Nur der Adler wusste den Weg für sie - Karl Heinz Valtiere - E-Book

Nur der Adler wusste den Weg für sie E-Book

Karl Heinz Valtiere

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Beschreibung

Im Jahr 1984 und noch mitten im Kalten Krieg begegnen sich im Niemandsland an der Zonengrenze zwei Menschen, die sofort erkennen, dass sie füreinander bestimmt sind. Doch das unerbittliche Regime des Helden des Romans, eines Stasi-Agenten der DDR mit sogenanntem "Romeo-Auftrag", macht abrupt und endgültig alle Hoffnungen zunichte und lässt ihn gnadenlos für das Scheitern seines Einsatzes in der BRD büßen. Ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen der geliebten Frau hält ihn bis zur Freilassung am Ende der DDR nur noch der Gedanke an Rache am Leben, der aber einer neuen Chance für das Paar nach der Wende entgegensteht. Es bedürfte jetzt des Eingreifens höherer Mächte, um ihrer beider Schicksal wieder zu verbinden.

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Seitenzahl: 256

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2025 novum publishing gmbh

Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt

[email protected]

ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0306-7

ISBN e-book: 978-3-7116-0307-4

Lektorat: Leon Haußmann

Umschlagfotos: Ennjee, Sabelskaya, Aberrant Realities | Dreamstime.com; Karl Heinz Valtiere

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildung: openstreetmap.org/copyright

Autorenfoto: Karl Heinz Valtiere

Coverfoto: Herrenhaus Insel Stintenburg im Schaalsee, das bis 1989 vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) für Ausbildungszwecke genutzt wurde – mit freundlicher Genehmigung der Eigentümerfamilie von Bernstorff.

Rückseitiges Coverfoto: Startpunkt der Flucht des Lenski über den Schaalsee am Nordufer der Insel Stintenburg.

www.novumverlag.com

Vorwort

Im Jahr 1984 und noch mitten im Kalten Krieg begegnen sich im Niemandsland an der Zonengrenze zwei Menschen, die sofort erkennen, dass sie füreinander bestimmt sind. Bevor sie zusammenfinden, werden sie aber durch die Machtverhältnisse und menschliche Willkür abrupt und endgültig auseinandergerissen, so dass beide ihre Träume von einer gemeinsamen Zukunft begraben müssen. Während der eine ums Überleben kämpft, muss sich der andere mit einem Ersatzleben begnügen. Acht Jahre später, nach der Wende, gibt es theoretisch für sie beide wieder eine Chance. Doch sie haben inzwischen ganz unterschiedliche Wege eingeschlagen, um aus ihrer Krise herauszukommen und nicht weiter unter der unerfüllbaren Hoffnung zu leiden. Und beide sind zu anderen Menschen in einer sich epochal verändernden Zeit geworden. Es bedürfte jetzt des Eingreifens höherer Mächte, um ihre beiden Schicksale wieder zu verbinden, falls ihnen daran wirklich noch gelegen ist, der begonnene Rachefeldzug des einen nicht jede neue Hoffnung zunichte macht und das Vertrauen aufeinander groß genug ist.

1. Kapitel

Mölln, Februar 1991

In Mölln gab es sogar eine Diskothek.

Nach dem gemeinsamen Abendessen hatte er sich aus dem Kollegenkreis vorzeitig verabschiedet, mit der allseits verständnisvoll akzeptierten Entschuldigung, wegen Kopfschmerzen noch dringend etwas frische Luft schnappen zu müssen. Das Mädchen an der Rezeption des Tagungshotels hatte ihm dann mit leicht mokantem Lächeln das „Star Light“ genannt und den Weg dorthin erklärt.

Warmes, goldenes Licht umfing ihn, als er nach ausgedehntem Fußweg aus dem nasskalten Dunkel dieses Dienstagabends im Februar 1991 das überraschend gemütliche Lokal betrat. Er schlenderte an den Sitzgruppen und der noch leeren Tanzfläche vorbei zur Bar und spürte deutlich die misstrauische Wachsamkeit der einheimischen Gäste und des Personals vor und hinter dem Tresen. So ging es ihm in letzter Zeit immer. Er gehörte offenbar nicht mehr in Diskotheken. Jetzt dachten sie wohl, er sei einer vom Ordnungsamt oder ein verirrter Fremder vom teuren Hotel am See. Dabei konnte er, Stefan Bergner, sich doch mit seinen 36 Jahren durchaus sehen lassen, mit seiner großen, schlanken Figur, seinem Intellektuellengesicht und dem noch vollen schwarzen Haar. Dennoch, das Missbehagen war trotz seiner Selbstbeschwichtigung wieder da. Es trieb ihn in die Ecknische der kunstvoll und verwinkelt angeordneten Bar, aber mit guter Sicht in Richtung Eingang und Tanzfläche. Er wollte ja auch nicht lange bleiben.

