Nur der Tod ist unsterblich - Reinhard Gnettner - E-Book

Nur der Tod ist unsterblich E-Book

Reinhard Gnettner

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Beschreibung

Stellen Sie sich vor, Heimito von Doderer, Erich Fried, Leo Perutz, Friedrich Torberg und Stefan Zweig treffen einander im Café Central in Wien. Dort passiert das Unvorstellbare: Die fünf Schriftsteller beschließen, eine Altherren-WG zu gründen, um gemeinsam an ihrer Unsterblichkeit zu arbeiten. Ob das gut geht? Und vor allem wie lange? Können die Greise die Schatten der Vergangenheit überwinden und ihren gemeinsamen Traum von der literarischen Unsterblichkeit verwirklichen? Als plötzlich einer nach dem anderen ermordet wird, stellt sich die Frage, ob hier ein irrer Literatenkiller am Werk ist ...

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Über das Buch

Stellen Sie sich vor, Heimito von Doderer, Erich Fried, Leo Perutz, Friedrich Torberg und Stefan Zweig treffen einander im Café Central in Wien. Dort passiert das Unvorstellbare: Die fünf Schriftsteller beschließen, eine Altherren-WG zu gründen, um gemeinsam an ihrer Unsterblichkeit zu arbeiten. Ob das gut geht? Und vor allem wie lange? Können die Greise die Schatten der Vergangenheit überwinden und ihren gemeinsamen Traum von der literarischen Unsterblichkeit verwirklichen? Als plötzlich einer nach dem anderen ermordet wird, stellt sich die Frage, ob hier ein irrer Literatenkiller am Werk ist …

Nun mag mancher Leser der Meinung sein, man könne doch gar nicht so alt werden wie die fünf Herren in diesem Buch. Das ist natürlich richtig, aber wen interessiert das schon. Viel spannender ist doch die Frage: Was wäre wenn?

Was wäre, wenn diese fünf großartigen Literaten noch lebten, wenn sie dank ihrer Werke unsterblich wären? Wie würde es weitergehen? Oder, wie Friedrich Torberg die Frage in der Folge etwas anders, aber nichtsdestotrotz gewohnt treffend formuliert: Gibt es eigentlich eine Leber nach der Wurst?

All jenen Leserinnen und Lesern, die das herausfinden möchten, ist dieses Buch gewidmet. Und natürlich den fünf Unsterblichen. Möge das Buch ein klein wenig dazu beitragen, sie weiter in der Unsterblichkeit leben zu lassen.

Über das Buch

PROLOG

EIN HALBES JAHR DAVOR: 10. OKTOBER

24. OKTOBER

28. OKTOBER

7. JÄNNER

10. JÄNNER

15. JÄNNER

16. JÄNNER

30. JÄNNER

31. JÄNNER

1. FEBRUAR

4. FEBRUAR

5. FEBRUAR

1. MÄRZ

2. MÄRZ

5. MÄRZ

6. MÄRZ

15. MÄRZ

1. APRIL

3. APRIL

4. APRIL

5. APRIL

6. APRIL

8. APRIL

9. APRIL

10. APRIL

11. APRIL

12. APRIL

13. APRIL

14. APRIL

15. APRIL

16. APRIL

17. APRIL

18. APRIL

27. APRIL

30. APRIL

Epilog

Der Autor

PROLOG

„… und Blut, überall Blut! Ich hab doch noch nie eine Leiche gesehen, Herr Inspektor, und dann gleich so etwas! Der Körper, wie aufgespießt, die verdrehten Arme und der Mund, als ob er lachen würde, aber voller Blut, wie ein Vampir! Ich will nur kurz joggen gehen und dann liegt der da. Dass in einem einzigen Menschen so schrecklich viel Blut sein kann! Ich glaub, ich muss schon wieder …“

Der Polizeibeamte, der die Befragung vornahm, hielt schließlich fest:

Am 4. April um 5 Uhr 35 bewegte sich die Zeugin von der Boltzmanngasse kommend joggend die Strudlhofstiege hinab. Sie war Richtung Donaukanal unterwegs. Schon auf der Stiege wurde sie eines größeren Objektes gewahr, das sich unten vor dem Brunnen befand. Sie hielt es für Sperrmüll und war empört darüber, dass die Leute ihr altes Gerümpel einfach so im Schutze der Nacht entsorgten. Beim Näherkommen erkannte sie jedoch, dass es sich um einen zertrümmerten Rollstuhl handelte. Dann musste sie laut eigener Aussage erst einmal speiben, denn: „… im Rollstuhl eingeklemmt und von einer großen Blutlache umgeben steckte ein lebloser, grauslich anzusehender Körper.“ Unmittelbar nach dem Speibvorgang alarmierte die Zeugin die Polizei.

