Ödipus - Ein Liesl-von-der-Post-Krimi - Uli Brée - E-Book

Ödipus - Ein Liesl-von-der-Post-Krimi E-Book

Uli Brée

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Beschreibung

Sind Sie bereit für die schockierende Wahrheit? Wollen Sie wissen, warum die Maus direkt in den Rachen der Katze läuft? Oder warum die Spinne sich in einen Zombie verwandelt, der freiwillig verhungert? Hinter diesen tierischen Selbstmordmissionen steckt kein Todeswunsch, sondern ein Parasit mit einem ausgeklügelten Plan, der auch vor uns Menschen nicht zurückschreckt. Ein renommierter Arzt und ein Medizinjournalist lüften den Vorhang zur bizarrsten Show der Natur, in der Mini-Bestien ihre Wirte zu willenlosen Marionetten verwandeln, egal ob Mensch oder Tier. »Die raffiniertesten Parasiten haben im Laufe ihrer Evolution die Fähigkeit entwickelt, das Verhalten und die Psyche ihres Wirts zu ihrem eigenen Vorteil zu manipulieren.« (Cora Richter | Parasiten: Wie Parasiten ihre Opfer steuern -Medizin – Gesellschaft – Planet Wissen)

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Seitenzahl: 232

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch

Alle haben sich angekündigt.

Von der Landeshauptfrau bis zur Musikkapelle. Kein Wunder, wird doch die Pircher Veronica 105 Jahre alt. Damit ist sie die älteste Tirolerin und die zweitälteste Österreicherin überhaupt.

Umso größer ist der Schreck, als sich herausstellt, dass Vronis Sohn behauptet, seine geliebte Mutter einen Tag vor dem großen Fest ermordet und auf Nimmerwiedersehen entsorgt zu haben.

Warum hätte er das tun sollen? Warum jemanden umbringen, der schon mit beiden Beinen im

offenen Grab hockt?

Da ist die Liesl gefragt. Normalerweise sieht sie ja Morde, wo keine sind. Diesmal muss sie allerdings dem Mörder beweisen, dass er keiner ist.

Uli Brée

Die Liesl von der Post – Ödipus

Inhalt

Teil Eins

Erinnerungen, Halluzinationen, Gespenster, Briefe, Zorn und Wunder, die keine sind

Teil Zwei

Löwen, Dallas, gezinkte Gräber und schlimme Träume

Teil Drei

Die Rückkehr, der Unbekannte, die Wahrheit, die Liebe und das Ende

Normalerweise steht an dieser Stelle: „Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.“

In diesem Fall geht das nicht, denn es gibt sie, die Liesl von der Post, auch wenn sie in Wirklichkeit Michi heißt. Ich lebe in einem netten kleinen Ort in Tirol, wo sich jeder kennt. Unsere Briefträgerin, die Michi, bleibt gern für einen Ratscher bei uns am Gartentor stehen. Sie hat immer ein paar Leckerlis für die Hunde dabei und den Motor von ihrem verbeulten Postauto lässt sie auch immer laufen. Die Michi ist gern daheim und fährt nie fort. Witzigerweise hat sie einen Freund, der Fernfahrer ist. Diese Kombination diente mir zur Inspiration. Nur Krimis löst sie keine. Und Morde passieren bei uns im Ort auch eher wenige.

Ich habe einmal in einem Interview mit einem namhaften Autor gelesen, dass er nur über Dinge schreibt, die er kennt. Wenn wir das alle tun würden, gäbe es wohl weitaus weniger Krimis. Und doch verstehe ich, was er meint. Es ist durchaus hilfreich, am Land zu leben, wenn man übers Land und seine seltsamen Gepflogenheiten schreibt. Vieles von dem, was Sie hier lesen werden, kenne ich aus eigener Erfahrung, auch wenn alle weiteren Personen, Handlungen und Örtlichkeiten völlig frei erfunden sind. Sollten Sie sich also in irgendeiner Form in dieser Geschichte wiedererkennen und mit einer Sammelklage, Verleumdungen oder persönlicher Kränkung liebäugeln, bitte ich Sie höflichst, davon abzusehen. Um es mit dem großen Nestroy zu halten: „Ist alles Chimäre, aber mich unterhalt’s.“

– Uli Brée

Die Verkettung der Umstände vom

20. September 1994

Notizen von L. v. d. P.

