Nur wer die Sehnsucht kennt ... - Ida Boy-Ed - E-Book

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Ida Boy-Ed

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Beschreibung

Auf dem Jachtklubball in der Marineakademie, der wie immer die Kieler Woche abschloß, gewährte die herkömmliche Überzahl von Herren jeder Dame das Vergnügen, sehr gesucht und umschwärmt zu sein. Aber die Dringlichkeit, mit der in den Tanzpausen die schöne Frau Jutta von Verehrern umworben wurde, wirkte selbst hier so auffallend, daß sie sich als Königin des Festes hätte fühlen dürfen.
Es schien jedoch, als nähme sie alles mit einem erzwungenen oder zerstreuten Lächeln hin: die brüderliche Fürsorge der Crewkameraden ihres fernen Gatten und die feurige Verehrung der jüngeren Seeoffiziere.
Sie stand eben im Vorsaal des ersten Stockwerks, vor einer der Säulen, die den hohen Plafond trugen. Die etwas grelle Helligkeit, die von überall her das aufstrebende Rund des grauen Marmors traf, überstreute ihn mit gleißenden und unruhigen Reflexen, so daß ihm die gerade Linie eines Glanzlichtes fehlte. Das gab einen zu flimmernden Hintergrund für den dunkelhaarigen Frauenkopf, dessen Umriß dadurch etwas Verwischtes bekam.

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Nur wer die Sehnsucht kennt ...

Roman

von

Ida Boy-Ed

1911

© 2023 Librorium Editions

ISBN : 9782383839781

I

A

uf dem Jachtklubball in der Marineakademie, der wie immer die Kieler Woche abschloß, gewährte die herkömmliche Überzahl von Herren jeder Dame das Vergnügen, sehr gesucht und umschwärmt zu sein. Aber die Dringlichkeit, mit der in den Tanzpausen die schöne Frau Jutta von Verehrern umworben wurde, wirkte selbst hier so auffallend, daß sie sich als Königin des Festes hätte fühlen dürfen.

Es schien jedoch, als nähme sie alles mit einem erzwungenen oder zerstreuten Lächeln hin: die brüderliche Fürsorge der Crewkameraden ihres fernen Gatten und die feurige Verehrung der jüngeren Seeoffiziere.

Sie stand eben im Vorsaal des ersten Stockwerks, vor einer der Säulen, die den hohen Plafond trugen. Die etwas grelle Helligkeit, die von überall her das aufstrebende Rund des grauen Marmors traf, überstreute ihn mit gleißenden und unruhigen Reflexen, so daß ihm die gerade Linie eines Glanzlichtes fehlte. Das gab einen zu flimmernden Hintergrund für den dunkelhaarigen Frauenkopf, dessen Umriß dadurch etwas Verwischtes bekam.

Frau Jutta war ein wenig bleich, wie es manche Frauen vom Tanzen werden. Ihre Gestalt, trotzdem sie über Mittelgröße war, wirkte zart. Aus dem blassen Goldgelb ihres Chiffonkleides hoben sich in feinen Linien die Schultern hervor. Das Bestimmende an ihrer Erscheinung war vielleicht die Art, wie der schlanke Hals den Kopf trug: erhoben, in unbewußt herrischer Haltung.

Von den jungen Herren, die sich gerade um Jutta Mühe gaben, bemerkte keiner, daß ihr Gesicht vom Fest mehr abgespannt als angeregt erschien, daß sich unter ihrem Lächeln ein Zug von Schärfe verbarg. Und sie spürten auch nicht, daß der Blick aus diesen großen, dunkeln Augen zuweilen an ihnen vorbeiging und das Gewühl der Menschen rasch suchend überflog.

In einer wichtig fröhlichen Bewegung schob sich die Menge vorüber. Aus dem Hauptsaal kam sie und zog die imposanten Treppen hinab, zum unteren Vorsaal oder zum Gartensaal. Von unten kam sie herauf, dem Schauplatz ihres Vergnügens eine andere Kulisse suchend. Immerfort wechselten die Gruppen, in denen sie sich zusammenfand. Aber diese Menschenfülle wirkte dennoch nicht sehr farbig. Die dunkelblaue Marineuniform mit den goldenen Zieraten beherrschte das Bild. Die Mode begünstigte für das Frauenkleid so sehr das Weiß, daß nur ganz selten bunte Töne auftauchten. Man sah ab und zu einen der weißen Kragen und pastellblauen Röcke von „Seebataillönern“ und zuweilen den schwarzen, ordengeschmückten Frack eines Professors oder Regierungsbeamten.

Die drei jungen Herren, die vor Jutta standen — alle drei in dem kurzen Dinerjackett, das selbst den ältesten Stabsoffizieren noch etwas knabenhaft Flottes gibt — kehrten ihre dunkelblauen Uniformrücken der unruhigen Menge zu, zwischen ihr und der schönen Frau eine Wehr bildend, gleichgültig gegen alle Welt und nur bestrebt, vor der Dame ihrer Verehrung in munterer Unterhaltung zu bestehen.

„Ich finde es eine großartige Stimmung heute abend. Finden gnädige Frau nicht auch?“ fragte der Oberleutnant z. S von Reiswitz, dessen bärtiges und durch Sonnenbrand entstelltes Gesicht vor Freude strahlte.

„Du bist in großartiger Stimmung,“ sagte sein kurzgewachsener stämmiger Freund Lebus mit Betonung. „Ich sehe nichts wie den Marineball nach Schema F, den man schon so oft abgetanzt hat. Das einzige wichtige und schöne Erlebnis des Abends ist die Anwesenheit der gnädigen Frau.“

Und auch sein Gesicht, das durch eine von keinerlei Haarwuchs mehr gekrönte Stirn sehr groß für seine kleine Gestalt schien, glänzte ganz und gar.

„Nun, Herr von Reiswitz hat alle Gründe, in bester Laune zu sein,“ meinte Jutta und sah den Offizier mit wirklicher Freundlichkeit an. „Im Handikap Eckernförde-Kiel Erster geworden, der ‚Freia‘ einen Prunkbecher ersegelt; bei der Preisverteilung von Majestät ausführlich angesprochen — wem da der Himmel nicht voller Geigen hängt, dem kann das Glück überhaupt nicht mehr aufspielen.“

„Gnädige Frau dürfen mir glauben, daß es mir eine große Genugtuung ist, Ihrer Empfehlung keine Schande gemacht zu haben,“ versicherte Reiswitz voll Selbstgefühl; „ich wußte, daß die allgemeine Aufmerksamkeit sich auf die ‚Freia‘ richtete, und daß ich für die Ehre der deutschen Werft, die sie gebaut hat, und ihres Besitzers, der sie meiner Führung anvertraute, mich mit meinem ganzen segelsportlichen Können einzusetzen hatte.“

„Der Besitzer der ‚Freia‘ ist Ihr Vetter, gnädige Frau?“ fragte der Kapitänleutnant Heidebrecht. Er sah ein wenig dem großen Napoleon ähnlich, und wenn er nur eine Frage tat wie diese ganz gewöhnliche, wirkte es, als forsche er gnädig nach tiefen Dingen.

„Vetter?“ sagte Jutta und machte achselzuckend eine Geste, als lohne es sich nicht, eine ganz nebensächliche und weitläufige Beziehung genau darzulegen. „Herrn von Gambergs Mutter und meine Mutter sind irgendwie verwandt.“

Und ihre Blicke glitten dabei an Heidebrechts massivem Kopf unruhig vorbei und suchten in der Menge.