Langsam füllte sich das Lokal. Sie kannten sich untereinander wohl alle und standen in kleinen Gruppen herum. Auf der Tanzfläche mühten sich zwei Teenies ab, was keiner wahrzunehmen schien. Die Musik lag im Mainstream; sie mischten die aktuellen Hits mit Oldies der vergangenen Jahrzehnte. In seiner sicheren Ecke begann er sich nach dem zweiten Bier in der Rolle des unbeteiligten Beobachters wohlzufühlen. Seine Gedanken zogen wieder einmal Resümee: Ging es ihm nicht gut, in so jungen Jahren schon auf Referatsleiterkurs einer obersten Bundesbehörde zu sein, zuhause eine hübsche Frau?

Sein Blick blieb erneut an der großen Blonden mit den ausdrucksvollen, etwas schräggestellten Augen hängen, die rechts von ihm mit zwei jungen Männern an der Bar stand. Als er sich vorhin plötzlich in ihre Richtung drehte, hatte er kurz ihren prüfenden Blick wahrgenommen. Sie fiel auf durch ihr apartes, leicht gebräuntes und ungeschminktes Gesicht, ihre große, schlanke Figur und die überlegene Ruhe, mit der sie redete und sich bewegte. Mit schätzungsweise Mitte Zwanzig hatte sie mehr Ausstrahlung als die anderen, etwas farblosen Frauen hier. Sie legte es ersichtlich nicht darauf an, Anklang bei Männern zu finden und war eher eine zufällige Surferin auf der Welle ihrer Aufmerksamkeit und heimlichen Wünsche. Mit ihren weißen Jeans, in die sie den königsblauen Polo-Wollpullover hineingesteckt hatte, ihrem naturblonden, leicht gewellten und halblangen Haar konnte man in ihr eine Seglerin vermuten, die sich mit ihren Schiffsjungen hierhin verirrt hatte. Nein, selbst wenn, sie war nichts für ihn, wahrscheinlich zu arrogant, und Frauen waren jetzt ohnehin nicht sein Thema. Aber die Musik gefiel ihm immer mehr, er bestellte sich ein weiteres Bier und wiegte sich leicht im Takt der Musik.

„Hallo Karsten, du bist wieder in der Stadt?“

Er erstarrte, drehte sich zur Seite, sie stand neben ihm und sie meinte ihn. Es war wie in einem seiner Alpträume in der Schulzeit: Er wurde in eine laufende Theaterszene geschubst und musste eine Rolle spielen, die er vergessen hatte. Ihre Augen musterten kühl und fragend sein Gesicht; sie waren bernsteinfarben, wie er im Punktstrahlerlicht der Theke wahrnahm. Er spürte ein Kribbeln im Nacken und zwei Filmstreifen rasten gleichzeitig durch seinen Kopf. Entweder: Bedauerliche Verwechslung, noch ein paar höfliche Worte, ganz sicher hoffnungsloser Versuch, aus der Situation noch etwas zu machen; denn so, wie sie fragte, hatte sie ganz offensichtlich kein Interesse an neuem Männerkontakt. Oder: Den Ball laufen lassen, man konnte ja später immer noch zurück. „Ja, ich bin wieder hier“, antwortete er etwas gedehnt. Die Würfel waren gefallen.

Gott sei Dank redete sie weiter: „Ich hab‘ mich schon gewundert, kennst du mich denn noch?“

„Doch, doch, ich habe mich eben schon gefragt …“, „Jessi“, ergänzte sie, um ihm auf die Sprünge zu helfen.

„Ja, Jessi, ich hab‘ eben schon überlegt, als ich dich da stehen sah – lang ist es her.“

„Was machst du denn so, du bist bestimmt schon acht Jahre weg?“, fragte sie weiter.

„Lehrgang, drüben im Panorama-Seehotel. Ich habe jetzt gerade einen neuen Job in einem Bonner Ministerium“, erwiderte er mit etwas Stolz.

„Du hattest doch, glaube ich, Betriebswirtschaft studiert.“ Er nickte und ergänzte: „Und zusätzlich noch etwas Jura, und du?“

„Ich bin mehr oder weniger hier geblieben, arbeite als MTA in der Rehaklinik, aber vielleicht sehen wir uns ja später noch“, beschied sie ihn und drehte abrupt ab.

Über eine Stunde würdigte sie ihn keines Blickes mehr. Er hatte über seine Strategie nachgedacht, war aber vor lauter Verwirrung kaum weiter als zu der Erkenntnis gelangt, dass er sie viel fragen müsse. Gerade setzte das Intro von Brothers in Arms von Dire Straits ein, als er in seinen Gedanken unterbrochen wurde.

Sie hatte sich von ihrer Gruppe gelöst, und er sah sie zur Tanzfläche gehen. Sie verharrte am Rand, drehte sich dann halb um und blickte in seine Richtung. Jetzt oder gar nicht mehr, dachte er, ging zu ihr und führte sie auf die Tanzfläche. Sie umfasste sofort mit ihren Händen seine Schultern. „Schön, dass du unser Lied noch behalten hast“, sagte sie ihm ins Ohr und drückte sich an ihn. Ihm wurde schwindelig.

