O Domina Mea - Adam Karrillon - E-Book

O Domina Mea E-Book

Adam Karrillon

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Beschreibung

Von 1907 bis 1909 entstand der dritte Roman "O domina mea", in den Karrillon Erfahrungen aus seiner Würzburger Studentenzeit und seinen ersten erfolglosen Jahren als junger Arzt einfließen ließ. Der Roman wurde ein großer Erfolg bei Kritikern und Publikum.

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Seitenzahl: 462

Veröffentlichungsjahr: 2012

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O Domina mea

Adam Karrillon

Inhalt:

Adam Karrillon – Biografie und Bibliografie

O Domina mea

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

O Domina Mea, Adam Karillon

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849628918

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Adam Karrillon – Biografie und Bibliografie

Deutscher Arzt und Schriftsteller, geboren am 12. Mai 1853 in Wald-Michelbach, verstorben am 16. September 1938 in Wiesbaden. Besuchte das Gymnasium in Mainz und studierte dort ab 1873 Medizin. Das Studium schloss er 1878 in Würzburg ab, es folgte 1879 die Promotion in Freiburg. K. begann als Arzt in seinem Geburtsort Wald-Michelbach zu wirken, von 1883 bis 1918 arbeitete er in Weinheim. Neben seinen Pflichten als Arzt reiste er sehr gerne und besuchte unter anderem die Schweiz, Italien, Griechenland, Dänemark, Norwegen, den Nahen Osten, Japan, China und Rußland. K. ist Träger des "Georg-Büchner-Preises", der für Verdienste um das künstlerische und geistige Leben in Hessen verliehen wird.

Wichtige Werke:

Eine moderne Kreuzfahrt (1898)Michael Hely (1900/1904)Die Mühle zu Husterloh (1906)domina mea (1908)Im Lande unserer Urenkel (1912)Adams Großvater (1917)Sechs Schwaben und ein halber (1919)Am Stammtisch zum faulen Hobel (1922)Erlebnisse eines Erdenbummlers (1923)Viljo Ronimus: Das Schicksal eines Kassenarztes (1925)Windschiefe Gestalten (1927)Meine Argonautenfahrt (1929)Es waren einmal drei Gesellen (1933)Der Rosenstock (1935)

O Domina mea

Erstes Kapitel

Innocenz Lorum hing den Schläger an die Wand und wühlte sich ein Loch in einen Bücherhaufen. Da saß er nun vor seinem Schreibtisch wie in einem Steinbruch. Jede Aussicht war ihm verlegt. Das war nicht immer so gewesen. Der Bruder Studio hatte bis heute mittag im Innern der Stadt gewohnt und hatte als vis-à-vis eine schöne Metzgerstochter gehabt, die oft am Fenster saß und strickte und mit braunglitzernden Augen neugierig über die Straße sah. Auch machte sie mit dem fleißigen Zeigefinger über den Stricknadeln allerlei schöne Hieroglyphen, deren Deutung dem Jüngling viel Zeit wegnahm. So war Innocenz an Jahren ein Mann geworden, während seine Weisheit noch in den Kinderschuhen lief.

Alles mußte nun anders werden. Das von den Eltern ererbte Geld war zu einem winzigen Häuflein zusammengeschmolzen. Dem Ausgeben mußte ein Einnehmen folgen. Hinter dem taufrischen Kanaan lag das trockene Land der Philister, in dem der Sauerkohl reifen sollte und die Kartoffel. Zwischen diese poesiearmen Nutzpflanzen wollte und mußte Innocenz. Aber der Weg führte durch das Dornengestrüpp eines Examens, in dem schon mancher zerkratzt und blutig hängen geblieben war. ›Das soll mir nicht begegnen,‹ dachte der junge Mann und warf den flimmernden Tand des Studentenlebens entschlossen hinter sich. So war er herausgezogen aus dem lärmenden Zentrum der Stadt in die Stille eines Vorstadthinterhauses und saß gleich in der ersten Stunde über seinen Büchern wie die Henne über den Eiern. Nicht einmal den Blick erhob er über die wohlgeordnete Phalanx der Zeilen aus Angst vor der Metzgerstochter und ihrem berückenden Bilde, das noch immer verführerisch lockend vor ihm in den Lüften schwebte.

Erst als es Abend geworden und manche schwere Erkenntnis mit sauerem Schweiß erkauft war, trat der mutige Forscher ans Fenster und sah in die dämmermatte, warme Abendluft hinein.

Der bläuliche Rauch niedriger Schornsteine trug den Geruch von Knoblauch und Hammeltalg unter seine Nase. Innocenz wehrte sich nicht gegen dies Aroma. Das war so der Armeleutegeruch, mit dem er künftig wohl zusammenleben mußte, denn sein Vater, ein Postbeamter mit großem Titel aber geringem Einkommen, hatte ihm keine Millionen hinterlassen. ›Viele verbogene Treppen hinauf, über ausgetretene Türschwellen und vermoderten Fußboden hinweg, würde er sich voraussichtlich sein Auskommen suchen müssen,‹ so dachte der angehende Arzt und betrachtete mit teilnahmvollem Interesse die buckligen Dächer, die mit ihren Moosziegeln förmlich ineinander hineinkrochen. Das war ein wildes Durcheinander von Giebeln, Dachfirsten und windschiefen Mansarden, deren Geburtstag weit vor der Erfindung des Richtscheites zurückzuliegen schien. Nur ganz da drüben, den Wirrwarr jäh durchschneidend, stand ein großer, öder Bau mit schnurgeraden Linien steif und pedantisch da. Alle seine Lichtöffnungen waren mit den dichten Quadraten einer eisernen Drillage überkleidet und verrieten, daß das Haus vielleicht die Dependance der Herberge zur Gerechtigkeit sein möchte, in welcher armen Teufeln Kost und Beleuchtung vom gutmütigen Staate umsonst gestellt werden.

Indessen war es dunkel geworden und hier und da flammte hinter papierverklebten Scheiben ein mattes Licht auf an buckligen Fensterkreuzen. Da dachte Innocenz bei sinkendem Tage zum ersten Male nicht an die sangesfrohe Kneipe, sondern ans Schlafengehen und wühlte in dem Kleinkram seines Koffers nach einem Nachthemd. Plötzlich verstrickten sich seine Finger in ein feines Kettchen und er zog daran. Da kam's zum Vorschein, klein und winzig und doch allerliebst, und weckte alte Erinnerungen. Eine blinkende Medaille war's an goldenem Kettchen, die ihm einst die Mutter auf dem Sterbebett um den Hals gelegt hatte, als er kaum der Schule entwachsen war. Er hatte sie getragen bis zu jener Stunde, wo er zum ersten Male die Männerbrust dem Säbel seines Gegners zeigte. Damals hatte er das Amulett verschämt und heimlich in die Tasche geschoben. Er fürchtete den Spott der anderen. Heute, wo sein Lebensweg eine andere Richtung nahm, konnte er das Ding wieder anlegen. Zwar glaubte er längst nicht mehr an seine Wunderkraft, aber es konnte ihn zuweilen an die liebe Tote erinnern, und so warf er das Kettchen um den Hals und die Medaille hüpfte auf dem weichen Fell seines Busens, in dessen behaartes Dunkel sich eine breite, feurige Narbe verkroch.

›Was da nicht alles zusammenkommt,‹ dachte Innocenz und lächelte. ›Die Spuren rohen Faustrechts und naiven Kinderglaubens, beides auf einer Menschenbrust.‹ Er schüttelte lächelnd den Kopf und kramte weiter.

Da fischte er ein kleines Gebetbuch: den ›Kongreganistenspiegel‹. Es war noch neu und ungebraucht. Als er das Kolleg verließ und zur Universität ging, hatte es ihm der ehrwürdige Jesuitenpater mit den asketischen Zügen im kahlen Bekennergesicht in die Tasche gesteckt.

"Du wirst eine Zeitlang wenig Geschmack an frommer Betrachtung finden," hatte er gesagt, "aber stecke das Gebet nicht ganz auf. Jeden Sonntagmorgen schlage das Büchlein auf und suche die erhabene Stelle, die da beginnt: O domina mea, o mater mea, und denke an das liebe Marienantlitz in der Nikolauskapelle, vor dem du so oft dein Sprüchlein gesprochen hast. Sie, die Himmelskönigin, sieht dann auf dich und wird dir die Hand reichen, dich aufzurichten, wenn du gefallen bist, denn auch du wirst straucheln und am Boden liegen. Der Weg zum Leuchtturm wahrer Erkenntnis geht durch eine brausend gefährliche Brandung. Wehe dem Schiffer, der ganz ohne Kompaß in den Nebel des Aufruhrs steuert."

