Erlebnisse eines Erdenbummlers - Adam Karrillon - E-Book

Erlebnisse eines Erdenbummlers E-Book

Adam Karrillon

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Beschreibung

Adam Karrillon war ein deutscher Arzt und Schriftsteller, der durch Heimatromane aus dem Odenwald sowie Reiseerzählungen bekannt wurde. Er lebte lange Zeit in Weinheim an der Bergstraße, wo er 1923 Ehrenbürger wurde, und war im selben Jahr erster Träger des Georg-Büchner-Preises. Dies ist seine Autobiografie.

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Seitenzahl: 426

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Erlebnisse eines Erdenbummlers

Adam Karrillon

Inhalt:

Adam Karrillon – Biografie und Bibliografie

Erlebnisse eines Erdenbummlers

Mein erster Erdentag

Weiter auf der Rutschbahn des Lebens

Ein Himbeererlebnis

Beginn der Ruhmeslaufbahn

Strenge Lehrjahre

Es steht ein Wirtshaus an der Lahn

Die Würzburger Glöckle haben e wunderschön's Geläut

"Zur alten Heimat geh' ich ein"

"Muß selber nun Philister sein"

Wieder unter den Studenten

Drei Jahre hinterm Donnersberg

"Muß i denn, muß i denn zum Städtele 'naus"

"Es regt sich was im Odenwald"

Ein erster Flug vom Neste

Weiter in der Tretmühle des Lebens

"Auf die Berge will ich steigen,  Lachend auf euch niederschauen."

"Den lieben langen Tag  Hab' ich nur Sorg' und Plag'."

"Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?"

"Ohne Sorg' durch Dick und Dünn  Strampelt er durchs Dasein hin."

"Fern im Süd das schöne Spanien"

Über Zion und Seinebabel zurück an die Bergstraße

"Es wuchsen einst auf Hildings Gut –"

"Enger wird um ihn die Welt."

"Wie sucht ihr mich heim, ihr Bilder?"

"Willst du immer weiter schweifen?  Sieh, das Gute liegt so nah."

"Es stürzt der Fels und über ihn die Flut."

"Funkenblicke seh' ich sprühen  Durch der Linden Doppelnacht."

"Michel, horch, der Seewind pfeift."

Erlebnisse eines Erdenbummlers, Adam Karillon

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849628925

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Adam Karrillon – Biografie und Bibliografie

Deutscher Arzt und Schriftsteller, geboren am 12. Mai 1853 in Wald-Michelbach, verstorben am 16. September 1938 in Wiesbaden. Besuchte das Gymnasium in Mainz und studierte dort ab 1873 Medizin. Das Studium schloss er 1878 in Würzburg ab, es folgte 1879 die Promotion in Freiburg. K. begann als Arzt in seinem Geburtsort Wald-Michelbach zu wirken, von 1883 bis 1918 arbeitete er in Weinheim. Neben seinen Pflichten als Arzt reiste er sehr gerne und besuchte unter anderem die Schweiz, Italien, Griechenland, Dänemark, Norwegen, den Nahen Osten, Japan, China und Rußland. K. ist Träger des "Georg-Büchner-Preises", der für Verdienste um das künstlerische und geistige Leben in Hessen verliehen wird.

Wichtige Werke:

Eine moderne Kreuzfahrt (1898)Michael Hely (1900/1904)Die Mühle zu Husterloh (1906)domina mea (1908)Im Lande unserer Urenkel (1912)Adams Großvater (1917)Sechs Schwaben und ein halber (1919)Am Stammtisch zum faulen Hobel (1922)Erlebnisse eines Erdenbummlers (1923)Viljo Ronimus: Das Schicksal eines Kassenarztes (1925)Windschiefe Gestalten (1927)Meine Argonautenfahrt (1929)Es waren einmal drei Gesellen (1933)Der Rosenstock (1935)

Erlebnisse eines Erdenbummlers

Mein erster Erdentag

Als ich im Jahre 1853 am 12. Mai das Licht der Welt erblickte, gab es in Waldmichelbach noch viele ungläubige Menschen. Da waren solche, die weder an den Teufel glaubten noch auch an den Bestand einer deutschen Republik (man bedenke, es war nicht gar lange nach der badischen Revolution), ja es fanden sich unter den Ur-Eingeborenen sogar solche, die nicht glauben wollten, daß man ohne Pferdevorspann einen Wagen von einem Platz zum andern bringen könne. Das alles hatte seine guten Gründe: Mein Geburtsort lag dazumal noch schwer ersteigbar im sogenannten Überwald. Vom Dorfe Kreidach bis zur Wasserscheide vom Rhein und Neckar herauf führte der sogenannte Kirchweg, der zur Regenzeit mehr einem Bachbett glich als einer Straße und nur an den seltenen Gerichtstagen einmal von dem Lederwagen eines Darmstädter Advokaten erstiegen worden war. Dieser westliche Zugang verband damals meine Zeitgenossen mit den großen Völkerstraßen den Rhein entlang und brachte ab und zu die spärliche Kunde von Neuigkeiten, die sich in der Welt ereigneten, während sich von Süden her, den Olfenbach entlang, zumeist vor den Quatember-Fasttagen, die Hirschhorner Fischfrau heraufarbeitete und neben der Neuigkeit, daß von Heidelberg nach Mannheim eine Eisenbahn laufe, ihre Weißfische zum Verkaufen anbot.

Die wenigen Welterfahrenen im Dorfe hatten einen schweren Stand gegen das bodenständige Vorurteil. Man hielt die Besserwisser für Aufschneider und wenn der Blaufärber vor seiner Indigolösung sang: "Zu Straßburg auf der Schanz, da ging mein Trauern an," so glaubte man ihm seine Worte nicht und wollte ihm nachweisen, daß er die ganzen zwei Jahre seiner Abwesenheit von der Heimat auf der Tuchbleiche zu Altneudorf verlebt habe, mit dem Forellenstehlen aus dem Steinachbache beschäftigt.

Als ich mich zu diesen Menschen an den Tagen der Eisheiligen versetzt fühlte, fror es mich ein wenig, und da mir der Geruch einer eben ausgeblasenen Rüböllampe unangenehm in die Nase stach, so fing ich an zu winseln.

"Göttliche Gerechtigkeit," schrie die Hebamme, "der Junge ist schon über eine Stunde auf der Welt und hat noch keinen warmen Löffelstiel übers Herz gebracht. Man muß ihm etwas zur Stärkung geben."

Bei diesen Worten goß sie mir einen faden Fencheltee über die Zunge und in den Schlund hinunter. Ich schluckte zwar, aber ich fand das Gebräu nicht nach meinem Geschmack und wehrte mich dagegen mit jämmerlichen Lauten. Meine Mutter, mit deren Hand meine Wiege durch einen soliden Hanfstrang verbunden war, brachte die Kufen in eine wiegende Bewegung, wodurch ich insoweit beruhigt wurde, daß ich meine Angehörigen zur ersten Vorstellung empfangen konnte. Mein Vater ließ sich bei der Feierlichkeit entschuldigen, er saß, wie alle Tage um die Morgenstunde, auf der Orgelbank und spielte ein Seelenamt für irgendeinen, der trotz reichlicher Kirchenspenden immer noch im Fegfeuer war. Nach dem Haushaltungsvorstand kam mein Bruder Nikolaus an die Reihe. Da er ein kleiner Idiot war und nur wenig sprechen konnte, so fiel es ihm schwer, seiner inneren Überzeugung Ausdruck zu geben, daß ihm ein junger Hund lieber gewesen wäre als ein kleiner Bruder. Mit verdrossenem Gesichte stahl er sich von der Wiege weg und machte meinen beiden Schwestern Marie und Elisabeth Platz. Diese lieben Mädchen empfingen mich sehr freundlich und erzählten mit vielen Worten des Bedauerns, daß mein ältester Bruder Heinrich schon vor einiger Zeit nach Amerika abgereist sei, während Karl und Jakob sich in der Rheinebene befänden, der eine, um die Kaufmannschaft, der andere, um das Metzgerhandwerk zu erlernen. Daß drei von meinen Geschwistern bereits gestorben waren, mag ich auch bei dieser Gelegenheit erfahren haben. Kurzum, ich konnte merken, daß es in meinem Elternhause an manchem fehlen mochte, nur an Kindern nicht.