EIN HALBES JAHR DAVOR: 10. OKTOBER

Da saßen sie also, die fünf Herren, nach ihrem gemeinsamen Auftritt beim Symposium Kaffeehausliteratur – ein aussterbendes Genre?, zu dem sie vom österreichischen PEN-Club eingeladen worden waren. Sie saßen im Café Central und schwelgten in Erinnerungen an die Zeiten, in denen die Vergangenheit noch eine Zukunft hatte.

Perutz streckte sich wohlig auf dem Thonet-Sessel aus, nahm einen Schluck von seinem Mokka und äußerte den folgenschweren Satz: „Ach, herrlich, wieder einmal in einem echten Kaffeehaus zu sitzen!“

„Jaja, das gibt’s nur in Wien“, stimmte Doderer zu.

„In Tel Aviv sitzt man auf unbequemen Stühlen, bekommt sein Getränk hingestellt und sonst höchstens noch eine Grobheit zu hören“, erzählte Perutz. „Bei dir in Brasilien ist es wohl auch nicht besser oder, Zweig?“

Zweig, einsilbig: „Nein.“

Ausführlicher dagegen Fried: „Glaubst du etwa in London? No chance. In England gibt’s weder vernünftiges Essen noch guten Kaffee! Weiß der Kuckuck, warum ich es da schon so lange aushalte.“

„Na und in Breitenfurt kannst du die Kaffeehäuser erst recht vergessen. Obwohl das fast schon Wien ist“, meinte Torberg und Doderer gestand: „Seit das Herrenhof geschlossen hat, bin auch ich nur mehr selten fortgegangen. Eine Zeit lang noch ins Hawelka, aber in den letzten Jahren, auch wegen des depperten Rollstuhls, überhaupt nicht mehr. Dabei hätte ich es von meiner Wohnung nicht einmal weit. Aber es lohnt sich nimmer. Ihr seht ja selbst, fast nur noch Touristen, die Stadtpläne statt Zeitungen studieren, ein Türsteher, der Typen, wie wir es früher einmal waren, gar nicht erst reinlassen würde, und von der Atmosphäre ist nur das prächtige Deckengewölbe geblieben.“

„Das g’fallt dir, was, Doderer?“, hakte Torberg ein. „Erinnert mich an deinen Schreibstil, an deine handwerklich virtuose, neo-barocke Stickerei!“

„Sagt wer? Torberg - ist das nicht dieser bemühte Übersetzer vom berühmten Humoristen Ephraim Kishon?“

Torberg wusste nicht, ob er beleidigt oder belustigt sein sollte, ignorierte dann aber die Provokation und fasste lieber den bisherigen Verlauf ihrer Unterhaltung zusammen: „Also, meine Herren, können wir die Sache als beschlossen betrachten?“

Ein Blick in die Runde zeigte ihm, dass die Zustimmung schon fast so schwer und prominent auf dem Tisch lag wie die Messing-Aschenbecher, die früher die Stammtische der Kaffeehäuser zierten. Aber eben nur fast. Denn so wie die Aschenbecher heutzutage fehlten, fehlte auch die endgültige Zustimmung. Zu neu war der Gedanke, eine Wohngemeinschaft zu gründen, schließlich hatten sie erst vor einer Stunde begonnen, diese Möglichkeit ins Auge zu fassen. „Okay, ich würde sagen, jeder geht noch einmal kurz in sich und überlegt, wie er zu dem Projekt steht. Dann sehen wir weiter.“

