Annas Ehe - Ida Boy-Ed - E-Book
SONDERANGEBOT

Annas Ehe E-Book

Ida Boy-Ed

0,0
0,00 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 0,00 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In Annas Ehe zeigt die Boy-Ed mit dem literarischen Zeigefinger auf die Umstände, unter denen Frauen vor und speziell in der Ehe leben mussten. Ida Boy-Ed (1852-1928) war eine deutsche Schriftstellerin und Salonière. Ida Boy-Ed verfasste über 70 Romane und Erzählbände und beeinflusste mit ihrem Lübecker Salon das kulturelle Leben von Lübeck nachhaltig.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ida Boy-Ed

Annas Ehe

            Books
- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Cover
Titelblatt
Text

Die beiden Gräfinnen v. Geyer schmückten sich zur Hochzeit ihres Bruders. Da die Räumlichkeiten im Vaterhause der Braut nur beschränkter Art waren, hatten die beiden Damen sich mit einem gemeinsamen Schlafzimmer begnügen müssen, an welches ein Raum stieß, den sie als »Salon« betrachten konnten. Die Gräfin Renate hatte nicht so viel guten Willen und stellte fest, daß diese Einrichtung, bestehend aus ein paar grünen Plüschstühlen, einem graubunten Sofa, einem Bücherschrank von Mahagoni, einem Schreibtisch von weißlackiertem Holz und einem Sofatisch, der braungebeizte Beine hatte, aus dem ganzen Haus erst für diese Gelegenheit zusammengesucht sein müsse.

Ihre um ein Jahr ältere Schwester aber, die Gräfin Herdeke, meinte, daß diese zusammengesammelte Einrichtung ein wahres Glück sei, sie zöge Renatens Kritik auf sich, die somit von irgend einem andern Gegenstand abgelenkt werde.

»Ach,« sagte Renate, »hier gäbe es so viel zu kritisieren, daß es gar nicht das Anfangen lohnt.«

Sie kramte aus ihrem Koffer die Kleinigkeiten heraus, die ihre lilaseidene Toilette vollständig machen sollten, und legte sich Spitzentaschentuch, Handschuhe, Fächer und Schmuck zurecht. Ein Stück tat sie neben das andre, in pedantischer Ordnung, als sollte hier auf dem Sofatisch eine Ausstellung dieser Gegenstände stattfinden. Die Sonnenstrahlen, die im breiten Bündel zum Fenster hereinkamen, trafen einige Steine der Kette von Brillanten. Renate schob auch noch die große Brosche in das Sonnenlicht. Das Gefunkel machte ihr Vergnügen.

Die Gräfin Herdeke, die vor dem Spiegel saß und sich ihr graues Haar mit großer Sorgfalt ordnete, legte sich jetzt ein wenig zurück, damit ihre Stimme nach nebenan in den Salon dringe, und bemerkte: »Du wirst wieder zu spät fertig werden.«

Alsbald kam Renate, ihre lilaseidene Kleiderpracht über dem Arm, ins Schlafzimmer. »Es wäre nicht meine Schuld. Hier kann man sich nicht zu zweit frisieren und ankleiden. Der Spiegel im Salon hängt so verrückt, daß man nicht davor sitzen kann. Na – überhaupt!«

Herdeke stand auf und machte der Schwester Platz. Mittelgroß, rasch von Bewegungen, sehr elegant und von einer gewissen fröhlichen Selbstsicherheit, wie sie war, genoß sie das Gefühl, eine stattliche, beliebte alte Dame zu sein.

»Was denn: na – überhaupt? Wir wußten vorher, daß wir in ein Landhaus kämen, das wenig auf Gäste eingerichtet ist. Man muß sich auch mal behelfen können. Freilich: Kunst ist abhängig, sie braucht Ausdrucksmittel. Das spürst du nicht zum ersten Male,« sagte sie heiter und warf sich ihr graues Atlaskleid über.

»Gott – werde bloß nicht lehrhaft,« warnte Renate, »wir haben alle unsre Angriffsflächen.«

»Eben deshalb hätt' ich an deiner Stelle vermieden, mir noch mühevoll welche dazu anzuschaffen. Sogar Linstow guckte gestern abend deine dunkle Haarpracht an, als dächte er: Gestorben!«

»Ach dieser Linstow!« sagte Renate verächtlich und mühte sich vor dem Spiegel an ihrem gefärbten Haar ärgerlich und unbeholfen ab. Ohne Jungfer fertig zu werden, war ihr fast unmöglich.

Früher hatte Renate keinen Mut zum Jungsein gehabt, nun hatte sie keinen zum Altsein. Mit dieser umständlichen und unehrlichen Lebensauffassung der Schwester auf einen verträglichen Fuß zu kommen, hatte Herdeke längst aufgegeben.

Ihr kleiner Krieg gehörte aber zu ihrem Dasein. Ohne den wäre es ihnen für den Alltag zu langweilig gewesen.

Von ihrem »großen« Bruder hatten sie zu wenig, obgleich sie seinem Hause als Repräsentantinnen vorstanden.

Würden sie sich eines Tages derselben Meinung über eine Sache oder Person gefunden haben, so hätte sie das mit Angst und Mißtrauen erfüllt. Diese Sache oder diese Person wäre ihnen dann entschieden zu mächtig gewesen. Und darin waren sie sich gleich: sie liebten es, sich als die Überlegenen zu fühlen. Dafür waren sie Geyers und des bedeutenden Grafen Burchard nicht minder bedeutende Schwestern. Renate hielt zwar nur sich und nicht Herdeke für bedeutend, während Herdeke ihrer Schwester doch immer einen scharfen Verstand zugab, dessen Vorzüge nur durch eine verbitterte Art aufgehoben wurden.

Gräfin Herdeke hatte ihr Kleid nun geschlossen und trat hinter die sitzende Schwester, um sich über ihren Kopf weg zu spiegeln und in die Spitzen ihrer Taille einen großen Brillantanhänger zu befestigen. »Daß dir der alte Linstow nicht gefiele, dacht' ich mir. Ich finde ihn gutmütig,« sagte sie dabei.