Nach meinen Geschwistern sind dann vermutlich Nachbarsleute gekommen, die meine Gescheitheit lobten und prophezeiten, daß einmal ein Pfarrer aus mir werden solle.

In der Zehnuhrpause drängten sich die Schulmädchen in die Stube, um zu bewundern, was der Storch dem Herrn Lehrer gebracht hatte.

Der Rasierer kam gegen Mittag, da der Vater ins Pfarramt hinmußte und allda nicht mit einem Stoppelbart erscheinen konnte. Sehr wahrscheinlich, daß auch die gute Tante Magsamen von Hammelbach da war und ein Häubchen brachte, denn sie war überall, wo es fehlte. Gerne gedenke ich ihrer, denn wenn sie mit ihren freundlichen Augen und ihrer Ledertasche in unser Haus kam, dann herrschte Wohlstand in der Küche und im Speiseschrank.

Doch was suche ich den Ereignissen vorzugreifen? Vorerst war ich ja noch an meinem ersten Lebenstag und brauchte wenig. Und dies wenige bezog man von zwei Kühen, die unter mir im Stall standen. Meine Mutter hatte einige Morgen Wiesen in die Ehe gebracht, und zur Besoldung meines Vaters gehörte der Schulacker. Mithin waren die Ingredienzien gegeben, die man zum Betrieb der Landwirtschaft brauchte und um den Kindersegen zu ernähren, der in alle Schulhäuser mehr als reichlich hineinfloß.

Daß ich's nicht vergesse, auch mein Onkel von Mackenheim sah gegen Abend nach mir. Er kam mit einem Paar Ochsen vom Beerfelder Viehmarkt und hatte einen Rausch. O, dieses Beerfelden, es war doch ein rechtes Lumpennest. Wer am Morgen katzennüchtern dort ankam, torkelte am Abend sternhagelvoll an dem Galgen vorbei, der auf der Höhe vor dem Städtchen stand. Aber man konnte ohne Beerfelden im Odenwald nicht auskommen. Wo anders hätte man die Viehmärkte abhalten sollen als in seiner breiten Straße und vor seinem vielröhrigen Brunnen, der neben einem Labsal für Ein- und Zweihufer auch noch die Quelle der Mümmling war? Allzuviele Wirtshäuser, es ist wahr, standen in dem Städtchen herum. Da drinnen wurden die Käufe abgeschlossen, und natürlich wurde auch getrunken. Manchmal endete das Gelage mit einem fröhlichen Gesang, manchmal mit einer Keilerei. Aber ob das eine oder andere der Fall war, wenn man schließlich Abschied voneinander nahm, so geschah's unter Händeschütteln und unter dem Versprechen, daß man sich auf dem Viehmarkt wiedersehen wolle, wenn man auf dieser Welt nicht mehr zusammenkommen solle.

Es gibt Leute, die im Rausche die besseren Menschen sind. So 'war's bei meinem Onkel. Da fühlte er sich reich und war voller Freigebigkeit. "Schullehrer," hatte er zu meinem Vater gesagt, "was du brauchst, um diesen Frischling großzuziehen, das alles kannst du bei mir auf dem Gute holen. Die Bäume blühen in diesem Jahre wie verrückt. Die Kartoffeln stoßen schon aus den Schollen und drei Kühe sind mir nah am Kalben. Also nichts an den Metzger verkaufen, sondern großziehen was kommt."

Ob ich dies alles als Erlebtes beschwören könnte? Nein. Aber da sich in entlegenen Bezirken die Sitten wenig ändern, so wird es bei meiner Geburt gewesen sein, wie es dreißig Jahre später auch noch war.

Weiter auf der Rutschbahn des Lebens

Nach all dem Gesagten war ich zweifellos nicht vom Himmel gefallen, sondern ein echter Odenwälder. Nun könnten neugierige Menschen kommen und fragen, wie ich zu dem fremdländischen Namen gekommen sei und wo ich eigentlich herstamme. Ich will ihnen das wenige sagen, was ich darüber weiß. Der Vater meines Vaters soll in Wehrheim am Taunus eine Strumpfweberei besessen haben und späterhin Torschreiber in Frankfurt gewesen sein. Seine Söhne wußte er im Dienste der freien Stadt nicht unterzubringen. Mein Vater ging ins Darmstädtische, und so kam es, daß ich als der Sohn eines großherzoglichen Schulmeisters auf hessischem Boden das Licht der Welt erblickte.

Wovon meine Frankfurter Großmutter nach dem Tode ihres Mannes gelebt hat, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, daß ich als Kind zuweilen bei ihr in der Mainstadt war, als sie hinterm Weißen Lämmchen wohnte. Von der Ecke ihres Wohnhauses herab blickte im flatternden Rokokokleid eine hölzerne Muttergottes freundlich auf die Straße, was jedoch nicht verhinderte, daß dieser Straße Pflaster immer sehr schmutzig und von leichtsinnigem Volk betreten war. Das ganze Erdgeschoß im großmütterlichen Hause schien etwas in den Boden gesunken zu sein, war feucht und roch nach Gewürznelken und Petroleum. Die Hälfte des Innenhofes war in Stockwerkhöhe von einer schönen Holzgalerie umkleidet. Hatte man diese erst auf altmodischer Treppe erreicht, so wurde die Luft reiner und gleichfalls der Boden. Man merke wohl auf, wo der Magistrat aufhörte, da fing meine Großmutter an zu regieren, wenn auch zunächst noch mit unsichtbaren Händen. Wollte man sie selber sehen, so mußte man an einem blanken Messingringe ziehen, worauf sie zu erscheinen pflegte, das Matronengesicht von einer Spitzenhaube umrahmt. War der Gast nicht willkommen, so lag eine feudale Kälte in den vornehmen Zügen, die sich aber zu milder Sonnenwärme wandelte, sobald das Gegenteil der Fall war. Das Möblement der alten Dame war derart, daß man ihm die bessere Abstammung noch immer ansah, trotzdem daß hier und da der Kanapeeüberzug gestopft war und der eine oder der andere Fauteuil auf drei Beinen stand. Wo die Frankfurter Großmutter herstammte, weiß ich nicht. Ich habe nur manchmal sagen hören, sie sei aus der Wetterau gewesen und von Talern entsprossen, aber von solchen, die zu Kreuzern geworden wären. Wie dem auch sei, der Schluß ist zulässig, daß mein Urgroßvater ledig oder als Witwer aus Frankreich nach Frankfurt kam und in der Stadt selber oder ihrer nächsten Umgebung seßhaft wurde und heiratete.

Gründete die eine Wurzel meines Stammbaumes in französischer Erde, so stak die andere um so tiefer in deutschem Boden. Mein Großvater mütterlicherseits besaß zu Hartenrod im Odenwald ein schönes Bauerngut, das er mit zähem Fleiß selber bewirtschaftete, bis er noch ein zweites hinzubekam in dem Nachbardorf Aschbach. Meine arme Mutter war leider bei dem geldstolzen Hofbauern in Ungnade gefallen, weil sie ohne die väterliche Einwilligung sich an einen hergelaufenen Federfuchser – meinen Vater eben – weggeworfen hatte. Lange und schwer genug trug sie an dem ungerechten Zorn und ich glaube, eine förmliche Aussöhnung hat sie überhaupt nicht erlebt, da erst nach ihrem Tode herbe Schicksalsschläge den zähen Bauern mürbe machten. Die Gräber von Vater und Tochter lagen übrigens auf dem Waldmichelbacher Kirchhof nicht weit auseinander, und wenn ich den Alten in "Adams Großvater" sein Kind viele Jahre überleben ließ, so geschah dies mit poetischer Freiheit und zwar aus künstlerischen Gründen.

