, dass er sich zum ersten Mal in seinem Leben etwas Ernsteres mit einer Frau wünschte,und jetzt nicht die leiseste Ahnung hatte, wie er das bewerkstelligen sollte.

Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Er blieb abrupt stehen und hörte genauer hin. Als er nichts außer dem Regen und dem Wind vernahm, rief er ein weiteres Mal nach den Jungs.

Ein schwaches »Hilfe« ertönte zu seiner Rechten.

Landon fing an, darauf zuzulaufen, und griff nach seinem Funkgerät, um die anderen zu informieren. »Ich habe vielleicht etwas.« Er stapfte zielstrebig durch den Matsch, immer darauf bedacht, auf dem Pfad zu bleiben, um nicht die Böschung hinunterzurutschen. Sein Team kannte diesen Berg so gut, dass sie sich kaum je Sorgen darüber machen mussten, zu fallen. Trotzdem war es wichtig, die ganze Zeit aufmerksam zu sein, wenn man nicht selbst die Bergwacht brauchen wollte.

»Hallo? Wo seid ihr?«

»Hilfe! Hier drüben!«

»Ich hab sie«, meldete Landon. Das Team würde seine GPS-Koordinaten nutzen, um Verstärkung zu schicken.

Einer der Jungen stand aufrecht und winkte ihn zu sich, während Landon sich durch ein dichtes Gebüsch kämpfte. »Seid ihr alle drei hier?«, fragte Landon, als er in Hörweite war.

»Ja, aber Michael … Michael hat vor einer Stunde aufgehört zu sprechen.«

Landon nahm seinen Rucksack ab und zog, so schnell er konnte, Rettungsdecken für die drei heraus. »Helft mir, ihn einzuwickeln.«

Die Jungen hatten eine Art Verschlag in den Büschen gebaut, und an ihren Spuren im Matsch konnte Landon sehen, dass sie sich aneinandergekuschelt hatten, um ihre Körperwärme zu teilen. Das war sehr klug gewesen und hatte sie definitiv länger warmgehalten, als wenn sie jeder für sich geblieben wären. »Wer von euch ist Connor?«

»Ich.« Sie alle trugen Sweatshirts und Jeans, die natürlich völlig durchgeweicht waren. Selbst im späten Frühling war Unterkühlung hier draußen eine ernstzunehmende Gefahr, vor allem bei diesen Bedingungen.

»Dann bist du Jeremy?«

»Ja.«

Landon gab ihnen Powerriegel und Gatorade, um ihre Energiereserven aufzufüllen, dann wandte er sich wieder an sein Team. »Alle drei sind am Leben. Michael ist nicht ansprechbar, wahrscheinlich unterkühlt. Wir müssen sie hier rausholen.«

»Unterwegs«, meldete sich Landons ältester Bruder, Hunter, zurück. »Fünf Minuten von euch.«

»Könnt ihr zwei noch laufen?«, fragte Landon die beiden Jungen.

»Ich schon«, sagte Connor.

Jeremys Zähne fingen so stark an zu klappern, dass er kaum sprechen konnte. »Ich d… denke sch… schon.«

Mit Hunters Hilfe würde Landon Michael tragen können.

»Es sind zwei Meilen Fußweg von hier bis zum Auto. Wir müssen uns beeilen, für Michael.«

»Das schaffen wir«, antwortete Connor und warf Jeremy einen besorgten Blick zu.

Jeremy nickte.

»Es tut uns wirklich leid.« Connors Stimme klang, als sei er den Tränen nah. »Wir hätten im Hotel bleiben sollen. Wir wollten gar nicht so weit laufen.«

»Darüber müssen wir uns jetzt keine Sorgen machen. Erst mal sehen wir zu, dass ihr so schnell wie möglich ins Warme kommt.«

»N…nie w…wieder w…warm«, sagte Jeremy zitternd.

»Doch, wirst du. Versprochen.«

Dann war Hunter da, und sie hoben Michael hoch und gingen zurück zum Pfad, dem sie dann zwei lange Meilen lang folgten, bis sie eine Lichtung erreichten, wo ein Geländewagen der Feuerwache bereitstand. Sie legten Michael in den Kofferraum. Die anderen beiden setzten sich auf die Rückbank.

»Lass uns mitfahren«, sagte Landon.

