Nur die Wahrheit - Yves Gaudin - E-Book

Nur die Wahrheit E-Book

Yves Gaudin

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Émile Blanchard, ein ehemaliger Kommissar, überquert jeden Morgen mit geschlossenen Augen die Route nationale. Ein Ritual, um eines Tages überfahren zu werden und endlich seinem Leben zu entkommen. Seit dem Tod seiner Frau ist er einsam und verbittert, den Sohn sieht er nur noch gelegentlich. Zudem hadert er mit seinem Unvermögen, denn sein letzter schwieriger Fall blieb ungelöst: drei vergiftete Opfer, denen die Zunge abgebissen wurde - ein schrecklicher Serienmord an zwei Biologen und einem Mathematiker. Zwei von ihnen arbeiteten im selben Forschungslabor, zusammen mit einer jungen Biologin, die beste Beziehungen in einflussreiche Kreise unterhielt ... "Nur die Wahrheit" ist ein facettenreicher Roman noir, der mit den Grenzen des Genres spielt. Yves Gaudin tanzt aus der Reihe und spitzt zu, er würzt mit einer gehörigen Portion Sarkasmus und einer rhythmischen, atemlosen Sprache. Eine bösartig-schräge Reflexion über den Zustand des Menschen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 173

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Émile Blanchard, ein ehemaliger Kommissar, überquert jeden Morgen mit geschlossenen Augen die Nationalstrasse. Ein Ritual, um eines Tages überfahren zu werden und endlich seinem Leben zu entkommen. Seit dem Tod seiner Frau ist er einsam und verbittert, den Sohn sieht er nur noch gelegentlich. Zudem hadert er mit seinem Unvermögen, denn sein letzter schwieriger Fall blieb ungelöst: drei vergiftete Opfer, denen die Zunge abgebissen wurde – ein schrecklicher Serienmord an zwei Biologen und einem Mathematiker. Zwei von ihnen arbeiteten im selben Forschungslabor, zusammen mit einer jungen Biologin, die beste Beziehungen in einflussreiche Kreise unterhielt …

Nur die Wahrheit ist ein facettenreicher Roman noir, der mit den Grenzen des Genres spielt. Yves Gaudin tanzt aus der Reihe und spitzt zu, er würzt mit einer gehörigen Portion Sarkasmus und einer rhythmischen, atemlosen Sprache. Eine bösartig-schräge Reflexion über den Zustand des Menschen.

Yves Gaudin, geboren 1967 im Wallis. Lebte in Südafrika, Burkina Faso, Australien und Frankreich, heute in Sion. Er ist Autor, Doktor der klinischen Psychopathologie, Musiker und Musiktherapeut. Yves Gaudin veröffentlichte Prosa, Lyrik und einen Theatertext. Nach Trop tard pour mourir ist En vérité sein zweiter Roman.

Yves Gaudin

Nur die Wahrheit

Roman

Aus dem Französischen von Anne Thomas

Lenos Verlag

Die Übersetzerin

Anne Thomas wurde 1988 in Karl-Marx-Stadt/Chemnitz geboren und wuchs in Flensburg auf, nachdem sie 1989 mit ihrer Familie aus der DDR geflohen war. Seit 2013 ist sie als freiberufliche literarische Übersetzerin tätig (u. a. Colin Niel, Éric Plamondon, Gabriel Katz, Anna Boulanger, Marie Desplechin). Sie lebt hauptsächlich in Paris. Regelmässige Arbeitsaufenthalte in Berlin und London. Anne Thomas organisiert und leitet Übersetzungsworkshops in Schulen in Deutschland und Frankreich und ist als Dolmetscherin bei literarischen und kulturellen Veranstaltungen tätig.

Titel der französischen Originalausgabe:

En vérité

Copyright © 2020 by Éditions Héloïse d’Ormesson, Parispublished by arrangement

with Michael Gaeb Literary Agency, Berlin

E-Book-Ausgabe 2022

Copyright © der deutschen Übersetzung

2022 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Coverbild: Shutterstock

eISBN 978 3 85787 998 2

www.lenos.ch

Für Carine

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Epilog

Dank

»Doch jeder tötet, was er liebt.