Eine "orewällische" Großmutter werde ich wohl auch einmal besessen haben. Sie muß aber lange vor meiner Geburt gestorben sein, denn ich habe nie über sie sprechen hören. Vielleicht aber war dem nur deshalb so, weil in jenen patriarchalischen Zeiten neben dem Bauern die Bäuerin eine nur ganz untergeordnete Rolle spielte.

Eigentlich hätten nun meine Frankfurter Großmutter und der "orewällische" Großvater als Überbleibsel einer entschwundenen Zeit etwas füreinander empfinden können. Dem war aber nicht so. Sie haßten sich, wie das Feuer das Wasser haßt. Sie waren beide zu selbstherrliche Naturen, als daß eines dem andern das geringste Zugeständnis gemacht hätte, und wie der Bauer meinen Vater nicht als vollwertig hinnahm, so betrachtete hinwieder die Großstädterin meine Mutter als ein inferiores Landgewächs. Da meine beiden Ahnen klug genug waren, sich aus dem Wege zu gehen, so ist es zu einem Haarausreißen und Gesichtzerkratzen nie gekommen, obwohl ich überzeugt bin, daß die Großmutter im Ringkampfe ihren Mann gestellt hätte. Mir wenigstens hat sich ihre schlagfertige Energie einmal im hellsten Lichte gezeigt, wie der Leser späterhin sehen wird.

Nachdem ich somit über meine Abstammung kurz berichtet habe, will ich fortfahren, über mich selbst zu schreiben.

Ob's bei meiner Kindtaufe hoch hergegangen ist, darüber habe ich nichts erfahren können. Ich nehme aber an, daß es an dem landesüblichen Schüsselkäs nicht gefehlt haben wird, da mein Pate der Sohn eines dazumal noch gutstehenden Hofbauers war und wie herkömmlich für den Schmaus zu sorgen hatte. Für mein weiteres Fortkommen sorgten dann neben meiner Mutter noch zwei Kühe, die wir in einem Stalle neben der Schulstube stehen hatten, so daß sie da gelegentlich in den Unterricht mit hineinreden konnten. Auch an Eiern dürfte es nicht gefehlt haben, denn ich kann mir unsern Garten gar nicht anders vorstellen, als daß sich Hühner darin herumtrieben und nach den Erbsenschoten hüpften, die über schwankes Reisig herunterhingen. Im Schatten dieser Hülsenfrucht müssen viele Tage meiner Kindheit friedlich, verlaufen sein, denn ich wurde dort zum Schlafen hingelegt.

Ist diese Paradieseserinnerung nur die einzige, die ich mir bis ins Greisenalter herein bewahrt habe? Nein, ich habe eine weitere, die wohl in mein drittes oder viertes Lebensjahr zurückreichen mag, soweit zurück, daß es für den oberflächlichen Beschauer noch nicht feststand, ob ich ein Bub oder Mädchen sein sollte. Ich weiß ganz genau, ich trug noch die weißen Haare lang und einen gewürfelten Mädchenrock und ging an der Hand meiner Mutter nach Gadern zu einem Kindtaufsschmause. Eine Zeitlang wird es mir wohl im Kreise der kaffeetrinkenden Menschen gefallen haben. Als ich mich aber am Kuchen satt gegessen hatte, wurde es mir langweilig, und ich fing an zu nengern und meine Mutter am Tuchrock zu zupfen, weil mich ein starkes Heimweh in die gewohnten Räume unseres Schulhauses zurückzog. Da meinem Drängen keine Folge gegeben wurde, so machte ich mich ohne Begleitung auf den Weg nach Hause. Ich habe späterhin im Leben gefährlichere Wege durch Wüsten und Urwald gemacht als den von Gadern nach Waldmichelbach. Krokodile und Nashörner gibt's da nicht und doch, ich erinnere mich dessen ganz genau, habe ich damals eine unsägliche Angst ausgestanden. Riesen, übermenschlich große Riesen standen nämlich in Hemdsärmeln auf dem Wiesengrund und fütterten Sauerkraut mit eisernen Gabeln. O, wie ich mich fürchtete, an ihnen vorbei zu müssen. Bildete ich mir ein, sie sähen mich nicht, und wagte ich in dieser Annahme ein paar Schritte voran, so änderte irgendeiner der Allgewaltigen die Richtung seiner Schritte und schien direkt auf mich losgehen zu wollen mit einem gezackten Ding auf der Schulter, das todsicher zum Kinderspießen war. O, wie ich mich da entsetzte! So sehr würgte mich die Angst, daß ich nicht einmal fliehen oder aus vollem Halse losbrüllen mochte. Nein, ich konnte nur wie angewurzelt stehen und zittern wie Espenlaub, wenn der Oktoberwind durch die Täler streicht. Wie ich schließlich an den Kinderfressern vorbeigekommen sein mag, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß mir die unheimlichen Knechte mit den aufgeschürzten Hemdsärmeln unauslöschlich im Gedächtnis haften geblieben sind, ja, daß sie zuweilen heute noch durch meine Träume spuken. Woher die Nachhaltigkeit eines solchen Eindruckes? Nun, sie erklärt sich aus der Differenz meiner eigenen Kleinheit gegen einen ausgewachsenen Alltagsmenschen in der Heuernte. Daß ja kein Kleiner ganz verzage! Ihn mag der Gedanke aufrichten, daß er auch schon einmal der Schrecken eines noch Kleineren gewesen ist.

Vielleicht übrigens, daß das Erlebnis sich doch nicht so tief meinem Gedächtnis eingegraben hätte, wenn es nicht in den Erzählungen der Erwachsenen tausendmal wiederholt worden wäre. Aber die Kunde von der sagenhaften Wanderung des Lausbuben im Mädchenrocke wollte und wollte nicht sterben, und sie wurde viele dutzend Male erzählt, wenn die Nachbarsfrauen bei uns an langen Winterabenden hinterm Spinnrad saßen und alles der Meinung war, daß ich in meiner Ecke hinterm Ofen eingeschlafen sei. Warum die Frauen der Nachbarschaft die Spinnräder nun gerade zu uns trugen, diese Erscheinung hing damit zusammen, daß der Lehrer seine Stube mit Besoldungsholz heizen konnte, und dann hatte man nebenher doch wohl auch die Absicht, der kranken Lehrersfrau die langen Abende ihres Krankenlagers mit Gesprächen ein wenig zu verkürzen. Bei diesen Unterhaltungen lernte ich frühzeitig etwas, was mancher im ganzen Leben nicht lernt, nämlich das Schweigen. Denn erstens mußte ich mäuschenstill sein, wenn die Zungen so recht ins Tratschen kommen sollten, und zweitens, wohin hätte ich die Freunde unseres Hauses gebracht, wenn ich nicht reinen Mund gehalten und das weitergetragen hätte, was mir über Hinz und Kunz, Richter und Pfarrer und über mich selber gar bekannt geworden war?

"Er wird nicht alt," hatte eines Abends die Hoffmannsliese gesagt, und sie hatte sich umgeguckt, ob ich schliefe, "weil ihm eine blaue Ader über die Nasenwurzel läuft."

Und die Kunzefranzehannädelsen hatte beigefügt: "Und weil er auch so gar gescheit ist."

"Man wollt' ihn gern begraben, denn warum? Ei, so e Kind kummt doch direkt in Himmel nein. Wenn's nur net gar so e grausamer Tod wär, den er sterben müßt'," seufzte die Strickericke.

"Red' so kein Geißedreck daher. Was weißt denn du, an was das Kind stirbt," ließ die Nahbärbel sich hören.

"Ich weiß es freilich nicht, aber die Zigeunerin. Nicht wahr, Frau Schullehrer, war nicht erst eine neulich hier in der Stube drin, die gesagt hat, der Adam tät im Wasser sterben?"