Hunter setzte sich nach vorne zum Fahrer, und Landon kroch zu Michael in den Kofferraum. Auf dem Weg zum Krankenhaus nahm er Michael seinen tropfnassen Pullover ab und nutzte seine Erste-Hilfe-Ausrüstung, um dem Jungen intravenös mit Flüssigkeit zu versorgen. Er war erleichtert, als er einen schwachen, aber regelmäßigen Puls erspürte.

»Wird er wieder gesund?«, fragte Connor. Sein schlammbeschmiertes Gesicht schaute besorgt über die Rückenlehne.

Landon bemerkte eine Platzwunde unter Connors Auge, die wahrscheinlich behandelt werden musste.

»Ich denke schon.« Landon sagte ihm nicht, dass Michael wahrscheinlich nicht mehr besonders viel Zeit geblieben wäre, als sie sie gefunden hatten.

Jeremy schluchzte vor sich hin und zitterte immer noch am ganzen Körper.

Die Jungs hatten ihre Lektion über das Leben in den Bergen gelernt, und zwar auf die harte Tour.

Die Hunde waren draußen im Hof, als Molly nach Hause kam. Sie lebte schon seit fast vierzig Jahren mit ihrem Mann Lincoln in der großen roten Scheune. Es rührte sie jedes Mal aufs Neue, wenn sie im Dunkeln Licht in den Fenstern ihres Zuhauses sah und daran dachte, wie die Scheune ausgesehen hatte, als sie sie zum ersten Mal gesehen hatten. Linc hatte ein Wrack gekauft, ungesehen, und sie hatten ein Zuhause für ihre Kinder daraus gemacht. Und jetzt, wo ihre Kinder sich in der Ehe oder in festen Beziehungen befanden, wuchs ihre Familie immer weiter.

»Da bist du ja«, sagte Lincoln, der an der Tür auf sie gewartet hatte. »Ich habe mich schon gefragt, ob du den Nachhauseweg vergessen hast.«

»Niemals.« Sie gab ihm einen Kuss und ließ zu, dass er ihr aus ihrem Mantel half. »Wir müssen diese Hunde gut abrubbeln. Sie haben sich im Schlamm gewälzt.«

»Sie mögen nichts lieber als eine gute Schlammsaison.«

»Da hast du recht.«

Er schnappte sich die alten Handtücher, die sie für die Hunde verwendeten, und reichte ihr eins. »Bereit?«

»Auf geht’s!«

Er ließ George und Ringo, die beiden weiblichen goldenen Labradore, die nach Lincolns Lieblingsband benannt worden waren, herein. Sie waren jeweils die dritten Hunde mit diesen Namen, die sie hatten, zusammen mit drei Johns und vier Pauls, allesamt hochgeschätzte Familienmitglieder.

Molly trocknete Ringo ab, während Linc mit George kämpfte. Die beiden Hunde hielten das Ganze für ein Spiel, was für eine echte Herausforderung, aber auch für viel Spaß sorgte.

»Warum denken sie jedes Mal, dass wir spielen wollen?«, fragte Linc, als die Hunde vergleichsweise sauber nach drinnen zum warmen Feuer gelaufen waren.

»Darin sind sie alle gleich.«

»Wie war es mit Amanda? Geht es ihr besser?«

»Körperlich scheint sie schon viel mobiler zu sein, aber emotional hat der Brand sie sehr mitgenommen.«

»Verständlicherweise.«

»Ja. Gibt es was Neues von den Jungs?«

»Noch nicht. Ich hoffe, sie finden diese Kinder.«

»Ganz sicher. Das schaffen sie doch immer.« Er legte den Arm um sie und führte sie zum Sofa im Wohnzimmer, wo sie einen Großteil ihrer Zeit verbrachten.

»Was macht Max?«

»Weiß ich nicht genau. Er ist raufgegangen, um Caden zu baden und ihn ins Bett zu legen. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

»Ist er traurig, weil er die Suchaktion verpasst?«

»Ich glaube nicht. Er wollte Caden nicht alleine lassen, vor allem, weil er zahnt und so quengelig ist. Der Junge hat definitiv die richtigen Prioritäten.«

»Ja, das stimmt«, sagte Molly. »Ich mache mir um Landon Sorgen und diese Situation mit Amanda. Sie hat nach dem Brand unglaublich viel zu verarbeiten. Ich hoffe nur, dass er nicht schlimm enttäuscht wird.«

»Dein Dad und ich haben heute über genau dasselbe gesprochen. Amanda ist eine tolle Frau und sehr gut in ihrem Job.«

»Aber?«

»Ich habe Elmer gesagt, dass sie jetzt schon eine ganze Weile hier ist, und wir kennen sie immer noch nicht viel besser.«

»Ich habe den Verdacht, dass sich das bald ändern könnte.«

»Ach ja?«

»Mhm.« Sie hatte heute Abend eine Seite von Amanda gesehen, die ihr eine völlig neue Perspektive auf die Frau eröffnete, die Landon so den Kopf verdreht hatte.