Nach diesem Vorschlag entstand ein verbales Vakuum rund um die fünf Herren, sie redeten intensiv nicht miteinander. Ohne es zu wissen, dachten aber alle ähnlich. Ob Zweig in Brasilien, Perutz in Tel Aviv oder Fried in London – nie waren sie dort richtig heimisch geworden. Alle hatten ihr Exilantendasein mehr als satt. Auch Torberg in Breitenfurt und selbst Doderer in Wien empfanden ihr einsames Leben als Exil. Sie hatten keine Freunde, mit denen sie reden und lachen konnten. Sie hatten auch niemanden mehr, um neue Buchideen zu besprechen. So kam Zweig folgerichtig zu dem Schluss, seine Depressionen zu verschieben, denn umbringen könnte er sich auch später noch. Perutz wollte der Literaturgeschichte, die ihn seiner Meinung nach schon abgeschrieben hatte, das Gegenteil beweisen. Fried wollte vor allem weiterkämpfen und seiner Schreibmaschine eine neue Heimat geben. Und Doderer? Der schob seinen Hut aus der Stirn und beschloss, dass nichts dagegen sprach, noch einmal richtig Spaß zu haben und die Widrigkeiten des Alters zu vergessen.

Lediglich Torberg dachte etwas anders. Genau genommen hatte er an jedem einzelnen der Herren etwas auszusetzen. Aber genau das machte für ihn den Reiz aus. Er hatte es schon immer geliebt, nicht nur seine Freundschaften, sondern auch die Feindschaften zu pflegen. Draußen in Breitenfurt konnte er sich nur wie ein räudiger Hund an der Hausecke reiben. Hier aber hätte er perfekte Partner für Auseinandersetzungen, Streitgespräche und endlose Diskussionen. Er wollte das Projekt und ihm war klar, dass er die Angelegenheit in die Hand nehmen musste. Deswegen unterbrach er jetzt die allgemeine Denkpause mit einem wohlkalkulierten Argument zur Überwindung der letzten Widerstände: „Ich hab’s. Wir ziehen nicht nur zusammen, sondern wir gründen ein Kaffeehaus! Ein richtiges, so wie früher.“ Und als definitiven Verstärker fügte er hinzu: „Denn Gott sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch ohne Kaffeehaus sei. Genesis 1 Vers 18.“

Schweigen. Torberg hatte geglaubt, dass er mit diesem genialen Vorschlag sofort den Bann brechen und Beifall von allen Seiten einsammeln würde. Stattdessen fragte Perutz: „Wir, ein Kaffeehaus, wie soll das denn gehen?“

Auch Fried zweifelte: „Wir haben doch gar keine Ahnung von Gastronomie.“

„Nur vom Trinken, nicht vom Ausschenken, typischer Fall von passiver Gastronomitis“, konnte sich Doderer nicht verkneifen. „Und ich serviere dann im Rollstuhl?“

„Gute Idee, herrlich bizarr“, urteilte Perutz. „Das gab’s noch nicht. Ich mach mit! Aber nur, wenn wir das Ganze ‚Herrenhof‘ nennen.“

Das fand Doderers volle Zustimmung. Theatralisch öffnete er seine Arme. „Großartig, wir lassen das alte Herrenhof aufleben und geben uns wieder eine Heimat!“

„Das Herrenhof-Comeback“, fasste Fried zusammen und Doderer setzte noch einen drauf: „Und Aura muss es haben, so wie früher, es muss auratisch sein!“

Nun bremste Torberg: „Ihr habt mich falsch verstanden. Ich wollte nicht gleich ein ganzes Kaffeehaus etablieren, nur damit wir etwas zum Wohnen haben. Auch wenn es sich dabei um einen durchaus faszinierenden Gedanken handelt.“

„Sondern?“, fragte Fried.

„Anders herum. Früher haben wir das Kaffeehaus zu unserem Wohnzimmer gemacht, jetzt machen wir unser Wohnzimmer zum Kaffeehaus. Also, wir gründen wie geplant eine Wohngemeinschaft, jeder hat sein eigenes Zimmer, aber das gemeinsame Wohnzimmer oder, besser gesagt, den Salon, den gestalten wir als unser privates Kaffeehaus. Eingerichtet, rauch- und ideengeschwängert wie damals, nicht so klinisch rein und auf Hochglanz poliert wie mittlerweile das Central hier.“

Wieder Schweigen. Aber diesmal kam der Beifall, altersbedingt mit Verzögerung.

„Was haben wir denn schon zu verlieren? Der Plan ist gut, ich bin dabei“, fand Doderer als Erster zustimmende Worte.

„Was hast du gesagt?“, fragte Perutz.