Ich sag es, dass jeder es hört!

Der tut es mit dem bösen Blick,

Der mit Schmeicheln, das betört.

Der Feigling tötet mit einem Kuss,

Der Kühne greift zum Schwert.«

Oscar Wilde,

Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading

(deutsch von Elfriede Mund)

Prolog

Jeden Morgen gehe ich blind über die Strasse. Das ist ein Ritual. Ich kann nicht anders. Andere schauen zu tief ins Glas, lassen sich volllaufen oder betrügen ihre Frau, bei mir ist es eben die Strasse, sie ist meine Jury, mein Schicksal und bald meine letzte Verbeugung. Trübe Aussichten, ich weiss. So geht das schon drei Jahre, das macht viele Morgen. Längs stehen Trauerweiden. Man kommt mit Karacho angebraust. Viele Leute drin. Einmal hielt jemand an, nicht wütend, überhaupt nicht, nur ob man mir helfen könne, nette Leute, und dann ging es weiter. Heute ist Ebbe, niemand, kein Schwein. Weiss der Geier. Gut, sehr stark befahren ist diese Nationalstrasse zwar auch nicht, aber dennoch, ein Unfall ist schnell passiert, und dann die Motorräder, ab und zu kommen welche, das kann einen Menschen töten, ziemlich schnell sogar, man weiss es nicht, das weiss man nie. Manchmal ein Knacken im Wind. Ich denke, es ist für mich bestimmt. Aber nein. Nur ein toter Ast.

Jetzt regnet es. Rinnt mir munter den Rücken hinunter, Gänsehaut, bis der Morgen graut, die Zähne klappern, womöglich brüt ich eine Bronchitis aus, anfällig, wie ich bin. Tschiep, tschiep, ein Vogel piept. Ich erwidere leck mich, das geht dich nichts an, renn doch zu deiner Mutter, wenn’s dir nicht passt, die sucht dich vielleicht, die suchen immer, die Mütter. Über die Strasse gehe ich auch morgen wieder, das steht fest. Ich habe nie verstanden, warum manche das Schicksal beschwören, indem sie die Finger kreuzen, sich an der Nase kratzen oder zweimal schnäuzen, auf Holz klopfen, über die Schulter spucken, Hals- und Beinbruch wünschen oder nie linksherum rühren, eilig Sankt Anton anrufen oder auch die heilige Rita, ist man schon mal dabei, aller guten Dinge sind drei, bis hundert zählen, bis tausend, mit dem rechten Fuss zuerst aufstehen oder Schwarz vermeiden, immerzu an denselben Ort fahren, persönliche Pilgerreisen, ureigenes Compostela, als würde das irgendetwas ändern, als verschwänden so die Schattenseiten. Von wegen! Leichtgläubige! Verlorene! Heidengebete! Wiederholung ist stets nur ein Sarg, der viel zu früh vorspricht. Das sage ich Ihnen.

Dabei bin ich wie sie, ich gehe über die Strasse, weil ich muss, dann ist endlich ein für allemal Schluss. Ein Arzt sah darin ein Sinnbild. Die Strasse, das Leben, Sie wissen schon. Der hat nichts begriffen. Das Gehirn ist der Punkt. Die Erinnerungen. Zu viele Leute bevölkern meinen Geist. Wird schon. Eines Tages vielleicht. Ohne Mucken, ein Fuss im Loch, und das war’s. Dort wird alles enden. Zermalmt. Auf der Zielgeraden. Und meine Gedärme werden ihnen in die Fresse spritzen. Eingeweide auf der Windschutzscheibe, das ist glitschig, eklig, geschieht ihnen recht, hab nie behauptet, das Leben sei lustig. Und dann werden sie kommen, und sie werden sagen, ich hatte ein schönes Leben, gute Manieren, unter Schleimern gedenkt sich’s gut, und ich wäre hinter den Dingen, und damit Schluss. Vorher hatte ich meine Mutter, das war bequem. Sie hatte grosse Pläne für mich. Harrte meiner, wochenlang, sandte Exvotos zum Himmel. Doch sie ist nicht mehr.