»Du glaubst also, dass zwischen ihnen alles in Ordnung kommt?«, fragte Linc.

»Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, wir werden schon bald wissen, ob sie der Sache eine Chance geben wollen.«

»Das hoffe ich sehr. Ich habe ihn noch nie so mit einer Frau gesehen.«

»Einmal schon. Erinnerst du dich noch an Naomi?«

»Das Mädchen, das gestorben ist, als sie in der Highschool waren? Ich wusste, dass ihn das sehr mitgenommen hat.«

»Uns alle. Aber Landon war völlig fertig. Ich glaube, er hatte Gefühle für sie, die er gerade erst zu verstehen lernte, als er sie verloren hat.«

»Hm, daran kann ich mich nicht erinnern.«

Molly tätschelte sein Bein. »Das ist schon in Ordnung. Ich war da, und ich habe dafür gesorgt, dass er es übersteht. Es hat allerdings ein wenig gedauert, und wenn ich nicht völlig falsch liege, ist sie der Grund, weshalb er seitdem keiner anderen sein Herz geschenkt hat. Er weiß schon sehr lange, dass Liebe sehr weh tun kann.«

»Warum erinnere ich mich nicht daran?«

»Um diese Zeit war sehr viel los. Es gibt bestimmt vieles, an das ich mich nicht erinnere.«

»Das bezweifele ich. Du bist mir immer einen Schritt voraus, schon von Anfang an.«

»Ich darf es dir nicht zu leicht machen, sonst verlierst du noch das Interesse.«

Sein leises Lachen brachte sie zum Lächeln. »Keine Chance, und das weißt du ganz genau. Wo wir gerade dabei sind … Warum gehen wir heute nicht ein bisschen früher ins Bett? Ich bin ganz besonders müde.«

Müde war immer ihr Code-Wort für Warte im Bett auf mich gewesen, als sie noch eine Scheune voller Kinder hatten. »Ich bin auch völlig erschöpft.«

Linc machte den Fernseher aus, schürte das Feuer und schloss die Glastür des Holzofens. Dann hielt er Molly den Arm hin.

Molly legte die Hand in seine Armbeuge und folgte ihm ins Schlafzimmer. Dabei sagte sie ein stilles Gebet für ihre Söhne, die sich draußen auf der Suche nach den vermissten Kindern mit den Elementen maßen, und eine zusätzliche Bitte um Weisheit für Landon, während er die schwierige Situation mit Amanda navigierte. Molly mochte die junge Frau und fand, dass sie und Landon ein tolles Paar wären.

Aber noch waren sie sehr weit von ihrem Glücklich bis ans Ende aller Tage entfernt.

Während er seinen kleinen Sohn wiegte, hörte Max Abbott, wie seine Eltern die Treppe hinaufkamen, in ihr Zimmer gingen und die Tür hinter sich schlossen. Er wollte nicht darüber nachdenken, warum sie so früh ins Bett gingen. Der Wind heulte, und der Regen peitschte gegen die Fensterscheiben, und er dachte an seine Brüder, die da draußen nach den vermissten Kindern suchten. Er wünschte, er wäre dabei.

Er liebte seinen Sohn mehr als alles andere, aber manchmal vermisste er sein altes Leben trotzdem. In den sieben Monaten, seit Caden das Licht der Welt erblickt hatte, hatte er sein komplettes Leben völlig verändert, um sich an seinen Sohn anzupassen. So musste das ja auch sein, aber trotzdem … An Abenden wie diesen, wo sich so viele leere Stunden vor ihm erstreckten, vermisste er das, was gewesen war. Alle anderen waren da draußen und lebten ihr Leben, und er war mit seinem kleinen Sohn, für den er ganz alleine verantwortlich war, zu Hause.

Manchmal vermisste er sogar Cloe, Cadens Mutter, die ihn so tief enttäuscht hatte. Er hatte von einer Freundin aus dem College gehört, dass Cloe noch in Burlington und jetzt mit jemand anderem zusammen war. Schön für sie. Dachte sie jemals an ihn oder an ihren Sohn, wie es dem Baby ging oder wie er damit zurechtkam, ein alleinerziehendes Elternteil zu sein?