Sie fuhr einen kleinen, roten Citroen, mit dem sie ihn später zum Hotel brachte. Er hatte viel über ihre und „seine“ Vergangenheit erfahren, weil sie sichtlich auftaute. Vor ziemlich genau sieben Jahren – sie war damals 19 – waren sie etwa drei Monate lang sehr verliebt ineinander gewesen. Sie hatte sich von ihm wegen seiner krankhaften Eifersucht getrennt und war später vier Jahre mit einem Arzt in Hamburg verheiratet. Jetzt genoss sie ihre Unabhängigkeit, wie sie betonte.

Die Außenlampen vom Foyer seines Hotels schienen durch die Frontscheibe auf ihr schönes Gesicht. Sie war so natürlich-unaffektiert und strahlte dabei eine ihm noch nie begegnete Form weiblicher Würde aus, so dass er das Gefühl bekam, neben einer Königin zu sitzen.

„Sehen wir uns noch mal, vielleicht morgen Abend?“, fragte er.

Sie antwortete zunächst nichts und sah ihn dann unverwandt an. „Du bist weicher geworden, nicht mehr diese rigorose Art“, stellte sie für ihn zusammenhanglos fest und fügte nach kleiner Pause an: „Ja, ich hol‘ dich morgen Abend um sieben Uhr hier ab, wir könnten was essen gehen.“ Dabei ließ sie den Wagen wieder an. Er hatte keine Chance zu einem Gute-Nacht-Kuss.

An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken. Erst herrschte Euphorie, die dann der Nüchternheit erlag. Es war das erste Mal in seiner Ehe, dass er sich auf Abwegen befand, und diese Sache war noch ein Blindflug dazu. Aber diese Frau faszinierte ihn in ihrer Wechselhaftigkeit zwischen stolzer Distanz und unbefangener Gefühlsstärke. Die Begegnung war mehr als nur ein Zufall, und er wollte den Faden, den ihm das Schicksal unversehens in die Hand gespielt hatte, jetzt auch nicht mehr loslassen. Nur wenn er weitermachte, hielt er sich bietende Optionen offen, und Aufhören erschien ihm auch feige.

xxx

Die Gruppenarbeit und die beiden Vorträge des Führungsseminars am nächsten Tag gingen wie im Traum an ihm vorbei. Er meldete sein Abendessen ab, zog sich um und lief dann die Einfahrt vor dem Hotel auf und ab, um sie dort abzufangen. Sie kam fast pünktlich und sie fuhren auf ihren Vorschlag zu einer stillgelegten Windmühle, die jetzt in eine Osteria umgebaut war.

Die anfängliche amüsierte Distanziertheit in ihren so wandlungsfähigen Augen wich einem lebhaften strahlenden Glanz, als sie mehr und mehr ins Gespräch kamen. Ihre Ansichten brachte sie mit wenigen abgewogenen Worten zum Ausdruck, glasklar und ungekünstelt, ohne die zeitgemäßen, inhaltslosen Sprüche; sie brauchte sich intellektuell nicht in Szene setzen. Offenbar las sie sehr viel. Spontan nahm er ihre schmale, aber kräftige rechte Hand in seine Hände und streichelte sie zart, was sie geschehen ließ. Für die Fakten und Erfolge aus seinem Leben zeigte sie erstaunlich wenig Interesse. Sie kannte offenbar den üblichen Schaukasten ihrer sicher zahlreichen männlichen Verehrer zur Genüge. Mehr lag ihr an seiner Lebenseinstellung und seinen individuellen Zielen, die er sich gesetzt hatte und deren Logik sie hinterfragte.

Nur einmal kam er ins Schleudern, als sie ihn fragte, warum er sich denn nach seinem letzten so rührenden Anruf nie mehr bei ihr gemeldet und dann sofort in Hamburg abgemeldet habe.

„Du warst damals wegen meiner Eifersucht so böse auf mich, dass ich dachte, es sei sinnlos. Ich musste aus Hamburg weg und wollte neu anfangen. Wehgetan hat es trotzdem“, rettete er sich aus der Klemme.

Die Antwort schien ihr zu gefallen. Offenbar hatte sie ebenfalls sehr an ihrer Beziehung gehangen, setzte aber Gott sei Dank diese nachträgliche Aussprache über ihre Trennung nicht weiter fort. Darauf konnte er sich wieder entspannen. Langsam begann das Nachher vor seinem geistigen Auge Gestalt anzunehmen, als sie ihn wieder überrumpelte:

„Du bist verheiratet, nicht wahr? Und wie ich dich einschätze, hast du auch Kinder.“

Er hatte mit dem Thema gerechnet, aber nicht so unausweichlich. Seine Miene verlor ihre Verbindlichkeit und er antwortete nur mit „Ja und nein, keine Kinder“, während er ihrem Blick standhielt.