Nachts mache ich das nie. Wegen der Scheinwerfer! Die Nacht ohne Tag, das wäre perfekt, da würde man nicht so einen Aufstand machen. Das ist wie mit den Leuten. Wenn es nur Arschlöcher, Arme oder Beelzebuben gäbe, wüssten wir nichts über die menschliche Natur. Ich hatte eine Freundin, der ich alles erzählte und die mich bat, damit aufzuhören, mach keinen Scheiss! Die habe ich nicht mehr. Freunde verstehen solche Sachen nicht, die halten sich für eine Verlängerung von einem selbst, aber sobald der Geschmack des Todes da ist, werden sie ganz welk.

Danach gehe ich nach Hause. Sitze am Schreibtisch und denke mit aufgestützten Ellenbogen über all das nach. Ich drücke mir den Hals zu, da werden Kreise und Sterne gewoben, es breitet sich aus, prickelt, schwillt an, wie Ringe im Wasser, ganz blau, namenlose Formen, es tut nicht weh, am Ende ist es sogar ganz angenehm. Ich halte mein Herz in der Hand und schwitze. Und dann läutet es Sturm, die Sirene springt an, klar zum Gefecht, Fiepen im Ohr und Konsorten. Der Schrei der Stille. Ich würde gern die Zeit zurückdrehen. Aber ich kann nicht. Ich werde nie meiner Schmerzen enthoben. Wozu auch?

Ich bin Oberkommissar bei der Polizei. Das heisst, ich war. Das macht noch keinen Mann. Was soll’s. Bei der Aufnahmeprüfung wurde ich gefragt, wie viel drei mal drei ist. Ich antwortete sechs, und drei macht neune. Ich bekam einen Arschtritt. So war das damals. Ich bin trotzdem aufgestiegen. Beharrlichkeit bringt einen überallhin, daran gibt es nichts zu rütteln. Ich habe so einige Schurken gefasst, berühmte noch dazu. Die Despond-Bande, die vom Banküberfall in Évreux, die Benders und die anderen, das war ich. Der David mit seinem Handbohrer, das war kein Kindergeburtstag, die Kugeln flogen mir nur so um die Ohren. Ich wurde schnell versetzt. Quai des Orfèvres*, dort spielt die Musik. Käppi ist unnötig, wir wollen Action sehen. Etwas anderes kannten die gar nicht, der Polizeirat, der Polizeipräfekt, der Minister. Ergebnisse bekamen sie. Und nicht zu knapp. Ich habe ihnen nie einen Dolch ins Herz gestossen. In den Rücken vielleicht schon. Das war mein grosses Gewitter. An meinem letzten Tag wurde ich eingehend gemustert. Und dann, vergiss es, die haben rein gar nichts begriffen. Nicht mal eine Uhr habe ich bekommen. Normalerweise kriegt man eine geschenkt, und keinen Plunder, fast ’ne Schweizer. Aber bei mir, einfach vor die Tür gekehrt. Husch! Nicht dass der noch dableibt. Jubelschreie, Fanfaren und das Schleifchen sind ein andermal dran.

Jetzt bin ich alt. Gedächtnis wie ein Sieb, Arme wie Spaghetti, jämmerlich zitternd, die Beisserchen im Glas, die Hosen nass. Revolution, manche haben’s versucht, tja, ohne mich. Bald bin ich dran. Ich mag keinen Beton. Als ich klein war, konnte man in der Seine baden, Obst vom Baum essen, das war schön. Heute ist es damit Essig, aus und vorbei, keine Chance. Im dritten wohnt eine Frau. Eine zänkische Alte. Ich spiele ihr Streiche. Im Waschkeller herrscht König Humbug, das vertreibt die Zeit. Ihre Schuhe stellt sie vor die Tür. Sie findet sie auf sämtlichen Etagen wieder, aus dem Leim, erzählt sie mir. Manchmal rufe ich sie mitten in der Nacht an, nur der Stimme wegen. Und lege auf. Wir sind alle irgendwann dran.