„Ich kenne Herrn von Gamberg,“ erzählte mit seiner heiseren Stimme Lebus, „das heißt, ich weiß nicht, ob er sich meiner erinnert. Als ich vor zwei Jahren in einem kleinen Ablösungstransport von Ostasien mit heimkam, befand sich auch Gamberg an Bord des ‚König Albert‘. Gamberg hatte, glaube ich, als Sekretär im Generalkonsulat von Schanghai ein Jahr gearbeitet und war ins Auswärtige Amt berufen.“

„Ach ...,“ sagte Jutta.

„Es ist förmlich, als wenn das Wetter wüßte, was es der gnädigen Frau schuldig sei,“ meinte Heidebrecht, „glänzender konnte es nicht sein, und so haben Sie gleich das erstemal den ganzen Zauber der Kieler Woche kennen gelernt und sind ihm für immer verfallen.“

„Nur schade, daß Herr Kapitän nicht selbst die Freude haben durfte, Ihnen die Kieler Woche zu zeigen. Wie er wohl herdenkt! Die ‚Luise‘ ist ja wohl gerade in diesen Tagen in Nagasaki angekommen.“

Jutta ging auf diese Randbemerkung von Lebus nicht ein. Sie antwortete vielmehr Heidebrecht.

„Hier darf man nicht nur, hier muß man vom Wetter sprechen. Ja, es war unerhört schön. Und wenn es so bleibt, Sonnenschein und frischer Nordwest dabei, ersegelt sich Reiswitz übermorgen von Kiel nach Travemünde wieder einen Preis.“

„Pardon, gnädige Frau,“ bat Reiswitz sehr eifrig und mit dem Aberglauben des Seglers, „Wetter muß man nicht loben, Wetter muß man anschnauzen. Und gerade weil gnädige Frau sich etwas für Herrn von Gambergs ‚Freia‘ interessieren ...“

Jutta lachte.

„Ach nein,“ behauptete sie, „ich interessiere mich gar nicht so dringlich für die ‚Freia‘, wie Sie vorauszusetzen scheinen.“

„Gnädige Frau haben nur aus reiner Herzensgüte für Herrn von Gamberg die Situation gerettet?“ fragte Heidebrecht.

„Was heißt das: die Situation retten,“ sagte Jutta achselzuckend. „Gamberg hat sich die Jacht bauen lassen, ich glaube mehr dem Drängen befreundeter Sportleute folgend als gerade aus einer großen Neigung. Man engagierte ihm für die ‚Freia‘ eine fixe Mannschaft und einen Skipper, der eine Perle sein sollte. Und im letzten Moment, das heißt acht Tage vor Beginn der Kieler Woche, stellte sich’s heraus, daß der Skipper ein Trinker ist. Da ich nun zufällig wußte, daß Herr von Reiswitz sich sehr danach sehnte, eine Jacht führen zu dürfen, schlug ich Gamberg vor, er möge sich an Reiswitz wenden.“

„Ich konnte ja Herrn von Gamberg auf meine Erfolge mit der ‚Maria-Clarissa‘ verweisen, die ich voriges und vorvoriges Jahr für den Amerikaner Huston gesegelt habe. Ich hatte mich auch dies Jahr für Huston freigehalten: da hat die ‚Maria-Clarissa‘ Pech und wird bei Cowes angesegelt, und Huston depeschiert mir ab. Aber so geht es: erst ließ ich die Ohren hängen. Nachher stellt sich’s ’raus, daß es ’n Dusel war, denn es war ja natürlich viel interessanter, die ‚Freia‘ zu führen. Neue Jacht, Typ zum erstenmal auf deutscher Werft gebaut — etwaiger Erfolg gewissermaßen Beweis für Leistungsfähigkeit deutscher Schiffsbautechnik, auch auf diesem Spezialgebiet — ich darf sagen: es spannte an! Besonders auch durch den Umstand, daß die Segel noch nicht genügend getrimmt waren. Ja, das kostete Nerven. Aber gottlob: ich kann vor Herrn von Gamberg und, woran mir noch mehr liegt, vor meiner allergnädigsten Gönnerin bestehen.“

„Mit welcher Wendung das Gespräch wieder glücklich bei deinen Seglerqualitäten angelangt wäre,“ sagte Lebus und klopfte den Kameraden wohlwollend ein bißchen auf den Rücken.

„Niemand kann so genau von meinen Vorzüglichkeiten unterrichtet sein wie ich selbst. Deshalb ist es meine Pflicht, bei der herrschenden Konkurrenz, sie unserer gnädigen Frau wiederholt zu Gemüt zu führen,“ antwortete Reiswitz vergnügt.

„Ich finde aber doch, Sie wollen zu viel gelobt und belohnt sein. Deshalb verzichte ich aus erzieherischen Gründen auf den nächsten Tanz mit Ihnen,“ erklärte Jutta mit nervösem Lachen.

„Sehr zu billigen! Frauen sind die geborenen Erzieherinnen,“ lobte Heidebrecht, „und hier steht der Ersatzmann! Ich habe noch keine Dame zur Quadrille.“ Er verbeugte sich.

„Der Weg zur Partnerschaft mit der gnädigen Frau bei der Quadrille geht nur über meine Leiche,“ erklärte Reiswitz. „Gnädige Frau! Auch für die Damen der Marine ist kameradschaftliche Gesinnung und deren fortwährende deutliche Betätigung ein zwar ungeschriebenes, aber absolut zu befolgendes Gesetz. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß es unkameradschaftlich wäre, wenn Sie mir die Quadrille verdürben. Ich habe auch schon ein Visavis, das Ihnen zusagt. Dito garantiere ich, daß Ihnen drittes und viertes Paar genehm ist.“

„Wie genau Sie meinen Geschmack kennen!“ spottete Jutta. „Namen, bitte ...“

„Visavis also Kapitän Hochhagen! Was können Sie gegen ihn haben? Er ist der beste Freund Ihres Mannes.“

„Mein Aufseher!“ dachte in jäh aufwallender Bitterkeit Jutta, „mein Beschützer — mein Vormund — mein Gefangenwärter ...“

Aber sie lachte auch schon wie eine, die sehr angenehm überrascht ist, und sagte: „Vortrefflich. Ich zieh’ hiernach meinen Verzicht zurück.“

„Sehen Sie wohl! Und Hochhagen hat das wunderhübsche Fräulein Gervasius.“

„Na — wunderschön ...!“ warf Lebus kritisch dazwischen, als wolle und könne er niemand Schönheit zuerkennen außer der hier gegenwärtigen unerreichten Frau Jutta.

Aber Jutta fragte in wirklichem Interesse nach: „Die reizende Tochter des Professors?“

„Jawohl,“ stellte Reiswitz fast triumphierend fest, „des berühmten Geheimrats entzückende Tochter. Die anderen beiden Paare sind: Kapitän von Rosenfeld mit Frau Konsul Krüger — Hamburger Dame — und mein Crewkamerad Untermeyer mit Baroneß Hollensteen.“

Jutta nickte lobend.

„Eine Quadrille,“ sagte Heidebrecht, „auf die sich der Neid aller richten wird, die nicht dabei sein können.“

„Hochhagen tanzt sehr viel, aber sehr viel mit Renée Gervasius,“ bemerkte Lebus.

Jutta wurde noch aufmerksamer. Ihr Blick verlor das Suchende, Zerstreute, das so im Widerspruch zu ihrem munteren Plaudern stand.

„Wirklich?“ fragte sie, als sei sie auf das glücklichste überrascht, „das ist ein gutes Zeugnis für seinen Geschmack.“

Reiswitz fühlte, daß dies Thema für die schöne Frau irgendwie erfreulich schien, und er spann es deshalb fort.