So hatte der Jesuitenpater einst gesagt. Innocenz wußte noch jedes seiner Worte, und doch hatte er seit Jahren nicht mehr an jene Abschiedsrede gedacht. Ja, nun lag auch vor ihm der Nebel, der alle Zusammengehörigkeit der Dinge auflöst und jeden auf sich selber stellt. Wie würde er sich zurechtfinden in der feuchten Finsternis des Lebens, die über Schlünde und Klippen ihren grauen Mantel wirft!

Innocenz zog seinen Wecker auf, legte sich zur Ruhe und verschlief sein Zagen. Noch ehe die Sonne da war, ermunterten ihn ihre vorausgeschickten Messingstrahlen zur Arbeit. Er erhob sich von seinem Lager. Warmer Brodem stieg von der Erde auf und wälzte sich zum Fenster herein, denn es war Hochsommer. Der Student reckte mit Behagen die mächtigen Glieder und ließ sich im Nachthemd an seinem Schreibtisch nieder. Hier, hoch über den Giebeln, gab es keine Metzgerstochter, der seine unverhüllte Kraft zum Ärgernis werden konnte. Zu ihm herein blickten nur die Schwalben, die kreischend durch den blauen Äther schossen, und ein mausender Kater, der bei seinem Weg über die Hohlziegel an seiner partiellen Nacktheit keinen Anstoß nahm. Im Katerauge lag vielmehr eine gönnerhafte Herablassung, als ob der Graue sich beim Anblick dieses Menschenkindes erinnere, daß seine Katzenvorfahren einst im Ägypterlande göttliche Verehrung genossen. Innocenz änderte aber auch diesem erhabenen Katerpedigree gegenüber in nichts seine Haltung, streckte sich vielmehr und dachte: ›Schade, daß unsere Stammeltern uns um das Glück der Nacktheit gebracht haben. Kinder und junge Mäuse haben's noch und sind lustig, und unsereiner könnte es brauchen, es studiert sich prächtig dabei,‹ und er vergrub den Kopf in beide Handteller und fing zu büffeln an.

Er war noch nicht sehr weit gekommen, als er einige Worte hörte, die vom Himmel zu fallen schienen.

"Du da in deinem Hemd, hör' doch und gib Antwort!" rief eine Männerstimme. "Kannst du mir sagen, ob's heut ein Freitag ist?"

Innocenz trat ans Fenster und sah verwundert ins Leere hinaus. Er prüfte jede Dachluke, jedes Giebelfenster um sich her und suchte, ob nicht etwa aus einem Kamin – von allen Möglichkeiten die wahrscheinlichste – der schwarze Kopf eines Schornsteinfegers auftauchen möchte. Es war alles umsonst, er fand niemand.

Indessen fuhr die Stimme fort: "Eine Wurst an einen Faden gebunden ginge gerade noch hier durch das Eisengitter und wäre eine prächtige Sache für einen, der schon seit vierzehn Tagen an der Fastenkost eines alten Kommißbrotes nagt. Bei Gott, ich würde sie hinunterwürgen, und wenn ihre Haut aus zweiundfünfzig Freitags-Todsünden gearbeitet wäre." Der Student riß die Augen weiter auf und ließ sie nun mit systematischer Gründlichkeit über Wände und Dächer gleiten. An jedem fehlenden Ziegel verweilte er und an jedem Loche, das die Ratten aus den lehmigen Riegelwänden gekratzt hatten. Es war alles umsonst. Wer zum ersten Male vor einem Grammophon steht, kann nicht verwunderter sein, als es Innocenz war. Hatte irgendeiner dieser geschnitzten Balkenköpfe die Sprache gefunden und redete zu ihm?

Auch der Kater drüben auf dem Dache war aufmerksam geworden. Er machte einen Buckel, drehte dem Studenten das Hinterteil zu und schlug mit dem Schwanze einige verwegene Durchzieher in die schieferblaue Morgenluft. Bald aber duckte er sich zum Sprung, streckte den Kopf weit vor und taxierte den Raumabstand zwischen sich und einem fernen Gegenstand.

Innocenz folgte der Blickrichtung des Tieres und sah nun drüben an dem Fenstergitter etwas, was sich wie ein Wieselkopf duckte und wieder aufstand, zu lauern schien und sich wieder versteckte. Ein Fernglas brachte die richtige Deutung. Es waren Menschenfinger, die durch Zeichen um Verständnis und Beistand flehten. Innocenz holte einen Karton und schrieb mit Pinselstrichen darauf: ›Sobald es dunkel wird!‹ Dann warf er dem Kater einen Wurstzipfel zu, den dieser mit den Pfoten auffing, setzte sich über seine Bücher und arbeitete. Alles war wieder still. Der Briefträger beantwortete später die Frage: Was das da drüben für ein Haus sei, mit: "Ein Militärgefängnis." Das klärte die Situation für den Einsiedler unterm Giebeldach.

Es kam der Abend und kleidete die Welt in schwarze Tüllstoffe. Auf der Bude des Studenten brannte zunächst kein Licht, dann mit einem Male flammten drei kleine Reste von Christbaumkerzen auf, die auf einer Semmel staken. Das war das Fanale, das die Aufmerksamkeit der Empfangsstation wachrufen sollte. Ein durch die Zähne getriebener Pfiff meldete: "Verstanden!"

Innocenz machte sich nun auf die Sohlen und kaufte ein. Mit Zigarren und Wurst ausgerüstet kam er vor dem Gefängnis an und merkte, daß er auf Stroh trat. Bald stieß sein Fuß in dem weichen Wirrsal an einen harten Gegenstand, der Laut gab: "Hund, ich könnte dir alle Knochen im Leibe zerbrechen," klang es vom Boden herauf. "Glaubst du, ich habe das Stroh zusammengetragen, damit du dich hier einlogierst? Lieber will ich es auffressen, als ob ich ein richtiger Esel wäre."

"Ruhig," flüsterte Innocenz dem Pennbruder zu, "wenn du schweigen kannst, dann fällt etwas für dich ab," und er klopfte mit dem Hausschlüssel dreimal an die Mauer. Stille ringsum.

Da mit einem Male war es dem Studenten, als ob ihm ein Nachtfalter um die Ohren stiege. Er griff nach dem Schwärmer und erfaßte einen Zettel, der an einem Faden niederhing. Die gleiche Schnur, die das Briefchen gebracht hatte, trug etwas Mundvorrat in die Höhe. Der Mann am Boden hatte sich indessen erhoben und forschte: "Kennt Ihr den da oben?"

"Eigentlich nicht," war die Antwort, "aber er ist ein Gefangener."

"Da Ihr so viel für einen Fremden wagt, müßt Ihr ein guter Kerl sein. Notabene, an mir hätte die nächste Ronde einen besoffenen Strolch gefunden, aber was an Euch? O ja, gut und dumm wachsen paarweise auf einem Stiel wie die Haselnüsse."

"Bei Gott, Ihr habt recht, so weit hatte ich nicht gedacht. Hoffentlich ist die Schuld des Eingesperrten nicht derart, daß ich meinen Schritt bereuen möchte."

"Eine Kleinigkeit. Von ihm hüpfen die Hände wie vom Zigeuner die Flöh. Er hat einen Rekruten hinter die Ohren geschlagen. Ich müßte noch drei Wochen über den Jüngsten Tag hinaus in die Ewigkeit hinein sitzen, wenn ich wegen jeder Ohrfeige eingelocht worden wäre."

"Seid Ihr mit ihm verwandt?" setzte Innocenz die Unterhaltung fort.

"Das nicht, aber ich kenne ihn – wenn auch von keiner guten Seite – von Kindsbeinen auf, und als ich vorhin pfeifen hörte, notabene, da wußt' ich gleich, auf welchem Ast der Vogel sitzt."

"So hattet Ihr die Absicht, ihm beizuspringen, und ich bin Euch zuvorgekommen?"

"Ja," sagte der Fremde, bog in ein Seitengäßchen und verschwand. Innocenz ging mit seinem Briefe einem Restaurant zu. Seine frohe Seele hatte keine Ahnung davon, daß heute abend das Schicksal den ersten dünnen Faden eines mächtigen Narrenseiles gesponnen hatte, an dem es ihn von einem Leid zum andern schleppen konnte. Hätte der Mann an der Gefängnismauer seine Drohung wahr gemacht und ihm wirklich einige Knochen zerschlagen, er hätte als Krüppel an einer Krücke immer noch leidlich bequem durchs Leben humpeln können und wäre glücklicher gewesen, als er es nun wurde.