Als meine Mutter vom Bette aus die Angabe bestätigte, legte die Bärbel ihrerseits los:

"Bleibt mir vom Leib mit den Heidenmenschern! Vor dreißig Jahren hat mir so eine Hexe einen Mann prophezeit, und bis auf den heutigen Tag hab' ich noch keinen. Hätte sie mir einen Schnurrbart unter der Nas' prophezeit, dann hätte sie recht behalten!"

Jetzt lachten alle laut auf, und damit war der Gegenstand der Unterhaltung für heute erschöpft.

Auf mich selber hat die unheimliche Weissagung von meinem Sterben damals wenig Eindruck gemacht. Welche Vorstellung sollte auch ein Kind vom Tode durch Ertrinken haben können? Vergessen aber habe ich das Orakel nie ganz und zuweilen, wenn ich in Seenot war, wie im chinesischen Meere und auf der Ostsee, da war es mir so, als ob nun der Augenblick gekommen sein müsse, wo mein Geschick sich erfüllen werde. Seit Pius IX. durch sein einfaches Weiterleben die uralte Weissagung, daß kein Papst so lange regieren werde wie Petrus der Apostel, zuschanden gemacht hat, sollte die Menschheit vom Glauben an Weissagungen befreit sein. Freilich dieser Pius feierte sein Jubiläum erst später, als ich schon ums Glauben gekommen war.

War mir die Unterhaltung der Spinnerinnen zuweilen nicht interessant genug, so schlief ich, den Kopf wider die Wand gelehnt, wohl auch einmal ein Stückchen, oder ließ mir von meinem zwei Jahre älteren Bruder Nikolaus Kartoffelhostien in den Mund stecken. O, diese Seelenspeise der armen Leute, wie köstlich war nicht ihr Geschmack und wie leicht waren sie nicht herzustellen! Kleine Scheiben wurden von den rohen Knollen heruntergeschnitten, mit der Zunge beleckt und an den heißen Ofen geklebt. Sie piepsten ein bißchen wie junge Mäuse, fielen dann ab und waren zum Genusse fertig.

Merkwürdig, daß ich zum Schlafen niemals in mein Bettchen wollte. In meiner Ecke hinterm Ofen war mir die Welt gut genug. Hier schlief sich's fein. Hier konnte man auch so herrlich spielen mit dem Bügeleisen, das je nachdem einen Schuh, eine Hundehütte oder eine Kanone vorzustellen hatte. Ja, die Dinge sind immer das, was wir Menschen in sie hineindenken, und wer einen Stall für einen Palast ansieht, der wohnt so vornehm wie ein König und kann, wenn er will, sich einbilden, daß er mit einer Schneiderelle die Welt regiere. Schade, daß wir wachsen müssen und auch geistig nicht Kinder bleiben, so wie die Schafhüter etwa, von denen Heine singt: "König ist der Hirtenknabe."

Mit meinem Größerwerden hatten leider auch meine guten Tage ein Ende. Ich bekam Hosen und mußte mich nun vorschriftsmäßig schämen, wenn mich die großen Schulmädchen auf die Arme nahmen oder gar küßten, obwohl ich eigentlich beides gut leiden mochte.

Getragen wurde ich zwar manchmal noch, und zwar, wenn die Zeit gekommen war, wo man den ausgereiften Kohl in die Krautsteine trat. Da dies Geschäft fast gleichzeitig an einem Tage in all den Nachbarhäusern einsetzte, so bekam ich die Füße gewaschen und wurde, damit sie nicht wieder schmutzig wurden, von Keller zu Keller getragen, um in den Steinen zu tanzen. Späterhin, als ich mich durchs Blasbalgtreten am Kirchengesang beteiligte und beim Aveläuten an den Strängen zog, lehnte ich das Krautgeschäft als unter meiner Würde dankend ab.

Ein Himbeererlebnis

In den gleichen Jahren wird es wohl gewesen sein, daß meine Frankfurter Großmutter zur Sommerszeit in unserm Hause verweilte. Ihre stattliche Figur und modische Kleidung machten auf mich, das Landkind, einen gewaltigen Eindruck. Ich verehrte sie wie ein Wesen aus einer andern Welt und wollte ihr, soweit ich nur konnte, gefällig sein. Ich hatte die Vorstellung, daß sie so ganz etwas Apartes sei, so nicht das, was die Großmütter meiner Schulkameraden waren, mit denen man sich herumzanken konnte, wenn sie einem einmal irgendeinen Auftrag gegeben hatten, der einem nicht paßte. Nein, ich hätte nicht gewagt, meiner Großmutter auch nur im geringsten zu widersprechen.

Als sie mir nun eines Tages nahegelegt hatte, in den Wald zu gehen und für sie Himbeeren zu suchen, so tat ich dies ohne Widerrede, obwohl ich nicht recht wußte, wo ich diese aromatischen Leckerbissen auftreiben sollte. Den irdenen Topf in den vorderen Knopf meiner Hosen gehängt, schritt ich barhäuptig und barfüßig die Kirchhohl herunter, fest überzeugt, daß irgendwo im Walde meiner vornehmen Großmutter zuliebe Himbeeren von den Weißdornhecken herunterhängen müßten. Als ich vors Dorf kam und an eine Stelle, wo die Wege sich gabelten, wurde ich schon etwas unsicher in meinem Urteil. Zum Glück weidete da nun gerade der Sohn eines Wilddiebes seine Geißen im Wiesental. Dieser Knabe, der, wie ich wußte, seinen Vater auf seinen verbotenen Wegen zu begleiten pflegte, war für mich an der richtigen Stelle der richtige Wegweiser. Ich holte mir Rat bei ihm, und er gab mir die Auskunft: "Geh nur ans Fuchsloch. Links unter der Chaussee, dort, wo der Pfad nach Weiher in den Buchenwald einbiegt, an einer Steinrossel, die gegen's Kreidacher Feld hinunterhängt, zwischen einem Ahornbusch und einer Schäferhütte, dort wachsen die Himbeeren so dick, daß du sie nur so herunterschütteln kannst, wie die Läuse aus deinem Alltagskittel."

Ich schluckte meine Zweifel hinunter, ob mich der Schelm auch nicht belogen habe, ging aber dann frohen Mutes dem gesteckten Ziele entgegen. Zu meiner Freude fand ich die bezeichnete Stelle und in ihrem wilden Gestrüpp soviel Beeren, daß mein irdener Topf noch über den Geschirrrand hinaus gefüllt war. Gut gelaunt scheute ich nun den kleinen Umweg über den Storrbuckel nicht, da mir sein Gipfel einen Ausblick in die weite Welt gestattete, nach der nun einmal schon in meinen Knabenjahren all mein Sinnen und mein Sehnen stand. Der runde Rücken war damals noch ganz kahl und mit geringem, steinigem Humus überkleidet, in den die Schafherden Tausende von niedrigen Stufen hineingetreten hatten. Nach allen Seiten hin war ein weiter Ausblick möglich, nach dem Neckartale hinunter und in die Rheinebene hinein, die mit dem Donnersberge gegen Westen zu ihren Abschluß fand. Mir war so seltsam froh zumute, so leicht, so als ob ich fliegen wollte da nach dem Waldmichelbach hinunter, wo meine vornehme Großmutter war, die mich heute königlich belohnen würde, wenn ich mit meinen süßen Früchten kam. Und es dauerte nicht lange und ich streckte die Arme wie Adlerflügel von mir und machte einige verwegene Luftsprünge, bis ich zwar nicht mit dem Scheitel die Himmelsdecke, aber mit der Nase den Erdboden und mit dem Himbeertopf einen verteufelt harten Porphyrbrocken erreicht hatte. Die Folge davon war, daß mir das Blut über die Oberlippe lief und mich zwang, nachzuforschen, ob sich in meiner Hosentasche wohl ein Sacktuch finden möchte. Wider Erwarten war eines da und damit war meiner Nase ein großer Dienst geleistet.