Wahrscheinlich nicht. Er hatte sich Sorgen um sie gemacht, als sie am Abend von Hunters Hochzeit letzte Weihnachten vorbeigekommen war, um die Papiere zu unterschreiben, die ihm das komplette Sorgerecht gaben. Sein Cousin Grayson hatte sie für ihn aufgesetzt. Max hatte befürchtet, dass Chloe eine postnatale Depression entwickelt hatte, und sich gefragt, ob er sie hätte besser unterstützen können. Aber nachdem er zahlreiche gemeinsame Freunde nach ihr gefragt hatte und die ihm versicherten, dass sie kein bisschen depressiv wirkte, hatte er die Sache ruhen lassen. Ihr Leben ging offensichtlich weiter, und das musste das seine auch.

Nur: Wie genau sollte das gehen mit einem sieben Monate alten Baby, das komplett von ihm abhängig war? Max ließ nicht oft zu, dass seine Gedanken sich so im Kreis drehten, denn, ganz ehrlich, das machte die Sache kein bisschen besser. Er bereute keine Sekunde lang, dass er das Sorgerecht für Caden hatte, und er würde alles für ihn tun. Aber mit dreiundzwanzig alleinerziehender Vater zu sein war schon eine schwierige Situation, daran gab es keinen Zweifel.

Max war unglaublich dankbar, dass er seine große, liebevolle Familie um sich hatte, die ihm half, wann immer er es brauchte. Seine Mom war einfach toll und passte auf Caden auf, während er auf der Arbeit war, und sowohl seine Mom als auch sein Dad nahmen Caden hin und wieder, damit Max mit seinem Freundeskreis oder seinen Geschwistern etwas unternehmen konnte.

Aber letztendlich war es doch er, der für das kleine Bündel in seinen Armen verantwortlich war, und manchmal drohte das Gewicht dieser Verantwortung ihn zu erdrücken.

Nicht ständig, aber definitiv zu oft, um es einfach zu ignorieren.

Manchmal fragte er sich, ob er derjenige mit der postnatalen Depression war.

Er stand auf und trug Caden vorsichtig in sein Bettchen in dem winzigen Zimmer neben seinem. Sein Vater und er hatten die Wand eingerissen, um den ehemaligen Wandschrank in ein Kinderzimmer für Caden zu verwandeln. Max schaute einen langen Moment lang auf seinen schlafenden Sohn herab und fragte sich, was wohl aus ihnen beiden werden würde.

Würden sie immer zu zweit sein, oder würde er irgendwann einer Frau begegnen, die eine Partnerin für ihn und eine Mutter für Caden sein konnte? Und wollte er das überhaupt? Er war erst dreiundzwanzig. Wie wahrscheinlich war es schon, dass er in den nächsten paar Jahren eine Frau treffen würde, die ihn so interessierte, dass er bereit wäre, sich lebenslänglich zu binden?

Wahrscheinlich musste er einfach akzeptieren, dass er für die nähere Zukunft mit seinem Sohn alleine sein würde, und Frieden damit schließen.

Noch vor ein paar Tagen hatte sein Bruder Colton ihm verkündet, dass er einfach mal wieder Sex haben sollte, als würde das all seine Probleme lösen. Allerdings musste Max zugeben, dass er, seit Colton es erwähnt hatte, an wenig anderes denken konnte.

Weißt du noch, Sex? Es war schon eine ganze Weile her.

Eine Zeit lang hatte er Angst gehabt, dass Chloe ihm das ebenfalls kaputtgemacht hatte, aber seit Colton ihn daran erinnert hatte, hatte Max festgestellt, dass das nicht stimmte. Nicht dass auch nur die geringste Chance bestünde, dass es bald dazu kommen würde.

Verdammt, er konnte es gar nicht leiden, so ein Miesepeter zu sein, vor allem, weil er wirklich jede Sekunde mit seinem Sohn genoss. Es tat fast zu sehr weh, ihn für sieben oder acht Stunden alleine zu lassen, wenn er an fünf Tagen pro Woche zur Arbeit ging. Jeden Nachmittag konnte er gar nicht schnell genug nach Hause fahren, um mit Caden zusammen zu sein, mit ihm zu spielen, ihn zu füttern und zu baden und zu wiegen. Aber wenn der Kleine erst mal im Bett war, waren die Nächte lang und langweilig.