»Er hat was Hilfloses,« sprach Renate mit Entschiedenheit, »er ist vollkommen unsicher uns gegenüber. Warum sollte er es uns gegenüber sein, wenn er es nicht überhaupt dem Leben gegenüber ist?«

»Er ist Annas Vater, er wird heute Burchards Schwiegervater und somit unser Verwandter. Außerdem sind wir seine Gäste. Ich halte es für unpassend, daß du dich über ihn mokierst.«

»Wen soll man denn scharf kritisieren, wenn nicht die Verwandten? Besonders die angeheirateten! Die sind die nächsten dazu,« sagte Renate.

Herdeke lächelte ihr Spiegelbild an. Sie fand sich gut aussehend heute. Das Kleid stand ihr vortrefflich. Ihr feines, wohlwollendes Gesicht mit den klugen, lebhaften Augen darin konnte auch keine hübschere Krönung und Umrahmung haben als das graue Haar, darauf wie ein Krönlein eine Rosette von echten Spitzen saß, aus der eine Aigrette mit blitzenden Steinen ragte.

Nun trat sie hinweg, ging ans Fenster und sprach wie vor sich hin: »Arme Anna!«

Renate, für die es auch berechnet gewesen, fuhr förmlich auf. »Das soll heißen? ...«

»Das soll heißen, daß mir Anna im voraus leid tut, wenn du auf dem Standpunkt stehst. Du willst wohl in Burchards Ehe die Schwiegermutter ersetzen? Sollte mich wundern, wenn das kluge Mädchen, die Anna, nicht bei unserm Anblick gedacht hätte: diese beiden altjüngferlichen Schwägerinnen werden schlimmer sein als eine Schwiegermutter, sie sind nämlich gleich zwei Schwiegermüttern.«

Dabei sah sie angelegentlich hinaus auf den im Sonnenschein liegenden, hoch von Schnee bedeckten Hof. Denn es war die Zeit, daß bald die Gutsnachbarn und Hochzeitsgäste angefahren kommen mußten.

Renate, die hinter ihr, vor dem Spiegel stand, antwortete gereizt: »Ich komme Anna mit allem Wohlwollen entgegen, das ich der Braut und der Gattin meines einzigen Bruders schulde. Ich unterdrücke auch jede Kritik, die man sonst wohl ausüben kann, wenn man sieht, daß ein schönes, kluges und schließlich auch nicht ganz armes Mädchen von zwanzig Jahren einen Mann von achtundfünfzig nimmt ...«

»Dieser Mann ist aber Burchard Geyer,« sprach Herdeke stolz dazwischen.

»Einerlei.«

»Nicht einerlei. Hast du selbst nicht in deiner Jugend Partie auf Partie ausgeschlagen, weil dir die Männer zu unbedeutend waren? Na – leider ist dann nach all der Wählerei der Heros nicht gekommen ... Das war dein persönliches Pech. Vielleicht hat Anna ...«

»Bringe mich doch nicht von dem ab, was ich sagen wollte: ich wollte also sagen, daß ich alle Kritik unterdrücken, aber offene Augen haben werde.«

»Wieso?«

»Dumme Frage,« sagte Renate, indem sie mit der Brennschere ihre Stirnlocken bearbeitete, »wenn eine junge Frau einen älteren, sehr beschäftigten Mann heiratet, versteht es sich von selbst, in welcher Richtung man die Augen offen zu halten hat.«

Nun wandte die Gräfin Herdeke sich rasch um, und ihr Ton, der bis dahin immer ein wenig spöttisch gewesen, wie er meist der Schwester gegenüber war, nahm den Klang ernster Entrüstung an. »Du denkst – du denkst auch nur von fern – – du hältst es für möglich, daß die Gräfin Burchard Geyer gleich andern jungen Frauen sich eines Tages auf die Unverstandene hinausspielen und sich tröstend den Hof von einem jungen Freund machen lassen könnte?«

»Das denke ich allerdings.«

»Du bist verrückt.«

»Und du wirst etwas – drastisch in deinen Ausdrücken.«

In diesem Augenblick erscholl draußen ein helles Geklingel und gleich darauf ein jubelndes Hurra.

Gräfin Herdeke wendete sich dem Fenster zu, und auch Renate, im Frisiermantel, die Brennschere, die gerade eine Haarsträhne umzwickt hatte, in der hocherhobenen Rechten, nahm Stellung hinter der durchsichtigen Mullgardine. »Das scheinen ja etwas geräuschvolle Hochzeitsgäste,« meinte sie.

»Wahrscheinlich die Webers von Pallau, von denen Anna schon gestern abend sprach,« sagte Gräfin Herdeke und sah interessiert hinab.

Der große Hof glich einem blütenweißen länglichen Viereck. Nur an der einen Seite zogen sich Wirtschaftsgebäude hin, gegenüber diesen begrenzte ihn das Staket des Obst- und Gemüsegartens. Vom Tor, vorbei an den Gebäuden bis zur Haustür, an der Front des Hauses entlang und am Staket hin bis wieder zum Tor, war ein breiter Weg ausgeschaufelt und niedergefahren. Der Sonnenschein gleißte auf den festen Spuren der Schlittenkufen und Wagenräder.

Über das Tor hinaus, das breit geöffnet stand, sah man in ein endloses flaches Gelände. Das mußten im Sommer lauter Felder sein, und keine Baumzeile, kein Knick, kein Waldstreifen gab der Landschaft Mannigfaltigkeit, dem Auge einen Ruhepunkt.

Diese einförmige, im Sonnenlicht grellweiße Fläche, von dem Brillantgefunkel von Millionen Reflexen übersät, tat dem Blick geradezu weh.