„Du solltest ein Hörgerät tragen, Perutz! Der Plan ist großartig, hab ich gesagt.“

„Ja, das ist er“, lobte Fried. „Ich habe immer bereut, die große goldene Kaffeehauszeit nicht mehr miterlebt zu haben. Jetzt könnte ich es nachholen. Dafür würde ich sogar zu rauchen anfangen, für ein Kaffeehaus, das die Künstler und Lebenskünstler unwiderstehlich anzieht, das die Menschen zusammenführt und die Gegensätze an einem Tisch platziert. Wait to be seated, ihr Monarchisten, Sozialisten, Humanisten, Juden und Exnazis dieser Welt!“ Dabei warf er einen belustigten Seitenblick auf Doderer.

Der zuckte zusammen und entgegnete: „Schon gut, ich habe verstanden. Aber deine versteckten Anspielungen kannst du dir sparen, du subversiver Verseschmied.“

„Nur weiter so, Kollegen“, forderte Torberg, „heraus mit der Sprache, im Kaffeehaus wird einander nichts geschenkt. Machen wir es wieder zum Idealbild einer besseren Welt, nehmen wir uns kein Blatt vor den Mund, pflegen wir die Schlagfertigkeit und den Wortwitz auf höchstem Niveau!“

Perutz hob seinen Mokka in die Höhe: „Auf den Kaffeegenuss sowie den Genuss der freien Rede und Widerrede!“

Die anderen folgten seinem Beispiel.

„Auf das Kaffeehaus!“

„Auf unser Kaffeehaus!“

„Stefan, was ist mit dir, du bist so zweigsam“, fragte Fried. Zweigs leise Zustimmung „Auf das Kaffeehaus!“ ging im Gelächter unter.

Ein Ober trat an ihren Tisch. „Wenn die Herren noch etwas bestellen möchten, wir schließen demnächst.“

Die Touristenpaare an den Nebentischen hatten bereits nach und nach das Café verlassen. Die fünf Herren aber überhörten die höfliche Aufforderung des Obers und verfolgten weiter ihre Zukunftspläne.

„Ein Kaffeehaus ist, wenn man es recht bedenkt, für den Literaten der Himmel auf Erden“, stellte Perutz fest. „Wir selbst sind der beste Beweis. Man wollte uns schon lange nach ganz oben wegloben, aber wir sind immer noch hier unten, auf Erden.“

„Im Kaffeehaus, wo wir hingehören“, bestätigte Torberg. „Es ist die letzte geruhsame Insel im hektisch tobenden Meer des Weltbetriebs.“

„Ein Jenseits im Diesseits“, brachte es Doderer auf den Punkt. Und dann warf er gleich ein weiteres Argument für die Wohngemeinschaft in die Runde: „Wir sind ja auch noch nicht fertig. Ich zumindest strebe noch einmal zurück auf die Bühne des Lebens, um ein Opus Magnum zu erschaffen.“

„Meines liegt auch schon seit Jahren angefangen in der Lade“, gestand Perutz, „in Tel Aviv, aber dort geht’s einfach nicht.“

„Bei mir ist es ähnlich. Es gibt noch so vieles, was ich tun möchte, Gedichte schreiben und …“, jetzt deutete Fried in Richtung Ober, der im Hintergrund schon hüstelte, „wir lassen uns erst aus dem Leben komplimentieren, wenn wir unser Werk vollendet haben.“

„Auch ich wälze den Gedanken daran, noch ein Buch zu schreiben. Eines, das ich selbst gern lesen würde“, stimmte Torberg zu und fuhr ungeduldig fort: „Jetzt aber weiter im Text. Ich denke, die Wohngemeinschaft mit Kaffeehaus ist verabschiedet. Aber wo soll sich das Ganze befinden? Mir ist im Laufe des Abends noch etwas aufgefallen, das uns neben der Sehnsucht nach Kaffeehäusern verbindet.“

„Die Unfähigkeit, ein Kaffeehaus nicht als Letzter zu verlassen?“, vermutete Doderer.

„Nein. Aber wir alle haben einmal am Alsergrund gewohnt oder sind dort zur Schule gegangen. Wir sollten uns eine Bleibe im Neunten suchen, dem schönsten aller Wiener Bezirke.“

„Back to the roots.“ Fried konnte sein langes, englisches Exilantendasein nicht verleugnen.

„Zum Beispiel in der Porzellangasse. Dort habe ich früher gewohnt, Nummer 36“, sagte Torberg.