Zweites Kapitel

Auf dem Wege nach der Weinstube der Mutter Gutbrot in der Semmelgasse plagte unseren jungen Mann die Neugierde. Er wollte gern wissen, welches Geheimnis er in der Tasche mit sich herumtrug. War es der mutige Plan zur Flucht über eine Strickleiter in die goldene Freiheit, oder war es der feige Schelmenstreich, verriegelte Türen mit einem goldenen Schlüssel zu öffnen? Einerlei, der Gedanke schon, daß ihm in einem gefährlich-kühnen Unternehmen eine Rolle zugedacht sei, erfüllte den Springinsfeld mit Aufregung. So trat er unter eine Straßenlaterne und erbrach das Kuvert. Der Inhalt des Schreibens war nüchtern genug:

"Zu Hause mögen sie jetzt geschlachtet haben. Bringe mir, guter Freund, diesen Brief zu meiner schönen Base Käthchen Sommertag in der Taubhausmühle zu Birkenried. Du wirst Dir einen Gotteslohn verdienen und der Himmel möge Dir einen satten Feldwebel schenken, wenn Du noch nicht gedient hast, damit Du allein essen kannst, was eine gute Seele Dir zusteckt."

Innocenz war von dem prosaischen Kern seines Verschwörergeheimnisses wie vor den Kopf geschlagen. ›Warum nicht gar,‹ dachte er, ›zwei Stunden über eine kahle Höhe nach Birkenried, um von einem Käthchen Sommertag in einer alten Zeitung zwei Leber- und eine Rotwurst in Empfang zu nehmen! Wenn Innocenz Lorum so gutmütig wäre, dann verdiente er, in Speck gewickelt und gebraten zu werden wie ein Feldhuhn. Daraus wird nichts,‹ und er schob den Brief in die Tasche und ging weiter.

Doch damit war's nicht abgetan. Der süße Name Käthchen Sommertag regte ihn auf, und daß die Trägerin dieses Namens schön sei, das stand ja auch in dem Schreiben. Glich sie wohl der Metzgerstochter aus der Altstadt, oder hatte sie das liebe Gesicht der Gottesmutter in der Nikolauskapelle? Um den Mund herum da brauchte sie nicht gar so himmlisch rein zu sein, dort liebte Innocenz eine kleine Schattierung Sinnlichkeit. Auch vom Kinn nach abwärts bevorzugte er das Irdische. Eine bauschige Schürze, die sich über zwei Lilienhügeln und einem Tale Tempe wölbt, und weiche Hüften, wie die der Venus anadiomene, waren Dinge, die er schätzte. So klebte und leimte seine rege Phantasie alles, was er Schönes und Liebes kannte, um das Skelett der Buchstaben, die den Klang Käthchen Sommertag ausmachten, und wäre vielleicht ein Praxiteles geworden, wenn nicht die Auslage eines Metzgers, mit Schinken und Hammelskeulen geschmackvoll garniert, seine Phantasie in die Prosa des Lebens zurückgerufen hätte.

›Also Leberwürste würde ihm dies Engelsbild überreichen und den Auftrag, dem Vetter auszurichten, daß er ein Taugenichts sei, der wieder einmal für die Folgen eines dummen Streiches büße? Nein, es war doch zu dumm, daß sich Innocenz von den Angelegenheiten fremder Leute narren ließ.‹ Er packte sich an der Brust und schüttelte sich gewaltsam aus der Überspanntheit seiner Träume auf das Straßenpflaster unter hungrige Passanten, die an ihm vorüberrannten und es alle eilig hatten.

Mutter Gutbrot hatte heute im Topfe Kuttelfleck, ein Gericht, das regelmäßig außer der Semmelgasse noch drei benachbarte Straßen zu wilder Begeisterung weckte und einen Kreuzzug emeritierter Subalternbeamter nach dem Gnadenorte ihrer Weinstube in Szene setzte.

Man muß die Inbrunst gesehen haben, mit der Leute, die nie geklagt haben, auch über schlechte Gehälter nicht, dieses Manna aus Kuhmagen, mit Heurigem vermischt, über die unverwöhnten Zungen rutschen ließen, um zu begreifen, daß Innocenz Lorum von der Stimmung angesteckt wurde, hastig ins Restaurant trat, sich breit niedersetzte und gleich den anderen mit gekrümmtem Rücken wie ein Holzknecht zu futtern begann. Käthchen Sommertag war vom Hunger verjagt. Doch nicht für immer. Sie kam wieder, als Innocenz nach Hause ging, schlief noch nicht, als dieser schlief, sondern wandelte mit frommem Gesicht bis zum Tagesgrauen durch seine Träume. Als der Bursche erwachte, war er sich darüber klar, daß er einen halben Tag seinen Studien abzwacken könne, und daß es Christenpflicht sei, einem armen Gefangenen einen Gefallen zu erweisen.

Also machte er sich am Nachmittag daran und wechselte seine Kleider, nahm den Weg unter die Füße und holte bald einen Wanderer ein, der seine Habe, in ein Sacktuch verpackt, an einem Knotenstock über die Schulter trug.

"Wohin des Weges?" fragte Innocenz.

"Aber Birkenried hinaus nach dem Holderhofe!" war die trockene Antwort des Fremden.

"So könnten wir ein gutes Stück zusammengehen?"

"Ja, wenn Ihr Euch lebhaft vorstellen könnt, wie einem zumute ist, der Blasen an den Füßen hat und in einem Schuhwerk marschieren muß, das durchlöchert ist wie eine Mausefalle," sagte der Fremde, "sonst nicht."

Innocenz mäßigte seine Gangart und kam so allmählich mit seinem Reisegenossen auf gleiche Höhe und in ein erträglich nachbarliches Verhältnis. Wer auf der Straße lebt, hat keinen Namen, sondern nur ein Schicksal, das jede Legitimation ersetzt, beim Hunger anfängt und bei der Arbeit endet. So erfuhr Innocenz bald, daß sein Wandergenosse seit drei Tagen nichts Warmes gegessen habe und daß er in dem Holderhof Arbeit suche. Fand sich die, so war's gut; wenn nicht, dann hieß es, den Schmachtriemen um den Leib noch etwas fester anziehen, daß die Magenwände näher aneinander kamen und sich gegenseitig trösten konnten. Diese Dinge, mit Selbstverständlichkeit erzählt, rührten Innocenz, und er bat den Fremden, daß er in der nächsten Herberge sein Gast sein möchte. Der Mann musterte den Studenten mit weiten, hungerigen Augen von oben bis unten, lächelte ein wenig und sagte: "Euer Anerbieten rettet einem Bauer einige Weißrüben, denn wißt, soeben war ich im Begriff, mich in einen Rübenacker zu stürzen, um wie das liebe Vieh bei Mutter Grün zu dinieren. Was mag nur der Schöpfer gedacht haben, als er unsereinem die Fleischzähne wachsen ließ? Doch nun bleibt's dabei. Ich bin Euer Gast, und mein Dank soll sein, daß ich Euch in ein Gasthaus bringe, wie es auf dem Wege von Frankfurt nach Nürnberg kein zweites gibt. Der Wirt heißt Sommertag, und ich würde jeden zu Tode prügeln, der behauptet, daß er diesen Namen nicht verdient."

Innocenz hörte aufmerksam zu und fragte: "Sommertag heißt der Wirt, seid Ihr dessen sicher?"

"Ich will eine Rübe nicht von einem Kürbis unterscheiden können, wenn dem nicht so ist, und eine Tochter hat er, so klar wie Sonnenschein."

"Also hinein in den Sommertag und zu dem Mädel, das Euch wohl ins Herz geschienen hat," scherzte Innocenz und schritt rüstig voran. Der andere schnupperte mit der Nase in der Luft herum, als ob er schon den Duft einer Mahlzeit röche, vergaß seine wunden Füße und folgte dem Studenten auf den Fersen. Ackerlänge um Ackerlänge floh rechts und links hinter die Wanderer und bald saßen beide auf reingescheuerten Bänken in einer getäfelten Wirtsstube, und ihre Schuhe knirschten auf dem weißen Streusand des Bodens.

"Ich höre Stimmen in der Küche," sagte der Stromer, "doch die des Mädels nicht. Wenn sie nicht kocht, dann ist es, als ob das Essen nur halb geschmälzt wäre. Ich will lieber auf eine Sonntagspredigt verzichten, als auf ihre Gegenwart am Herde, wenn der Kochtopf singt."