Sie äußerte sich hierzu nicht weiter und brachte das Gespräch ins alte Fahrwasser. Hatte sie ihm mit ihrer Feststellung eine Grenze aufzeigen wollen?

Als sie wieder im Auto saßen, war ihm klar, dass der kritische Punkt erreicht war. Denn waren sie erst wieder zum Hotel zurückgekehrt, würde sie nachhause fahren. Ihm fiel auf, dass sie sich langsamer, zögernder als gestern zum Wegfahren bereit machte. Als sie sich vorbeugte, um den Zündschlüssel ins Schloss zu stecken, sagte er nur „Jessi“. Sie verharrte, drehte sich zu ihm, und er umschloss ihr Gesicht mit seinen Händen.

„Ich möchte dir so viel sagen, Jessi“, brachte er nur hervor.

„Du brauchst mir nichts zu sagen“, flüsterte sie und legte ihren Zeigefinger auf seine Lippen. Von da an war alles leicht.

Sie nahm ihn mit in ihre elegante Eigentumswohnung, und sie tranken nicht einmal etwas zur Wahrung eines Rahmens. Seine Hände zitterten, als er ihr rotes Strickkleid aufknöpfte. Sie umarmte ihn beruhigend und zog ihn an sich. Ein leises Lächeln lag jetzt auf ihrem mädchenhaften Gesicht. Als er sich ihrer lautlosen Sanftheit ergab, stand die Zeit still.

Spät in der Nacht ging er. Er wollte nicht, dass sie nochmals raus musste, und sie beschrieb ihm den Weg zurück zum Hotel. Wegen eines Treffens morgen Abend sollte er sie anrufen, weil sie an sich mit ihrer Mutter verabredet war.

Seine Sinne waren überwach, als er seinen Weg in der Kälte draußen suchte. Die dunklen Häuser strahlten eine trauliche Wärme aus, und so etwas wie Dankbarkeit für diese Stadt kam in ihm auf. Er war so glücklich wie lange nicht mehr. Diese facettenreiche Frau besaß den Schlüssel für eine unbekannte Kammer in ihm und seine Gedanken begannen, sie in seine Welt zu integrieren. Sein Dienst hatte eine Außenstelle auch in Hamburg; vielleicht konnte er seinen Wechsel dorthin arrangieren. Erst viel später, als er in seinem Hotelbett lag, löste sich langsam ihr Bann. Heike erkämpfte sich ihren Platz in seinem Kopf zurück. Er dämmerte in einen unruhigen Schlaf hinüber.

xxx

Donnerstag war der letzte Tag des Seminars, der morgens mit einer Fahrt der Lehrgangsteilnehmer mit einem bundesdeutschen Zollboot auf der Elbe versüßt wurde. Die Teilnehmer erhielten bei ihrer Bootsfahrt von Boizenburg bis Bleckede und zurück vom Kapitän eine anschauliche Schilderung der angespannten Begegnungen westdeutscher Zollboote mit den DDR-Grenzsicherungs- und Wachbooten entlang der mitten durch die Elbe verlaufenden Zonengrenze. Gerade erst war alles Geschichte geworden und nur die noch nicht abgerissenen Beobachtungstürme am Ostufer der Elbe erinnerten an dieses Kapitel.

Nach der Rückkehr zum Tagungshotel in Mölln und der abschließenden Diskussionsrunde am Spätnachmittag besorgte er in der Stadt dann noch schnell einen Strauß Blumen, Lachsrosen mit blauen Anemonen und weißen Herbstastern. Erst gegen acht Uhr konnte er sie telefonisch erreichen und sie verabredeten sich für einen Treff in einem Bistro am Markt, von dem sie ihm bereits gestern erzählt hatte.

Sie war schon da, als er ankam. Er küsste sie auf die Stirn und gab ihr die Blumen, die offenbar ihren Geschmack trafen. Sie tranken Rotwein und sprachen eingehend über das, was sie tagsüber erlebt hatten. Es schien, als wolle jeder so lange wie möglich das Gespräch vom nahenden Abschied fernhalten. Er wollte sie heute neutral und möglichst emotionslos sehen, um vielleicht doch noch hinwegtröstende Nachteile zu entdecken. Aber er fand nichts. Vielmehr verdichtete sich die Erkenntnis, dass sie ihm für einen Platz nur in einem Spiel viel zu wichtig war. Also fasste er sich ein Herz, eröffnete ihr die Wahrheit über sich, dass er sie liebe und alles dransetzen wolle, sie wiederzusehen.

Sie sagte zunächst gar nichts, sah ihn nur mit versteinertem Gesicht an. Er redete in einem fort, versuchte sein Vorgehen plausibel zu machen und sie zurückzuholen.

„Du hättest jetzt deinen Karsten doch sowieso als einen anderen Menschen erlebt und hättest vor einem Neuanfang gestanden, nach so langer Zeit“, appellierte er schließlich an sie.