Wer aber half meinen Himbeeren auf, die zu einem Brei zerdrückt zwischen den Trümmern meines Topfes lagen? Nach langem Bedenken kam mir die Idee, sie in das Taschentuch zu verpacken. Was Blut- oder Himbeerflecken sind, so spekulierte ich, das wird die Großmutter wohl doch nicht so unterscheiden können, und wenn sie die Frucht nur erst mit Appetit verspeist haben wird, so ist es einerlei, in welcher Sauce sie serviert worden ist. Von diesem Gedanken beruhigt schlich ich mich nun wie Judas Ischariot mit nicht ganz gutem Gewissen und einem Beutel in der Hand den Berg hinunter und unserm Hause zu. Von weitem sah ich schon, daß die Großmutter auf der Haustreppe saß, die Hornbrille auf der Nase hatte und in einem Buche las. ›Du wirst sie überraschen,‹ dachte ich mir, bückte mich und schlich auf meinen Barfüßen leise wie ein Marder die Steinstufen empor. Wie der Eimer, der aus einem Brunnen taucht, stieg ich plötzlich hinter ihrem Buche empor und stellte mein Sacktuch mit den triefenden Himbeeren der erschreckten Alten auf den Schoß.

Wie sie sich nun freuen und was für ein Gesicht sie machen wird, daran dacht' ich eben noch, als ich schon eine Ohrfeige auf der Backe sitzen hatte, wie sie mir in meinem kurzen Leben noch nicht zuteil geworden war. Mit einem Satz war ich von der Undankbaren hinweg und in den Hausgang verschwunden. Die Scham und das Gefühl, ein schweres Unrecht erlitten zu haben, trieb mich von den Menschen hinweg und unter die Ziegel unseres Speichers hinauf. Dort saß ich auf dem Heu, zwischen glühenden Speeren, die von der Sonne geworfen, zwischen den Ziegeln durch das Halbdunkel fielen, und dachte grollend über die Ungerechtigkeiten nach, die von erwachsenen Menschen an wehrlosen Kindern verübt werden. Wie um des Himmels willen kam meine Großmutter nur dazu, mich zu schlagen, da ich ihr doch nur Liebes und Gutes zugedacht hatte? Nein, so was war unbegreiflich. – Der Gedanke, daß die Art meines Servierens der Alten nicht gefallen haben könne, der kam mir erst viele, viele Jahre später, als ich im Nilhotel in Kairo speiste, wo man mit goldenen Löffeln von Sèvresporzellan herunter die Himbeeren aß.

Beginn der Ruhmeslaufbahn

Noch einmal spielte die Schulhaustreppe in den Erlebnissen aus meinen Kindertagen eine Rolle. Ich erinnere mich, daß ich auf ihr stehend eine nicht allzu gelinde Strafexekution von seiten meiner Mutter über meine Kehrseite ergehen lassen mußte. Das Warum war mir dazumal unklar und ist es auch geblieben, bis ein Zufall in den reifen Mannesjahren die überraschende Aufklärung brachte, daß der Donatische Komet vom Jahre 1858 an meinem Mißgeschicke schuld war.

Ich war schon einige Jahre Arzt in Weinheim gewesen. Mehr noch, ich hatte die Kreuzfahrt geschrieben und den Michael Hely. Der letztere namentlich hatte sich einen weiteren Leserkreis erworben und hatte um mich einen matten Schimmer von zweifelhafter Berühmtheit ausgebreitet, der mich immer verlegen machte, wenn ein ehrlicher Mensch mir lächelnd ins Gesicht sah. Eines Tages mußte ich dies nun gar von einem Wesen erleben, an dessen Achtung mir unendlich viel gelegen war, und dieses Wesen war die Stadtschwester Phililppine Schwarz. Ihr schiefer Kopf stak unschön in der schwarzweißen Haube drinnen. Sie hatte einen großen Mund und war durchaus nicht so, daß sie ein Titian als Modell für einen Venuskopf ausgewählt hätte, und doch hatte ich sie immer gut leiden mögen. Sie war nämlich die fleischgewordene Gutmütigkeit selber und unermüdlich in den Werken christlicher Nächstenliebe. Mir selber erschien sie immer wie ein strafender Mentor, wenn mein lässiger Eifer für die Leiden der Menschheit erlahmen wollte. Als ich nun das verdächtige Lächeln in ihren Zügen sah, hatte ich mehr noch als sonst kein gutes Gewissen und fürchtete so halb und halb, daß sie wieder einmal hinter eine meiner Dummheiten und Nachlässigkeiten gekommen sein könnte. Um nun aber den völlig Ahnungslosen spielen zu können, kam ich ihrer Anrede zuvor, indem ich sagte:

"Gut ausgeschlafen heute oder in der Lotterie gewonnen, Schwester, oder gar zu einem Judenball geladen?"

"Weil ich so lustig bin," war die Antwort. "Nein, ich soll Ihnen nur ausrichten, daß Sie einmal zu Fräulein Pfander kommen möchten."

"So, und da freuen Sie sich auch noch, daß wieder einmal ein Menschenkind einem Doktor verfallen ist."

"Sie sucht den Arzt nicht in Ihnen. Aber tun Sie mir doch den Gefallen und beehren Sie das alte Fräulein im Laufe des Vormittags. Sie sind ja nun doch schon einmal auf dem Weg. Um die Ecke herum, und Sie stehen am Diebsloch, dann den Grundelbach entlang, am Spital vorbei. Die Waschbleiche lassen Sie rechts liegen, den Rosengarten links und dann über die zweite Brücke den Burgweg hinein. Sind Sie erst dort, so schauen Sie sich nach einem Fenster um, aus dem eine gefranste Bettspreite herniederhängt, übrigens brauchen Sie im Burgweg nur nach Fräulein Pfander zu fragen, und jeder Mensch wird Ihnen sagen können, wo sie wohnt."

Mit diesen Worten und einem verschmitzten Blick unter ihrer Haube hervor war sie hinter einer Haustür im Gerberviertel verschwunden.

Ich müßte nicht neugierig sein und nicht Adam heißen, wenn ich nicht das Verlangen verspürt hätte, dahinter zu kommen, welche Überraschung diese Evastochter Philippine mir bereitet hatte. Ich machte mich also sofort auf den Weg, um die Wohnung des Fräuleins Pfander aufzusuchen. Drei Treppen hoch, und ich war dem Himmel näher als andere Leute und vor der Türe des Fräuleins Pfander. Auf mein leises Pochen antwortete aus dem Zimmer heraus ein schwaches "Herein!" Ich trat ein und stand einem schneeweißen Damenkopfe gegenüber, von dem ich zunächst nur das eine wußte, nämlich, daß er nicht zu Fräulein Pfander gehörte. Um dem rätselhaften Wesen näher zu kommen, erklärte ich, daß ich ein Doktor wäre und durch die Stadtschwester hierherbestellt.

"Dann heißen Sie am Ende gar Karrillon und sind der Schullehrersadam?"

"Das erstere bin ich für die Polizei und Steuerbehörde, das letztere für meine Freunde," gab ich zur Antwort.

"Zu denen auch ich mich rechne," fuhr die Dame fort, "oder sollte Ihnen der Name Pauli gänzlich unbekannt sein?"

"Pauli, Pauli," gab ich zurück, "wenn's mir recht ist, spielt der Name in den Erzählungen meines Vaters aus seinem Leben eine Rolle."

"Wird wohl stimmen. Pauli hatte die Apotheke in Waldmichelbach, und Ihr Vater selig verkehrte viel in unserm Hause. Mein Gott, er hatte wenig von dem eignen Heim! Viel kleine Kinder und seit Jahr und Tag eine kranke Frau. Wo gab es da für ihn eine Stelle, wo er sich ausruhen konnte von den Sorgen und Mühen des Tages? So sprach er des öfteren bei uns in der Apotheke vor, trank einen Kaffee mit und sah seinem Jüngsten zu, wie er an Stühlen und Bänken die ersten Versuche machte, ein Weltenbummler und Dichter zu werden."

"Und diesen kleinen Athleten haben Sie gekannt?"