Während sie noch so sprachen, kam von der Küche her zuerst ein leiser Luftzug, dann das Geräusch wallender Röcke, und mit einem Male stand vor den Augen der Gäste Käthchen Sommertag, schlank wie eine Fichte und blühend wie das junge Morgenrot. Innocenz Lorum erschrak erst vor so viel Schönheit, wurde aber dann ganz Auge. Alle seine Sinne drängten sich in demselben zusammen, machten es verlangend und fast gefährlich. Also doch, da stand sie ja leibhaftig, die Allerseligste aus der Nikolauskapelle, nur nicht ganz so anbetungswürdig, mehr angrifflich, mehr herzens- und küssenswert. Und doch konnte Innocenz den Mund nicht bewegen, bis ein Rippenstoß des hungerigen Gesellen an seiner Seite die Starrheit seines Wesens löste. Er machte eine Bestellung.

Auch dem Mädchen war die Zeit nicht lange geworden. Ihr hungerndes Auge ging in den männlich starken Zügen des Innocenz Lorum auf einer fetten Weide. Nur ungern und zögernd wendete sie sich ab, ihre Gäste zu bedienen, und selbst beim Weggehen klebte ihre zarte Hand noch an der Tischkante, während ihre Füße dem Schenktisch zustrebten.

Man hörte in der Küche Teller klappern, und bald dufteten Schüsseln vor unseren Wanderern. Junge Liebe und alter Kummer sind Feinde des Appetites. Innocenz bekam von der ganzen Mahlzeit kaum mehr in sich hinein, als eine klare Vorstellung, daß Käthchen eine gute Köchin sei. Je weniger seine Zähne arbeiteten, um so eifriger schuf seine Phantasie an einem Bilde, in dessen Mitte ein trauliches Herdfeuer eine dunkle Küche erleuchtete und einen Rosaschimmer auf ein allerliebstes Gesicht warf – auf das Gesicht von Käthchen Sommertag, die ihren arbeitsmüden Mann erwartete. Abendstimmung lag über dem Ganzen. Noch ein Gespräch auf der Bank vor dem Hause und ein Hinaushorchen in das weite Land, aus dem von fernher das Sensendengeln rief, dann der Weg zu zweien in die stille Kammer.

Während Innocenz träumte, wachte sein Begleiter für zwei und aß für fünf. Dem Konsistenten folgte das Flüssige literweise nach und erregte ein weithin hörbares Plätschern in dem geräumigen Stromermagen. Es schien, als ob der Vielfraß es auf die Vernichtung alles Bestehenden abgesehen habe. Innocenz mußte dem Greuel ein Ende machen, oder um seinen Geldbeutel zum mindesten war es geschehen. Daß das hors d 'œuvre einiger Weißrüben nicht zustande gekommen war, mußte dem Studenten teuer zu stehen kommen. Verlegen neigte sich Innocenz ein wenig nach der Seite und suchte mit der Hand in der rechten Hosentasche. Er fand nichts. Als er das gleiche Manöver auf der linken Seite seines Körpers mit dem gleichen negativen Resultat ausgeführt hatte, verfärbte er sich einen Augenblick und fuhr mit verlegenen Griffen an seinen Rocktaschen herum.

Der Schnurrant, der jede dieser Bewegungen mit Kennerblick verfolgt hatte, flüsterte halblaut durch die Zähne: "Aha, in denen Hosen kein Geld, und zu Haus keine Hosen! Nun serviert uns der Hausknecht den Nachtisch mit ungegerbter Lohrinde direkt auf den Buckel, wenn sich Käthchen nicht erbarmt. Es ist eine nichtsnutzige Welt. Kaum hat man sich vollgestopft, so klopfen sie einen wieder leer. Eine halbe Meile von hier auf dem Holderhof ist zur Stunde ein gesünderes Klima. Ich wollte, ich wäre dort," und er warf einen flüchtigen Blick nach seinem Bündel, das in der Nähe der Stubentür hing, während seine Mütze fast von selber unter seinem Wams den Buckel hinaufkroch.

"Sollte nicht eine Kuh bei Euch sich losgemacht haben?" rief er besorgt dem Käthchen Sommertag zu. "Mich dünkt, ich höre eine Kette rascheln."

In der Tat, das Mädchen verließ seinen Sitz am Schenktisch und eilte durch die Hintertür.

"Ich denke, es genügt von jetzt ab einer, um die Gesellschaft mit beschränkter Haftpflicht würdig zu repräsentieren," sagte der Stromer gespreizt. "Notabene, über mein Anteil an der Dividende mögt Ihr beliebig verfügen. O ja, mit Großartigkeit gelingt manches. Hochzeit gemacht, und dem Pfarrer einen Knopf in den Klingelbeutel. Ich empfehl' mich Euer Gnaden!" und er erhob sich, langte sein Bündel herunter und verschwand auf weichen Sohlen hinter der Tür, die keinen Laut von sich gab und unhörbar ins Schloß klappte.

Diese Rede beschämte den Studenten, das ›Notabene‹ aber in seiner öfteren Wiederholung machte ihn stutzig. Das Wort war ihm gestern abend an dem Pennbruder aufgefallen. Sollte jener und der Entschwundene ein und dieselbe Person sein?

Käthchen Sommertag war unbemerkt näher getreten und sagte, um die Aufmerksamkeit ihres Gastes zu erregen: "Sie sind allein?"

"Ja," war die schüchterne Antwort, "aber wer war es, der hier bei mir saß?"

"Ich denke, er hat es Ihnen selbst gesagt. Die Leute nennen ihn den Notabeneoja, eigentlich heißt er Pankraz Überdies. Er ist ein halber Künstler und ein halber Tunichtgut, von vielem etwas, doch nichts ganz, aber treu wie ein Hund. Von Zeit zu Zeit muß er ein Paar Sohlen auf der Landstraße zertreten, dann kommt er heim und arbeitet für drei. Nun wird er wohl auf dem Holderhof Arbeit suchen und willkommen sein. Balduin Hebenstreit, mein Vetter, dem das Gut gehört, dient in der Garnisonstadt sein Jahr ab."

"Dann hab' ich einen Brief von seinem Herrn an Ihre Adresse, mein Fräulein!" sagte Innocenz, "und das ist alles, was ich besitze, abgesehen von einem Herzen, das Ihnen gut ist; denn ich habe leider meine Geldbörse zu Hause gelassen und muß Ihr Schuldner bleiben."

"Ihr habt ein Schelmengesicht und seht schon so aus, als ob Ihr ein töricht Mädchen zweimal betrügen könntet. Ihr seid ein Schmeichler, doch verzeih' ich Euch, und daß Ihr in meinem Schuldbuch bleibt, ist mir angenehm, weil Ihr dann wiederkommen müßt."

Diese Worte machten Innocenz kühner. Er stellte sich und goß schimmernden Blickes die ganze zitternde Sehnsucht seines Herzens zum ersten Male in ein mondscheinweiches Mädchenauge.

"So darf ich wiederkommen!" sagte er und preßte die Hand von Käthchen Sommertag in der seinen, "wiederkommen, auch wenn die Botschaft, die ich von Eurem Vetter bringe, keine gute scheint?"

"Ich hoffe, es wird nichts Arges sein, um meines Vaters willen, der sein Vormund ist."

"Nicht gerade. Er ist mein Nachbar geworden und hat wie ich eine hübsche Aussicht über viele Dächer, wennschon seine Sehachse erst durch eiserne Gardinen muß."

"So hat man ihn eingesteckt. Ach, es war ja zu erwarten, daß er die strenge Ordnung des Kasernenlebens nicht ertragen werde. Wißt Ihr, was er verbrochen hat?"

"Was wird's wohl sein? Zwei Minuten nach dem Zapfenstreich am Kasernentor, oder die Knöpfe nicht blank geputzt, oder einem, der im Wege stand, auf die Hühneraugen getreten. Beim Soldaten braucht's nicht viel, um ihn ins Loch zu bringen."

"Oder einem andern auf die Hühneraugen getreten, mit dem Absatz den Rücken massiert oder mit der Faust die Wange gestreichelt, bis ein Ohr herunterhing. Da haben wir's. Ihm hängen die Hände zu lose am Körper. Was wird der Vater sagen? Nein, es ist unerhört, was er dem guten, kranken Vater nicht alles für Sorge bereitet. Und dann die Schande für die Familie." Käthchen seufzte bedrückt und verließ die Stube.

Innocenz blieb allein zurück, verdrossen und ärgerlich, daß Käthchen ihn verlassen hatte. ›Was doch die Leute für einen Kultus treiben mit ihrer Familienehre, als ob heutzutage nicht jeder zum mindesten einen Kommerzienrat und einen Zuchthäusler in der Verwandtschaft hätte,‹ dachte er. ›Nun sieht sie ihren Vetter wohl schon vor geladenen Flinten Abschied nehmen von Vollheringen und Rollmöpsen, die seine Zeitgenossen waren, und sich und ihre Kindeskinder geschändet bis ins vierte Glied. Sie wird nicht wiederkommen.‹ Der Gedanke machte ihn bitter. Er hätte die Welt vergiften mögen, und doch öffnete er das Fenster und ließ eine Wespe hinaus, damit sie in ihrer Sehnsucht nach der Ätherbläue sich nicht das Hirn einrenne.