„Ich will nicht indiskret sein,“ sprach er, „aber als ich mit Fräulein Gervasius tanzte, hat sie sich ausschließlich mit mir über Hochhagen unterhalten.“

„Und du beanspruchst es bekanntlich doch, daß man sich mit dir nur von dir unterhält,“ sagte Lebus, mit seinem Seemannsbaß laut lachend.

„Ich beanspruche bekanntlich, daß meine Freunde sich geistig mal auch anders als nur in Bosheit betätigen,“ äußerte Reiswitz.

In diesem Augenblick schwoll durch alle Räume der eindringliche, vibrierende Klang eines Trompetensignals. Ein Kamerad rief im Vorbeieilen Reiswitz zu: „Antreten zur Quadrille.“

Er gab sogleich seiner Dame den Arm und führte sie in den Hauptsaal, an jenen Platz, den er mit seinen Partnern verabredet hatte.

Es dauerte aber noch viele Minuten, bis das entstandene verworrene Durcheinanderdrängen von Tänzerpaaren leidlich zur Ruhe kam und die einzelnen Karrees vollständig in ihrer Aufstellung wurden. Herren suchten nach ihren Damen hier oben, während die Dame vielleicht unten im Gartensaal wartete. Hilflose und Fremde, die noch gar keine Quadrillenteilhaber gesucht oder gefunden hatten, standen verlegen umher. Wer hier keine genauen Verabredungen getroffen und nicht durchaus sich zu Hause fühlte, war im argen Nachteil. Die den Tanz ordnenden jungen Offiziere eilten mit heißen und verzweifelten Gesichtern hin und her.

Die vier Paare von Juttas Quadrille standen geordnet, geduldig wartend.

Jutta und Reiswitz, gerade gegenüber der Korvettenkapitän Hochhagen, ein Mann mit bärtigem, ernstem Gesicht, das aber jetzt wie vor Freudigkeit verklärt schien. Die schlanke Dame neben ihm, mit regelmäßigen Zügen, in denen noch Weichheit und Frische der blühendsten Jugend war, sprach munter auf ihn ein.

„Sie ist wirklich reizvoll,“ dachte Jutta, „wie unbefangen sie ihre Schwärmerei zeigt! Wie fein der Ansatz ihrer dunkelblonden Haare an Schläfen und im Nacken. Was für ein gutes Profil! Und was für liebe Augen.“

„Ah,“ dachte sie weiter, fast voll Inbrunst, „möchte er sie wählen ...“

Jeder Herr plauderte nun mit seiner Dame, nachdem gleich, als man sich zusammengefunden, Herr von Rosenfeld Frau Konsul Krüger mit Jutta bekannt gemacht.

Frau Konsul Krüger, klein, voll, mit einem wunderhübschen blondhaarigen Kopf auf dem kurzen, dicken Hals, bewegte sich mit einer so auftrumpfenden Sicherheit, daß auf ihren Lippen die Frage zu schweben schien: Ist hier jemand, der ebensoviel Steuern bezahlt wie mein Mann?

Da sie nun wie jede Kieler Marinefrau sich jeder Fremden gegenüber ein wenig zu gastlicher Höflichkeit verpflichtet fühlte, sprach Jutta mit scheinbar großer Lebhaftigkeit und Teilnahme von den ungünstigen Segelresultaten der „Hammonia“ und der nur allzu begreiflichen Verstimmung des Konsuls Krüger über die Nichtplacierung seiner Jacht. Natürlich sei es ärgerlich, sagte Frau Krüger. Es koste so rasend viel, was ja freilich egal sei. Man täte es eben der Mode wegen. Ob das Geld so oder so ausgegeben werde, sei gleichgültig. Ausgeben müßte man, das sei Pflicht reicher Leute. Aber bei dieser Sache kriege man unversehens eine Art dummen Ehrgeiz. Man werde förmlich gierig auf Preise. Und dann verbreitete sich Frau Konsul Krüger mit ganz frisch aufgeschnappter Sachkenntnis darüber, daß eben die „Hammonia“ vermöge gewisser, unauffindbarer Konstruktionseigenheiten vor dem Wind großartig gehe, hingegen beim Kreuzen im Nachteil sei. In Kuxhaven neulich habe sie trotz böiger Nordostwinde den zweiten Preis ihrer Klasse davongetragen. Reiswitz hörte dieser Auseinandersetzung mit Großmut und einem leisen, kleinen, spöttischen Funkeln in seinen Augen zu. Frau Konsul Krüger schloß dann mit der Klage, das Wetter sei auch diesmal in der Kieler Woche zu schlecht.

„Ach,“ sagte Jutta, „schlecht?! Sogar beim Wetter sieht man’s: nichts ist an sich gut oder schlecht. Nichts kommt auf den Wind an — alles auf das Objekt, das er anbläst.“

Frau Konsul Krüger dachte, daß diese Dame, deren Namen sie nicht ganz verstanden hatte, „geistreich“ zu tun wünsche. Sie wandte sich ihrem Tänzer zu und nahm mit ihm ihren Platz ein: als viertes Paar.

„Gegen geistreiche Frauen hab’ ich ein Vorurteil. An die glaub’ ich einfach nicht,“ sprach sie voll Selbstbewußtsein. „Es ist eine fabelhaft schöne Dame, obschon: der Hals ist ein bißchen lang und dünn nach meinem Geschmack. Wie war doch der Name?“

„Frau von Falckenrott,“ sagte Rosenfeld, und man sah auf seinem glattrasierten, klugen Gesicht nur den Ausdruck großer Höflichkeit, „ihr Gatte ist mein Crewkamerad.“

„Nein — so was! Dann hab’ ich ja ’n Haufen von Beziehungen. Ihr Mann ist der Kapitän von Falckenrott? Der jetzt als Erster Offizier auf der ‚Luise‘ in Ostasien ist?“

Rosenfeld nickte, und noch ehe er etwas sagen konnte, durchrauschte Frau Konsul Krüger schon flink den winzigen Platz zwischen den vier, auf den Beginn der Quadrille wartenden Paaren.

„Nein, so was!“ rief sie und streckte Jutta gleich beide Hände auf einmal hin, wobei am Gelenk der Linken ihr Fächer halbgeöffnet lebhaft an goldener Kette pendelte, „nein, dies ist zu reizend! Eben erst lasse ich mir Ihren Namen deutlich wiederholen. Man versteht ja nie beim Vorstellen ... Wissen Sie, daß Ihr Mann bei meiner Schwester Mila in Schanghai wie ein Kind im Hause ist?! Hat er Ihnen nie geschrieben, daß er dort beinahe alle Tage bei einem Herrn Glaubermann eingeladen war? Das ist mein Schwager. Glaubermanns sind fabelhaft gastfrei. Die Herren von der Marine finden dort immer offenes Haus. Glaubermann sagt, das sei patriotische Pflicht. Sie wissen doch: mein Schwager Glaubermann, Chef der ostasiatischen Abteilung des Hamburger Hauses?“

Jutta besann sich mühsam. Ja, es dämmerte ihr auf ... der Name Glaubermann war irgend einmal, vielleicht bei der Erzählung von einem für die Offiziere von S. M. S. „Luise“ gegebenen Diner aufgetaucht ... ein gleichgültiger Name mehr auf diesen Briefblättern, die aus Ostasien kamen ... die Kunde gaben von einem fernen, fernen Leben ... und das doch eigentlich ein Teil ihres Lebens war ... sein sollte ...