Umstand Eins

Am Montag, dem 6. Juli 1981, saßen der Briefträger Wilhelm Schaller und seine hochschwangere Frau Elisabeth voller Freude auf ihrem Sofa vor dem erst kürzlich erworbenen Philips Farbfernsehgerät für Stereo und Zweiton-Empfang. Wilhelm hatte sich eine Flasche Zillertaler Bier aufgemacht. Elisabeth, hochschwanger, trank alkoholfreie Schartner Bombe. Ein Packerl Soletti sollte den Genuss abrunden. Bereits seit drei Jahren lief DALLAS in Deutschland. Nun sollte die Fernsehserie, über die ganz Öd sprach, endlich auch nach Österreich kommen.

Elisabeth hatte die Fernsehzeitung genau studiert. DALLAS handelte von den familiären Verwicklungen und Intrigen der Familie Ewing. Es ging um Geld, Macht und Öl. Der größte Teil der Familie lebte auf der Southfork Ranch, einem großen Anwesen in der Nähe von Dallas. Dazu gehörten Jock und Miss Ellie, die Eltern der Söhne J.R., Gary und Bobby. J.R. war der älteste Sohn und Firmenchef des Unternehmens Ewing Oil. J.R. Ewing war mit der alkoholabhängigen Sue Ellen verheiratet, der er jedoch nicht treu war. Bobby, der jüngste Sohn der Familie, heiratete Pamela Barnes, die Schwester von Cliff Barnes, dem größten Konkurrenten und Erzfeind von J.R.

DALLAS war also alles andere als Öd, der 899 Einwohner zählende Ort, in dem Wilhelm und Elisabeth lebten. Vielleicht freuten sie sich genau deshalb so auf DALLAS, weil die Serie ihnen exakt das Gegenteil von dem versprach, was Öd ihnen täglich bot. In Öd war die Welt noch so derartig in Ordnung, dass man sich nach ein wenig Unordnung und Intrigen regelrecht sehnte. Und Öl gab es in Öd auch keines, höchstens an der Tankstelle. Aber da auch nur bis 18 Uhr. Dann schloss der immer gut gelaunte Dietmar Brugger seine Werkstatt, und wenn er seine Werkstatt schloss, dann schloss er auch seine Tankstelle. Auch wenn er im Pfusch hinter geschlossenen Garagentüren bis in die Nacht weiterarbeitete. Vielleicht auch, weil es um seine Ehe nicht gut bestellt war und er sich lieber unter einen VW-Käfer legte als zu seiner Frau Brigitte.

Während ganz Öd sich an diesem Samstagabend pünktlich um 20:15 Uhr vor den Fernseher setzte, woraufhin der Ort noch leergefegter als sonst schien, und auch Wilhelm und Elisabeth sich auf einen spannenden Fernsehabend freuten, platzte noch während der äußerst einprägsamen Titelmusik Elisabeths Fruchtblase.

Genau in dem Moment, in dem sich Elisabeth zu Wilhelm setzen wollte, nachdem sie die Salzstangen in ein schön verziertes Glas umgefüllt hatte. Zunächst hatte Wilhelm noch geglaubt (oder vielleicht auch gehofft), seine Frau hätte nur die Schartner Bombe verschüttet. Aber als er ihr überraschtes Gesicht sah, wusste er, dass er die erste Folge mit dem verheißungsvollen Titel Die Familie nicht sehen würde. Danach ging alles sehr schnell. Zu dieser Zeit war es noch nicht üblich, dass der Ehemann bei der Geburt dabei war. In diesem besonderen Fall blieb Wilhelm gar nichts anderes übrig. Noch bevor der Nachspann zu sehen war, waren sie zu dritt. Elisabeth war kurz versucht, die neugeborene Tochter Pamela zu nennen, da sie genau zu dem Zeitpunkt das Licht der Welt erblickte, als Pamela Barnes ihren ersten Auftritt im österreichischen Fernsehen hatte. Aber Wilhelm hatte etwas dagegen. Er argumentierte, dass ihnen die Serie vielleicht nicht gefallen könnte oder Pamela Barnes gar nicht so nett wäre, wie sie auf den ersten Blick schien, und bestand darauf, die Tochter nach ihrer Großmutter Lieselotte zu benennen. Wäre es ein Sohn geworden, hätte er ja auch Wilhelm geheißen und nicht J.R. Und so kam Liesl zu ihrem Namen. Um ein Haar wäre sie also die „Pamela von der Post“ geworden.