Unten auf dem Hof, vor den Wirtschaftsgebäuden hielt nun der Schlitten, der eben mit Geklingel und dem Hurra seiner Insassen vor das Haus gefahren war. Diese Vier, die Herdeke noch gerade hatte beobachten können, waren schon ausgestiegen, und man hörte unten auch Lärm von Stimmen und Schritten. Der Lärm näherte sich, kam treppan, zog über den Korridor an der Tür der beiden Damen vorbei und schien am Ende des Flurs zu verhallen. Aber gleich danach fuhr Gräfin Renate mit Ostentation zusammen, um sich selbst zu beweisen, wie sehr das kräftige Türenschlagen nebenan sie erschreckt hatte. Dann hörte man zwei Männerstimmen, eine rauhe, alte, und eine junge, sonore. Die unterhielten sich erstaunlich laut und unbekümmert.

Man hörte einzelne Worte. »Anna« – »der olle Linstow« – »ach was« – »riesig riskiert« – »meinswegen immerzu« – »Donat« – »kein Rückgrat«.

»Mein Gott,« sagte Renate, »wollen wir klingeln? Der Waldemar müßte diesen Herren nebenan melden, daß hier zwei Damen wohnen, die unfreiwillig zum Lauschen gezwungen werden.«

»Leider verstehen wir ja nichts,« sprach Herdeke mit unterdrücktem Lachen, »zu schade, – nicht wahr? Von den Freunden und Nachbarn könnten wir sonst ja die besten Kommentare erhalten.«

»Großes Lumen, der Burchard Geyer,« hörte man jetzt deutlich von nebenan.

»Na, siehst du wohl!« bemerkte Herdeke befriedigt.

»Diese Leute brüllen förmlich.«

»Da kommen mehr!« rief Herdeke, denn es klang wie ein silbernes Geläut, hell und zierlich im Ton, durch die klare Winterluft.

Ein eleganter Schlitten, schwarzblank lackiert, mit einem gelbbraun und weiß gesteckten Guanako als Decke, flog in rascher Fahrt heran. Herdeke konnte kaum feststellen, daß drei Personen darin saßen, und wußte nicht einmal, waren es drei Herren oder versteckte sich in der einen dicken Pelzhülle eine Dame. Die drei Pelzbaretts waren fast gleich gewesen.

»Natürlich muß eine Dame dabei gewesen sein. Außer den Pallaus werden doch nur die Hammerriffs erwartet, der ältere mit seiner Frau,« rechnete Gräfin Herdeke sich aus.

»Du hast ein wahrhaft kindliches Vergnügen an diesem Halbdutzend ländlicher Hochzeitsgäste.«

»Spaß! Als ob mich die Gäste nicht interessieren sollten, die zu meines Burchard Hochzeit kommen! Seit mehr als dreißig Jahren hab' ich auf den Tag gewartet.«

»Aber wir haben ihn uns einst anders gedacht. So als das pomphafteste Ereignis von der Welt. Nicht auf so 'ner kleinen Klitsche, unter der Zeugenschaft von einer Handvoll Landjunker,« bemerkte Renate, die nun endlich mit ihrem Kopf fertig geworden. Sie betrachtete, unzufrieden mit dem Hergestellten, ihre künstliche Frisur und ihr gepudertes Gesicht mit den rosig getönten Wangen.

»Mir ist das egal, das Drum und Dran. Ich halt' es immer mit jenem Küster, der beim Abendmahl eine rote Weste an hatte und begütigend sagte: Wenn's Herz man schwarz ist. Für den vorliegenden Fall variiert: wenn's Herz nur warm ist. Und mir scheint, Anna ist was Extras, und sie schwärmt für Burchard, wie er für sie. Und wie geschmackvoll sie das gerade nur erraten lassen! Ich bin entzückt von dem Takt beider. Man ahnt, es ist Liebeswahl. Aber man wird durch den Altersunterschied in keiner Weise verletzt. Einfach: großer Stil! Darin paßt sie zu ihm.«

Renate zuckte die Achseln. Sie wußte es ja, ihre Schwester würde auch im siebenten Jahrzehnt ihres Lebens diese Gewohnheit, sich voreilig zu begeistern, nicht ablegen. Aber im Augenblick fand Renate keine Zeit, allem zu widersprechen, sie war zu stark mit ihrem Putz beschäftigt und konnte nicht damit zustande kommen, ihr Kleid zu schließen. »So hilf mir doch!« sagte sie endlich ärgerlich. »Ich komme sonst wirklich zu spät!«

»Das Kleid ist natürlich zu eng,« erwiderte Herdeke. »Ich habe dir schon hundertmal gesagt, daß man mit sechzig Jahren keine Taille mehr zu haben braucht.«

»Wenn die Natur sie mir aber ließ!«

»Dann versteckt man sie. – So – uch – uch ...«

Mehr als nötig tat Herdeke, als strenge sie sich an, das Kleid zuzumachen.

Und endlich war denn auch Renate fertig.

In ihrer Jugend sollten die beiden Gräfinnen Geyer sich sehr ähnlich gesehen haben; zum Verwechseln würde es gewesen sein, wenn nicht eben die steife Würde Renaten und die fröhliche Ungezwungenheit Herdeken ihr besonderes Gepräge gegeben hätten. Jetzt sah man von dieser Ähnlichkeit nur noch etwa im Profil die gleiche, leise gebogene Linie der edlen Geyerschen Nase. Sonst hatte das Leben die Züge der beiden Damen sehr verändert. Keineswegs allein durch eine Reihenfolge wuchtiger Schicksalsschläge – denn Renate hatte nichts erlebt –, sondern vor allem durch die leisen Entwicklungen ihres Innern.

Sie schritten nun zusammen treppab.

Auf dem kahlen Korridor war es frostig, die weißgekalkten Wände schienen förmlich Eisluft auszuhauchen. Aber Gräfin Herdeke bemerkte nichts davon. Sie war nun ganz erfüllt von dem Gedanken an die wichtige Stunde, die bevorstand. Rührung stieg in ihr auf. Auch ein wenig Angst.

Sie würde es Renaten niemals zugegeben haben, aber im tiefsten Grunde ihres Herzens war ihr die Ehe, die der Bruder einging, auch nicht geheuer. Sie witterte eine Geschichte, irgend einen abenteuerlichen, vielleicht auch nur einen kapriziösen Grund, um dessentwillen sich die junge Anna zu dieser Heirat entschloß. Und das ging ihr gegen das Gefühl. Sie liebte ihren Bruder mit einseitigem Fanatismus. Wenn er schon heiratete, so sollte seine Erwählte ihn aus den reinsten Gründen nehmen.