Ich erinnere mich an ein Taxi. Da hat alles angefangen. Man hatte mir gesagt, es sei einfach, keine Sorge, die sind in Ordnung, gut, vielleicht nicht die Armen, mit denen ist immer irgendwas, stets zum Klauen aufgelegt, aber die Reichen, keinerlei Sorgen, ordentlich zugeknöpft und ohne Vorstrafen, da kann dir nichts passieren. Ja, Pustekuchen! Da haben sie mich schön übern Löffel balbiert! Kaltgestellt! Abgehalftert! Es gibt keine Schuldigen. Nur Leichtgläubige. Da kann man nichts machen. Meine Lippen werden schon bald von der Erde kosten. Gelee in der Zigarrenkiste. Wie er leibt und stirbt. In meinem Mund keine Reue. Mein Gift ist mein Lebenselixier. Ich kann mich nicht beschweren. Immer noch besser als das Irrenhaus. Krank fickt gut, vor allem in den Arsch. Muss man wissen. Alles andere ist bloss Gelaber.

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, das ist die ganze Geschichte.

* Das Gebäude mit der Adresse 36, Quai des Orfèvres auf der Île de la Cité war von 1913 bis 2017 Sitz der Direktion der Pariser Kriminalpolizei. Die Adresse wird daher synonym verwendet, auch in der Literatur. Heute ist dort nur noch die Spezialeinheit BRI untergebracht. (Anm. d. Übers.)

1

Paris wellt sich unter der Hitze. Alle ersticken, kriegen schlecht Luft. Die Neugeborenen schreien nicht mehr, die Alten setzen aus. Der Sommer kommt mit aller Kraft. Und ich warte vorm Cimetière de Belleville, 20, Rue du Télégraphe. Es gibt Schlimmeres ortsmässig, aber na ja, schon ganz schön traurig. All die Gräber, wie sie daliegen, kalt, gnadenlos, und darin Skelette, Kadaver, betreten oder bald schon, morgen, nächste Woche, verwest, vermodert, verdorben, Tattoos auf den Schenkeln, Stecker in den Ohren oder Ringe in der Nase, eine Manie, wie die Hunde, wie die Ochsen, was tut man nicht alles für ein bisschen Extravaganz, Zahnplomben und Metallplatten, Schrauben im Arm, Stifte im Knie und Schrittmacher im Herzen. Medizin ist Mechanik! Und all die Körper, vorher waren sie feist, all das Fett, all die Schmerbäuche, all die Sonntagsspeckpolster, all die Wabbelkinne, na, die schmeckt Ihnen wohl, meine Sauce, Sie nehmen doch noch was, all die Komplexe, die den Niedergeschlagenen des Glücks so viel Kummer machen, Schlacken und Hässlichkeit, die Füsse quellen auf, den Zähnen zieht’s die Schuhe aus, Verräter und Soldaten, Verrückte und Verbrecher, Metzen und Zecher, Diebe und Spinner, finstere Gestalten und empörte Apostel, solche, die das Leben mit Weihrauch und Myrrhe verwalten, mit Lippenstift und Lidschatten Träume aufstecken, sich mit Farbe im Haar und Parfum am Hals eindecken, mit Öl und Glanz ihr Äusseres vernebeln, da sind sie nun, genauso wie sie sind, zu Asche zerfallen, zu nichts, ab in die Krypta, in die Versenkung, alle gleich, sterben Sie wohl, Madame. Sie waren Lehrer, Akademiemitglied, Pamphletist, Trapezkünstler, Krankenwärter oder Apotheker, einerlei, das zählt nicht mehr, müssen alle dran glauben, adieu, Kalb, Kuh, Küken, Schwein, und magst du auch die Queen von England sein. Tolle Sache, das Leben! Da hat sich der ganze Aufwand ja wirklich gelohnt! Viel Lärm um nichts. Jetzt nur noch Brei, Moder, Pilze für die Maden! Ein Kreuz und vorbei, reden wir nicht mehr davon, oder kaum noch, oder schlecht, man kann es nicht mehr sagen.