"Gewiß, und er glich Ihnen bis auf den Schnurrbart unter Ihrer Nase. Lassen Sie mich nur weiter erzählen und Sie werden erfahren, warum ich die Schwester Philippine ersuchte, Sie einmal herzuschicken. Ich bin nämlich des Paulis Tochter und jene, die den kleinen Blondkopf mit Süßholz fütterte, wenn er unruhig wurde. Ich habe späterhin einen Doktor Kritzler geheiratet, bin in die Nähe von Aschaffenburg gezogen und habe meinen Schützling von ehedem aus dem Auge verloren, zumal da ich gar bald für zwei Weißköpfe zu sorgen hatte, die nicht minder gefräßig waren, wie vordem der Lehrersbub. Nun, Gott sei Dank, wir hatten zu essen für die Söhne. Sie wurden groß und dienen heute als Offiziere dem Vaterlande. Der eine ist Hauptmann in Koblenz, der andere in Leipzig. Von letzterem komme ich soeben. Er hat eine Lungenentzündung überstanden und war schwerkrank."

"Und Sie haben ihn gepflegt?"

"Ja und bin bei dem Geschäfte wieder auf Ihre Fährte gestoßen. Hören Sie nur! Als es meinem Jungen wieder besser ging, bat er eines Tages seinen Arzt um etwas Lektüre. Der vielbelesene Mann brachte seinem Patienten ein Buch mit, und denken Sie nur, was das war."

"Vermutlich keiner von den Kirchenvätern."

"Das nicht, obwohl der Inhalt des Buches sich um einen Mann drehte, der im Alten Testament schon eine Rolle spielte."

"Er wird doch nicht Michael Hely geheißen haben?" "Nicht anders, und das Buch war von einem Autor geschrieben, dessen Name nicht leicht mit einem andern verwechselt werden kann. Verstehen Sie jetzt, warum es mich in meinen alten Tagen hierher an die Bergstraße gezogen hat? Daß ich's nur offen sage: Ich bilde mir ein, daß ich ein Anrecht an den Früchten eines Baumes hätte, dessen Wurzeln ich vordem mit Himbeerwasser begossen habe."

An dieser Stelle suchte ich dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, indem ich bemerkte: "Sie müssen doch meine Mutter gekannt haben, verehrte Frau Doktor, wollen Sie mir nicht einmal von ihr erzählen? Denken Sie nur, ich kann mir, so sehr ich auch mein Gehirn plagen mag, keine Vorstellung davon machen, wie sie ausgesehen haben kann, obwohl ich doch schon zehn Jahre alt war, als sie starb. Ein bleiches Gesicht, aus dem zwei hektische Rosen traurig herausleuchteten, ist alles, was mir als Erinnerung von ihr geblieben ist."

"Nur zu begreiflich," sagte Frau Kritzler, "sie hat mehr als acht Jahre im Bette zugebracht. Aber ich kann Ihnen sagen: Sie war eine hehre Gestalt mit breiten Schultern und schwarzem Haar, das leicht gewellt über eine hohe Stirne niederfiel. Wenn sie erregt war, konnte sie sogar energisch, ja furchtbar erscheinen."

"Und eine solche Gestalt, von der ich aber nicht weiß, ob sie meine Mutter war oder nicht, schwebt meinem Geiste vor. Werden Sie mir verzeihen, wenn ich Ihnen erzähle, in welcher Situation?"

"Reden Sie immerhin. Wir sind beide alt und dickhäutig genug geworden, so daß von innen heraus die Schamröte uns nicht mehr durchleuchten kann."

"Sei's drum gewagt! Eine ernste Frauengestalt schwebt mir vor. Sie hat sich über mich gebeugt, hebt mir mit der Linken das Hemd empor und bearbeitet mit der Rechten mein Hinterteil, wie mir's erscheinen will, nicht allzu zärtlich. Wissen Sie vielleicht, wer das war?"

Frau Kritzler lachte laut auf, indem sie sagte: "Ihre Mutter war's, und wissen Sie auch, warum Sie damals die Prügel erhalten haben?"

Als ich den Kopf schüttelte, fuhr sie fort: "Sie dürfen es der Guten nicht gar so übel nehmen. Aber Sie hatten sie ja auch in eine arge Verlegenheit gebracht. Ich muß den Donatischen Kometen vom Jahre 1858 noch einmal an den Himmel malen, wenn ich Ihnen erklären soll, wieso. Haben Sie eine Vorstellung, wie der damals ausgesehen hat?'

"Wie eine Zuchtrute aus glühenden Eisendrähten hat er über dem Dorfe gestanden."

"Und für eine Zuchtrute hat ihn auch das Volk genommen. "Gott will seine mißratenen Kinder züchtigen," so sagten sich die Leute untereinander. "Kriege werden kommen, Erdbeben auftreten, ja der Weltenuntergang ist so gut wie sicher. Wehe alle denen, die jetzt nicht in sich gehen."

Man lief zu den Beichtstühlen, und die Rosenkranzhändler hatten goldene Zeiten. An jedem Abend, den Gott am Himmel erscheinen ließ, versammelte sich eine fromme Schar am Fuße der hohen Schultreppe, und der Erbhannädel belehrte die Leute über all' die Zeichen, die dem letzten Gerichte vorangehen würden. ›Die Erde wird ihren Mund auftun und Feuer speien, und warmes Wasser wird niederregnen aus den Wolken.‹ Na und das letztere war in diesem Augenblicke wahr geworden."

"Ich fange an, zu begreifen," unterbrach ich plötzlich. "Sollte ich an diesem Tage getan haben, was an jedem Abend vor dem zu Bette gehen mein letztes Geschäft war?"

"Sie machten das Männchen auf dem Brunnen zu Brüssel, weiter sage ich nichts. Aber nun denken Sie sich nur, wie angesichts der eben gehörten Weissagung unmittelbar unter der Wirkung der Gottesrute das warme Wasser wirkte! Wie eine Taubenschar, in die der Habicht stößt, fuhr die Menge auseinander. Wer die warme Nässe im Genick zu fühlen bekam, spürte gleichzeitig unter seinen Füßen auch schon die versengenden Flammen aus der geborstenen Erde. Angstrufe und Geschrei aus fünfzig Kehlen erfüllten die Luft. Der einzige, der ruhig Blut und Fassung behielt, waren Sie auf Ihrem erhabenen Standpunkt über dem Volkshaufen."

"Vermutlich nur so lange, bis meine Mutter Zeit gefunden, aus dem Zimmer zu stürzen, um den Übeltäter zu bestrafen," erlaubte ich mir zu ergänzen.

"Ganz recht, dann stimmten auch Sie mit ein in das allgemeine Heulen und Zähneknirschen und doch, denken Sie nur, hatten Sie an diesem Abend die erste Sprosse auf der Leiter Ihres Ruhmes erstiegen."

"Man wird mich doch nicht zum Ehrenbürger gemacht haben, weil ich den Leuten umsonst den Scheitel gesalbt hatte?"

"Das nicht. Aber Sie wurden von den Aufgeklärten, vom Aktuar, Forstrat und Apotheker, auf den Schild gehoben. Der Hutmacher erklärte Sie für einen neuen Luther, der mit beißender Essenz den Leuten den Kopf wasche. Ihr Name ging am Honoratiorenstammtisch von Mund zu Mund, und überhaupt das ganze Kirchspiel lachte und redete über drei Monate lang von nichts anderem als dieser lustigen Geschichte."

"Gleichwohl kann ich mir nicht vorstellen, daß alle Leute von meinem ersten Auftreten auf der Lebensbühne entzückt gewesen sind."

"Waren sie auch nicht. Aber Sie hatten andere Eigenschaften, die Sie Ihren Gegnern wieder unentbehrlich machten."

"Sie können meine Achtung vor mir selber nur steigern, wenn Sie mir die nennen wollen, Frau Kritzler."

"Nun, da war zunächst einmal Ihre Stimme."

"War die so, daß man mit ihr die Hasen aus dem Krautfeld scheuchen konnte?"