Endlich sagte sie wieder etwas: „Ein Mensch wird für mich aber ein anderer, wenn er seine Identität, die mit mir einmal sehr eng verbunden war, einfach so ablegt. Wenn du gleich ehrlich gewesen wärst, hätte ich dich vielleicht auch so lieben können wie damals Karsten, oder noch mehr, egal, welche Zukunft wir beide hatten.“

Ihre Miene war jetzt voll Ablehnung, als sie sich vorbeugte und ihn ansah: „Du bist wahrscheinlich manipulierbar geworden auf deinem beruflichen Erfolgsweg, und jetzt glaubst du, das Recht zu haben, selbst andere Menschen manipulieren zu dürfen. Das ist das, was uns trennt. Mein Karsten wäre übrigens dazu nicht in der Lage gewesen.“ Der Stab war gebrochen.

Sie sah durch ihn hindurch, als sie ihm viel Glück für sein weiteres Leben wünschte und aufstand. Er wollte sie zurückhalten, doch ihr ironischer, nahezu eisiger Blick verriet, dass es aussichtslos war. Er hätte nie seine Königin belügen dürfen, wurde ihm klar.

„Und nochmals vielen Dank für die schönen Blumen“, warf sie im Gehen zurück. Sehr viel später war das für ihn ein kleiner Trost, dass sie wenigstens etwas von ihm behalten hatte.

xxx

Durch dichte Nebel- und Regenschwaden raste der EuroCity Hamburg-Köln am folgenden Freitag dahin und riss ihn unerbittlich immer weiter weg von der Stätte des unbewältigten Intermezzos. Mit Herz und Kopf befand er sich nach wie vor dort, und er fühlte sich leer.

Es ist sicher besser so für alle Beteiligte, hielt er sich immer wieder vor, aber alles sträubte sich in ihm gegen diese Schlussfolgerung. Mehr und mehr fühlte er, dass er in Mölln nicht nur sein unverhofft geschenktes Glück verloren hatte, sondern an einen weit darüber hinaus reichenden Wendepunkt seines Lebens geraten war. Obwohl ihm hundeelend war, würde er in etwa zwei Stunden mit freudigem Lächeln seine ihn gespannt erwartende Heike in die Arme nehmen, er würde erst einmal erzählen müssen, sie würden am Abend zur Feier des Tages essen gehen, und dann setzte wieder ihr normaler Lebensrhythmus ein. Tag für Tag würde er seine Sehnsucht nach Jessi unterdrücken müsen, Woche für Woche. Er würde sie anrufen, sie besuchen und mit ihr eine Zukunft finden wollen und dürfte nichts von seinen Gedanken preisgeben. Schon diese unmittelbar vor ihm stehende unausweichliche Phase würde ihn zu einem unwürdigen, nie endenden Versteckspiel zwingen, damit seine sorgfältig aufgebaute Welt nicht zusammenfällt. Dazu fühlte er sich, je länger er darüber nachdachte, nicht in der Lage, weil er das Geschehene wegen seiner großen Auswirkung nicht mehr aus der Welt schaffen konnte. Von jetzt an würde alles nur falsch sein, wenn er so weiterlebte wie bisher, denn seine einstigen Lebensziele galten nicht mehr, nachdem er diese Frau kennengelernt hatte; denn sie hatte die Koordinaten seines wohlgeordneten Lebens grundlegend verschoben.

Er brauchte erst einmal Zeit, um wieder zur Besinnung zu kommen.

xxx

Der Zug stand gerade im Hauptbahnhof Dortmund, als es ihn nicht länger auf seinem Platz hielt. Er musste hier raus, ergriff seinen Handgepäck-Koffer und kam gerade noch aus dem Zug nach draußen vor dessen Weiterfahrt. Die frische Luft tat gut, langsam sah er wieder klarer und er wanderte bei leisem Nieselregen durch die Straßen um das Bahnhofsgelände herum. Schließlich ging er zurück zum Fahrkartenschalter im Bahnhof und kaufte ein Ticket nach Mölln. Er hatte Glück, in etwa 20 Minuten, 11:42 Uhr, fuhr wieder ein EC nach Hamburg HBf. Der Anschlusszug nach Mölln ging dann etwa eine Stunde nach Ankunft in Hamburg.

Kurz vor 17:00 Uhr traf er wieder in Mölln ein und machte sich gleich auf den Weg zu ihrer Wohnung. Mit zittriger Hand drückte er ihre Klingel und hörte darauf nur das „Hallo“ ihrer weichen Altstimme aus der Sprechanlage.

Er fasste sich ein Herz und sagte: „Hier ist Stefan, der größte Dummkopf, der dich je geliebt hat, der bereut, dass er dich so belogen hat und der alles wieder gut machen will, damit du nochmals mit ihm sprichst.“ Keine Antwort, er wartet. Es knackt, sie hat aufgelegt. Er wartet weiter, schellt aber nicht erneut.