Und einsam.

Als jüngstes von zehn Kindern hatte Max gar nicht gewusst, was Einsamkeit war, bevor er Caden bekommen hatte. Es war in letzter Zeit so schlimm, dass er sich sogar bei Tinder angemeldet hatte. Allerdings hatte er sein Profil immer noch nicht öffentlich gemacht, weil er sich nicht sicher war, ob es der richtige Weg für ihn war. Es gab hier zwar keinen Handyempfang, aber er hätte problemlos das WLAN zu Hause oder auf der Arbeit nutzen oder höher auf den Berg zur einzigen Stelle mit Empfang fahren können.

Allerdings hielt ihn irgendetwas davon ab, sich wirklich darauf einzulassen. Vielleicht weil er jetzt Vater war und der Gedanke an Dates in deutlich weniger reizte als früher.

Da Caden schlief – vorerst zumindest – ging Max ins Badezimmer, um zu duschen. Als er unter dem warmen Wasserstrahl stand, wusste er eines ganz sicher: Er hatte genug von seinen Gedanken – und vom Alleinsein. Irgendetwas musste sich ändern, aber er wusste einfach nicht, was.

3

»Bei den Gefechtsvorbereitungen habe ich immer wieder festgestellt, dass Pläne völlig nutzlos sind, Planen aber unbedingt nötig.«

Dwight D. Eisenhower

Landon kam nach Mitternacht nach Hause, bis auf die Knochen durchgefroren von den Stunden im Sturm. Selbst mit der besten Ausrüstung, die es gab, war es nicht zu verhindern, dass man nach einem derartigen Kampf mit den Elementen eiskalt und völlig erschöpft war. Er wollte nichts mehr als eine heiße Dusche, eine warme Suppe und die Nähe des Holzfeuers. Denn das war das Einzige, was ihn in einer Nacht wie dieser wirklich aufwärmen konnte.

Doch als er in die Hütte trat, fand er Amanda schlafend auf der Luftmatratze vor dem Kamin, genau dort, wo er liegen wollte.

Na ja, dachte er. Dann muss sie eben mit mir teilen. Ihm war zu kalt, um irgendwo anders als direkt vor dem Feuer zu schlafen.

Er duschte so heiß, wie er es ertragen konnte, zog eine Jogginghose und ein langärmliges T-Shirt an und wärmte sich eine Schüssel von der herzhaften Rindfleischsuppe auf, die seine Mutter ihm vorbeigebracht hatte. Damit setzte er sich aufs Sofa, das zwar recht nahe am Feuer stand, aber nicht nahe genug.

Während er aß, fiel ihm ein Notizbuch auf, das neben Amanda auf dem Boden lag, und er hob es auf, um nachzusehen, was es war. Bevor ihm klar war, dass er etwas sah, was wahrscheinlich nicht für ihn bestimmt war, hatte er ihre Fehlerliste gelesen. Und dann, fasziniert von der Einsicht, die diese ihm in diese mysteriöse Frau bot, die Liste mit den Dingen, die sie unbedingt noch tun wollte. Der letzte Punkt sprang ihm sofort ins Auge. Ein Orgasmus mit einem Mann. Dreifach unterstrichen.

Landon verschluckte sich fast an seiner Suppe und legte das Notizbuch schnell dorthin zurück, wo er es gefunden hatte. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er etwas gelesen hatte, was ihn nichts anging.

Aber verdammt … Sie hatte noch nie einen Orgasmus mit einem Mann gehabt. Bedeutete das …

Nein. Lass das. Es geht dich nichts an, sagte er sich. Doch es gab auf ihrer Liste mehr als einen Punkt, bei dem er ihr hätte helfen können; zusätzlich zu dem Punkt, der ihm wie ein Leuchtfeuer ins Auge gefallen war. Dabei würde er ihr nur zu gerne helfen.

Stopp.

Denk. Nicht. Daran.

Sie ist dein Gast, sie erholt sich von einer traumatischen Erfahrung und einer schmerzhaften Verletzung. Du darfst sie nur so sehen, nicht anders. Landon wusste, dass sein Gewissen recht hatte, auch wenn es ihm ganz schön auf die Nerven ging.

Er hatte keine Ahnung, was mit Amanda los war, oder mit ihnen, oder ob es überhaupt ein ihnen gab, oder wo oben und unten war, und das schon, bevor er darüber nachgedacht hatte, dass er der erste Mann sein könnte, der sie zum Orgasmus brachte.