Kaum rang sie sich den höflich muntern Ton ab, in dem sie sprach: „Aber gewiß — Glaubermanns — ja, ja — ein hübscher Zufall — ja, die Welt ist so klein.“

„Das muß ich gleich meiner Schwester Mila schreiben, daß ich die Gattin des Kapitäns von Falckenrott kennen gelernt habe! Wenn Sie wüßten, gnädige Frau, wie meine Schwester Mila mir von dem Kapitän Falckenrott vorschwärmt, würden Sie vielleicht eifersüchtig werden.“

„Eine Marinefrau darf keine Eifersucht kennen,“ sagte Jutta.

„Darf nicht — darf nicht — ach Gott, als ob sich Empfindungen an Verbote kehrten. Ich wäre gräßlich eifersüchtig. Ich bin aber auch rasend temperamentvoll.“

„Wie interessant!“ sagte Reiswitz etwas kühn dazwischen.

„Finge doch die Quadrille an,“ dachte Jutta.

„Und sagen Sie mal, gnädige Frau,“ fuhr die Frau Konsul eifrig fort, nachdem sie Reiswitz mit einem kecken Lächeln für seine Zwischenbemerkung mehr belohnt als bestraft hatte, „mir ist doch so ... meine Schwester Mila schrieb davon ... gerade als die Herren von S. M. S. ‚Luise‘ bei ihr zum Diner waren, kam die Depesche, daß dem Ersten Offizier ein Kind geboren sei ... Und meine Schwester Mila schrieb noch: wie schwer muß das für so ’ne junge Frau sein ... Das waren also Sie ...“

„Ja,“ sagte Jutta laut und hart, „das war ich.“

Unbeherrscht, für einige Sekunden ganz und gar unbeherrscht, schlug sie mit ihrem zusammengeklappten Fächer ein paarmal gegen ihre innere Handfläche.

Herrischer noch als sonst erhob sie ihren schönen Kopf und sah über die kleine zudringliche Schwätzerin hinweg.

Da traf ihr Blick zufällig den des Mannes gegenüber.

Der sah sie gut und fest und freundlich an. Aber irgend etwas reizte sie dennoch. Ihre Nasenflügel bebten. Der scharfe Zug um ihren Mund trat deutlich hervor.

In diesem schwülen Augenblick begannen die einleitenden Takte der Musik durch den Raum zu schwirren. Ein Kommandoruf ertönte. Frau Konsul Krüger eilte an die Seite ihres Herrn zurück. Und all die vielen, vielen Paare, die den Raum bevölkerten, immer zu vier und vier je eine kleine Tanzwelt für sich bildend, schienen im Bann einer Suggestion. Alle hörten. Alle warteten, um beim rechten Takt, in der richtigen Sekunde zu zweit zu avancieren. Plötzlich kam rhythmische Bewegung in die Menge. Das fröhliche Hin und Her und wohlgeordnete Durcheinander des Tanzes wickelte sich ab. Bei vielen jungen Paaren wandelte sich das Vergnügen in den ernsthaften und leidenschaftlichen Eifer, alle Figuren der Quadrille in vollkommener Glattheit durchzuführen.

Die Klänge von hundert lachenden Stimmen, das Gleiten von hundert raschen Fußsohlen über den Estrich mischten sich mit den Schallwellen der Musik. Der ganze Raum schien bis zur Verwirrung von Tönen und von Bewegung erfüllt. Die weißen Kleider und die dunkeln Uniformen, die Blumen und die Goldlitzen, kahlgeschorene Männerköpfe und Frauenhäupter mit reichen Haarwellen, nackte Schultern und schwere Silberraupen, goldbefranste Epauletten — das alles glitt aneinander vorbei, kreiste umeinander, in einem Wirbel sich beständig anders schneidender Linien, ein fortwährend geschütteltes Kaleidoskop von Farbenfleckchen.

Über all dies bewegliche Gedränge flutete das Licht. Von der Hauptwand her beherrschte das Bild des Kaisers den Saal. Von der Kommandobrücke aus, als Admiral, sah er mit ehernem Ernst über das Festgewühl hin. Der feine Dunst und Staub, der in der Luft des Saales schwebte, zog einen leisen Schleier vor das Bild, so daß es wie von fern gesehenes Leben wirkte. Es war kein Gemälde mehr — es zauberte die Gegenwart des höchsten Herrn gleichsam in den Saal.

Bei einer der Tanzfiguren sah sich Jutta an der Seite des Kapitäns Hochhagen. Zwischen ihr und seiner eigenen Dame, dem Fräulein Gervasius, vor und zurück schreitend, während Reiswitz einzeln ihnen entgegenkam und wieder vor ihnen zurückzuweichen schien, sagte er rasch: „Ich betrage mich heute pflichtvergessen. Verzeihen Sie mir.“

„Ich bin ja heute mit Rosenfelds,“ sprach sie, „die passen ebensogut auf.“

„Das klingt ja fast erbittert.“

„So? Sollte es nicht ...“

Reiswitz ergriff wieder ihre Hand, man machte eine Ronde und trat an seinen Platz zurück.

Und ein andermal, als Hochhagen wieder ein paar Worte mit ihr wechseln konnte, hörte sie: „Malte hat geschrieben. Über den Brief muß ich mit Ihnen sprechen, darf ich morgen zum Tee kommen?“

„N — ja ...“

„Gnädige Frau,“ sagte Reiswitz, „Sie sind wirklich zerstreut.“

Sie standen und warteten, bis das dritte und vierte Paar die Figur ausführte, die sie selbst eben abgetanzt hatten.

„Aber gar nicht,“ behauptete Jutta.

„Wissen Sie, ob Herr von Gamberg mit an Bord kommen wird für die Fahrt nach Travemünde?“

„Keine Ahnung ...“

„Vielleicht ist es ihm, da er Nichtsegler ist, zu langweilig. Kreuzerklasse zwei, zu der die ‚Freia‘ gehört, geht außen um Fehmarn ’rum — wenn der Wind nicht stick Nordwest ist, kann’s zwölf Stunden und mehr dauern.“

Jutta antwortete nichts. Sie sah hinüber zu Hochhagen, der mit Blick und Ohr an seiner anmutigen Dame hing.

„Möchte er sie wählen — man sieht wohl — sie ist weg in ihn ... Möchte er ... ein so beschäftigter Aufseher ist kein Aufseher mehr ...“

„Gnädige Frau ... Sie sind so gut — sein Sie’s wieder mal ... wenn nämlich Herr von Gamberg nicht mit an Bord geht für die Wettfahrt Kiel-Travemünde, wird ein Platz frei, und da möchte Lebus brennend gern sich ’ranschlängeln ...“

„Er kommt morgen zum Tee zu mir. Dann will ich mit ihm darüber sprechen.“

„Lebus?“ fragte Reiswitz dumm.

„Herr von Gamberg,“ sagte Jutta.

„Ach — pardon — ja, natürlich ...“

„Wieso ... natürlich?“ dachte Jutta.

Und dann begann eine neue Tour.

Frau Konsul Krüger sprach auf den Kapitän von Rosenfeld ein.

„Hören Sie mal — das versteh’ ich nu doch nich. Der Mann ist in Ostasien, und die junge Frau geht allein auf Bälle und macht die ganze Kieler Woche mit!“

„Unter dem freundschaftlichen Schutz von mir und meiner Frau,“ sagte Herr von Rosenfeld.