Aber sie sprang auch ganz willkürlich hin und her mit ihren Gedanken. Indem sie bei Anna nach einem Geheimnis ausspähte, nicht an Annas bedingungslose Liebe für den Achtundfünfzigjährigen glauben konnte, dachte sie gleich darauf voll schwesterlichen Stolzes, daß sich jedes Weib, auch das schönste und jüngste, in Burchard verlieben müßte.

Ihr Herz klopfte, als sollte sie bei den bevorstehenden Ereignissen nicht nur Zuschauerin, sondern eine handelnde Person sein.

In Renatens Kopf drängten sich Einfälle, Befürchtungen, Betrachtungen aller Art bunt durcheinander. Wenn nur Herdeke sich nicht hinreißen ließe, zu gerührt und zu vergnügt zu werden. Beides war zu fürchten.

»Ich bitte dich,« flüsterte sie, »sei zurückhaltend. In unsern Kreisen kennt man dich und deinen sogenannten Humor. Hier könnte man dich für ein Original halten, und das ist so das Unweiblichste, was ich mir denken kann.«

»Unweiblich? Du bist zum Schreien! Ich dank' dem Himmel, daß ich weder weiblich, noch männlich mehr wirken kann, sondern bloß rein menschlich. Weißt du: das ist die köstliche Freiheit des Alters,« antwortete Gräfin Herdeke laut.

Aber nun mußten sie ihren kleinen amüsanten Streitteufel, der sie immer umsprang und aus ihnen beiden die letzten geheimsten Gedanken herauszulocken verstand – nun mußten sie ihn einsperren. Vor der neuen Familie und deren Freundessippe konnte er sich nicht gleich produzieren. Das sahen beide Schwestern ein. –

Unten der Hausflur war mit Tannengirlanden bekränzt.

Die Trauung sollte im Hause stattfinden. Neuhagen, das kleine Gut von Herrn von Linstow, war dem Kirchdorf Pallau eingepfarrt. Dahin hätte man anderthalb Stunden auf einer öden Chaussee durch reizloses Land fahren müssen. Das scheuten alle Beteiligten. Dabei ging nur Zeit verloren, und viel Stimmung konnte das auch nicht geben. Der Standesbeamte des Kirchspiels war der ältere Herr Weber von Pallau. Er hatte sich bereit erklärt, die bürgerliche Verbindung des Brautpaares unmittelbar vor der Trauung im Hause der Braut zu vollziehen.

Somit brauchte man drei Festräume. In dem Wohnzimmer sollte der standesamtliche Akt vor sich gehen. Im Salon die Trauung. Diese örtliche Trennung beider Handlungen war das einzige, was bis jetzt hier Renatens heimlichen Beifall gefunden hatte. Nach der Trauung sollte im großen Eßzimmer das Essen für fünfzehn Personen stattfinden.

Die Türen zu diesen Räumen mündeten auf den viereckigen Flur. Ebenso die Tür von Herrn von Linstows Arbeitszimmer.

Dort wußte Herdeke jetzt das Brautpaar. Ihr Auge feuchtete sich schon, als sie nur auf die Tür sah.

In Renate war die Neugier auf das, was man finden würde, sehr lebhaft. Sie vergaß darüber beinahe den Bruder. Mißfällig bemerkte sie zunächst, daß es auf dem Flur sehr stimmungslos ländlich nach Festbraten roch.

Waldemar, der Diener, dem man unschwer ansah, daß er im Lauf gewöhnlicher Tage auch im Garten und auf dem Felde mit tätig sein mußte, und der offenbar für die Gelegenheit nicht einmal eine neue Livree bekommen hatte, riß nun vor den beiden Damen, die ihm unaussprechlich imponierten, die Tür auf.

Gräfin Herdeke hatte den Vortritt. Sie war die Älteste. Es würde für Renate unerträglich gewesen sein, die Schwester sich vorangehen zu sehen, wenn ihr nicht dabei die angenehme Stellung als »die jüngste Gräfin Geyer« zugefallen wäre. In ihrer Empfindung wurde in solchen Augenblicken der Altersunterschied immer ein ganz bedeutender.

Im Zimmer war es blendend hell. Ein geradezu pöbelhaftes Licht, dachte Renate. Denn ihre Erscheinung war durchaus auf Abendbeleuchtung oder Schatten berechnet. Nun mußte sie danach trachten, immer möglichst die grelle Wintersonne und die beiden großen Fenster, mit dem Blick auf den schneeweißen Hof, im Rücken zu haben.

Es konnte nichts Alltäglicheres geben als dies Zimmer. Die Möbel darin und ihre Stellung an den Wänden, die Bilder auf der sehr geblümten Tapete, zeugten von einer vollkommenen Gleichgültigkeit oder einer ebenso völligen Geschmacklosigkeit. Das hatte Gräfin Herdeke schon gestern abend festgestellt.

Nun war sie voll Spannung auf die Menschen. Indem sie versuchte, sich mit diesen recht bekannt zu machen, konnte sie doch vielleicht einige Aufschlüsse über Annas Leben gewinnen.

Sie war hier ja wie auf der Wacht. Sie wußte noch so wenig von ihres Bruders Braut. Das junge Wesen hatte für sie etwas Rätselvolles. Vielleicht fiel aus der Art ihrer Freunde, ihrer Umgebung, ein wenig Licht auf ihre eigene Art. Deshalb beschloß sie, jede der anwesenden Personen genau zu beobachten.

Daß es lauter Leute von besonderem Gepräge waren, übersah sie sofort. Als Herr von Linstow ihr alle vorgestellt hatte, fing sie mit jeder Persönlichkeit in ihrer lebhaften und entgegenkommenden Weise ein kleines Gespräch an, um es vorerst rasch wieder abzubrechen. Mit der Gewandtheit der großen Dame und der Heiterkeit einer Lebensfreudigen brachte sie es wahrhaftig fertig, binnen einer halben Stunde Frau Weber von Pallau, Ursula Weber v. Pallau, die Baronin v. Hammerriff und die Pastorin Lüdike zu bezaubern.