Umstand Zwei

Giselher Gebhardt und der berühmte Sänger Andrea Bocelli hatten bis auf zwei entscheidende Umstände keine einzige Gemeinsamkeit. Giselher konnte weder einen ähnlich schönen Namen vorweisen, noch konnte er das Hohe C so perfekt treffen wie der italienische Tenor. Auch bei den Schallplattenverkäufen blieb Giselher weit hinter Bocelli zurück, obwohl er einen gut laufenden Schallplattenladen betrieb. Aber in zwei Punkten einten sich ihre Schicksale. Beide litten an einem Glaukom, einer Augenkrankheit, die zum Verlust der Sehfähigkeit führte. Und so wie der 12-jährige Bocelli bei einem Fußballspiel am Kopf getroffen wurde und daraufhin komplett sein Augenlicht verlor, so erlosch Giselhers letzter Lichtblick mit 13 Jahren, als er beim Schmücken des Weihnachtsbaums von der Leiter fiel. Im Jahr darauf schenkten ihm seine Eltern einen Blindenhund. Ein speziell ausgebildeter brauner Labrador, der nicht nur Giselhers bester Freund werden sollte, sondern auch Gefahr witterte, wo Menschen sehenden Auges noch immer darauf zueilten. Am 20. September 1994 gegen 18:12 Uhr standen Giselher Gebhardt und sein treuer Begleiter Kuno an der Bushaltestelle 139 – Klinikum Harlaching in München. Giselher war verärgert, weil ihn der Portier nicht zu seiner erkrankten Mutter lassen wollte, da Hunde im Krankenhaus nicht erlaubt waren. Als der Bus kam, begann Kuno zu bellen. Was er nie tat. Ein nettes Ehepaar, dem Dialekt nach aus Tirol, wollte ebenfalls den Bus nehmen. Man war zuvor ins Gespräch gekommen. Die Schallers waren zum ersten Mal in München und auf dem Weg zum Oktoberfest. Sie hatten am Hauptbahnhof den falschen Bus genommen und nun nichts Besseres zu tun, als einen Blinden nach dem Weg zu fragen. So hatte es jedenfalls Liesls Vater Wilhelm formuliert, was seine Frau Elisabeth als geschmacklos und unangebracht abgetan hatte. Giselher hatte ihnen geraten, mit dem Bus zurück zum Bahnhof zu fahren. Sie hatten den gleichen Weg, aber sein Labrador Kuno weigerte sich vehement, den Bus zu besteigen. So blieben also Giselher Gebhardt und sein Hund Kuno vom Schicksal verschont, während Wilhelm und Elisabeth Schaller im Heck des Busses Platz nahmen und wenig später ertrinken sollten.

Umstand Drei

Am Tag von Liesls Geburt, dem 6. Juli 1981, feierte Thomas K. im Münchner Hofbräuhaus den erfolgreichen Abschluss seines Hochschulstudiums zum Bauingenieur. Knapp dreizehn Jahre später, genauer gesagt am 19. September 1994, feierte Thomas K. erneut. Diesmal die erfolgreiche Geburt seiner Zwillinge. Während seine Frau Petra sich Stunden später noch immer von den Strapazen der Geburt erholte, trank Thomas K. bereits seine dritte Maß Bier, die damals 4,80 Euro gekostet hatte. Gegen 21 Uhr und nach sechs weiteren Maß Bier war Thomas K. derartig betrunken, dass er etwas tat, das er in seiner gesamten beruflichen Laufbahn noch nie getan hatte. Er erschien am 20. September 1994 nicht zur Arbeit und ließ sich entschuldigen. Er arbeitete als Bauleiter des U-Bahn-Tunnels, der unter anderem auch die Truderinger Straße Richtung Messegelände kreuzte. Aufgrund der starken Regenfälle der letzten Tage hatte er beabsichtigt, zusätzliche Stützen im Tunnel anbringen zu lassen. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Nach dem Unglück quittierte Thomas K. seinen Dienst. Er trank nie wieder einen Tropfen Alkohol.

Umstand Vier

Als Liesl zehn Jahre alt war, hatten sie und ihre Eltern einmal den Versuch unternommen, nach Salzburg zu fahren. Aber bereits am Deutschen Eck, kurz nach Kufstein, begann Liesl so derartig unter Heimweh zu leiden, dass ihr Vater kurzerhand von der Autobahn abfuhr und den Opel Kadett wieder Richtung Tiroler Oberland lenkte. In Wahrheit war es ihm recht, doch seine Frau Elisabeth bedauerte den Entschluss. Sie wäre gern einmal rausgekommen aus Öd. Auch wenn sie dafür in Kauf nehmen musste, ihre ewig schlecht gelaunte und arrogante Cousine Helga in Hallein treffen zu müssen. Aber die Reise und die Abwechslung hätten den unsäglichen Anlass aufgewogen.