Vielleicht, daß der Bruder Studio doch noch eine Zeitlang auf die Rückkehr des Mädchens gewartet hätte. Aber da kam hinter ihm lärmend und tobend ein Dackel ins Zimmer gerannt, tat so, als ob er Handwerksburschen verschlingen könne, trampelte auf sein Recht pochend mit den Vorderfüßen auf, behauptete laut bellend allerlei und stolperte darüber, schimpfte, drehte sich um den eigenen Schwanz und schien durchaus nicht einsehen zu können, welchen Zweck die Gegenwart eines geputzten Städters in der Taubhausmühle haben könne.

Da beschloß Innocenz nachzugeben und er nahm seinen Hut vom Nagel. Als er aus dem Zimmer wollte, vertrat ihm eine Magd mit einem Paket in der Hand den Weg. "Das Fräulein läßt bitten," sprach sie mit einer linkischen Verbeugung.

›Statt des Mädchens die Würste,‹ dachte der Student und er hätte sie am liebsten dem Köter ins Genick geworfen. Doch er besann sich noch rechtzeitig. Er durfte den Faden nicht durchschneiden, an dem ihn das Geschick nach Birkenried geführt hatte und noch führen konnte. Käthchen Sommertag konnte nach trüben Stunden wieder heiter und freundlich werden. Mit diesem Troste trat er den Rückweg nach der Stadt an.

Ein Trupp Soldaten kam von einer Felddienstübung und stolperte verstaubt und müde an dem Studenten vorüber. Da war nicht einer, der nicht die Wurst gerochen hätte. Alle hoben sie die Nasen wie Hühnerhunde vor einer Rebhuhnkette.

"Bei Muttern gewesen und den Ranzen geflickt!" rief einer aus dem Glied.

"Heh, Alter, das hält wohl bis zum Barbaratag und macht gut Wetter bei den Vorgesetzten," bemerkte ein anderer.

"Wenn das der Feldwebel riecht, steigt der Kasernenbarometer auf ›heiter‹," so kreischte ein dritter.

Wer keinen Einfall hatte, um ihn auszuspielen, lachte im vielstimmigen Chorus mit auf Kosten Lorums, der sich recht klein und geschlagen vorkam. Es gehört schon ein gutes Stück Lebensphilosophie dazu, das Lachen seiner Mitmenschen zu ertragen. Bis jetzt hatte ihm die Gutmütigkeit noch wenig schöne Früchte getragen. Innocenz zog sich verärgert aus der Staubwolke zurück, die sich unter den Soldatentritten hervorwölbte und das fahle Licht verdunkelte, das von der schmalen Silbersichel des Neumondes sparsam über die Felder rieselte.

›Wenn nur der Balduin Hebenstreit nicht zu lange eingesperrt bleibt,‹ dachte er, nachdem er seine Gedanken wieder gesammelt hatte, ›sonst werde ich mir ein Hundefuhrwerk anschaffen müssen wie eine Botenfrau und ein Paternosterwerk wie ein Bauunternehmer.‹

›Geschieht dir übrigens recht‹ bemerkte boshaft eine fremde Stimme in ihm, ›was brauchst du dich um Dinge zu kümmern, die dich nichts angehn.‹

›Nichts angehn,‹ antwortete eine andere ›als ob einen der Vetter seiner Braut nichts anginge.‹

Der Halbverliebte lachte über den dummen Einfall, aber er dachte doch mit warmer Innigkeit darüber nach, daß es eine schöne Sache sei, so ein Käthchen Sommertag alle Tage um sich zu haben, mit den Ellenbogen ihre Taille zu streifen und zu fühlen, wie ihre Röcke einem um die eigenen Knöchel fächeln.

Innocenz war auf der Höhe über der Stadt angekommen und sah aus dem wallenden Brodem, der sie umwogte, einige Lichter wie verliebte Mädchenaugen lockend zu sich heraufblinzeln, wurde zielsicher und ging mit rascheren Schritten die Steige hinunter. Nicht lange, so brannten drei Weihnachtskerzen auf einer Semmel, die Semaphorlaterne stand auf "freie Fahrt" und Blut- und Leberwürste stiegen andachtsvoll und schweigend empor zu dem, der über dem Getriebe des Lebens in Einsamkeit im Äther schmachtete.

Als Innocenz nach vollbrachter Tat im Bette lag, war es ihm wie einem Kätzchen, das den Kanarienvogel verspeist hat. Er wußte, daß er etwas Unrechtes getan, etwas, was gegen die gottgewollte Ordnung schwer verstieß, und doch er konnte keine rechte Reue finden, und auch der Vorsatz, es nicht wieder zu tun, war wie ein Anker, der keinen Boden findet, nutzlos in die Tiefe geworfen. Sein Schifflein schaukelte auf den gaukelnden Wellen der Liebe an einer Lurelei vorüber, die ihn mit magischen Kräften an sich zog, auch da, wo sie ihn scheinbar floh, und er hatte das Steuer losgelassen und trieb stromab ohne die Warnungstafeln zu beachten, die von der strompolizeilichen Vorsehung zu seinem Schutze errichtet waren. Innocenz versuchte es zuletzt mit Beten. Aber als er das Gebet sprach: "O domina mea, o mater mea, tibi me totum offero," drängte sich in seine Vorstellung herein das Bild von Käthchen Sommertag und der Sinn der Worte nahm etwas trivial Albernes an und klang fast wie ein Heiratsantrag.

Drittes Kapitel

Als der Student am nächsten Morgen erwachte, glaubte er einen Grund mehr zu haben, fleißig zu sein und sprang mit beiden Füßen aus dem Bett. Ein Schwarm von Sperlingen, der in den Zweigen einer alten Ulme dem jungen Tag entgegen lärmte, lockte ihn, einen Blick ins Freie zu werfen. Da gewahrte er, wie drüben unter dem Fenster des Gefangenen der gefleckte Kater auf der Erde saß und als Lohn für seine Vermittlerrolle ein reiches Frühstück von Wursthäuten zusammenlas. ›Bei jedem Geschäft,‹ so grübelte der junge Mann, ›pflegt für einen Dritten etwas abzufallen, dem Kater die Wursthaut und mir?‹ – – –

Er dachte den Satz nicht ganz zu Ende, sondern setzte sich nieder und vergrub den Kopf in mächtige Folianten, fest entschlossen, des Mädchens nicht eher wieder zu gedenken, als bis der Vetter wieder hungrig sein und von ihm einen zweiten Botengang verlangen würde.

So gingen zwei Wochen hin, ohne daß die Finger sich gezeigt hätten, und schon fürchtete Innocenz, daß der Gefangene ausquartiert sei. Dem war nicht so. Eines Morgens sah der Mansardenbewohner am Fenster drüben eine leere Wursthaut an ein Lineal gebunden im Winde flattern und sah den Kater, der verlangenden Blickes vom Giebel eines Schuppens nach der leckeren Beute schielte. Zuweilen duckte er sich, als ob er der Dachfirst das Kreuz eindrücken wollte, dann wieder richtete er sich plötzlich hoch auf, als ob er fürchte, ein Windstoß könne den leckeren Bissen über seinen Kopf hinweg ins Weite tragen. Zuletzt aber zog er unter bedauerlichem Maunzen ab. ›Nun wird es Zeit, daß auch ich gehe,‹ dachte der Student, sorgte dafür, daß er diesmal seinen Geldbeutel nicht vergesse, und wanderte aus den schlafenden Straßen, in denen soeben die ersten, mit den Bäckerjungen den Höfen entsprungenen Hunde sich Morgenvisiten machten.