Bei dieser letzteren war es ein völliges Siegen nur durch Blick und Lächeln, denn die arme Pastorin war fast ganz taub. Mit ängstlich wachsamem Auge hing sie an den Lippen der zu ihr Sprechenden; sie genierte sich, fortwährend ihr Hörrohr zu benutzen, das sie in ihren Händen hielt und das beinahe die Form eines Blasinstruments hatte. Die Glacéhandschuhe der Pastorin waren zu groß und gaben mit ihren Fältchen der Hand etwas greisenhaft Zerknittertes. Das paßte zu dem Gesichtchen, das einen unwillkürlich an einen Bratapfel erinnerte, so verschrumpft war es. Die Staatshaube der Pastorin von schwarzen Spitzen und lilaweiß gestreiftem Band stammte sicher von der Modistin des Dorfes, die vielleicht auch vor Jahren das schwarzseidene Kleid angefertigt hatte, dessen Putz in ein paar Epaulettes von Passementrie bestand. Herdeke fand das alte Frauchen in seiner zaghaften Würde fast ergreifend. Sie hatte nun einmal den Blick für Menschen, wie sie gern von sich sagte, und sah auch sofort, daß die Baronin Hammerriff aus einer ganz andern Lebenszone kam. Die beiden Brüder lebten auf ihrem väterlichen Gut halb und halb in Verbannung. Ihr Dasein war ihnen sozusagen auf halbe Ration gesetzt. Sie hatten jahrelang das Drei- und Vierfache verbraucht. Nun mußten sie sich finanziell und körperlich etwas ausruhen. Was die Baronin, die Gattin von Fred, dem Älteren, anbetraf, so besaß sie etwas Gemeinsames mit dem Mädchen aus der Fremde: man wußte nicht, woher sie kam. Sie sollte eine Österreicherin sein, aus den Kronländern. Sie sprach aber ein Deutsch, das Dialektkundige auf Berlin N. taxierten. Jedenfalls stand auf ihren Visitenkarten: Nadine Freifrau v. Hammerriff geborene v. Brankayi. Vielleicht war sie das Kind einst vornehmer, dann heruntergekommener Ungarn, die das Schicksal nach Berlin verschlagen hatte. Denn darin waren alle einig: schließlich konnte Hammerriff doch nicht dulden, daß seine Gattin sich auf ihren Visitenkarten und bei ihren Briefunterschriften einen Adel anmaßte, der ihr nicht zukam. Auf so etwas hatte das Heroldsamt in Berlin ein allzu scharfes Auge.

Schön aber war Nadine Hammerriff; bleich, mit feurigen Augen und schwarzem Haar. Elegant war sie auch. Herdeke stellte aber bei sich fest, daß es ein vorigjähriges Kleid war, aus viel Spitzen und Chiffon und Schmelzstickerei; viel zu ballmäßig für die ländliche Hochzeit. Und dann betrug sich diese Baronin so seltsam vorsichtig, wie eine, die sich nicht ganz sicher fühlt und sich daher beständig selbst bewacht.

Desto sicherer und zwangloser gaben sich die Webers v. Pallau – die »geräuschvolle Familie«.

Also diese beiden Prachtkerle waren es gewesen, die sich nebenan so unerhört laut unterhielten!

Der ältere Herr, dem sein Frack ein bißchen zu eng war, ging etwas zerstreut im Hintergrund des Zimmers auf und ab und wühlte in seinem gelbblonden, wallenden Bart.

Er mußte hier gleich den Würdigen spielen. Das war doch etwas genierlicher als daheim in seinem Amtszimmer. Da lag schon das große Buch bereit, das Standesamtsregister, in das sich Graf Geyer und Anna v. Linstow als dann Verbundene einschreiben sollten. Ein paar angemessene Worte mußten noch vorher gesprochen sein. Das war so leicht, wenn's galt, einen Willem Schulz zu ermahnen, daß er seine erwählte Trine Böbs gut behandeln solle und sich vor dem verdammten Saufen in Acht nehmen möge. Aber wähle mal einer die passenden Worte, wenn ein Burchard Graf Geyer die schöne, junge Anna heiratet! Er, der bedeutendste Redner seiner Partei im Reichstag, und ein Großgrundbesitzer, der ihn, den alten Wolf Weber v. Pallau, ungefähr dreimal in die Tasche steckte. Ermahn' mal einer so'n überlegenen Mann, der vielleicht gar zwei, drei Jahr älter ist als man selbst – die Situation soll mal einer deixeln, ohne sich lächerlich zu machen! Der junge Wolf Weber v. Pallau glich seinem Vater, daß es beinahe komisch war. Ebenso groß und so breit und dabei sehr gut gewachsen. Eben solchen großen blonden Bart, nur besser gepflegt, wie es seiner stattlichen Jugend zukam. Eben solche grade Nase und solche großen Blauaugen, aus denen Temperament und Fröhlichkeit blitzten. Die gleiche schneeweiße Stirn, die von der Mütze vor den Einflüssen von Wind und Sonnenbrand geschützt blieb, während das übrige Gesicht vom Wetter bräunlich getönt war.

Herdeke wie Renate dachten bei dem Anblick dieses jungen Helden das gleiche: war dieser nicht wie vorbestimmt für Anna? Warum hatten die beiden sich nicht gefunden? War es denkbar, daß dieser junge Mensch der schönen Anna gegenüber gleichgültig geblieben war? Noch dazu bei der Nachbarschaft hier auf dem Lande, wo schon die Gelegenheit und der Mangel an Auswahl einen Jugendroman zwischen beiden hätte zeitigen müssen? Gab es geheimnisvolle Hindernisse, die ihn und sie verhinderten, zueinander zu kommen? Hatte er Anna geliebt? Oder sie ihn?