Angewidert von sich selbst und von der Richtung, die seine Gedanken eingeschlagen hatten, stellte Landon die leere Suppenschüssel ins Spülbecken, ging zum Schrank im Windfang und holte den Schlafsack, den er zum Wintercamping verwendete, hervor. Er breitete ihn auf dem Boden neben der Luftmatratze aus, auf der Amanda unter seiner Daunendecke lag. Dann legte er Holz nach, kroch in den Schlafsack, zog den Reißverschluss ganz hoch und stellte sicher, dass er sie nicht berührte.

Es ging allein darum, nahe am Feuer zu sein. Ganz einfach.

Aber verdammt! Sie hatte noch nie mit einem Mann einen Orgasmus gehabt …

Landon wünschte sich ehrlich, er hätte nicht in ihr Notizbuch geschaut. Denn diese kleine Information würde er mit Sicherheit nicht so bald vergessen. Er war erschöpfter, als er seit langem gewesen war, aber der Schlaf ließ auf sich warten, während er an die Decke starrte und nachdachte. Daran, wie viele Möglichkeiten es gäbe, der attraktiven, mysteriösen Amanda einen Orgasmus zu verschaffen, den sie nie vergessen würde.

Amanda war noch nie so warm gewesen, so gemütlich, so … Als ihr Fuß etwas Hartes auf dem Boden neben ihr berührte, öffnete sie die Augen und blinzelte Landons schlafenden Körper in ihren Fokus. Oh. Er war also wieder da. Das war gut. Er hatte ihr gesagt, dass er wahrscheinlich stundenlang weg sein würde und dass sie sich keine Sorge machen sollte, falls er am Abend nicht zurückkam.

Aber sie war trotzdem froh, ihn zu sehen.

Sie fragte sich kurz, warum er neben ihr auf dem Boden schlief. Dann wurde ihr klar, dass er, nachdem er so lange draußen im Sturm gewesen war, wahrscheinlich völlig durchgefroren gewesen war und am Feuer hatte schlafen wollen – wo sie auf seinem Platz lag. Sie sollte aufstehen und ins Schlafzimmer gehen, aber es war so warm und gemütlich, dass sie liegen blieb und die Gelegenheit nutzte, Landon beim Schlafen zu beobachten. Die Glut warf ein warmes Licht auf sein hübsches Gesicht.

Anders als Lucas, der wie so viele Männer in Vermont im Winter einen Bart hatte, war Landons Gesicht glattrasiert, was Amanda deutlich besser gefiel. Ihrer Meinung nach wäre es das reinste Verbrechen, ein derart schönes Gesicht hinter einem Bart zu verstecken. Sie würde nie vergessen, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Er war mit seinem ebenso gutaussehenden Zwillingsbruder in ihre Präsentation im Green Mountain Country Store hereingeplatzt, und das in voller Montur, nachdem sie einen Brand gelöscht hatten.

Beide waren rußverschmiert gewesen, was ihren Sexappeal nicht im Geringsten gemindert hatte – oder ihren Sinn für Humor.

Amanda hatte schon tausend ähnliche Präsentationen gehalten, aber die Zwillinge hatten dazu beigetragen, dass diese ihr noch lange im Gedächtnis bleiben würde. Und als die beiden sie danach um ein Date gebeten hatten, war sie einfach nicht ausreichend auf diese zweifache Dosis sexy Feuerwehrmann vorbereitet gewesen. Weshalb sie dann auch beiden zugesagt hatte, was wiederum eine Kettenreaktion in Gang gesetzt hatte, die ihnen allen erhebliche Kopfschmerzen bereitet hatte.

Obwohl diese Sorgen für Lucas zu echter Liebe geführt hatten. Nach dem, was man ihr erzählt hatte, war er enttäuscht gewesen, als sie Landons Einladung zu ihrer gemeinsamen Geburtstagsfeier in der Scheune, in dem die Zwillinge mit ihren acht Geschwistern aufgewachsen waren, angenommen hatte. Er hatte daraufhin den Kopf freibekommen und ihr und Landon eine Weile lang aus dem Weg gehen wollen und war für ein paar Tage weggefahren. Unterwegs hatte er die alleinerziehenden Mutter Dani und ihre kleine Tochter Savannah kennengelernt, nachdem er sie aus einer Schneewehe gerettet hatte. Danis Auto war im Schneesturm von der Straße abgekommen.