„Wirklich? Ich auf Nummer 37. Das 36er-Haus ist doch das im Stil der Wiener Secession …“ Perutz rief sich die alten Bilder ins Gedächtnis. „Kannst du dich noch an die Mitzi erinnern, bei uns im 2. Stock, die mit den feuerroten Haaren?“

„Ich weiß nicht, damals hab ich nur Fußball und Wasserball im Kopf gehabt“, bekannte Torberg.

Doderer horchte auf: „Rote Haare, das klingt interessant!“

Aber noch bevor sich die Fachsimpelei über das andere Geschlecht richtig entfalten konnte, bereitete ihr Torberg ein Ende: „Somit betrachte ich auch die Lokalität am Alsergrund als einstimmig beschlossen.“

Wieder einmal hatte ein Kaffeehaus dazu beigetragen, dass Ideen geboren, fallengelassen, weitergesponnen und manchmal sogar realisiert wurden. Auch wenn sich das Central im Laufe der Zeit ziemlich verändert hatte, was die Gäste betraf - von Schaffenden zu Gaffenden, vom Künstlertreff zur Touristenattraktion - diese Qualität funktionierte nach wie vor.

Zweig fingerte sich wortlos eine Virginia-Zigarre aus dem Anzug und zündete sie an.

„Das ist zwar nicht mehr erlaubt“, kommentierte Torberg, „aber es ist eh schon Sperrstunde und wir werden gleich unsanft hinausgebeten, so wie früher. Vorher aber noch schnell zu etwas anderem. Ihr wisst, wie es ist. In unserem Alter zwickt es an allen Ecken und Enden. Je gescheiter wir werden, desto mehr lässt uns der Körper im Stich. Der eine hört schlecht, der andere red‘ nichts. Wir nennen Rollstuhl, Rollator und Gehstock unsere Gehilfen, der Zucker bringt uns um, Kaffee mit Süßstoff, das wäre uns früher niemals auf den Tisch gekommen … Was ich sagen will, schaffen wir das allein? Brauchen wir nicht jemanden, der sich um uns kümmert, jemanden der auf uns schaut?“

„Wanted: eine Pflegerin unseres Vertrauens!“, lautete Frieds Kurzfassung.

„Brrrillant!“, lobte Doderer. „Wir brauchen nicht mehr jeder eine, sondern nur noch eine für alle. Aber wie findet man eine solche Person?“

„Wir geben eine Annonce auf“, schlug Perutz vor.

„Was lesen denn Pflegerinnen heutzutage hier in Wien?“, fragte Fried.

„Ich denke, diese Gratiszeitung, die jetzt überall das Auge eines jeden gebildeten Menschen beleidigt, dieses ‚Extrablatt’, das wäre für unsere Zwecke geeignet“, sagte Torberg. „Herr Ober, wären Sie so freundlich, uns das Extrablatt zu bringen?“

Der Ober näherte sich: „Mit Verlaub, aber wir führen nur echte Zeitschriften …, übrigens, Rauchen ist bei uns untersagt … und wenn die Herren dann langsam, … wir sperren zu.“

Als der Ober sich wieder entfernt hatte, sagte Fried: „Ich glaube wir werden hinausgeworfen, bye-bye Literatenhimmel.“

Torberg ergänzte melancholisch: „Eines Tages werden wir vor den Pforten sämtlicher Kaffeehäuser stehen, die unser Leben ausmachten, und sie werden alle versperrt sein. Das ist das Ende aller Zeiten.“

„Uns droht die literarische Obdachlosigkeit!“, stellte Perutz fest.

„Wieder einmal ab ins Asyl“, folgerte Fried.

„Was tangiert es uns, sollen sie uns doch hinausschmeißen, diese Schmeißfliegen des modernen Kaffeehauswesens“, befand Doderer, „wir emigrieren in unser eigenes Kaffeehaus!“

Vier nicht mehr ganz taufrische Herren schlurften eingehängt und beschwingt, den fünften Herren im Rollstuhl schiebend, durch die nur noch von einzelnen Nachtschwärmern bevölkerte Herrengasse in Richtung des Ringstraßen-Hotels, das der PEN-Club für sie gebucht hatte. Nach der langen Dunkelheit, die die letzten Jahre und Jahrzehnte jedem Einzelnen von ihnen gebracht hatten, hofften sie, dass sie die Morgenröte eines neuen Tages erleben würden.

Eine Weile hörte man noch das leiser werdende, taktartige Klopfen von Frieds Gehstock durch die Gassen hallen, aber nachdem die fünf Herren um die Ecke gebogen waren, verstummte auch dieses Geräusch.