„Schön. Das Dekorum in Ehren — das weiß ich von selbst, daß das schon irgendwie gewahrt sein wird. Aber wie kann man sich amüsieren, solange der Mann fern ist?“

„Vielleicht ist es auch nur ein Amüsement im Schatten,“ sprach Rosenfeld, „aber es wäre wohl ungesund, eine junge Frau klösterlich einzusperren während eines Auslandkommandos ihres Mannes. Die Crewkameraden umgeben die Einsame mit Schutz und sorgen auch für ihre Zerstreuung. Das ist so Tradition bei uns, meine gnädige Frau.“

„Na,“ dachte Frau Krüger, „das mag manchmal ’ne schöne Beschützerei sein.“

Rosenfeld, als habe er ihren häßlichen Gedanken erraten, fügte noch hinzu: „Vor allen Dingen stehen aber die Crewkameraden einer solchen Strohwitwe in jeder Hinsicht bei.“

„Gott — wie nett.“

Da aber diese Frau die zudringlichste Neugier für die Lebensumstände von Menschen hatte, die sie eigentlich nichts angingen, so kam sie nach ein paar Minuten wieder auf Jutta und deren Lage zurück.

„Hat Frau von Falckenrott denn gar keine Eltern oder Schwiegereltern mehr? Warum ist sie derweil nicht zu diesen gezogen? Ich hab’ mal gehört, daß das in solchen Fällen geschieht.“

„Ich kann Ihnen Genaueres darüber nicht sagen,“ antwortete Rosenfeld etwas kühl, „vielleicht hat Frau von Falckenrott die Empfindung, hier, in der Berufsumwelt ihres Gatten, ihm gewissermaßen näher zu sein. Sie wäre nicht die erste, die so empfände.“

„Ach,“ dachte Frau Krüger, „daß er Genaueres nicht weiß, ist ja Schnack. Er weicht mir aus. Das hat wohl ’n Haken! Und hier dem Gatten sich näher fühlen?! Das klingt innig, sinnig, minnig.“

Und sie seufzte, während sie nun an Rosenfelds Hand dem ihr gegenüber avancierenden vierten Paar entgegenschritt.

„Mein Vetter Hinrichsen hätte auch was anderes tun können, als diese Krügers an uns empfehlen,“ dachte Rosenfeld. Ihm waren Frauen zuwider, die kein anderes Gesprächsthema kannten wie Schicksale und Handlungen ihrer Nebenmenschen.

Endlich ging der Tanz zu Ende.

„Führen Sie mich hinunter,“ sagte Jutta hastig.

Sie war fast seit Beginn des Balles in den oberen Räumen gewesen. Und immer suchten ihre Augen vergebens nach dem einen ... Vielleicht war er in den Sälen unten ... War es Vorsatz, daß er sie nicht seinerseits gesucht hatte ...? Fand er sie nicht?

Nun zog sie an Reiswitz’ Arm in einem dichten Schwarm lebhafter Menschen die große Treppe hinab. Es war wie ein Festzug der Freude, der stufenabwärts wallte.

Unten im Vorsaal bemerkte sie irgendwo das lachende, heiße Gesicht und die rötlichen Haare der Frau von Rosenfeld. Und auch Frau von Rosenfeld sah gerade empor, und sie nickten einander schon von weitem fröhlich zu: die eine von der Treppe her hinab, die andere aus dem Gedränge herauf.

„Da ist Lisbeth Rosenfeld,“ sagte sie, „sehen Sie? Dort an der dritten Säule links.“ So wichtig sagte sie es, als habe sie endlich einen lange und dringlich gesuchten Menschen gefunden.

Und schon ließ sie auch Reiswitz’ Arm los.

Unten, am Fuß der Treppe, sprach sie noch hastig: „Also ... ich spreche mit Gamberg — rede ihm aus, daß er die Fahrt nach Travemünde mitmacht ... dann haben Sie Platz für Lebus ... Ist dies nun kameradschaftlich von mir oder nicht?“

„Gnädige Frau sind ein Engel ...“

Aber dieses dankbare Zeugnis hörte Jutta wohl nicht mehr. Sie wand sich durch die Menge, und wenn Bekannte sie anredeten und aufhalten wollten, sprach sie munter: „Bitte — mich passieren lassen — muß mich mal bei meiner Ballmutter melden ...“

Und die Bekannten lachten mit ihr, denn sie wußten ja alle, daß die „Ballmutter“, die Gattin des Kapitäns von Rosenfeld, eine fast ebenso junge Frau war wie Jutta Falckenrott selbst.

Aber in dem Gewühl war ihr nun doch das heiße, lachende Gesicht und das rötliche Haar ihrer Freundin Lisbeth entschwunden. Vielleicht hatte sie auch nicht den strategischen Überblick gehabt, um sicher jenem Platz zuzustreben, auf dem sie von der Treppe aus Lisbeth Rosenfeld gesehen ... an der dritten Säule links ...

Jutta betrat den Gartensaal. Auf der Schwelle hielt sie ein paar Augenblicke den Schritt an. Ganz unerwartet stand eine Erinnerung vor ihr auf — wie Gespenster auf der Bühne jäh aus der Versenkung emportauchen, während die ganze Szene eine andere Beleuchtung annimmt. Vor etwas mehr als einem Jahr, in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft in der neuen Heimat, hatte ihr Gatte ihr die Marineakademie gezeigt. Und auf der Schwelle dieses Saales stand er lange mit ihr. So fröhlich klang seine Stimme. Und, in seine Jugendgeschichten verliebt wie alle Menschen, denen das Gedächtnis nur Frohes aufzutischen hat, erzählte er ihr sehr ausführlich von den Mittagstunden an den langen Tafeln, die so wirtshausmäßig im Gartensaal standen. Da drüben — ja, da hatten sie zusammengesessen als Fähnriche: er und Hochhagen und Rosenfeld. Vom ersten Schritt an, den sie in der gemeinsamen Laufbahn getan, waren sie zusammen gewesen: in den bangen Tagen der Aufnahmeprüfung hatten sie auf einer Bude gewohnt, bei ihrem ersten Bordkommando waren sie auf das gleiche Schulschiff gekommen und dort alle drei der Steuerbordwache zugeteilt worden. Und all die köstlichen, endlosen Späße aus jenen Tagen ...

Das erlebte Jutta so qualvoll deutlich, daß ihr das Lachen des fernen Mannes im Ohr lag — als sei’s erst eben für sie verklungen ...

Sie kämpfte das nieder. Sie sah sich um.

Jetzt sah der Raum anders aus. Um die verputzten, bemalten Säulen, die vereinzelt in seiner Mitte standen, die Decke tragend, zogen nun Menschen. Flaggenschmuck und Grün rief aus: Hier geht es festlich her ...

Jutta dachte: „Ich bin müde ... ich will nach Haus ... Lisbeth hat zu viel Ausdauer in solchen Sachen ...“

Wo hatte sie Lisbeth Rosenfeld doch noch eben gesehen? Ja, richtig, an der dritten Säule im Eingangssaal ... da war sie wohl noch.

Aber Jutta wußte: wenn sie käme und sagte „ich mag nicht mehr“, würde Lisbeth beinahe schreien: „Liebes, was fällt dir ein! Wir gehen noch lange, lange, lange nicht!“

Lisbeth hatte ja auch ein Anrecht auf die Freuden des Lebens ... auf die großen, tiefen ... auf die kleinen, bunten ...

Lisbeth hatte ihren Mann ...

Und vielleicht, wenn auch er wieder einmal hinaus mußte, hatte sie mehr Gelassenheit ...

Jawohl — nichts kommt auf den Wind an — alles darauf, wen er anbläst ...

Es zog Jutta dennoch weiter. Sie kehrte nicht zurück und suchte nicht nach Lisbeth Rosenfeld. Sie schritt quer durch den Gartensaal.

Die große Tür, die auf die Terrasse führte, stand geöffnet. Ihr mächtiges Halbrund war von einer Balustrade umschlossen. Von ihr hinab führten rechts und links hart an der Mauer Treppen hinab in den Garten.