Etwa 10 Minuten später kommt sie an die Haustür. Er stammelt nur: „Danke, dass du aufmachst, danke!“, und nach einer Pause: „Ich will nur noch einmal mit dir reden, es ging alles so schnell, ich weiß nicht mehr weiter, Jessi, bitte lass uns noch einmal reden, Jessi!“

Sie mustert ernst und emotionslos sein Gesicht. Nach einem Moment des Nachdenkens sagt sie: „OK, aber nicht hier, wir gehen am besten wieder in das Bistro am Markt. Ich hol‘ mal meine Sachen.“

Nach dem Weg zum Bistro hatte er sich langsam wieder gefangen und sie fragte ihn: „Hast du eine Bleibe für heute Nacht, Stefan?“

„Noch nicht, ich werde gleich mal bei unserem Tagungshotel anrufen. Nach Lehrgangsende wird jetzt sicher wieder was frei sein.“ Er stand auf, um an der Theke vorne zu telefonieren.

Von dort rief er anschließend auch seine Frau an und teilte ihr seine Rückkehr erst morgen mit. Auf ihre besorgte Frage nach den Gründen antwortete er nur: „Dazu kann ich hier jetzt nichts sagen“, und legte auf.

Jessica hatte ihn bei seinen beiden Telefonaten beobachtet, fragte aber nicht. Er schlug vor, erst einmal etwas zum Essen zu bestellen, danach könne man ruhiger sprechen.

Nach der Bestellung trat Schweigen ein, was Stefan nicht länger aushielt und ihn beginnen ließ: „Ich war schon in Dortmund, Jessi, als mir klar wurde, dass wir so nicht auseinander gehen dürfen. Ich muss dir jetzt von Anfang an alles sagen, was gesagt werden muss, und zwar umfassend. Erst dann kannst du am Ende vielleicht einen Weg sehen, wie wir oder ich alleine da weiterkommen können.

Ich heiße Stefan Bergner und bin, wie ich gestern schon sagte, Beamter des Bundeswirtschaftsministeriums in Bonn. Seit einem halben Jahr werde ich aber auf eine neue Aufgabe vorbereitet, nämlich als Wirtschaftsattaché in einer großen deutschen Botschaft im Ausland, was mich nach Mölln geführt hat. Hier in einer verschwiegenen Ecke des ehemaligen Zonenrandgebiets veranstaltet der Bundesnachrichtendienst regelmäßig Lehrgänge für Beamte, die für eine Tätigkeit mit nachrichtendienstlichem Bezug vorgesehen sind. Denn zu meinen künftigen Aufgaben als Wirtschaftsattaché im Ausland gehört es, Informationen zum Beispiel über Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Militärtechnik anderer Staaten zu gewinnen und auszuwerten. Näheres zu meinen Aufgaben darf ich dir natürlich nicht erzählen; ich erwähne das nur, weil diese neue Aufgabe mich leider etwas zu meiner Lüge dir gegenüber verleitet hat. Du hattest gestern recht mit deiner Vermutung, dass ich mich wohl daran gewöhnt habe, Menschen zu manipulieren, was auf nachrichtendienstlichem Gebiet ja auch von einem verlangt wird. Ich habe mich offenbar so schnell an die Welt des Verstellens und Täuschens gewöhnt, dass es mir leicht fällt, wie am letzten Dienstag, auch ungeplant und automatisch in eine andere Rolle zu schlüpfen. Ich bin da bei dir aber in ein Spiel eingestiegen, das für mich sehr schnell Ernst wurde. Nachdem wir am Mittwoch zusammen waren, wurde mir klar, was du mir bedeutest, und das musste ich dir am Tag darauf auch sagen. Und gestern auf der Rückfahrt nachhause ist mir noch viel klarer geworden, dass ich ohne dich nicht sein kann.

Wie du richtig geahnt hast, bin ich verheiratet, seit neun Jahren, und wohne in Köln. Zu Beginn meiner Ehe hatte ich meine Frau geliebt. Diese Bindung aneinander ging mit der Zeit zurück, was ich aber für normal hielt. Dennoch bin ich ihr nie untreu geworden. Als ich dir hier begegnet bin, habe ich dann eine Art Liebe erfahren, die völlig anders ist als die Liebe, die ich bisher in meinem Leben kannte. Wahrscheinlich wirst du jetzt von mir denken, dass ich mit großen Worten erreichen will, schnell zurück in deine Arme zu kommen. Das ist es aber nicht, woran mir wirklich liegt. Ich will dich einmal ganz als Frau gewinnen. Dies ist jetzt nicht realisierbar, sondern erst später, wenn du dann noch bereit bist. Ich muss mich dazu als Erstes von Frau und Familie lösen, was dauert. Aber ich will es so. Wenn du am Ende für mich noch da bist, ist der Weg für uns beide zusammen frei. Das ist jetzt mein neues Lebensziel und nicht mehr das systematische Klettern auf der Karriereleiter.“