Wie er die Steige hinaufschritt, liefen die Klänge der Morgenglocken hinter ihm her, holten ihn ein und umhüllten ihn mit wogenden Wellen, in denen seine liebende Seele tanzte wie Kork auf dem Wasser. Nie noch war er seiner Zukunft so sicher wie jetzt. Solch ein Examen war schon Tausenden gelungen, die dümmer waren als er, und lag die Schulbank hinter ihm, wie die Eierschale hinter dem Rebhuhn, dann würde er wie dieses schon laufen können die Furchen des Lebens entlang und auch querfeldein, um zu erhaschen, was der Hunger heischt und des Lebens Notdurft. Alles erschien so leicht, so selbstverständlich, so glänzend wie das Morgenrot, das den Gipfel des Berges küßte, dem Innocenz Lorum entgegenschritt. Ob er heute wohl schon mit dem geliebten Mädchen ein bindendes Wort reden werde? Wohl kaum. Er gedachte sich an ihrem Anblick zu freuen, jede Linie ihres Leibes in seine Seele zu drücken wie in weiches Wachs, sich wärmen zu lassen von dem Feuer ihrer Blicke, dann heimzukehren mit dem Klischee eines Engelsbildes, das er rufen könne, wenn er nach ihm verlange, damit es bei ihm sitze und seine Arbeit segne. Von wimmelnden Liebesgöttern wie auf einer lichten Rosenwolke getragen, kam endlich Innocenz vor der Taubhausmühle an und trat in das dämmernde Dunkel der Wirtsstube.

In einer muffigen Kanasteratmosphäre saß an einem der Tische ein Überbleibsel vom Tage vorher, drückte sich die Nase glatt in Bierresten, schlief und schnarchte dazu. Dieser Anblick stürzte unseren Freund aus dem Strahlenglanz seines Himmels in ein tiefes Mitleid mit Käthchen Sommertag, die dem Anblick solcher Gesunkenheit nicht aus dem Wege gehen konnte. Er fühlte in sich ein Erwachen wie zu einer heiligen Pflicht. Eine Perle mußte er aus dem Schlamm heben. Dieser Menschenblüte mußte er einen anderen Platz an der Sonne verschaffen.

Da trat sie herein in Morgenfrische erglänzend. Doch der Strahl ihres Auges wurde plötzlich stumpf und trübe, und eine mit Ekel gemischte Verdrossenheit überzog die Heitere ihres Gesichtes, wie der Rauch eines Fabrikschlotes den Morgenhimmel. Ihr ward, als ob sie zu einem Besen greifen müßte, um diesen Haufen moralischen Unrates hinauszukehren in die Gosse, wo die Enten über ihn watscheln mochten, wenn sie keine Rücksicht nehmen wollten auf die Reinlichkeit ihres Schuhwerkes.

Innocenz war ein feiner Beobachter und las aus dem Gesichte des Mädchens heraus, wie sie die Schande der Menschheit, von der auf jeden ein Teilchen abfällt, in seiner Gegenwart schwerer trug, weil sie fürchten mochte, daß ihr Wert in seinen Augen sinken könne. Er reichte ihr die Hand, zog sie nach dem Fenster und sagte schalkhaft: "Ich hoffte, Sie würden dem ein freundliches Gesicht zeigen, der gekommen ist, um zu bezahlen, was Sie wohl schon für verloren hielten!"

"Sie machen sich lustig über mich, und Sie müssen doch fühlen, daß ich mich vor Ihnen schäme. Was werden Sie von einem Hause denken, in dem man so was duldet? Der dort ist einer, der sich übernimmt, wenn er eine mitleidige Seele findet, die für ihn zahlt; so kommt er zuweilen zu einem Rausch. Der Vater ist zu gut, um ihn vor die Tür zu setzen, und doch ist mir sein Anblick hier fast unerträglich. Haben Sie Zeit?" sprach sie mit einer plötzlichen Wendung des Gespräches und sah Innocenz mit flehendem Auge an, daß er nicht "nein" sagen möge. Der tat es auch nicht, sondern ließ sich von einer weichen Mädchenhand in den Hof führen und einen Rechen auf die Schulter legen. "Sie können Ihre Schuld abverdienen," sagte Käthchen wohlgelaunt, "und kriegen noch was obendrein, wenn Sie sich geschickt zeigen in der Heuernte –" und sie schritt an der Seite des Studenten zum Tore hinaus.

Die Leute auf der Straße sahen den modisch gekleideten Städter mit dem Rechen über der Schulter verwundert an, dachten, ob der wohl die Suppe verdiene und gingen lächelnd ihren Geschäften nach. Hunde kamen, fühlten die Dissonanz zwischen dem Rechen und seinem Träger und riefen in allen Tönen der Hundesprache in die Höfe hinein: "Ein Rechendieb, ein Rechendieb!" Gänse, die den Alarmruf hörten, eilten herbei und suchten Innocenz an den Hosenbeinen festzuhalten. Hätte man den Maharadschah von ganz Vorderindien in all seiner Pracht durchs Dorf getragen, er hätte kaum mehr Aufsehen erregen können als Innocenz mit seinem Rechen. Der Barbier riß das Fenster auf und rief seinem Nachbar zu, er glaube, daß wir demnächst einen Meteorfall erleben würden, der Mann, der soeben vorbeigegangen sei, sehe schon danach aus, als ob er die Sterne vom Himmel herunterrechen könne.

Je verlegener Innocenz übrigens dreinschaute, um so aufgeheiterter wurde Käthchen. "Man wird Sie wohl für einen Fulder Drescher nehmen! Alle guten Geister! Da kommt auch schon der Kreisphysikus Wakernagel gesteckelt, um für zwei Groschen nachzusehen, ob Sie geimpft sind," so scherzte das lose Mädchen und setzte mit einem graziösen Sprunge über den Chausseegraben hinüber in den weichen Wiesenteppich hinein. Innocenz hinterher. Zart und mollig lief es sich da wie über den Rücken einer Heideschnucke, und der elastisch federnde Wiesengrund warf die Zwei in die Höhe, wie Federn von spielenden Kindern in die Luft geblasen. So kam das Paar dem Wagen nahe, der von schaumigen Wolken duftenden Heues umlagert war. Gescheckte Kühe standen um den Segen und fraßen mit greifenden Zungen einen Tunnel hinein. Niemand wehrte ihnen. In fröhlicher Schaffenslaune hatte Valentin der Kühbub seinen Rock abgeworfen und griff in Hemdsärmeln nach der Gabel, um dem Großknecht zuzutragen, der auf dem Wagen stand.

Die Gabel war das Werkzeug der Männer, weil sie Kraft erforderte, während der Rechen in der Hand der Frauen mehr spielend tat, was auch nicht entbehrt werden konnte, den Segen häufte und dem nachging, was in kleinen Büscheln hinter Gräben und Maulwurfshügeln geblieben war. Innocenz hatte sich eine Gabel ausgesucht.

"Denkt, daß Ihr keine Kerze tragt in der Prozession, Ihr müßt mit beiden Händen zulangen und nicht wie die Barbiere mit zwei Fingern!" höhnte der Großknecht, und die Zuhörer lachten, lachten mit überlegenem Selbstbewußtsein, weil sie an dem Neuling sahen, daß auch ihr Tun eine Kunst ist, die gelernt sein will. Der Student aber achtete des leisen Spottes nicht, er verdoppelte nur seine Anstrengungen. Die Mägde sahen mit Vergnügen, wie sich die Lenden des Jünglings strafften unter der Last des Heubündels über seinem Haupte und wie die Muskeln seiner Schenkel härter und eiserner hervortraten. Sie stießen einander mit den Ellenbogen und ließen vielsagende Blicke von Innocenz Lorum zu Käthchen Sommertag schweifen. Blicke, die ein förmliches Gespinst flochten um zwei Menschen, ein Netz, wie es die Spinne um ihre Beute webt.

Die Schatten des Morgens waren kürzer geworden. Die Sonne schoß mit feurigen Pfeilen ins Tal herunter. Die Menschen liefen der Kühle des Bächleins zu und nach den Erlenbüschen, die sein Ufer säumten. Dem Dorfe zu schwankte der Heuwagen und verschwand hinter dem ersten Hause, voran die Kühe mit bedächtigem, fast andachtsvollem Schritt. Aller Blicke waren fragend und fast ängstlich der Fuhre gefolgt bis zu der harten Glätte der Chaussee. Denn, was der Fleiß vieler Menschenhände geschaffen hatte, konnte eine kleine Hamsterfamilie vernichten, in deren Haus ein Wagenrad versank. Nun aber war die Gefahr vorüber. Der Wagen war auf festem Untergrund, schon auf dem Pflaster. Man hörte es am lauten Schlagen der Achsen. Und doch noch immer hingen die Blicke aller am Eingange des Dorfes. Erwartete man etwas von daher? Jedenfalls, und soeben kam auch etwas. Die Buttergretel, ein halber Dilltapp war's, mit einem Korbe auf dem Kopf, über dem sich ein weißes Leintuch im unruhigen Luftzug vielversprechend blähte. Die Knechte griffen nach ihren Hosentaschen, holten ihre Messer hervor und kratzten mit dem Daumennagel die Brotkrume herunter, die noch von früheren Mahlzeiten an der Klinge klebte. Die Mägde setzten sich steifer, spreizten die Schenkel auseinander und formten zwischen ihnen in den Schürzen einen leicht gehöhlten Tisch. Ganz ohne Verabredung hatte man sich im Kreise gelagert und ehrfurchtsvoll in der Mitte eine hochheilige Stätte freigelassen zur Aufnahme des Korbes, den die plattfüßige Buttergretel nicht ohne frommen Seufzer niedersetzte, um die Hülle zu entfernen. Ein allgemeines "Ach!" befreite sich aus den Herzen der Zuschauer beim Anblick einer mächtigen Zinnschüssel und ihres Inhaltes. Dicke Milch, die Sorbeta des Nordländers in den heißen Sommermonaten, und der Rahm noch darüber, steif wie Pergamentpapier und daneben Stücke schwarzen Brotes, fast kantig zugespitzt wie Steinbeile. Ach, welch ein Regen gab es jetzt in allen Zungen, welch ein Wandern des Löffels vom Mund zum Rande der Schüssel, welch selbstverständlich Greifen nach dem Schoße der Mägde, in dem das Brot lag und anderes. Wer seinen Glauben verloren hat an naive Harmlosigkeit und seinen Appetit, der komme und stärke beides am Anblick eines solchen ländlichen Mahles.