Er ist zu spät. Das kann ich nicht leiden. Die Manieren gehen vor die Hunde. Zumal das schon zum zweiten Mal passiert. An seiner Stelle stellt sich Müdigkeit ein. Gut, ich hab bis in die Nacht über dem Fabergé-Bericht gesessen, nur noch diesen Fall im Kopf, schmutzig, pervers. Wer arbeitet, kann nicht geniessen, nie. Und dann denke ich an meine erste Zeit bei der Polizei. Man hatte mich nach Lille versetzt. Keine Ahnung, warum. Der Norden war wie eine Strafe, viel zu kalt für mich. Das wussten die auch. In dem Winter hätte ich viel darum gegeben, dass man mir Arme, Füsse und Kopf amputiert wie der Lerche im Lied, O du Lerche, rupfen will ich dich! Wie im Halbschlaf, die Kaffeemaschine im Stand-by. Man konnte mich zwicken, zwacken und piesacken, nichts zu machen, ich hielt Winterschlaf, ehe ich sterben würde. Der Chef hatte nichts als französische Chansons im Kopf. Ein Leierkasten. Ein Sängerknabe. Den ganzen Tag trällerte er Zweigroschenwahrheiten in seinen Dreitagebart. In Dauerschleife, zum Verrücktwerden. Die Kälte glitt über ihn hinweg. Die Lächerlichkeit auch. Obwohl er im Grunde kein schlechter Kerl war. Schade, dass ein leichtes Schielen ihn sowohl lächerlich als auch unheimlich wirken liess, sonst hätte er sicher Freunde gefunden. Womöglich eine Frau.

Dort, aus Schweiss und Verlangen, omnipotent und inkompetent, eine Schnecke an jeder Ecke und in zarter Spitze, traf ich Marianne. Man muss sie gesehen haben, ihre heidnischen Reize und tödlichen Sünden, die sonnengebräunten Schenkel und das provokante Wesen, Sommersprossen auf dem Rücken und Gelüste auf der Vorderseite. Ich glaube, dass man mich ein wenig beneidete. Genau das gefiel mir. Sie war Sängerin, aber nicht wie der Chef. Sie sang ihre Arien am Konservatorium. Eines Abends sogar in der Oper, erzählte man mir. Wir wärmten uns auf, so gut es ging. Mit den Armen, die wir hatten. Und mit dem Mund.