Auch auf der Terrasse waren viele Menschen. In Korbsesseln lehnten Herren und rauchten Zigaretten. Damen mit ihren Tänzern standen an der Balustrade und sahen über den Garten hinaus zum Wasser.

Beinahe hastig, um hier keine Bekannten zu entdecken, um nicht von ihnen angeredet zu werden, ging Jutta die ihr zunächst gelegene Treppe hinab.

Ein Verlangen nach Einsamkeit peitschte sie förmlich.

Ah — die Sommernacht ... Und so still der Garten. Da waren die glatten Flächen der Tennisplätze ... da das Dunkel der Büsche ... alles für das Auge noch in unsichere Beleuchtung getaucht.

Aus den Fenstern des mächtigen Baues brach jene prunkende Helle, die, gleich Fanfaren des Lichtes, aus Festräumen hinaus in die Nacht die Kunde von Glanz und Freude zu senden scheint.

Die Decke des Himmels hoch droben war von Blaustahl. Und der Mond, seinem Rund noch entgegenwachsend, fast beizend weiß, mit den Schatten und Flecken, die seiner Fläche ein kümmerlich verlegenes Lächeln auftünchten, stand scheinbar auf einem Punkt still. Er überglänzte seine Nähe mit silbriger Helle. Die vielen Lichter auf Wasser und Land bestahlen ihn um seine Wirkung hier unten. Er kämpfte mit ihnen, und seine und ihre Strahlen durchstachen einander. Und dabei siegte keiner, es kam zu nichts, als zu einer schwankenden Belichtung aller Nähe und zu einer verschwimmenden Dunkelheit aller Ferne.

Jutta hörte Lachen drüben, jenseits der Tennisplätze gingen Menschen, und ihre Silhouetten glitten weiter, ihre Stimmen verklangen wieder.

Nun schien der Garten ganz verlassen.

Von irgendwo her kam Musik. Die Töne schwebten bebend und metallisch heran. Es war eine fast brutale Zudringlichkeit in ihnen; sie erregten die Nerven; unbestimmte Mutempfindungen, unklare, schmerzliche Sehnsucht weckten sie auf.

Und doch war es nur die Militärmusik, die aus einem nahen Biergarten in die Nacht hinausschwoll.

Jutta stand und horchte. Bruchstücke aus „Carmen“ ...

Nun drängten sich andere Töne hinein, dumpf und komisch ... die Baßnoten der Tanzmusik im Hause. Die leicht flatternde zärtliche Walzermelodie der Geigen konnte nicht hinausdringen, aber der kräftige und bumsende Dreitakt des Basses stampfte auf, als habe er plumpe Füße.

Kühl zog der Atem vom Wasser heran. Jutta bemerkte seine Schauer nicht.

Sie ging zum Ufer hinab. Dort baute sich die Anlegebrücke, von weißgestrichenem Geländer umschützt, über das Wasser hinaus. Die schimmernd weiße Stationsjacht lag da wie schlafend. Allerlei Pinassen und Barkassen drängten sich wartend Bord an Bord, wie auf dem Platz einer Stadt die Wagen sich ineinander verfahren, im festlichen Gewühl. Die Maaten, die sie zu führen hatten, mochten zusammengekauert auf den Bänken dösen. Man sah niemand.

Geradeaus und drüben am Ufer und hinauf und hinab die Förde, soweit der Blick von dieser Stelle aus ein Bruchstück ihres Bildes beherrschen konnte, schwebten Lichtsignale im Schwarzblau der Nacht.

Still, mit guten, friedlichen Wächteraugen sahen sie aufeinander, gesellig in ihrer Menge. Die letzten Strahlenspitzen des einen trafen auf den äußersten Glanzkreis des anderen. Das gab einen wunderbaren Zusammenhang — als reichten sich wachsame Geister mystische Lichthände. Das war, als schwebe über den schlafenden Wassern, über dem Schlummer der Natur noch ein anderes, geheimnisvolles, niemals ermüdendes Leben.

An ihren Bojen ankerten die Kolosse der Kriegschiffe, die am Tage Riesen gleichen, die mit ihrem Rücken auf dem Wasser schwimmen und über ihren gewaltigen Rumpf empor Arme und Beine luftwärts strecken. Jetzt in der Nacht erriet man die Anwesenheit der weiter hinaus liegenden nur an ihren Lichtern; die grauen Leiber der näheren erkannte man undeutlich; wie auf sehr flüssig gemalten Aquarellen die Farben ineinanderzufließen scheinen, so verschwammen die Grenzen ihrer grauen Formen mit dem Schwarz der Nacht.

Jetzt horchte Jutta auf. Die schmetternde, werbende, beklemmende Carmenmusik war verhallt. Die Dreitaktbaßtöne aus dem Haus kamen nicht bis hierher. Stille hatte sich über die Sommernacht gesenkt.

Aber nun klangen kurze, melancholische Töne auf. Rund und schnell.

Es glaste auf den Schiffen.

Mitternacht ... Mitternacht.

Und drüben, auf der anderen Seite der Weltkugel — was glaste die Schiffsglocke da?

Jutta fühlte: ich bin sehr erschöpft.

Sie sagte es fast hörbar vor sich hin.

Und sie wußte nicht: erschöpft von all den Festen, vom betäubenden Tanz des heutigen Balles — oder erschöpft vom Leben ...

Und in diesem unbestimmten Gefühl einer unerhörten, einer unerträglichen Müdigkeit kam ihr ein ganz einfacher, ein fast kindlicher Gedanke.

Läge ich doch in meinem Bett!

„Da ist Ruhe, da ist Verborgenheit. Ich will nach Hause,“ dachte sie entschlossen.

In der Düsternbrooker Allee, vorn vor dem Gitter der Marineakademie, standen gewiß Wagen, die auf Zufallsfahrgäste warteten.

Sie konnte morgen früh an Lisbeth Rosenfeld telephonieren: „Du, sei nicht böse — aber ich sah, du schwammst in Pläsier, und ich hatte es so satt, da ging ich heimlich. Ich bin ganz gut nach Hause gekommen.“

Plötzlich fühlte sie auch, daß es sehr frisch sei. Und Tritte klangen — ganz nah. Dumpf kamen sie auf dem Boden des Weges näher — und nun klappten sie hohl auf den Bohlen der Brücke.

Jutta, in einem Abwehrgefühl gegen Menschen, stand unbeweglich, als sei sie noch in den Anblick der von träumerischen Lichtflecken gesternten Förde versunken.

Sie bildete sich ein: Der, der da eben die Brücke betreten hat, wird den Takt haben, sich sofort zurückzuziehen, wenn ich mich nicht nach ihm umwende.

Und da hörte sie ihren Namen ...

„Jutta,“ sagte er.

Sie fuhr zusammen, bis zur Fassungslosigkeit erschreckt, obschon es die Stimme des Mannes war, nach dem ihre Augen immerfort gesucht hatten.

So sehr erschrak sie, daß sie ihren Kopf in den Händen verbarg wie eine, die sich fürchtet.

„Ich habe den ganzen Abend beinahe auf der Terrasse gesessen,“ sagte er im Ton eines, der, humoristisch gestimmt, einen harmlosen Bericht erstattet, „ich dachte nämlich so: wenn ich mich an einem Platz behaupte, muß meine liebe und verehrte Base Jutta schließlich einmal vorbeikommen. Nun endlich sah ich Sie.“

Sie horchte in verzehrender Spannung auf diese scherzhaften Worte. Und nun schien ihr, als sei nach dieser Pause von ein paar Herzschlägen seine Stimme vorsichtiger, leiser. Er fuhr fort: „Ich habe einige Minuten gewartet, ehe ich Ihnen folgte.“

Sie fühlte, daß er neben sie trat. Sie spürte, daß er wartend auf sie sah.