"Das nicht, aber Sie galten als guter Sänger bei den Beerdigungen, verstanden es, die Altarkerzen zu bedienen, schwangen bewundernswürdig das Rauchfaß und gossen das Öl in die ewige Lampe, wenn die Künste der Karline versagten, und die Leute trotz Streichens und Blasens zum Sterben kamen. Ach, die Karline, können Sie sich deren nicht erinnern, der kleinen, rotbäckigen Alten, die acht Söhne und zweiunddreißig Zähne verloren hatte und doch immer ein so fröhliches Gesicht machte, als ob Kirmes und Fastnacht bei ihr auf einen Tag fielen?"

"Sie meinen doch die Haubenbüglerin, die auch die Schirtingblumen fabrizierte in den Buchs der Totenkränze hinein?"

"Gott gebe ihr eine fröhliche Auferstehung! Sie hat mehr Gutes an der Menschheit getan als hundert Wundärzte zusammengenommen. Sie konnte das Blut mit Spinnweben stillen und brauchte keine Blutegel hinters Ohr zu setzen, wenn sie ein Kopfweh vertreiben wollte. Schade, daß ihre Zaubersprüchlein mit ihr verloren gingen."

"Bis auf eines, das wie ein verwehter Schmetterling in dem Brei meines Gehirns hängen blieb. Denken Sie nur, Frau Kritzler, die Sache kam so. Meine Mutter litt stark an Migräne, und sie wurde ihre Schmerzen los, wenn die Karline kam, um es zu brauchen. Freilich hielt die Wirkung oft nur einige Stunden an, und um die Nachtruhe der weisen Frau wäre es geschehen gewesen, hätte man sie so oft rufen wollen, als meine arme Mutter nach ihrer Hilfe verlangte. Man mußte also auf einen Ersatz bedacht sein, und man kam auf den Gedanken, daß ich das Sprüchlein der klugen Frau erlernen solle, um es anzuwenden, wenn es verlangt wurde. Zu ihrem Nachteil gab die Künstlerin ihr Geheimnis preis. Zwei-, dreimal hergesagt, und ich konnte das Sprüchlein nachplappern: "Wilder Wald, ich hör' dein Brausen, hör' dein Sausen, will der Marieliese Kopfweh mit dir vertauschen. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen."

"Und haben Sie die Zauberformel an ihrer Mutter angewendet und damit Erfolg erzielt?"

"Mehr als tausendmal hat der Humbug ihr geholfen. Er hilft jedem, der dran glaubt, und zum mindesten er schadet keinem Menschen, es sei denn, daß die Einnahmen der alten Karline durch meine Konkurrenz zurückgegangen wären."

"Sind Sie ihr denn wirklich ein gefährlicher Konkurrent geworden?" fragte Frau Kritzler.

"Ich nehme es an, denn ich war damals ein gesuchter Heilkünstler, so zwar, daß ich nur an wenig Tagen der Woche noch zur ganzen Nacht kam. Hundert Male bin ich von einem Arm auf den anderen gewandert und habe die Reise durch alle Höfe und Winkel des Dorfes gemacht, zwischen dem letzten Abendschein der Sonne und dem ersten Hahnenschrei. Wie gut erinnere ich mich des Umstandes, daß ich kalte Zehen bekam, weil mir die Füße unten aus der umgeschlagenen Pferdedecke herausguckten."

"So waren's etwa gar Ihre wißbegierigen Zehen, die das beobachteten, was Sie später zu Papier gebracht haben?"

"Kann sein, Frau Kritzler. Kalte Füße veranlassen erst einen warmen Kopf, und den muß der Dichter haben, wenn er auf gescheite Einfälle kommen soll. Im übrigen danke ich nun für das Interesse, das Sie an meiner Person bekundet haben, Frau Kollega. Wenn's das Schicksal will, sehen wir uns noch einmal wieder im Leben, nur darf es sich nicht abermals vierzig Jahre Zeit gönnen wollen, bis es uns zusammenführt."

Wir verabschiedeten uns voneinander, um uns niemals wiederzusehen. Wie ich gehört habe, ist die Dame im Jahre 19 in Heidelberg gestorben.

Strenge Lehrjahre

Die Gänseweide von Waldmichelbach und der Turm, in dem der Michel Hely hauste, das war seither meine Welt gewesen.

In mein neuntes Lebensjahr fiel meine erste Wanderung über die Gemarkungsgrenze hinaus. Meine Mutter hatte in der Not ihrer vielen Krankheitsbeschwerden eine Wallfahrt zum Heiligen Blutsaltar zu Walldürn gelobt. Ich nehme an, daß dies im Winter des Jahres 1861-1862 der Fall war. Als aber die Zeit der Kornreife kam, wo die Bittprozessionen um Peter und Paul ihren Anfang nehmen, war sie kränker denn je. Nun tat sie, was zu allen Zeiten üblich war. Da sie nicht zahlen konnte, stellte sie dem Himmel in meiner Person einen Bürgen. Wer war glücklicher als ich über diese Stellvertretung? Sie gab meiner Persönlichkeit Bedeutung und führte mich den goldenen Wundern entgegen, die hinter dem schwarzen Kreise der Bergesgipfel lagen, die seither meinen Horizont eingeengt hatten. Voller Ungeduld horchte ich tagtäglich, hinter der Haustür marschbereit stehend, ob denn nicht endlich von der Kreidacher Höhe herunter das Lied der Waller ertönen wolle und ihr eintöniges Rosenkranzgebet.

Ein paarmal schon hatte ich die Eier aufgegessen, die man mir als Wegzehr für den heiligen Gang abgesotten hatte, da kam sie doch endlich, die Prozession, mit ihren im Winde flatternden Fahnen, dem Großmaul ihres Vorsängers und mit einem Menschenhaufen hinter dem hölzernen Kreuzesbilde, der aussah, als ob er den Anfang einer neuen Völkerwanderung vorzustellen habe. Im Nu war ich mit meinem Bündel die Schultreppe hinabgestürmt und hatte mich, "Stolz in der Brust", eingegliedert in die fromme Kette. "Leb' wohl nun, du altes Schulhaus," so dachte ich mir. "Fünf Tage ist eine lange Zeit und hinter den Bergen liegt die allmächtige Welt. Würden und Ämter hat sie zu verteilen, und wer kann wissen, was aus mir geworden sein wird, wenn an einem schönen Tag ich wiederkomme?"

Welch' ein Rausch des Glückes durchschauerte mich, als wir in der Herde durch die wogenden Kornfelder zogen, im Walde lagerten, uns um die rauschenden Dorfbrunnen stellten, um unseren Durst zu stillen. Anders gefärbte Vögel sangen neue Lieder von den Bäumen, und eine neue Weise klapperten die an den Bächen hin zerstreuten Mühlen. Bei Beerfelden sah ich zum ersten Male einen Galgen und hing an seinen sechs Ketten alle Menschen auf, die mir zuwider waren. Zunächst den Holzebein von Kocherbach, der bei Waterloo den Unterschenkel verloren. Er verletzte mein Schönheitsgefühl.

Ein lebender Edelhirsch im Park zu Ernsttal kam mir vor wie ein Zeitgenosse des Noah und ein Pfau zu Hesselbach wie eine wandelnde Monstranz. Was ich sonst noch alles erlebt habe an Zeichen und Wundern, hat mich beinah völlig umgestaltet, so daß ich von dem Gnadenorte den Entschluß mit nach Hause brachte, ein Priester, womöglich gar ein Bischof zu werden. In der Stube des Michael Hely begann nun ein eifriges Leimen und Flicken, dem Rauchfässer aus Zuckerstricken und kostbare Meßgewänder aus Zeitungspapier ihr Dasein verdankten.

So Vorzügliches ich auch auf dem alten Glockenturme schaffte, bei meinem Vater in der Schule leistete ich nicht viel. Zu meiner Faulheit drückte der gute Mann mehr als nur das eine Auge zu.