»Kommst du aus dem Süden?«

»Nein, aus Paris. Warum?«

»Weil dir immer kalt ist.«

»Das liegt am Zug.«

»Bist du so oft Métro gefahren?«

Anfangs gab es Missverständnisse. Das schoben wir auf die Leidenschaft, die Dummheit, die Jugend. Jede Ausrede gilt! Aber dann mischte sich das Leben ein. Und nicht sehr geschickt. Oder vielleicht wollte ich auch nicht Lust gegen Liebe tauschen. Ich weiss nicht, schwer zu sagen. Der Alltag kotzte mich an. Ihre Freundlichkeit passte mir nicht. Als sie begriffen hatte, dass ich nicht lange bleiben würde, gab es ein tüchtiges Drama, das hätte ich ihr doch früher sagen können, so was macht man doch nicht, unglaublich, da bin ich dir ja schön auf den Leim gegangen …! Sie machte mir hysterische Szenen, sprach vom geplanten gemeinsamen Urlaub, von ihrem Leben, das endlich einmal einen Sinn hatte. Sie beschrieb mir, wie sie Seezunge Müllerin zubereitete, es sei am besten, wenn man zum Abziehen der Haut den Schwanz in heisses Wasser tauche, das würde sie mir jeden Freitag kochen. Aber ich hab doch nichts versprochen! Gar nichts! Fehlte nur noch, dass sie mir mit Heiraten kam. Das wäre auch passiert, ganz klar. Eine Frage von Tagen. Vielleicht morgen, was will man noch gross überlegen, wenn man sich sicher ist! Man muss sich trauen! Komm, mein Émile! Ihr Loch war ihr zu Kopf gestiegen. Drinnen brodelte es. Wie fixe Ideen. Das hinderte sie am Denken. Eines Abends hatte sie ein Herz gezeichnet, das könnten wir uns doch auf den Arm tätowieren lassen, sie auf den linken, ich auf den rechten. Ha, ich würde jetzt schön blöd aussehen, ein Stück von ihr auf mir drauf. Das Leben ist zu kurz für ewige Beweise. Grossmanöver waren einfach, ich nahm mir ihre Knospe vor, knetete ihre Apfelsinen, liebkoste ihre Schleusen, das ging einwandfrei. Vom Apfel habe ich gekostet, o ja. Bei allem anderen machte man mir lieber nicht zu viel Druck. Ich könnte sagen, es lag am Nebel, der alles verdeckte, ihre Formen umhüllte und mir die Augen versenkte, aber in Wirklichkeit war sie nur ein Zeitvertreib. Ich erwiderte, dass ich gern Paimpol und die Klippe besichtigen wolle. Und Piräus. In Wirklichkeit glaubte ich keine Sekunde daran. Vielleicht ist es das, wonach man im Leben sucht, wie viel Arschloch in einem steckt, damit man endlich weiss, wer man ist. Ertragreicher Betrug! An dem Morgen, als ich ging, sah ich schon die Szene vor mir, hörte, wie mir die Pflastersteine um die Ohren pfiffen. Aber ich masste mir zu viel Bedeutung an. Sie war ja nicht blöd, die Marianne. Sie sagte kein Wort. Nur eisiges Schweigen. Und drehte sich wieder um, vielleicht voller Tränen, aber himmelhoch erhobenen Hauptes. Da guckte ich schön blöd aus der Wäsche. Und dabei war das erst der Anfang. Im Absurden bin ich zu Hause.

Ich warte also auf ihn. Trete auf der Stelle. Spreche ihm zweimal auf die Mailbox. Nichts. Keine Antwort. Und da ist er!

»Später ging es wohl nicht!«

»Schrei nicht so.«

»Ach, die haben keine Ohren mehr.«

»Um die geht es gar nicht. Komm, hier lang.«

Zwei Strassen weiter, bei der örtlichen Kinderkrippe, ist das Molekulargenetische Labor. Das macht was her, der Name. Falls es noch der Sorbonne gehört, es gibt Gerüchte über Privatinvestoren, Amerikaner. Mal sehen. Was mir sofort aufstösst, ist der Geruch. Nach Schwefel, glaub ich. Nach faulen Eiern. Nach Vergorenem. Ich weiss nicht, vielleicht Feuchtigkeit, Schimmel. Also, es stinkt, ich finde kein besseres Wort. Es geht einen langen Gang entlang, der erinnert mich eher an das bläuliche Flimmern öffentlicher Toiletten als an einen Vorposten der Wissenschaft, einer jungen Frau hinterher, um die zwanzig, weisser Kittel und Pferdeschwanz, rechts, links, wie das schwingt, und ihre hohen Absätze, klick klack, das klappert. Im dritten Stock ist das Institut für Seltene Erkrankungen. Eigentlich ist es nicht besonders gross, aber trotzdem, mir wird ganz schlecht, als mir klar wird, wie viele Bakterien und Viren in den Reagenzgläsern, manche in Regalen, manche auf niedrigen Tischen, herumkrabbeln. Lauter »Her-mit-dem-Tod«, eingesperrt in flüssigem Stickstoff und bei niedrigen Temperaturen. Abgepackte Epidemien. Die Schubladen voll mit Infektionen. Lauter Zeitbomben sind das! Und dann die Mäuse, direkt vor uns, widerlich. Am Schädel angebrachte Elektroden, ein Skalpell im Wanst, Hautfetzen an der Flanke, die Eingeweide freigelegt, und sie bewegen sich noch. Anscheinend die Nerven. Unschön, heisst es, aber es erhält die Art. Die Schweine! Die Arschlöcher!