Innocenz lag neben Käthchen Sommertag und pickte sein Brot aus ihrem Schoß, anfangs scheu und mit verlegenen Griffen. Als er aber dem Mädchen ins Antlitz sah und nirgends jene Röte merkte, die so fromm tun kann und doch nur verrät, daß Feuer irgendwo ist, wo besser keines wäre, da wurde er fast heimisch in der Gegend ihrer Kniee und holte seine Nahrung unverzagt und ohne Nebengedanken von des Mädchens Schürze wie die Hühner aus der Fuhrmannskrippe.

Als die Magen zufrieden waren, wanderten die Augen über die geschorene Wiese hin den letzten Häusern des Dorfes zu, wo soeben wieder die Kühe erschienen, den leeren Wagen hinter sich herziehend. Sie kamen ohne Führer zielsicher und mit eiligen Schritten wie die Schneeschipper, wenn es zum Essen geht. Auch der Grund ihres Eifers war der gleiche, denn ihnen war ja der Tisch in der Wiese gedeckt. Gefräßig stapften sie mitten in den Heuhaufen hinein und achteten dessen nicht, was sie mit den Füßen zertraten. Der Großknecht kam und brachte ihnen mit dem Peitschenstiel auf die gefräßigen Mäuler Lebensart und Manieren bei. Käthchen trat herzu und tröstete die Gestraften mit Schmeichelworten, während sie ihnen streichelnd durchs Fell fuhr. Die Braune war starrköpfig. Käthchen faßte sie beim Horn und mit energischem Gesichtsausdruck zwang sie die Widerwillige zum Gehorsam. In diesem Augenblick glaubte Innocenz ein Bild aus der germanischen Urzeit vor sich zu haben und eines jener blonden Weiber zu sehen, wie sie im Triumphzug des Germanicus den verweichlichten Römern so bestrickend in die Augen stachen. Außer dem Studenten hatte übrigens niemand das Mädchen und sein Tun beachtet. Ein jeder war an seinem Geschäfte. Die Wiese sollte heute sauber werden, denn schon stach die Herbstzeitlose aus dem Boden, wollte den blauen Kelch auf dünnem Stengel in die Lüfte heben und die Blätter entfalten.

Schon ging dem einen oder anderen des Gesindes die Arbeit aus. Die Rechen hingen am Wiesbaum und die Gabeln staken in den Seiten des Heuwagens. Da legten die Kühe die breiten Stirnen in die Joche, stemmten die sehnigen Beine an den Boden und machten den ersten Schritt. Der Ladeknecht auf dem Wiesbaum tat einen leichten Schrei, schwankte, fiel und glitt an der Flanke des Wagens über das weiche Heu zur Erde. Niemand nahm sein Mißgeschick tragisch. Die Näherstehenden lachten und er selbst rettete sich mit der Bemerkung: "So hätt's nicht pressiert, ich wäre ohnedies gleich abgestiegen," vor Spott.

"Schade, daß er sich nicht ein wenig beschädigt hat," sagte Käthchen neckend zu Innocenz, "wir hätten dann vielleicht gesehen, ob Sie in Ihrem Berufe ebenso tüchtig sind wie als Heumacher."

"Besser so," widersprach der Angeredete, "sonst hätte mich wohl der Chirurge zum Dorf hinausgeprügelt, weil ich ihm ins Handwerk gepfuscht," und er schritt neben dem Mädchen her, mit Absicht so nahe, daß ihre Röcke im Gehen seine Knöchel fächelten und daß ein kleiner unsicherer Schritt ihre Hüften sich berühren ließ.

"Seid Ihr fertig?" riefen die Leute auf der Straße den Heimkehrenden zu. "Bis aufs beste, was noch nachkommt, den Ernteschmaus," antworteten diese und zogen die Nasen hoch, als ob sie schon den Braten röchen, den Käthchens Mutter derweilen zu Hause bereitet hatte. Für Innocenz hatte man im Herrenstüble eine Tischecke gedeckt. Doch er wollte dies nicht, ihm schmeckte es besser am Gesindetisch unter all den Menschen, denen das Essen eine heilige Pflicht ist, wie Gebet und Sabbatheiligung. Der Student fühlte sich wohl inmitten all der gewissenhaften Esser, aber er konnte nicht warten, bis der obligate Handkäs wie das Siegel auf dem Brief vor einem jeden auf dem Teller lag. Schon blickte die Dämmerung mit schläfrig trüben Augen durch die Scheiben, und sein Weg war noch weit.

Käthchen Sommertag hatte ihm auf seine wiederholten Fragen nach der Höhe seiner alten Zeche noch keine Antwort gegeben, aber sie hatte sich erhoben und war neben ihm durchs Zimmer geschritten. An der Tür zum Hofe wäre für sie eine schickliche Gelegenheit gewesen, Abschied zu nehmen. Sie ließ sie unbenutzt. Sie schritt neben ihrem Gaste auf das Pflaster hinaus, obwohl dessen Steine holprig waren und alt und die Gefahr nahe legten, daß man stolpern und ein Bein verrenken könne. Sie kam zum Hintertürchen, mußte aufschließen und ihren Begleiter auf eine hohe Schwelle aufmerksam machen, über die man fallen konnte, wenn man die Augen so wenig am Boden hatte wie er. Wer rechtlich denkt, achtet die Absicht seines Vorgängers und verriegelt das wieder, was jener in weiser Berücksichtigung verschiedener Möglichkeiten verschlossen hat. Käthchen Sommertag tat auch das nicht, ließ die Türe offen stehen und begleitete ihren Gast noch bis zur Gartenecke. Dort stand ein unheimlicher Holunderbaum, der mit überhängenden Zweigen ein Versteck schuf für lauernde Wegelagerer. Hatte Käthchen ganz das Grausen verlernt, daß sie gerade da an der verrufenen Stelle stehen blieb und schier harmlos zu ihrem Begleiter sagte: "Sie fragten, was Sie schuldig wären? Sie haben Ihre Schuld abverdient und ich denke, Sie bekommen noch etwas heraus."

"Zahlen Sie in Naturalien und nicht in Geld," sagte Innocenz, von dem plötzlich alle Schüchternheit gewichen war, "so bin ich bereit, zu empfangen" und er spitzte ein wenig den Mund und hielt ihn seiner Begleiterin entgegen.

"Nicht doch," wehrte diese, "am Quartalschluß vielleicht, wenn Sie sich bis dahin gut führen. Aber hier haben Sie ein kleines Paket. Nur die eine Hälfte seines Inhaltes ist für meinen lustigen Vetter, die andere ist für Sie," und Käthchen Sommertag drückte dem jungen Manne zärtlich die Hand und verschwand zögernd mit kleinen Schritten in der Pforte, denn ihr war's, als ob sie etwas freigebiger hätte sein können, als sie gewesen war.