24. OKTOBER

„Also Fräulein Ella, wenn ich Sie so nennen darf“, sagte Torberg, „das klingt alles sehr überzeugend, was Sie uns zu bieten haben. Dürften wir aber auch fragen, wie Ihr privater Lebenslauf aussieht? Es geht uns zwar nichts an, aber wir haben Ihnen ja auch einiges über uns erzählt, und damit wir uns einen besseren Eindruck machen können, wäre es doch sehr nett, Sie wissen schon, Eltern, Familienstand, Kinder und so weiter.“

Ella saß den fünf Herren im Wartezimmer einer ehemaligen Arztpraxis, in der nun die Wohngemeinschaft entstehen sollte, gegenüber. Bis hierher war ihr Vorstellungsgespräch trotz großer Nervosität sehr gut verlaufen, jetzt aber drohte Gefahr. Sie hatte befürchtet, dass diese Frage kommen würde, denn einerseits zeigte ihr privater Lebenslauf, wie Torberg es genannt hatte, dass sie sich immer aufgeopfert und in den Dienst anderer gestellt hatte, andererseits offenbarte er aber auch, dass die Ergebnisse dürftig waren. Deshalb erzählte sie möglichst knapp und oberflächlich, dass sie aus Krakau stammte und ihre Eltern geschieden waren. Ihr Vater, ein Alkoholiker, hatte die Familie verlassen, als sie neun war. Sie hatte nach der Schule mit Putz- und Kellnerjobs angefangen, um sich ein Studium zu finanzieren, Germanistik, allerdings nur drei Semester, denn dann lernte sie ihre große Liebe kennen, wurde schwanger und umgehend von dem Kerl sitzen gelassen. Das wiederum zwang sie, das Studium abzubrechen, die eigene Tochter der Mutter anzuvertrauen und nach Wien zu gehen. Nur so konnte sie genug Geld verdienen, um Mutter und Tochter zu versorgen. Die Tochter hatte ihr das nie verziehen und lebte inzwischen in Hamburg, die Mutter krank und allein in Krakau.

In Bezug auf Lebenspartner gab es nicht viel zu berichten. Ihre Bekanntschaften, darunter eine zu einem windigen Anlageberater, hatten nie lange gehalten. „Derzeit lebe ich mit meiner Katze im 2. Bezirk, in der Nähe vom Nestroyplatz“, beendete Ella die Ausführungen und hoffte, dass ihr die geballte Erfolglosigkeit nicht angekreidet werden würde.

Torberg dämpfte seine Zigarette aus. „Soso, aus Krakau kommen Sie. In Krakau gab es ja ein großes Judenviertel.“

Diesen Einwurf hatte Ella in dem Moment befürchtet, in dem sie ihre Heimatstadt genannt hatte. Würde es einen Schatten auf sie werfen, dass das Krakauer Ghetto und das in der Nähe gelegene KZ Auschwitz Schauplätze grausamster Verbrechen gewesen waren? Natürlich konnte sie überhaupt nichts dafür, aber immerhin waren vier der Herren Juden, das hatten sie vorhin erwähnt.

Aber Torberg fragte schon weiter. „Und Germanistik haben Sie studiert? Kennen Sie zufällig die Bücher Die Strudlholfstiege, die Schachnovelle oder Der Schüler Gerber?“

Also kein Eingehen auf den Holocaust, dafür die nächste heikle Frage. Ella kannte die Titel, aber nur dem Namen nach. Natürlich konnte sie das nicht zugeben und wählte deshalb eine diplomatische Antwort: „Ja, aber es ist schon sehr lange her, dass ich sie gelesen habe. Ich kann mich nicht mehr gut erinnern.“

Torberg fuhr sich geschmeichelt über seine sportlich nach hinten gekämmten spärlichen Haare. „Was sagt man dazu, selbst in Polen liest man unsere Werke. Ich würde sagen, Fräulein Ella ist eingestellt, was meint ihr?“

Auch die anderen schlossen sich Torbergs Meinung an. Dann folgten nur noch ein paar Formalitäten. Es wurde vereinbart, dass Ella bereits in der kommenden Woche ihren Dienst antreten sollte, denn in den nächsten Tagen würden die Möbel geliefert. Die Herren wollten es diesen so schnell wie möglich nachtun und einziehen.