Landons Schwester Hannah hatte Amanda erzählt, dass Dani Lucas seit dem Brand nicht mehr von der Seite gewichen war. Sie kümmerte sich um ihn, während er sich von seinen Verletzungen erholte.

Amanda war froh, dass sich die Dinge für ihn und Dani zum Guten gewendet hatten. Dani hatte ihren Mann, Savannahs Vater, während der Schwangerschaft auf tragische Weise bei einem Unfall verloren.

Selbst nach solchen Tragödien hatten manche Menschen ein zweites Mal Glück. Die Dinge wendeten sich für sie zum Guten.

Amanda glaubte nicht mehr daran, dass sie einer dieser Menschen sein könnte – für sie wendete sich selten etwas zum Guten. Klar, sie hatte einen netten Job, der ihr Spaß machte und genug Geld einbrachte, aber es war wirklich nur das – ein Beruf, keine Berufung. Sie hatte Marketing studiert, bevor sie das College abgebrochen hatte und in den Job in der Firma ihrer Mutter hineingeschlittert war. Sie verkauften Sexspielzeug – hauptsächlich an ältere Menschen, die mehr Spaß im Bett haben wollten.

In ihrem Freundeskreis war sie anfangs ununterbrochen geneckt und veräppelt worden, aber nach den ersten sechs Monaten waren sie darüber hinweggekommen, als ihnen die Witze über Vibrationen ausgingen.

Landon stieß ein leises Schnarchen aus, zuckte zusammen und wachte auf. Er hatte sie dabei ertappt, wie sie ihn beobachtete. Wie creepy!

»Hey!« Seine Stimme klang ganz verschlafen. »Geht es dir gut?«

Das fragte er sie seit dem Brand alle zehn Minuten. »Alles gut.«

»Kannst du nicht schlafen?«

»Der Wind hat mich vor einer Weile aufgeweckt.«

»Tut mir leid, dass ich dich eingeengt habe, aber ich hatte die Wärme nötig.«

»Ich bin nicht eingeengt. Alles gut. Habt ihr die Kinder gefunden?«

»Haben wir.«

»Oh, Gott sei Dank. Geht es ihnen gut?«

»Zwei von ihnen. Der dritte war stark unterkühlt, aber er sollte auch wieder in Ordnung kommen, sobald ihm wieder warm ist.«

»Da bin ich erleichtert. Die Eltern müssen völlig außer sich gewesen sein.«

»Es gab reichlich Freudentränen in der Notaufnahme.«

»Es ist einfach unglaublich, dass du und deine Brüder für Menschen, die ihr gar nicht kennt, euer Leben aufs Spiel setzt.«

»Wir machen das gerne – und wir werden dafür bezahlt, das darf man auch nicht vergessen.«

»Trotzdem. Ich wette, du würdest es auch kostenlos machen, wenn es nötig wäre.«

»Habe ich auch schon.« Sein Lächeln war einfach umwerfend. »Und ja, ich würde es wieder machen. Wir kennen die Berge so gut wie unseren eigenen Garten, und wir schlagen uns gerne mit den Elementen herum, um jemanden zu retten, der keine Ahnung hat, worauf er sich da draußen einlässt. Die Leute denken immer, dass sie das Wetter verstehen, weil sie es von anderswo kennen. Doch unseres hat zuweilen nicht mit anderem zu tun.«

»Deine Mutter muss wirklich gute Beruhigungstabletten haben, wo ihre Söhne ständig in Gefahr schweben.«

Landon lachte. »Sollte man meinen, aber sie ist echt entspannt.«

»Sie war eben hier. Hat mir Abendessen gebracht, und wir haben uns wirklich gut unterhalten.«

»Das war nett von dir. Sie würde dir sagen, dass zehn Kinder bedeuten, dass man sich um Kleinigkeiten keine Gedanken machen darf. Man macht sich ohnehin die ganze Zeit Gedanken.«

»Ihre Söhne draußen im Sturm zu wissen ist aber keine Kleinigkeit.«

»Für sie ist das ganz normal. Wir machen das schon seit Jahren. Hunter und Will sind seit der Highschool bei der Bergrettung. Wir anderen kamen dazu, sobald wir alt genug waren.«

»Ihr seid ein Haufen Helden.«

Er verdrehte die Augen. »Wenn du meinst.«

»Meine ich. Die meisten vernünftigen Menschen wollen bei Sturm einen warmen Ofen, eine gemütliche Decke, ein gutes Buch und einen heißen Kakao. Ihr wollt durch den Wald rennen und nach verschollenen Touristen suchen.«

Er lachte wieder. »Wollen wir gar nicht. Aber leider ist es jeden Winter mehrmals nötig, wenn sich jemand verirrt. Im Frühling und im Herbst werden wir auch oft gerufen, dann, wenn jemand nicht rechtzeitig von einer Wanderung zurückkommt.«

»Als komplettes Wetter-Weichei finde ich das ziemlich beeindruckend.«

Landon drehte sich auf die Seite, um sie anzuschauen.