Sie nahm sich zusammen, sie richtete sich wieder auf. Daß sie so viel Mut brauchte, um in diesen Augenblicken das Alleinsein mit ihm zu überstehen, machte sie ganz schwach. Sie griff nach dem Geländer. Sie hielt sich daran fest — und lauschte zugleich auf den merkwürdig hastigen Lauf ihres Herzschlages — so klein und so eilig klopften die Töne — überall — in der Brust, im Hals ... in den Schläfen ...

Mit beiden, ausgreifenden Händen hielt sie sich an der obersten Querstange des Geländers und fühlte das harte Holz als schmerzhaften Druck im Kreuz, so fest lehnte sie sich dagegen.

„Ich ... ich hielt die vielen Menschen nicht mehr aus ...“ sprach sie.

Sie sah ihn nun an. Im dürftigen Halblicht erriet sie doch jeden Zug seines Gesichts. Sie kannte es so genau ... fast schien ihr: wie keines sonst auf der Welt ...

Jenes andere Männergesicht, das man auf den Bildern in ihrem Haus sah, das verlor so viel von seiner Wirklichkeit ... jeden Tag mehr ... war eben nur noch ein Bild ... eines, das zu der Geschichte eines Traumes gehört ...

Dieses aber, dies lebendige, kluge, entschlossene Gesicht, aus dessen hellen Augen ein bezwingender Wille sprühte — dieser ganze Mann, schlank und groß, dessen Wesen zähe Energie schien ... der bedeutete Wirklichkeit ... schwüle, drohende, inhaltreiche Wirklichkeit ...

Und mit der Wirklichkeit setzt man sich auseinander — man kämpft mit ihr — sie allein ist Leben ...

Und all ihre tausend Gefahren sind immer noch mehr Gesundheit als diese traumhafte Zusammengehörigkeit mit einem Fernen ...

Sie gibt Mut. Sehnsucht aber, schweigende, duldende Sehnsucht ist wie schleichende Krankheit ...

Das alles dachte Jutta nicht in deutlichen Worten ... Schwer und unklar gärte es in ihrem Gemüt ... Unbewußter Trotz war darin und die Begierde, sich ein Recht zu beweisen — das Recht auf Kampf gegen die Versuchung vielleicht.

Sie wußte nichts Gewisses über sich. Sie fühlte nur, ihr Leben war unerträglich. Und vor allem: diese Augenblicke waren es.

„Ich möchte nach Hause,“ sprach sie.

„Ist das die Antwort auf meine Freude, daß ich Sie endlich gefunden habe?“ fragte er — in erzwungen scherzhaftem Ton ...

„O nein ... die vielen Menschen ... das Fest ... es ist genug.“

„So werde ich Sie an den Wagen bringen.“

Er wartete vor ihr höflich, aufmerksam, als wären hier tausend neugierige Augen, die sein Benehmen belauerten.

Ihr ganzes Wesen war in Aufruhr; weit geöffnet war ihre Seele für ein großes Erlebnis — eine starke Gefahr. Und nichts geschah, daran ihre Kraft sich erproben, daran ihr Stolz sich emporrecken konnte. Sein Ton und seine Art waren wie eingeschnürt in Beherrschung. Nichts geschah ...

Das Elend einer ungeheuren Enttäuschung warf sich auf sie, zerdrückte sie. Das ganze Dasein schien nichts mehr zu sein als graue Leere, stumpfe Inhaltlosigkeit — nicht einmal mehr Kampf war darin ...

Und alles in ihr war bereit dazu gewesen ...

Wie für ein Volk, das in dumpfer Enge hinlebt und von seiner Enge bewußt leidet, der Schrei „Krieg“ Erlösungsklang haben kann, so daß das furchtbarste aller Worte jauchzend durch die Massen getragen wird — so lechzte ihre Seele nach einem weckenden Ruf, der sie nach Waffen greifen ließ. Aber nichts geschah.

Sie raffte sich auf — stand ein paar Augenblicke — und und so fand sie sich äußerlich zu ihrer gewohnten Haltung zurück. Er gab ihr den Arm.

Schweigend schritten sie zusammen durch den Garten, zurück zu dem mächtigen Bau, aus dessen großen Fenstern die gelben Lichtfluten in die Nacht hineinströmten.

Jutta fühlte und dachte nicht mehr klar genug. Sonst wäre ihr dies Schweigen von beklemmender Beredsamkeit gewesen. Sie fühlte nur: das Leben geht an mir vorbei.

Und die Bitterkeit, in der alle Leidenschaftlichen sich gegen dies Gefühl wehren, gärte auch in ihr.

Sie mußten über die Terrasse und durch den Gartensaal, in dem eben der Walzer beendet war. Und hier, zwischen den hin und her wandelnden Paaren, trafen sie auf Lisbeth Rosenfeld. Sie stand vor ihrem Mann, hielt mit den spitzen Fingern der Linken ihn an einem Knopf seines Dinerjacketts fest und fächelte mit der Rechten ihrem heißen Gesicht Kühlung zu. Der kleine chinesische Fächer, den sie dabei brauchte, klapperte in seinem Sandelholzgestell, und sein bunt bemaltes Pergament rauschte.

„Da ist ja Herr von Gamberg mit Jutta! Kinder, helft mir Hektor überreden. Ich soll weg. Das ist Tyrannei. Herr Legationsrat, schützen Sie ein mißhandeltes Weib.“

„Wenn Lisbeth morgen Kopfweh hat, schilt sie mit mir, daß ich nicht strenger gewesen bin,“ sagte der Kapitän.

„Komm mit,“ ermahnte Jutta, „ich bin im Begriff fortzugehen, Herr von Gamberg will mich gerade zum Wagen bringen.“

„Was? Hinter dem Rücken deiner Ballmutter wolltest du auskneifen?“

„Lisbeth, nimm Vernunft an! Du wirst mir morgen danken.“

„Vernunft ist ja eine wunderschöne, großartige Sache. Aber weißt du, Hektor — ich bin gar nicht ehrgeizig. Ich will unvernünftig bleiben.“

Sie lachte laut und stritt munter weiter. Man merkte schon: der Mann ermüdete ein wenig an der Kinderei und war im Begriff, nicht aus Schwäche, sondern um des guten Geschmacks willen nachzugeben.

„Ach,“ dachte Jutta, „wie spielt sie durch die Tage.“

Und wußte selbst nicht, ob es ein neidischer oder ein geringschätziger Gedanke war.

Sie verabschiedete sich etwas kurz. Rosenfelds, im Eifer ihres Kampfes um Bleiben oder Gehen, bemerkten es kaum.

Jutta wurde nun von einer Hast ergriffen, als hänge das Äußerste daran, daß sie rasch, rasch aus diesem Festlärm entfliehe. Und Gamberg, dessen Arm sie losgelassen hatte, folgte ihr so unmittelbar, daß er Vorsicht beobachten mußte, nicht auf ihre schleifende, leichte gelbe Chiffonschleppe zu treten.

Sie warf sich in einem der zur Garderobe verwandelten Nebenräume ihren Spitzenmantel um.

Gamberg wartete unter dem Portal auf sie.