Ella wäre ihnen am liebsten um den Hals gefallen. Nur mit Mühe gelang ihr eine angemessene Verabschiedung. Erst im Stiegenhaus, als sie sich außer Sicht- und Hörweite wusste, ballte sie die Fäuste, schloss die Augen, warf den Kopf nach hinten und schrie leise: „Ja! Ja! Ja!“ Sie hatte den heiß ersehnten Job in der Tasche.

Wie in Trance ließ sie den Aufzug links liegen, schwebte die Stiegen hinab und durch die Haustür hinaus auf die Porzellangasse.

Das Inserat im Extrablatt hatte also nicht gelogen. ‚Fünf ungewöhnliche ältere Herren suchen Pflege-Haushälterin fürs Leben. Literarische Kompetenz erbeten.‘ So hatte die etwas seltsame Formulierung gelautet. Ungewöhnlich waren die Herren in der Tat, handelte es sich doch um fünf Schriftsteller, von denen Ella angenommen hatte, dass sie schon längst nicht mehr lebten. Sie konnte ihr Alter nur schwer schätzen, aber jenseits der Hundert waren sie mit Sicherheit. Für dieses Alter wiederum waren sie sowohl körperlich als auch geistig ungewöhnlich fit. Etwas Vergleichbares war Ella in ihren 35 Jahren Altenpflege nicht untergekommen. Dabei hatte sie viel gesehen und erlebt, bis sie dann vor einem Monat gekündigt worden war und befürchtet hatte, nie wieder einen Job zu finden.

„Du hast ihnen aber auch verschwiegen, warum man dich gekündigt hat. Das war nicht ehrlich. Irgendwann werden sie es erfahren und dann fliegst du!“ Es war das schlechte Gewissen, das aus ihr sprach, ihre Tochter, die sich einmischte. Je mehr sie sich entfremdet hatten, desto penetranter hatte sie sich in Ellas Kopf eingenistet.

„Aber was sollte ich denn machen? Wenn ich es erzählt hätte, hätten sie mich nie eingestellt! Und es passte doch alles so gut. Wie sie sich freuten, dass ich zumindest ansatzweise Germanistik studiert habe und sogar ihre Bücher kannte. Wie die Kinder!“

„Trotzdem, es wird dir eines Tages auf den Kopf fallen.“

„Vielleicht aber auch nicht, schließlich war die Kündigung ungerecht. Jetzt jedenfalls will ich mich erst einmal freuen!“

Ella, die eigentlich Gabriela hieß, aber seitdem sie Polen den Rücken gekehrt hatte, nur mehr Ella genannt wurde, genoss die Strahlen der Herbstsonne und schlenderte gut gelaunt durch die Gassen. Hier am Alsergrund würde sie also als „WG-Managerin“ arbeiten, wie es bewusst modern bezeichnet worden war. Sie sollte sich um Haushalt und Gesundheit kümmern, damit die Herren in Ruhe an ihren neuen Büchern arbeiten konnten.

28. OKTOBER

Der früher als Wartezimmer genutzte Salon, in dem das Einstellungsgespräch stattgefunden hatte, war voll. Nicht nur mit den fünf Herren, Ella, zwei Möbelpackern, sondern auch mit greifbarer Euphorie und Vorfreude. Möbel, Kisten und diverse Accessoires standen überall herum und warteten darauf, den ihnen zugewiesenen Platz einzunehmen. Es fehlte nur noch eines.

„Fräulein Ella, bitte eine Schale Kaffee. Ohne Kaffee können wir unmöglich ein Kaffeehaus einrichten“, sagte Torberg, als würde er beim Ober eine Bestellung aufgeben.

Die Herren befanden sich in ihrem Element und Ella musste über die leicht angestaubte Bezeichnung „Schale“ schmunzeln. Es war ihr erster Tag und sie ahnte, dass dies heute sicher nicht der letzte Kaffee sein würde. Sie ging in die Küche, wo als einziges und wichtigstes Gerät die Kaffeemaschine schon ausgepackt bereit stand.

Die Wohnung befand sich im Mezzanin eines hufeisenförmigen Gebäudes aus der Gründerzeit. Noch roch alles sauber und frisch ausgemalt, aber das abgetretene Fischgrätparkett und die Stuckverzierungen an der Decke ließen jede Menge Vergangenheit spüren.