So grübelten und phantasierten die beiden alten Schwestern. Aber als Herdeke die leuchtende Männerschönheit des jungen Wolf länger beobachtete, kam sie zu einem beruhigenden Schluß. Der sah nicht nach unglücklicher Liebe aus und nicht nach Rätseln und nach Tragik. Der hatte etwas ebenso Durchsichtiges wie sein Vater. Und man konnte ihm eher zutrauen, daß er sich eine Braut mit Gewalt und Lachen entführte, als daß er leidvoll und schweigend zusähe, wie sie einem andern angetraut wurde.

Gottlob! dachte Gräfin Herdeke.

Diese Pallaus hatten so etwas Reinliches; auch der Mutter und Tochter strahlten Güte, Offenheit und Anständigkeit aus den Augen. Beide Damen waren etwas reichlich derb von Erscheinung, das ließ sich nicht leugnen. Die Mutter trug ein höchst wohlhabendes Kleid von dicker rot und schwarz geflammter Seide. Aber es hatte weder Schleppe, noch Spitzenschmuck und einen Schnitt wie ein Hauskleid. Brosche und Uhrkette, beides sehr in die Augen fallend, putzten die Taille wohl nach Meinung der Frau v. Pallau genug. Fräulein Ursula war in Himbeerrot, was zu ihren sehr roten Backen recht ungünstig stand. Im braunen, ungemein glatten Haar trug sie einige künstliche Blumen.

Mit dem letzten der im Zimmer Anwesenden, mit dem jüngeren Baron Hammerriff, war Herdeke gleich fertig: ein Lebemannstyp. Bloß ein tadelloser Frack, eine unerhört gut geschnittene Weste mit was drin, was sich für'n vornehmen Mann hält. Gott, wie jämmerlich!

Daß Anna an diesen Egon Hammerriff niemals als an eine für sie mögliche Partie gedacht haben konnte, verstand sich.

Wenn das nun die beiden einzigen Heiratsfähigen der Gegend waren – dieser Baron Egon und der junge Wolf? Dann hatte freilich Anna keine Auswahl gehabt. Und wenn sie gern heiraten wollte, mußte sie wohl die glänzende Gelegenheit ergreifen, die sich so unverhofft bot – – –

Die Uhr an der Wand schlug Zwölf. Alle Anwesenden verstummten.

Aber es verstrichen Minuten, und das Brautpaar kam nicht.

»Na, Linstow,« flüsterte Herdeke, »wo bleiben sie denn?«

Herr v. Linstow sagte: »Ja, ja.«

Er sah aus wie jemand, der sehr gesammelt an etwas Fernliegendes denkt und deshalb nicht genau den Sinn der Anrede versteht. Er war mehr als mittelgroß, ziemlich dick und hatte eine Glatze. Seine Züge, von Natur nicht unedel, waren etwas aufgeschwemmt.

Herdeke sah ihn mit etwas ungeduldigem Mitleid an. Hatte sie, seit ihrer Anwesenheit im Hause, wohl schon eine vernünftige Antwort von ihm bekommen?

Es kam ihr immer vor, als ob seine Gedanken wären wie ein Pferd im Trott, das man nicht aufhalten durfte, weil es nicht die Kraft besessen hätte, von neuem anzuziehen. Wenn sie einmal in Bewegung gesetzt waren, mußten sie in der eingeschlagenen Richtung bleiben, um sich nicht zu verwirren.

Mit dem Mann zusammenzuleben mußte eine ständige Geduldsprobe für die Seinen bedeuten.

Die Frau war vor zwei Jahren gestorben. Der Sohn schien nach dem Vater zu arten. Anna hatte es vielleicht, nachdem sie mutterlos geworden war, zwischen den beiden geistesträgen Männern nicht mehr ausgehalten.

Flieht sie von hier, weil sie das Leben sucht? dachte Herdeke plötzlich.

In diesem Augenblick tat sich die Tür vom Flur her auf, und gefolgt von den beiden Zeugen, dem älteren Hammerriff und Annas Bruder Donat, schritt das Brautpaar über die Schwelle.

Burchard Graf Geyer war ein großer Mann, imposant schon durch die Haltung, die er sich zu geben wußte, schlank und mit den regelmäßigen, vornehmen Zügen der Familie. Seine Augen waren dunkel. Sie blickten auch jetzt klar und geradeaus.

Graf Burchard hatte graues Haar; in noch völlig ungelichteter Fülle lag es wellig über der hohen Stirn. Der Schnurrbart bewahrte noch seine dunkle Farbe und gab durch diesen Gegensatz dem Gesicht etwas Kühnes und Jugendliches.

Anna v. Linstow blieb, obgleich sie eine schlanke, hohe Erscheinung war und immer als »groß« gegolten hatte, doch um mehr als einen halben Kopf unter der Größe ihres Verlobten.

Sie sah erregt aus. Man bemerkte es an der außerordentlichen Blässe ihres Gesichtes und an dem fieberhaften Glanz ihrer blauen Augen. In diesem weißen Gesicht fielen die blutroten, sehr schön gezeichneten Lippen merkwürdig auf.

Sie hat einen unheimlichen Mund, dachte Renate, so brennend, so üppig und doch so fest geschlossen.

Im übrigen fand Gräfin Renate die Erscheinung der Braut »stilvoll«. Der sehr einfache Schnitt des weißseidenen Kleides, der gediegene Stoff, die mächtige Schleppe zeigten einen sicheren Takt, Würde mit Pomp für die Gelegenheit passend zu vereinen. Auch gefiel es Renaten, daß der Schleier zwar das ganze blonde Haar und die ganze Gestalt in großen Falten umgab, aber das Gesicht frei ließ.

Gräfin Herdeke sah zunächst nur ihren Bruder, empfand nur seine Gegenwart. Sie lebte sein ganzes, stolzes Leben in diesem Augenblick nach. Und ihr erregtes Herz fragte: ist dies seines Lebens Krönung? bedeutet es sein Unglück?