Draußen, auf dem Fahrdamm, jenseits des hohen Gitters, das das Gelände der Marineakademie von der Straße schied, standen Droschken hintereinander, mit ihren dunkeln Kasten auf den unbeweglichen Rädern, einem ins Stocken gekommenen Leichenzug nicht unähnlich. Die Kutscher, mit hintenübergesenkten Häuptern, vorausgestreckten Bäuchen und verschränkten Armen, förmlich wie aufgeplustert, schliefen in Gelassenheit. In stumpfsinniger Geduld ließen die Pferde die Köpfe hängen.

Gamberg öffnete die Tür der ersten Droschke, indem er zugleich den Kutscher durch Zuruf ermunterte.

Jutta stieg ein.

Droben der plumpe Mann auf dem Bock hantierte noch umständlich mit seinem Sitz, der Pferdedecke und den Zügeln.

Gamberg stand am Schlag. Von den Laternen her, die die Pilaster des Gittertors krönten, fiel scharfes Licht auf ihn.

Jutta sah ihn mit großen Augen an. Sie prägte sich noch einmal, wieder einmal, zum hundertstenmal genau seine hohe, blonde Erscheinung ein: das helle Bärtchen auf der Oberlippe, das helle, kluge, lebhafte Auge, die vornehmen, immer von einer gewissen Zurückhaltung beherrschten Züge.

Und auch er sah das völlig beleuchtete blasse Frauengesicht, die herrisch erhobene Haltung ihres Kopfes, den großen Blick, der ihm fast feindselig erschien.

„Ich begleite Sie natürlich.“

„Nein.“

„Es beunruhigt mich, Sie allein einem fremden Wagen anzuvertrauen.“

„Unnötige Sorge. Fünf Minuten Fahrt. Und ein Kieler Droschkenkutscher, der eine Marinedame fährt ...“

Oben der Kutscher war fertig und sah wartend herab auf den Herrn am Schlag.

Jutta fühlte wieder ihr Herz klopfen überall ... überall ...

Sie wagte kaum zu atmen.

Die hellen Blicke sprachen zu ihren Augen.

Unverwandt sahen sie einander an — eine schwüle, endlose, furchtbare Minute lang.

Und dann trat der Mann zurück ... höflich und fremd.

Der Wagen fuhr davon, in unerwartet raschem Zug.

Jutta saß aufrecht darin, erhobenen Hauptes. Ihre Augen starrten auf die draußen, gleich einer Wandeldekoration vorüberziehenden weißen Villen zwischen dem üppigen Laub der Bäume und Büsche in der Sommernacht. Und in ihrem Ohr war als Nachhall das kleine knackende Geräusch der zufallenden Wagentür.

II

D

as ganze Zimmer war erfüllt von blauer Dämmerung, von einer reinen, köstlichen Frische. In ihr konnte das kleine Wesen, von Wohlbehagen wie geschwellt, wohl einen guten Schlaf haben. Nach dem Bade lag es nun, ein appetitliches, rührend hilfloses und unbewußtes Stückchen Leben — mehr ein Pflanzen- als ein Menschenleben noch — in seinem Bettchen. Der Kopf, auf dem ein dunkler Haarwuchs zu flaumen begann, war wie eine schwere, etwas ins Längliche verformte Kugel tief hineingedrückt in das weiße Kissen, das um seine Kontur herum bauschig aufschwoll. Im Schatten der Gardinen, die von einem das Bettchen überwölbenden Krummstab herabwallten, blieben die geschlossenen Augen, das kleine Näschen beinahe verwischt — so weich waren noch die Züge. Nur der Mund war sehr deutlich in dem Kindergesicht — die Lippen bewegten sich instinktiv, lutschend, saugend, als kosteten sie noch den Wohlgeschmack der Flasche.

Mit leichten Schritten, unhörbar, ging Jutta noch umher. Sie sah nach, ob hinter dem Vorhang auch die Fensterklappe geöffnet sei, entdeckte an der Scheibe eine Wespe, die sie furchtlos und fürsorglich mit ihrem Taschentuch überdeckte und griff, um sie dann aus dem Fenster ins Freie zu schütten.

Ein letzter Blick in die Runde zeigte ihr, daß im Schlafzimmer, das auch das ihre war, und in dem neben dem großen Bett traulich das kleine stand, sich alles in feierlicher Ordnung befand. Heilige Schlafensstille webte in dem Raum, und ganz leise, leise, nur dem angestrengt lauschenden Ohr der Mutter erratbar, ging der Atem des Kindes in köstlicher Regelmäßigkeit.

Es schlief. Es schlief sich wieder ein Stückchen weiter ins Leben und in die Kraft hinein ...

Jutta ging in den Nebenraum. Das war eigentlich ihr Ankleidezimmer. Aber nun hatte das Kind seine Ansprüche und seine Herrschaft auch hierher getragen. Und auf dem Teppich stand das Gestell mit der Badewanne, und zwischen all den eleganten Einrichtungsgegenständen des Toilettentisches, auf seinem Spiegelglas und zwischen den Bürsten und Kämmen von dunkelm Schildpatt, standen Puderdöschen und lagen allerlei blauumsäumte Läppchen und Streifen. In einem zierlich mit Schleifen ausgestatteten Korb häufte sich gebrauchtes Kinderzeug.

In diesem Raum war es sehr hell. Weit geöffnet stand sein Fenster, und von draußen herein kam die salzige Sommerluft und vertrieb die lauen Baddünste.

Das Hochviereck des Fensters zeigte einen Ausschnitt aus der freien Natur. Nur in zwei Farben. Ein großes Stück knallblauen Himmels und ein paar runde grüne Wipfel, die aber so grell besonnt waren, daß sie weißlich überflimmert schienen.

Jutta träumte ein paar Augenblicke hinaus, mit unbestimmten Gedanken. Das bedeutete Ausruhen für sie.

Es war immer wie Schonzeit für ihr Gemüt, wenn alles, was es sonst leidenschaftlich bewegte, einmal als unklare Traurigkeit still lag.

Der Sommermorgen war so schön — zu schön. Ganz stiller Glanz erfüllte ihn, alle Winde schliefen.

Jutta dachte flüchtig: „Reiswitz — Freia — Nordwest — Kiel — Travemünde ...“

Aber diese Gedanken zerfaserten. Es war ihr so unaussprechlich gleichgültig, was für Winde die Segel blähten ... oder ob gar keine ...

Hinter ihr bewegte sich jemand ... Wasser rauschte leise.

Jutta wandte sich um. Die sommersprossige Martha räumte auf und goß den Inhalt der kleinen weißlackierten Wanne in einen Eimer, der in seiner Ausstattung Familienähnlichkeit mit ihr hatte.

Mit raschen Händen half Jutta. Alle Geräte, alle Möbel, jeder Zierat zeigte Geschmack, Neuheit, Ordnung.

In wenigen Minuten gab es auch in diesem Raum nichts mehr zu tun. Er glänzte in der schmuckvollsten Sauberkeit.

Jutta band die große, mit russischen Stickereien verzierte Schürze ab, die bis dahin fast ganz Taille und Rock ihres einfachen weißen Kleides verdeckt hatte.

Unbewußt seufzte sie. Nach vollendetem Tagewerk ...

Zehn Uhr war es. Und sie wußte heute wie fast an jedem Tag den Inhalt aller Stunden voraus ... Ein wenig Handarbeit ... Kinderkleidchen sticken und nähen, für die noch ferne Zeit, wenn Baby erst anfinge zu stehen, zu gehen ... ein paar Briefe schreiben ... mit der Köchin das Mittagessen besprechen ... dieses schreckliche Mittagessen, das für eine Person zu kochen und aufzutragen fast lächerlich schien. Und dann ein Nachmittag und Abend ohne Ende ... ohne Zweck ... ohne Freude.