Nach einer kurzen Pause zum Atemholen redete er weiter: „Ich kann darauf jetzt keine Antwort von dir erwarten, weil ich dich mehr oder weniger überfahren habe. Dennoch wäre es schön, wenn du es nicht mehr bei der gestrigen Abfuhr belässt und wir von Zeit zu Zeit miteinander sprechen könnten. Dann wirst du auch sehen, dass ich eigentlich nicht der skrupellose Lügner bin, als den du mich nach dem Erlebten zwangsläufig einschätzen musstest.“

Stefan hatte diese Rede, die er sich auf der Zugfahrt im Kopf zurechtgelegt hatte, sehr gehetzt und ohne lange nachzudenken vorgebracht, weil das Wichtigste für ihn war, dass sie alles hörte, was er ihr sagen wollte, und nichts zu vergessen. Er schätzte sie als den Typ Mensch ein, der über wesentliche Geschehnisse oder Aussagen ohnehin lange nachdenkt und nicht schnell vergisst. Jetzt war er ihr erst einmal dankbar, dass sie ihn konzentriert und ohne Unterbrechung angehört hatte.

Nach einer Weile lächelte Jessica nachdenklich und meinte: „Ganz schön mutig bist du, und ganz schön viel hast du dir da vorgenommen.“

Inzwischen war das Essen gekommen, dem sie sich erst einmal ohne weitere Worte widmeten. Sie aß schnell und schob dann den Teller sofort weg: „Ich sollte dir jetzt aber auch etwas über mich sagen, Stefan“, begann sie, „nicht zu meiner vor drei Jahren gescheiterten Ehe, das ist vorbei, sondern zu meinem Karsten, den du als dein alter ego benutzt hast. Ich hatte mich so gefreut, als sich am Dienstag herausstellte, dass es wirklich Karsten war, den ich da wiedersah. Ich hatte ihn nie vergessen und mir später auch Vorwürfe gemacht, dass ich ihn habe gehen lassen. Er war meine erste, ganz große Liebe. Karsten war so anders als die leeren Hülsen, die ich davor kennengelernt hatte, so ernst, stark und zielbewusst. Später habe ich nie mehr einen Mann so stark geliebt. Am Dienstag bist du mir sofort aufgefallen, weil du ein Ebenbild von ihm sein könntest und dich auch ähnlich bewegst. Ich dachte da nur, das muss Karsten sein, jetzt eben sieben Jahre älter. Du hast das bestätigt und hast zu erkennen gegeben, dass auch dir die Trennung damals wehgetan hatte. Deshalb wollte ich wissen, wer du heute bist, und du hast mir so auch gefallen. Denn du bist auch in deinem Wesen Karsten sehr ähnlich. Du hattest aber durchaus recht mit deinem Argument, dass Karsten sich nach sieben Jahren verändert haben dürfte, möglicherweise zu seinem Nachteil, ich weiß es nicht. Und erst recht weiß ich nicht, was ich heute für ihn empfinden würde, wenn wir uns wirklich einmal wiedersehen. Ich kann dir jetzt nur sagen: Bevor ich mich nach meiner Eheerfahrung jemals wieder mit einem Mann fest verbinde, müsste ich als Erstes klären, wie es um meine Gefühle zum wirklichen Karsten steht. Das solltest du wissen, Stefan, damit du nicht in die Irre läufst. Und dabei sollten wir es einstweilen auch belassen.“

Stefan merkte, dass sie in ihrer überlegenen Art jetzt alles gesagt hatte, was wichtig war, und dass er sie nicht weiter strapazieren durfte. Daher zog er das Gespräch nicht in die Länge, dankte ihr für ihre ehrlichen Worte und bestellte die Rechnung. Sie verabschiedeten sich noch im Lokal. Er drückte sie kurz und äußerte dann nur noch: „Ich werde dich in etwa drei Monaten mal anrufen – wenn du willst, Jessi.“

Sie nickte zögernd, sagte aber nichts weiter. Stefan verließ das Bistro, winkte ihr von draußen durch das Fenster zu und machte sich auf den Weg zum Tagungshotel. Jessica blieb noch im Bistro sitzen und bestellte sich einen weiteren Rotwein, um Abstand vom gerade Erlebten zu bekommen. Denn, wie er es richtig ausgedrückt hatte, sie fühlte sich etwas von ihm überfahren.