Seit sie jene bitteren Leiden ihres einzigen, mit einer harten Entsagung endenden Liebesromans durchgekämpft und dann überwunden hatte, war der Bruder ihr Lebensinhalt geworden. Ihre Neigung ging weit hinaus über die Grenzen auch der hingebenden Schwesternliebe. Sie liebte in ihm ihren Vater, ihre Mutter weiter, er bedeutete für sie den Begriff »Familie«, zu welchem ihre Schwester Renate nur ein ganz nebensächliches Anhängsel bildete. Jeden Ehrgeiz, den sie sonst etwa für sich und einen Gatten gehabt haben würde, hegte sie nun für den Bruder.

Als er jung war, wählte sie unaufhörlich für ihn unter den Töchtern des hohen Adels die schönsten und reichsten und vermählte ihn in ihrer Phantasie. Wenn er einmal ein ernstes Interesse für diese oder jene junge Dame zu zeigen begann, förderte Herdeke die Sache gleich so übereifrig, daß entweder ihr Bruder oder die junge Dame den Geschmack daran verlor.

Sie war auch des Bruders Parteigenossin und fühlte »freikonservativ« bis in ihre letzten Gedanken hinein. Wenn eine Frau sich um Politik bekümmert, tut sie es gleich mit Leidenschaft. Herdeke zog aus der Lektüre erregter Reichstagsdebatten einen Genuß wie aus dem Besuch eines spannenden Dramas. Sie war auch des Bruders Kompagnon. Während Renate ihr hübsches Vermögen in preußischen Konsols angelegt und es nach und nach ganz aus dem Grundbesitz ihres Bruders herausgezogen hatte, wies Herdeke den Gedanken, sich auszahlen zu lassen, immer mit Entrüstung von sich. Sie genoß jeden wirtschaftlichen Erfolg mit Triumph. Kurzum, von allem, was das Leben nur heranspülen konnte an den Strand der Gegenwart, sollten die besten Güter, die glänzendsten gerade zu Burchards Füßen herankommen.

Und diesen heißbewunderten Bruder, dessen Dasein sie in solchem Liebeseifer nachlebte, den sah sie sich nun an ein Mädchen hingeben, von dessen Namen sogar sie alle vor einem Vierteljahr noch keine Ahnung gehabt hatten.

Die Tochter eines leidlich begüterten Landedelmannes, ein junges Ding von zwanzig Jahren, war nun schließlich diejenige geworden, welche sich diese viel ersehnte Stellung errang. Sie wurde Gräfin Geyer.

Herdeke fühlte sich von Erschütterung überwältigt. Tränen traten in ihre Augen, sie faltete die Hände und sah das Paar an.

Ihre Schwester Renate sah die Tränen und das Händefalten und dachte: Natürlich!

Tränen und Andacht hatte man sich doch bis zur kirchlichen Trauung aufzusparen. Hier waren sie mindestens geschmacklos.

Herdeke aber wartete nicht erst den Anblick des priesterlichen Ornates ab, um zu beten, sondern sie flehte mit kindlicher Inbrunst: Lieber Gott – weshalb Anna ihn auch heiratet, ob aus Liebe oder aus einem kalten, äußerlichen Grund – laß es gut enden! Denke an alle Leiden, die mir beschieden waren, und daß es mir nicht vergönnt wurde, mit meinem armen Bolko zusammenzukommen. Laß dafür Burchard sehr glücklich werden!

Das Brautpaar hatte sich dem Tisch genähert, hinter dem nun Herr Wolf Weber v. Pallau mit rotem Gesicht und gänzlich auseinandergesträubtem Bart stand.

Baron Fred Hammerriff, um eine Kleinigkeit frischer und weniger vornehm aussehend als sein Bruder, stand in einer Haltung voll undurchdringlichen Ernstes hinter dem Grafen Geyer. Die Sonne schien Herrn Fred gerade aufs Haupt und ließ die Sorgfalt erkennen, mit welcher die dunkelblonden Haare über die beginnende Lichtung oben auf dem Wirbel verteilt waren.

Hinter Anna stand ihr einziger Bruder Donat, ein überlanger blonder Mensch von weichlichem Ausdruck.

Alle Anwesenden waren voll Erwartung, wie Herr Weber v. Pallau sich aus der Affäre ziehen würde. Er tat es überraschend kurz und sachlich. Er beschränkte sich auf alles Vorgeschriebene. Dann unterschrieben das Paar und die Zeugen, und er füllte den Trauschein aus, um ihn mit einer etwas zu tiefen Verbeugung dem Grafen Burchard zu überreichen.

Nun war die bürgerliche Zeremonie zu Ende. Man verabredet, daß sich keinerlei Gratulation daran schließen, sondern daß das Paar und die Gäste sich gleich im Zuge nach nebenan begeben sollten, wo schon Pastor Lüdeke vor einem improvisierten Altar der Neuvermählten harrte.

Waldemar öffnete nun auch breit die Flügeltüren zur »besten Stube«, und zugleich ertönte von drinnen zur Klavierbegleitung ein plärrender Gesang. Ein Dutzend Schuljungen aus Pallau, in Sonntagskleidern, mit Notenblättern in verfrorenen Fäusten, standen in einer Ecke zusammengedrängt und sangen eifervoll und falsch, während der Küster am Klavier rechts vor der Wand, heftig mit dem Kopf nickend, seiner Schar den Takt angab.

Geradeaus vor einem weißumkleideten Altar, den Blumen und brennende Kerzen zierten, stand Pastor Lüdeke mit gefalteten Händen und wartete in einer Haltung voll beschaulicher Ruhe der Neuvermählten. Er machte keine Redensarten, gedachte mit einem guten Wort der verstorbenen Frau v. Linstow, und vor allen Dingen: er machte es kurz.

Dann kam das große Glückwünschen, das die Gestalt eines drangvollen Durcheinanders annahm. – Herr v. Linstow ließ sich von seinem imposanten Schwiegersohn umarmen und dachte geängstigt, daß er einige passende Worte sagen müsse, die er aber nicht fand. Dann küßte er seine Tochter, ward von Rührung plötzlich übermannt und wischte sich Tränen ab.

Herdeke und Renate umarmten und küßten das Paar. Auch die Pastorin und Frau v. Pallau umarmten Anna. Ursche v. Pallau aber hing lange laut schluchzend an Annas Hals.