Immer wieder startete Elisabeth den Versuch, ihren Gatten für eine kleine Reise zu gewinnen. Als ihre Tochter noch nicht auf der Welt war, waren sie sogar einmal in Italien, besser gesagt, in Südtirol gewesen. Alles war gut, bis auf das Zimmer mit den unbequemen Betten, die Hitze, die Wilhelm nicht schlafen ließ, das nette Lokal, in dem sie keinen Platz bekamen, und den arroganten Deutschen, der Wilhelms Opel im Stau auf der Brennerautobahn touchiert hatte und behauptete, dass Wilhelm zu abrupt gebremst habe. All das sorgte dafür, dass Wilhelm einfach nur zurück nach Öd wollte. Wo er ein bequemes Bett hatte, die Temperaturen erträglich waren, er immer einen Platz beim Jägerwirt bekam und es keine deutschen Touristen gab, die ihm seine Fahrkünste absprachen. In zwanzig Jahren Tätigkeit als Briefträger hatte er keinen einzigen Unfall gebaut oder auch nur einen winzigen Kratzer in seinen gelben Transporter gemacht. Wilhelm war schlichtweg und in aller Bescheidenheit der beste Autofahrer der Welt. Solange er seine Heimatgemeinde nicht verließ.

Als dann noch seine Tochter Liesl zur Welt kam, die den Drang seiner geografischen Verschlossenheit verstärkte, kapitulierte Elisabeth. Wilhelm war aber kein sturer oder gar ignoranter Ehemann. Er spürte, wonach sich seine Frau sehnte, und sah hin und wieder den Kummer in ihren Augen. Als er eine Grußkarte vom Oktoberfest für Andreas Krug in Händen hielt, fasste er einen Entschluss. Er würde seine Elisabeth nach München ausführen. Zum Oktoberfest. Mit dem Zug. Da konnte ihm auch kein Deutscher auffahren und ihm die Verkehrsregeln erklären. Vielleicht hatte er ja doch eine Spur zu heftig gebremst. Er kannte ja bis dato keine Staus.

Die 13-jährige Liesl würde so lange bei der Oma bleiben. Und so kam es, dass Wilhelm und Elisabeth Schaller am Vormittag des 20. September 1994 in Innsbruck Hauptbahnhof den Zug nach München bestiegen. Wilhelm überprüfte mindestens fünfmal, ob sein Pass sicher in seiner Brusttasche ruhte. Dabei war der längst abgelaufen. Aber das verschwieg ihm seine Frau. Sonst wäre er vielleicht noch kurz nach Kufstein aus dem Zug gestiegen und wieder heimgefahren.

Umstand Fünf

Am Morgen des 20. September, der Liesls weiteres Leben für immer verändern sollte, schien zum ersten Mal nach einer Woche wieder die Sonne. Es war ein Dienstag und der 263. Tag des Jahres. Der 64-jährige Bauarbeiter Theo S. verabschiedete sich von seiner Frau Susanne so wie jeden Morgen. Er küsste die Schlafende auf die Stirn, woraufhin diese sich grummelnd wegdrehte und sich noch einmal gemütlich unter der Bettdecke vergrub. Im Gegensatz zu ihm musste sie erst um neun Uhr in der Kosmetikabteilung vom Ludwig Beck Kaufhaus am Marienplatz sein, wo sie in drei Monaten ihr 10-jähriges Betriebsjubiläum feiern sollte. Hätte sie gewusst, dass dies der letzte Kuss ihres fürsorglichen Mannes gewesen war, dann hätte sie wohl ihre Arme um ihn geschlungen und ihn zu sich unter die Decke gezogen und nie wieder losgelassen.