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Er hatte sich beruhigt, als er im Hotel ankam, und setzte sich noch an die Bar für ein Glas Weißwein. Nach einer Weile nahm er dann aber die tickende Uhr in sich wahr, die er gerade eben im Gespräch mit Jessica in Gang gesetzt hatte. An Schlaf wird nicht zu denken sein, dachte er, morgen Mittag wird die Stunde der Wahrheit kommen, der ich jetzt nicht mehr ausweichen kann. Sollte er nicht den riesigen Scherbenhaufen vermeiden, der gleich an drei Stellen seines Lebens drohte, wenn er aus diesem so wie von ihm angekündigt ausbricht? Konnte er darauf noch vor morgen von irgendwoher einen Rat bekommen? Denn er war sich gar nicht sicher.

xxx

Es war Samstagmorgen gegen 11 Uhr und er saß wieder im EC Hamburg-Köln. Er wunderte sich immer noch, dass er so gut geschlafen hatte. Sein Unterbewusstsein hatte offenbar die Kontrolle seines Körpers übernommen und den Kopf wegen Überlastung abgestellt. Erstaunlich war auch, dass er jetzt noch den merkwürdigen, noch nie gehabten Traum vor Augen hatte, in dem er sich heute früh vor dem Aufwachen befand.

Er stand in der kleinen, hässlichen Schlafzimmermansarde im Dachgeschoss des Miethauses seiner Kindheit. Seinen rechten Arm hatte er um die sich an ihn schmiegende Jessica gelegt, und sie beide sahen staunend zu der hohen, im Traum sanft gewölbten Zimmerdecke hoch. Diese war vollständig mit blauen Glycinien überwachsen, so wie früher eine Außenwand seines Miethauses. Die Mansarde war jetzt viel geräumiger, als sie damals in Wirklichkeit war, und eine Reihe von Leuten stand dort um sie beide herum, die ebenfalls nach oben starrten. Denn dort konnte man etwas Merkwürdiges erkennen: Die Glycinien-Lianen umrankten dicke Felsbrocken und hielten diese fest umklammert an der Decke, so dass niemand Angst hatte, sie könnten auf sie herunterfallen. Alle staunten über dieses Naturschauspiel und keiner der hier stehenden Menschen aus seiner Familie, Dienststelle und seinem sonstigen Bekanntenkreis wunderte sich über seine neue Freundin. Deshalb hatte ihn im Traum ein dankbares Hochgefühl ergriffen und er musste immer wieder nach oben sehen. Erst jetzt, als er darüber nachsann, fiel ihm die Parallelität seines Traumbilds zu seiner jetzigen Lebenssituation auf. Im Traum war er in eine Gefahr für sich und die ihn umgebenden Menschen geraten, sie alle konnten schwer getroffen werden. Aber die starke Natur hatte einen Schutz für sie gebildet, so dass sie blieben und ihn im Übrigen zusammen mit Jessica akzeptierten. Wenn er das als ein Signal aus seinem Unterbewusstsein deuten sollte, hieß das wohl: Er sollte keine Angst vor einer außergewöhnlichen Veränderung haben und auf die Kräfte bauen, die dabei neu entstehen.

xxx

2. Kapitel

Seedorf, 01. Juli 1984

Da war er wieder, ihr prächtiger Seeadler.

Sie legte sofort ihr Buch neben sich ab und streckte sich wohlig auf dem Handtuch aus, um möglichst lang seinen Flug mitzubekommen. Majestätisch nahm dieser seine Route aus Richtung Nordosten über die bewaldeten Ufer des Schaalsees, verschwand zeitweise im Westen und tauchte kurz darauf wieder auf, um sich auch über dem südlichen Teil des Sees nach Beute umzusehen. Seinen Horst hatte er wohl im Osten, also in der DDR, denn von dort sah sie ihn jedes Mal kommen und dorthin verschwand er auch später. Schön, dass er ihr immer wieder die Ehre seines Besuchs im Westen erwies. Sie glaubte fest daran, dass er sie inzwischen kannte. Denn sie kam öfters zu dieser Badestelle in Seedorf und war durch ihre langen blonden Haare für einen Adler nicht zu übersehen. Es war nur sehr die Frage, ob er sich für eine 19-jährige Abiturientin überhaupt interessierte. Von ihrer Mutter, einer bei einem Hamburger Pharmaunternehmen beschäftigten Diplom-Biologin, hatte sie gehört, dass Seeadler, die bis zu 40 Jahre alt werden könnten, ihrer Partnerin lebenslang treu sind und auch ihren Horst beibehalten. „Schade, dass Papa kein Seeadler war, wir hätten uns dann nicht vor zwei Jahren ein neues Nest suchen müssen“, hatte sie hierauf damals lakonisch bemerkt, was ihr aber sofort leidtat, als sie den schmerzlichen Blick ihrer Mutter mitbekam. Das Gute an dem „neuen Nest“ war aber, was sie sich jetzt wieder vorhielt, dass sie diesen See entdeckt hatte und nicht weiter in der Großstadt gefangen war.

An diesem warmen Juli-Sonntag hatte sie mit dem Fahrrad ihre Tour zu dem Naturparadies gemacht. Am meisten genoss sie hier die ungestörte Ruhe und sie hatte so auch leichter Abstand von manchem Kummer der letzten Jahre bekommen. Ihrem langsam wieder ins Traurige absinkenden Gedankenstrom wollte sie heute dann auch nicht weiter nachhängen und sie griff zu ihrem Roman.