Dieser Jammer ihrer Tochter rührte wieder Frau v. Pallau; weinend sagte sie: »Ja, sie sind doch zusammen aufgewachsen, und sie waren doch so befreundet! Und nun reißt das Leben sie auseinander.«

»Werd' und mach' glücklich, Anna!« sprach der junge Wolf v. Pallau, indem er ihr fest die Hand schüttelte, »und laß uns die Alten bleiben. Jugendfreundschaft! Dein Mann muß begreifen – das bindet.« »Sie werden in meinem Hause stets ein willkommener Gast sein; ich hoffe, daß Anna sich Fräulein Ursula und Sie recht bald einlädt,« sagte Graf Burchard verbindlich.

Dann setzte man sich zu Tisch. Rechts vom Paar der Pastor mit Gräfin Renate, links Gräfin Herdeke mit Herrn v. Linstow. Wenn es Herdeken auch einen Augenblick ärgerlich war, nicht neben ihrem Bruder zu sitzen, so begriff sie doch schnell den Vorteil, der darin lag, Herrn Weber v. Pallau, den Vater, an ihrer rechten Seite zu haben. Er war so mitteilsam und harmlos. Er sprach, ohne daß man mit vorsichtigen Fragen an ihn heranzuschleichen brauchte. Vielleicht kannte und beherrschte er auch gar kein andres Thema als seinen Beruf und den lieben Nächsten.

Es wurde schnell recht laut bei Tisch. Das leidlich lange Zimmer war gerade von der Hochzeitstafel gut ausgefüllt, auf der mehr und kostbareres altes Silber zu sehen war, als Herdeke erwartet hatte. Den köstlichen Blumenschmuck des Tisches hatten Herdeke und Renate aus Berlin schicken lassen.

Für die Familie Weber v. Pallau war es selbstverständlich, daß man sich auf einer Hochzeit amüsieren müsse. Sie sorgte denn auch in erster Linie für den fröhlichen Stimmenlärm. Wolf Sohn machte gewissermaßen der Baronin Hammerriff den Hof. Aber Herdeke beobachtete, daß diese ihrem Schwager Egon seltsam duldende und kokette Blicke zuwarf, als wollte sie sagen: Ich halte dies gezwungen aus, viel lieber säße ich bei dir.

Frau v. Pallau schrie der Pastorin eine Mitteilung über ihre Leuteköchin ins Ohr. Ursche hänselte ihren Tischnachbar Donat und wollte sich totlachen, weil er ihre Späße nicht immer gleich verstand.

Der Pastor ließ das Brautpaar leben. Sein Toast war eine wenig veränderte zweite Auflage seiner Traurede. Dann widmete er sich mit völliger Hingabe dem guten Essen.

Was für eine Hochzeit! Was für eine Hochzeit! dachte Renate und sah von der Seite ihren Bruder an.

Aber er saß unbefangen, freundlich, bemerkte scheinbar gar nichts Außergewöhnliches und sprach fast immer halblaut, in ritterlicher Haltung, gütig, doch nicht geschmacklos zärtlich mit seiner jungen Frau. Und Anna lächelte, freudig, aber doch mit einer gewissen Gelassenheit. Sie schien ihre Erregung besiegt zu haben. Sicher und stolz saß sie da, so schön wie noch nie.

»Donnerwetter,« sagte Herr Wolf v. Pallau Vater zu Herdeke, »so 'ne schöne Braut sieht man selten. Und was das Beste ist: glücklich sieht sie aus. Na, ich gönne ihr das. Meine arme Freundin, die Linstow, und meine Alte hatten sich ja immer ausgedacht, daß aus dem Wolf und der Anna ein Paar werden sollte. Das ist nu anders gekommen. Der Bengel hätt' sich ja auch nicht von fern an sie 'rangetraut. In der Jugendfreundschaft kann man gut Kamerad zusammen sein – das ist wieder was andres als heiraten. Und als Mann hätte er ja woll auch gar nicht zu ihr gepaßt ... Sie trinken ja nichts, Komtesse. Zu dem Rotspon können Sie dreist Vertrauen fassen ... ich hab' unsern Freund Linstow bei der Wahl beraten.«

»Danke,« sprach Herdeke und ließ sich ihr Glas füllen. »Aber warum hätten denn Ihr Herr Sohn und Anna nicht zusammen gepaßt?«

»Ach Gott,« meinte er fast entschuldigend, »wissen Sie – er ist ja mein Einziger und mein Stammhalter – er ist ein aufrechter Kerl, fleißig, tüchtig – klingt wunderbar, wenn 'n Vater so was sagt: ich acht' ihn, wie sonst keinen andern jungen Mann. Aber die Anna hat von klein an immer gesprochen, daß sie bloß einen ganz bedeutenden Mann nimmt, so einen, vor dem andre Männer sich als zweite Garnitur vorkommen. Na un so 'n Mann ist ja woll mein Junge nicht. Und dann auch: erstmal haben sie als Kinder sich schon mit all ihren Unarten gekannt; zweitens haben sie's immer gehört, daß sie mal Braut und Bräutigam werden sollten – und da war's ja von vornherein verpfuscht. Kein Reiz der Neuheit – keine Überraschungen. Wo soll da die Liebe herkommen! Und wo Anna was Extras ist und was Extras will.«

Also vielleicht in einer Anwandlung von Mädchenromantik hat sie meinen Bruder genommen, dachte Herdeke und sah die junge Frau an. Eines war gewiß, ihre Erscheinung und ihre ganze Art ließen sie als ein Wesen erkennen, das recht wenig zu ihrer ganzen Umgebung gepaßt haben mochte. Vielleicht war Anna ihrer Mutter nachgeraten. Die Frage ließ sich ohne Indiskretion tun.

Als Herr Wolf sein Rotweinglas wieder einmal in behaglich genußvollem Zuge langsam geleert hatte, fragte Herdeke: »Wie Sie begreifen werden, wollte ich Anna gestern und heut' morgen nicht noch unnötig weich machen durch Fragen nach ihrer Mutter, aber ich möchte wohl wissen, ob Anna ihrer Mutter sehr glich, und woran die Frau so früh starb.«