Innocenz Lorum schritt, vom Glücke in ein Paradies gezaubert, im Mondlicht verklärt über die einsame Bergeshöhe und hörte dem Gesang der Grillen zu, die aus Erikabüschen zwischen Steingeröll ihr Lied sangen. Aus ihm heraus hörte er die Stimme der Natur, die sich ihm, dem Stadtkinde mit dem blöden, überstäubten Sinne, entschleiern wollte. Was hatte er von der schönen Gottesnatur seither gehabt? Als der Sohn eines Postbeamten hinter dem Glasverschlag einer Vierzimmerwohnung im fünften Stockwerk geboren, hatte er durch die Hinterfenster in einen finstern Schacht hinuntergeblickt, den man den Hof nannte, und dem Teppichklopfen zugehört, das da unaufhörlich zu seiner Höhe herauftrommelte. Durch die Vorderfenster überschaute er eine ganze Reihe schadhafter Dächer mit Mansardengiebeln, vor deren Scheiben blühende Geranien und zerrissene Kinderwäsche in malerischer Abwechslung ein Bild kleinbürgerlicher, halbverhungerter Genügsamkeit hinzeichneten. Sein Schulweg führte ihn durch enge Gassen, in denen die Auslage eines Holzschuhmachers abwechselte mit einem Haufen Grünzeug, das auf einem Schubkarren, die Passage sperrte. Dann kam am Ende der Gasse hinter einem nüchternen Kiesplatz der prosaische Backsteinbau des Gymnasiums mit seinem höhnenden Echo im Stiegenhause, seinen bellenden Schulstuben und den erbärmlich grünen Wänden, die ins Unendliche zu steigen schienen. So sah der Ort aus, wo man die Stirnen formt für künftige Lorbeerkronen. Und dann das Auswendiglernen all der fremdsprachlichen Vokabeln! Wie in ein Zuchthaus wurden sie ins Gehirn hereingetrieben, ach und immer lag neben dem Hunde der Knüppel. So reihte sich wie ein Rosenkranz aus Holzperlen eine Woche an die andere und nur selten kam das Glück, daß ein dienstfreier Sonntag des Vaters das ermüdende Einerlei der "Gegrüßet seist du, Maria" mit dem "Vaterunser" eines Spazierganges über den Fluß oder nach dem nahen Schenkenschloß unterbrach. So war's durch die Jahre der Kindheit gegangen, bis es noch schlechter kam. Der Vater war krank geworden und gestorben. Viel kleine Beamte mit blechernen Verdienstmedaillen auf der Brust folgten seinem Sarge, aber auch der Landrat war unter ihnen, und das war so schön; so schön war auch das Grab im Schatten einer Traueresche, daß in der Mutter eine wilde Sehnsucht nach Frieden erwachte. Ihr Körper war nur noch der Schattenriß dessen, was er einst gewesen. Sie schwebte, legte sich nieder und starb. Innocenz war, als dies geschah, bereits am Ende seiner Gymnasialstudien.

Was lag vor ihm? Immer und immer wieder nur Säle, in denen man angesporte Weisheit predigte und durch den Tubus des Mikroskops die Welt im kleinen betrachtete, während die Welt im großen draußen lag wie ein unentdecktes Land. Ein Bummel durch die benachbarten Bierdörfer wurde besprochen wie eine Reise nach Hindostan. Und doch lag in dem Jüngling der beißende Hunger nach den Horizonten. Auf einem Pferde über die träge Scholle fliegen und den Körper auf Bergeshöhen in der Morgenröte baden, das war der faustische Drang, der in dem Stadtkinde kochte. Das Übermaß schwellender Kraft verlangte nach Betätigung. Dem Sturme die Stirne bieten, zwischen zitternden Baumriesen im Gewitterdunkel den Heimweg suchen und zu wissen, daß es irgendwo ein Licht gibt, das auf uns wartet, und eine Seele, die für uns bangt und betet, das war's, was das Leben wert machte, gelebt zu werden, danach hatte sich Innocenz gesehnt. And nun war das alles nahe gerückt, ja über ihn gefallen, wie ein warmer Maienregen. War's da ein Wunder, daß seine Seele jauchzte, während seine Füße tanzten wie jene Davids vor der Bundeslade!

Innocenz war wie in einem Traume über die Höhe gekommen und stand im Dunkel seines Mansardenzimmers. Im Dunkel zog er sich aus. Er fürchtete durch die Helle die schöne Fata Morgana zu verscheuchen, die funkelnd vor seinen Augen stand. Zwei breitgestirnte Kuhköpfe und eine Heldenjungfrau, die sie meisterte. "O domina mea" flüsterte er, als sein Haupt auf den Kissen lag, und schlief ein.

Viertes Kapitel

Ein unerhört heißer August brütete über dem Lande.

Es war, als wenn die Sonne den Bierbrauern die Malzdarre ersparen wolle. Der Stengel trug die schwer geladene Gerstenähre nicht mehr und sie brach ab, sobald der Binder sie in Garben raffte. Der Bauer kam zu kurz, aber die Stare hatten es gut. Ganze Wolken schmausten in den Feldern und löschten ihren Durst in den strotzenden Weinbergen.

In den Straßen der Stadt glühte das Pflaster wie ein ausgespieener Lavastrom, die Schiefer flimmerten und die Katzen liefen auf den Krallen, wenn ihr Räuberhandwerk sie zwang, über die Dächer zu wandern. Ein Drittel der städtischen Bevölkerung lag in dem halb ausgetrockneten Fluß und machte Barben und Schleien den Besitz des Schlammes streitig.

Innocenz in seiner Mansardenwohnung litt unsäglich. Der leichteste Schirting war der Haut noch zu warm. Nur die frühen Morgen- und späten Abendstunden brachten einige Erleichterung und sie wurden eifrig benutzt, um das Gehirn bis in den vierten Ventrikel hinein mit anatomischen und pathologischen Bildern vollzustopfen. Über Tag weilte der Student in den kühlen Kreuzgewölben des Spitals. Wenn des Abends die lechzenden Trinker nach den Kellern strebten, wagte er es, seine Sternwarte aufzusuchen. Da saß er vor dem Tisch in einer wahren Einsiedelei. Nicht den Verwegensten konnte die Lust anwandeln, zu ihm emporzusteigen. Vor dieses Wagnis hatten die Götter den Schweiß gestellt.

Trotzdem. Eines Abends klopfte es und der Student rief: "Herein!"

Die Tür sprang so weit auf, daß man ein Petroleumfaß hätte hereinwälzen können, und doch auf der Schwelle erschien nur ein schmales Kerlchen in Chevauxlegeruniform mit dem Einjährigenschnürchen an der Achselklappe. Der Miles gloriosus schlug die Hacken stramm widereinander, hob die Hand an die Mütze und sagte in militärisch kurzem Ton: "Balduin Hebenstreit, Einjährig-Freiwilliger beim Königlich" ...

"Schon recht," unterbrach ihn Innocenz, "und was verschafft mir die Ehre?"

"Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen, daß ich Sie vor einigen Wochen so respektlos auf mich aufmerksam gemacht habe und zu danken dafür, daß Ihre gefahrvolle Güte mir seither Dienste geleistet hat, die ich nie von Ihnen hätte verlangen sollen."

Innocenz lachte, drückte den Krieger auf einen Stuhl nieder und sagte belustigt: "Ja wissen Sie denn nicht, mein Lieber, daß Armeelieferanten als Kommerzienräte zu endigen pflegen? Vielleicht waren meine Dienste garnicht so selbstlos, wie sie Ihnen scheinen. Könnte ich nicht vielleicht einen erheblichen Prozentsatz der gelieferten Ware als Zwischenhändler in die Tasche gesteckt haben?"

"Tut nichts," sagte der Soldat, "ein richtiger Kaufmann nimmt Skonto und Gratifikation, wie es fällt, und macht am Ende des Geschäftsjahres noch auf Kosten der Aktionäre ein Essen mit Austern, Kaviar und dergleichen mit; nicht wahr, mein Verehrtester? Sehen Sie, so denke ich und weil ich so denke, so habe ich mir erlaubt, Sie zu überraschen."

Ohne nun eine Antwort weiter abzuwarten, ging der Krieger vor die Tür und kam mit zwei Flaschen Wein wieder und einer Zeitung, die aber diesmal Substantielleres enthielt als die Weisheit eines Redakteurs oder den Witz irgendeines Feuilletonisten.

Das Bemühen des Soldaten, einen Pfropfenzieher aus seiner Tasche zu holen, um eine der Flaschen zu entkorken, lehnte Innocenz ab, doch nicht so energisch, daß jener von seinem Beginnen abgestanden wäre.

"Sie wären imstande gewesen, mir ein Trinkgeld anzubieten," sprach der Student, "wenn Sie mich für fähig gehalten hätten, es anzunehmen. Nun kommen Sie mit Mundvorrat als Versucher, um mir den Lohn abzuhandeln, der jeder guten Tat versprochen ist. Doch, ich sage Ihnen, daß ich bereits ausbezahlt bin, mehr wie reichlich. Bin ich doch durch Sie zu Menschen gekommen, deren Bekanntschaft mir mehr wert ist als Geld und der Inhalt der besten Flasche."