»Wie heisst der noch mal?«

»Jacques Ambroise. Forschungsleiter. Ein verdammt kluger Kopf.«

Mag sein, aber ganz schön verstört. Und knarzig noch dazu. Vor allem eingebildet. Sieht schlecht aus. Und nun stakst er vor uns herum, mit einer Steifheit im Rücken wie ein Totengräber am Grab.

»Sie sind also damit betraut, Licht in diese Sache zu bringen?«

»Ganz genau. Zeigen Sie uns die Leiche.«

»Die Leiche? Wie das, die Leiche … Hat man Sie denn nicht informiert? Inzwischen sind es drei! Drei! Und alle mit demselben Merkmal. Die Zunge. Verstehen Sie? Die Zunge! Was machen wir denn jetzt bloss?«

Er zittert richtig, der Gute. Gleich verliert er die Fassung, hier, vor unseren Augen, kein schöner Anblick. Wenn man die Eliteunis durchlaufen hat, ist Vorsicht geboten, das verleiht einem Flügel, stellt einen aufs Podest, danach ist man äusserlich wie geleckt, hübsch sauber, bei Meetings wird grossgetan, auf Familienfeiern gescherzt, man verneigt sich, kuscht, ein Bückling hier, ein Katzbuckel da, aber sobald sich der Wind auch nur ein bisschen dreht, ein Meteorit den Himmel aus Gewissheiten entflammt, wenn sich ein Verdacht, ein Zweifel einschleicht, dann, ja, dann kann man zugucken, wie diesen Musterbeispielen des Erfolgs, diesen Grands Prix des Denkens, diesen Onanisten des Intellekts, der Lektionen und der Moral ordentlich der Schweiss ausbricht, wie sie verkümmern, verschmachten, sich kleinmachen, die Unfähigen, gestern noch der ganze Stolz, heute nur mehr Nichtsnutze, die Schande der Nation. Ach ja, sie ist herrlich, die Intelligenz der Eliten. Die hat Augenmass!

»Ja, drei Leichen, ich weiss, drei, natürlich. Und die Zunge. Wir kümmern uns drum.«

»Und wie, wenn ich fragen darf?«

»Erzählen Sie uns erst einmal, was Sie wissen. Danach sehen wir weiter.«

»Ganz einfach. Das war die dritte Leiche in drei Tagen.«

»Oh …«

»Ja, oh, Sie sagen es … und sie wurde ebenfalls mit Batrachotoxin vergiftet.«

»Mit Bachatro…«

»Batrachotoxin!«

»Wie?«

»Was, wie? Haben Sie denn nicht den Bericht gelesen? Man hat ihnen die Zunge mit den Zähnen abgetrennt, Allmächtiger, mit den Zähnen, ein höllischer Biss, begreifen Sie, mit den Zähnen, abgebissen. Dafür muss man doch aufs Äusserste gestört sein, oder? Finden Sie nicht?«

»Wie bitte?«

»Ist Ihnen so etwas schon einmal untergekommen in Ihrem Beruf?«

»Ich glaube nicht, nein.«

»Und dann, dank des Überraschungseffekts, nehme ich an, ich weiss nicht, wie sonst, wurde das Gift injiziert. Zack! Gewitter im Gehirn! Ich wage es mir nicht auszumalen.«

»Der Tod tritt sofort ein?«

»Nach ungefähr dreissig Sekunden. Können Sie sich das vorstellen? Dreissig unendlich lange Sekunden. Furchtbar!«

Jetzt ist er grün. Als hätte er auch was von dem Zeug geschluckt.