Durch die Sorge um meine schwerkranke Mutter und durch deren im Frühjahr 1863 erfolgten Tod war seine Aufmerksamkeit von mir abgelenkt. Vielleicht auch blendete ich ihn durch mein gutes Gedächtnis.

Hatte ich einem Bänkelsänger nur zehn Minuten auf den Jahrmärkten zugehört, so waren seine Lieder in meinem Kopf und ich konnte sie dann gelegentlich mit all den schiefen Mäulern des Rhapsoden in den Spinnstuben zur Erheiterung des Publikums zum Vortrag bringen. Mit solchen Mätzchen hatte ich mir das Ansehen eines "gewürfelten Kopfes" ersungen und galt für vielversprechend. Als aber der Kaplan Werner den ernstlichen Versuch machte, mich in die Geheimnisse der lateinischen Deklinationen einzuführen, da versagte ich vollständig. Ich war zerstreut und es hingen meine Gedanken draußen im Walde, wo ich die Nester der Eichhörnchen besser kannte, als die kniffeligen Regeln, nach denen ein Akkusatikum infinitivo konstruiert sein wollte. So mußte ich denn eines Tages zu meiner großen Beschämung, in unserer Nebenstube versteckt, zuhören, wie der junge Priester mit dem feurigen Gesicht meinem Vater über meine angebliche Begabung reinen Wein einschenkte. Es ging gefährlich über mich her, und das Schlußergebnis der wohlwollenden Aussprache war, daß ich das Stundenlaufen ins Pfarrhaus einstellen durfte. Zum Lohn für mein gnädiges Herabsteigen aus höheren Regionen wurde ich von meinen Schulkameraden bei den Spielen um den Helyturm herum zum Räuberhauptmann befördert.

In mir selber war zur damaligen Zeit der Glaube erwacht, daß ein tüchtiger Kerl auch ohne Gelehrsamkeit sich in der Welt eine Stellung erringen könne. Götz von Berlichingen gefiel mir und Hans Sachs. Überhaupt für die Drahtzieher von Profession hatte ich etwas übrig. In der Schusterstube des Nachbars Basel ging es immer fidel her. Die Gesellen saßen abends im Scheine der Glaskugel um die Werkbank herum und sangen beim Hämmern der Sohlen mit schallenden Stimmen in die Luft hinein:

"Frau Meisterin lösch sie aus das Licht, Wenn ich mein Schätzlein küß, Das ist gewiß, dafür brauch ich's nicht"

und so weiter, bis eine Magd zum Abendessen rief und der Spannriemen mit samt dem Schabeisen in die Ecke flog. Nach Feierabend ging es auf die Straße hinaus, wo der Schuhmacher mit dem Hutmacher und Schneider Händel suchte und immer Sieger blieb.

An den Gedanken, das Meßgewand mit der blauen Pechschürze vertauschen zu wollen, hatte ich mich allmählich gewöhnt. Ja, ich hatte bereits mein Äußeres den Verhältnissen anzupassen gesucht und die bunte Mütze versteckt, die mir als dem künftigen Studenten das Stigma einer höheren Berufung aufzudrücken versuchte.

Unter solchen Umständen war ich vierzehn Jahre alt geworden und der Augenblick der Schulentlassung rückte heran. Im Vaterhause arbeitete eine Hemdennäherin dem Kommuniontage entgegen. Ein Tuchrock aus dem Nachlaß meiner Mutter war schwarz gefärbt und zu Michelstadt "dekatiert" worden. Derart verjüngt hatte sich das Kleidungsstück unter der Hand des Schäferschneiders zu einem Konfirmandenanzug für mich umgestaltet. Im obersten Knopfloch des Kittels pflegte bei jedem der männlichen Konfirmanden ein Sträußchen von scheckigen Zeugblumen zu prangen, die oft älter waren als der Konfirmand, der sie trug, und von einem Haus zum andern im Dorfe herumgeliehen zu werden pflegten. Wehe dem, der sich herausnahm, vom alten Brauche um eine Haaresbreite abzuweichen. Zu meinem Unglück war nun die Aufkäuferin, die zweimal in der Woche den Weinheimer Markt besuchte, auf den verwegenen Gedanken gekommen, mir ein Sträußchen lebender Blumen mitzubringen.

Meine Schwestern in ihrem Unverstand versteiften sich darauf, daß ich diese statt der Schirtingblumen an meinen Rock stecke. Ich fügte mich. Aber was geschah? Als die lange Schlange der Kommunikanten durch die Gasse der Neugierigen hindurch sich dem Kirchenportal zuwälzte, hörte ich, wie aus der Menge der Gaffer eine weibliche Stimme in die Andächtigen hineinrief: "Da guckt dem Schulmeister seinen! Der Aff muß natürlich was Extras haben. Hat er nit gar en lebendige Blumenstrauß vor sein Gänsebrüstel hingesteckt?"

So, da hatt' ich's nun, das Urteil meiner Landsleute über mich. Ein Affe war ich, weil sich meine Angehörigen herausgenommen hatten, mich mit einer anderen Kreide zu zeichnen als die übrigen Hammel. Da ging ich als Gebrandmarkter in der langen Reihe und hätte ich es auch gewollt, es wäre mir unmöglich gewesen, aus der Kette herauszubrechen. Ich mußte die Blicke des Menschenspaliers aushalten, so sehr sie mir auch durch den Rock hindurch bis in die Seele brannten. Nein, wie jetzt alle Freude, aller Stolz über den feierlichen Tag und den neuen Anzug plötzlich von mir genommen waren. Ja, ja, der Pfarrer hatte breitspurige Worte gemacht, als er uns erzählte, daß der große Napoleon den Tag seiner ersten Kommunion als den glücklichsten seines Lebens bezeichnet habe. Schon möglich. Der Schlachtenlenker war vielleicht ein frommer Knabe gewesen, sicher aber hatte ihm keine Aufkäuferin einen lebenden Blumenstrauß an den Rock gesteckt, sonst hätte er wohl gleich mir empfunden. O, wie ich mich schämte, daß ich, ich ganz allein, eine Ausnahme machen mußte, unter den Dutzenden meiner Kameraden. Ich wagte nicht aufzusehen, nicht zu husten aus Angst, ich könnte die Blicke der frommen Gemeinde auf mich lenken, auf mich, den Hoffärtigen, dem die Schirtingrosen nicht genügten, der einen Strauß lebender Blumen in seinem Knopfloch haben mußte.

Von des Pfarrers Predigt hörte ich nur wenig. Das Glück, den Heiland zu genießen, schätzte ich nicht hoch ein. Mir graute nur vor dem Augenblick, wo ich, von der Kommunionbank zurückkehrend, dem Publikum meine Vorderseite zuwenden mußte. Ach, da würden es dann tausend Augen sein, die meinen Strauß sahen, und tausend Gehirne, die den Gedanken hegten: "Da seht den Affen! Er muß natürlich was Extras haben."

Ich kam auf den Gedanken, meine Blumen loszuzerren und sie unbemerkt auf den Boden fallen zu lassen. Der Versuch mißlang. Mit schwarzem Zwirn hatte man die Rosenstengel am Rock festgenäht. Aber was hätte ich wohl gewonnen, wenn ich ohne Strauß von der Kommunionbank zurückgegangen wäre? "Der Affe muß etwas Extras haben," hätten von hundert sicher neunundneunzig gedacht, "er trägt keinen Strauß. Hatten sie kein Geld, einen anzuschaffen?" Man überlege nur, wie mich der Gedanke quälte und die Schmach, die er in sich schloß. Ach damals, da ich ja noch keine Bücher geschrieben hatte und noch eine so empfindsame Seele hatte, die sich krümmte, wie das Blütenblatt der Mimose, wenn sie unzart betastet wurde!

Wie die Sache schließlich ausging? Nun, die Blumen selber hatten Mitleid mit meinen Seelenschmerzen. Bis das Hochamt zu Ende war, waren sie verwelkt und abgefallen. Am Nachmittag hatte ich einen Schirtingstrauß