Betrat man die Wohnung durch die schwere Holzflügeltür, empfing einen ein imposantes Vorzimmer. Von hier aus waren alle anderen Räume begehbar. Gleich rechts lagen das Bad, zwei WCs, eine Abstellkammer und ein Wirtschaftsraum. Dann folgten, nach hinten Richtung Hof und Garten, die großzügigen Zimmer der Herren. Wendete man sich nach links, gelangte man als Erstes in Ellas zukünftiges Büro und danach in die geräumige Küche, die gleichzeitig als Esszimmer diente. Ella platzierte Kaffee, Milch, Zucker und Süßstoff auf einem Tablett und begab sich damit durch das Vorzimmer zum künftigen Mittelpunkt der WG, dem „Kaffeehaus“.

„Den großen Marmortisch bitte mehr zentral, er muss die Lokalität dominieren“, dirigierte Doderer gerade wichtig und mit großer Gestik die Möbelpacker, „noch etwas weiter nach rechts, direkt unter den Kronleuchter, und dann kann der Kaffee dort auch schon serviert werden.“

Die Möbelpacker taten wie verlangt, schoben auch die Thonet-Sessel zum Tisch, Ella stellte das Tablett ab und servierte. Zögernd und widerwillig griff Torberg zum Süßstoff.

„Was ist los?“, fragte Doderer. „Was hast du?“

„Diabetes.“

„Diabetes? Na das wär nichts für mich.“

Das Wichtigste war jedenfalls geschafft. Der Tisch stand, die Herren saßen und waren mit Kaffee versorgt. Sie bildeten das Zentrum des Universums.

Ella wartete gespannt, was ihre Arbeitgeber als Nächstes in Angriff nehmen würden. Erst einmal passierte nichts. Dann zündeten sie sich Zigaretten an und genossen ihr neues Sein.

„Furchbar … furchbar“, unterbrach Perutz die Stille. Die anderen Herren folgten der Richtung seines Zeigefingers zum Kronleuchter. „Da!“

„Eine Fliegenfalle, so what?“, sagte Fried.

„Die Fliegen. Sie suchen das Licht und finden den Tod!“

„Nun reg dich nicht auf, Perutz, ein jeder ist zum Tode verurteilt. Born to die.“

„Außer uns“, ließ sich der schweigsame Zweig hinter seinem gepflegten Oberlippenbärtchen vernehmen.

„Irgendwann wird Gevatter Tod auch bei uns vor der Tür stehen“, antwortete Torberg. „Ah, da ist er ja schon, noch dazu ohne anzuklopfen.“

Zihal, der Vermieter, war im Umzugsdurcheinander unbemerkt in den Salon vorgedrungen. Es handelte sich um einen hageren Herrn, die Hose bis weit über den Bauchansatz hochgezogen und dort mit einem Gürtel verschnürt. Im Gesicht, zwischen seinen abstehenden Ohren, trug er einen dunklen Schnauzer und unter diesem schnarrte es jetzt hervor: „Was passiert hier? Man raucht? … Steht nicht im Vertrag, rauchen. Und wer sind die alle?“ Er deutete auf die Möbelpacker und Ella. „Hier ist exaktens nur für fünf … gebucht. Das ist ein ordentliches Haus, schon immer. Und das Parkett, da dürfen keine Kratzer rein. Das ist Vorschrift … allfällig zur Kenntnis zu nehmen, sonst …!“

Dann drehte sich der inzwischen leicht rot angelaufene Zihal um und verschwand durch die offen stehende Wohnungstür.

„Das wäre also auch geklärt. Sonst …“, sagte Perutz und Torberg fügte hinzu: „Ich habe mir den Tod immer anders vorgestellt, irgendwie kompetenter und durchsetzungskräftiger. Und diese Hose! Habt ihr die gesehen? Unten zu kurz und oben zu lang!“

Ella war neben der seltsamen Art die Hose zu tragen vor allem der zuckende Schnauzbart unangenehm aufgefallen, der lediglich lose auf der Oberlippe zu kleben schien. Doderer befand denn auch ganz in ihrem Sinne: „Ein Scheusal österreichischer Eigenart, geistesfeindlich, humorlos, pedantisch. Ein typischer Vertreter der Hausmeistergattung, nichts, was man täglich dringend braucht.“

„Lass gut sein. Wir haben Besseres zu tun, als uns aufzuregen“, sagte Torberg, „zum Beispiel unser Kaffeehaus einzurichten. Wohin mit den Fauteuils?“