Das hier fühlte sich mehr und mehr wie Bettgeflüster an, nicht dass sie das gestört hätte. Von ihrem ersten gemeinsamen Abend an hatte sie es wunderbar einfach gefunden, mit ihm zu reden. Ihr Gespräch war mühelos dahingeplätschert, während er sie mit Geschichten über seine Kindheit mit neun Geschwistern unterhalten hatte. Sie hatte auch gerne von seiner Arbeit bei der Feuerwehr von Butler gehört und von seiner Arbeit auf der Weihnachtsbaumfarm seiner Familie.

Aber was sie am allerliebsten mochte, war, wie er ihr wirklich zuhörte, wenn sie auf eine Frage über ihr Leben antwortete. Alles, was sie sagte, schien ihn ehrlich zu interessieren. Das bedeutete nicht, dass Lucas nicht ein ebenso wundervoller Tischnachbar gewesen wäre. Es war einfach so, dass ihre Verbindung zu Landon aus unerfindlichen Gründen tiefer gewesen war.

»Wie geht’s deinem Knöchel?«

»Ein bisschen besser, aber er ist noch geschwollen.«

»Verstauchungen sind das Schlimmste. Sie brauchen ewig zum Heilen.«

»Tut mir leid, dass es so lange dauert. Ich sollte dir Platz machen und nach Hause zu meiner Mom fahren. Sie ruft jeden Tag an.«

»Ich habe genug Platz, und du kannst bleiben, solange du willst. Ich mag es, wenn du hier bist.«

»Wirklich?«

»Ja. Macht Spaß.«

Sie schaute ihn skeptisch an. »Du findest, es macht Spaß, eine Mitbewohnerin zu haben, die dir dein Bett klaut, nach Rauch stinkt und nicht aufhören kann zu weinen?«

Landons Lächeln verzauberte sein ohnehin schon viel zu schönes Gesicht. »Ja, ich finde es toll, dass du hier bist.«

»Du bist nicht ganz richtig im Kopf.«

»Ob du es glaubst oder nicht, das höre ich öfter.«

Amanda lachte.

»Und du riechst nicht nach Rauch.«

»Doch, tue ich. Ich kann nichts anderes riechen.«

Zu ihrer Überraschung beugte er sich zu ihr vor, nahm eine ihrer Haarsträhnen in die Hand, hielt sie an sein Gesicht und atmete tief ein. »Nein. Du riechst nach Honig und noch etwas anderem. Etwas Süßes …«

»Haferflocken.« Seine Nähe und sein intensiver Blick machten sie ganz atemlos. »Ist das Shampoo.«

»Du riechst nicht nach Rauch.« Er ließ die Haarsträhne durch seine Finger gleiten, und sie schaute zu, jede ihrer Nervenfasern auf ihn ausgerichtet. »Und ich habe dich wirklich sehr gerne hier. Bitte mach dir keine Sorgen um Dinge, die keine Rolle spielen, okay?«

»Nur wenn du mir Bescheid sagst, wenn ich anfange, nach altem Fisch zu riechen.« Sie lachte über seinen verstörten Gesichtsausdruck. »Meine Großmutter hat immer gesagt, nach drei Tagen fangen Gäste an, nach altem Fisch zu riechen. Und ich bin schon deutlich länger hier.«

»Und du riechst nach Honig und Haferflocken, und kein bisschen nach altem Fisch. Gott sei Dank.«

»Wenn es sich ändert, dann wirf mich raus. Ich kann wirklich zu meiner Mutter, auch wenn sie mich mit ihrem ständigen Staubsaugen in den Wahnsinn treiben würde.«

Er überraschte sie noch mehr, als er ihre Hand nahm und sie an seine Lippen hob. Sie bekam eine Gänsehaut und bemerkte noch ein paar weitere interessante körperliche Reaktionen, als er ihre Fingerknöchel küsste. »Geh noch nicht.«