Theo war der Erste, der den Asphalt auf der Truderinger Straße einsacken sah. Er hatte eigentlich schon Feierabend. Es war kurz vor halb sieben am Abend, als er bemerkte, wie der Boden sich auftat. Grundwasser war durch ein Loch in den Bahntunnel gedrungen. Wie in einem Strudel wurde daraufhin das Gestein darüber nach unten gezogen, bis schließlich der Asphalt der Straße wegbrach – direkt an der Bushaltestelle. Im gleichen Moment sah Theo den Bus direkt darauf zusteuern. Er sah sich selber, wie er mit den Armen fuchtelte und nach dem Busfahrer schrie, er solle Gas geben. Bernhard W., der Busfahrer, sah Theo einen Moment lang ungläubig an. Eine Sekunde später riss Bernhard auch schon die Augen auf. Als der Bus über den in sich zusammensackenden Asphalt fuhr, zog der sich rasant bildende Krater das Heck des Busses in seinen Schlund wie ein Monster, das sich bislang unter dem Asphalt verborgen gehalten hatte. Durch die heftigen Regenfälle der letzten Tage war der Krater mit Wasser gefüllt, augenblicklich lief dieses in das Heck des versinkenden Busses. Geistesgegenwärtig öffnete Bernhard die Türen des Busses, zahlreiche Fahrgäste konnten sich aus dem inzwischen senkrecht im Krater steckenden Bus befreien. Erst nach einer Stunde, nachdem die Einsatzkräfte drei Dutzend Verletzte zum Teil mit Seilen aus dem Bus geborgen hatten, bemerkte Busfahrer Bernhard W., dass der Bauarbeiter, der ihn mit winkenden Armen gewarnt hatte, wie vom Erdboden verschluckt war.

Umstand Sechs

Drei Tote hatte das Unglück zu beklagen. Es waren das Ehepaar Wilhelm und Elisabeth S. aus Tirol und der Bauarbeiter Theo S. Es war das schlimmste Unglück in der Geschichte des U-Bahn-Baus in München. Daran erinnert bis heute ein leicht zu übersehender Gedenkstein am Bahnhof Trudering, der den im Krater hängenden Bus symbolisieren soll. Strafrechtlich hatte das Busunglück keine Folgen. Die Ermittlungen gegen den Bauleiter Thomas K. stellte die Staatsanwaltschaft nach mehreren Jahren ein. Ein Gutachten war zu dem Schluss gekommen, dass Sandrisse in der Tonschicht über dem Tunnel der Grund für den Wassereinbruch gewesen waren. Und diese hätten nicht erkannt werden können, so das Gutachten.

Umstand Sieben

Knapp neun Jahre später tat sich in Trudering erneut ein Krater auf und rief Erinnerungen an das Unglück wach. Eine Radfahrerin hatte das sechs Quadratmeter große Wasserloch auf dem Weg zum Ludwig Beck Kaufhaus am Marienplatz zunächst für eine Pfütze gehalten. Als sie diese durchqueren wollte, versank sie und ertrank beinahe. Bald stellte sich heraus, dass die Ursache diesmal ein herkömmlicher Wasserrohrbruch war. Bei der Radfahrerin handelte es sich um die Verkäuferin Susanne S., die nicht unweit von dieser Stelle am 20. September 1994 ihren Mann Theo S. verloren hatte.

TEIL EINS Erinnerungen, Halluzinationen, Gespenster, Briefe, Zorn und Wunder, die keine sind.

22 Jahre später …

… musste Liesl an die Ereignisse von damals denken, als sie im Gastgarten vom Jägerhof saß und ein kleines Päuschen unter dem alten Kastanienbaum mit einem warmen Apfelstrudel und einer heißen Schokolade einlegte. Ihre Freundin Barbara hatte heute keine Zeit. Na gut, dann eben allein. Die Kieselsteine am Boden knirschten unter Liesls Füßen. Runde Holztische unter blau karierten Tischdecken. Eiskarten mit Heißer Liebe und Spaghetti-Eis. Genau wie damals. Es hatte sich nichts und alles geändert. Am Nebentisch saß ein junges, in Pubertät getränktes Mädel und hatte nur Augen für die digitale Welt in ihrem smarten Kastl. Ihr gegenüber saßen, völlig analog und in echt, ihre Großeltern. Der Traxl Hermann und seine Frau Traudl. Traudl Traxl, was für ein Name, dachte Liesl. Zugegeben, die zwei waren nicht gerade ein Ausbund an Gesprächigkeit, aber doch hatten sie was zu erzählen. Man musste nur zuhören. Das erlebte Liesl immer wieder, wenn sie ihre Post unters Volk brachte. Man musste nur die richtigen Fragen stellen. Aber das junge, hormonell betäubte Ding am Nebentisch stellte keine Fragen. Sie schaute ihre Großeltern nicht einmal an. Liesl hatte damals auch keine Fragen gestellt, bevor ihre Eltern in den Bus nach Innsbruck gestiegen waren. Genau hier hatten sie davor noch gesessen, unter der Kastanie, bei einem warmen Apfelstrudel und heißer Schokolade in einem weißen Keramikbecher. Nur der Papa hatte schon am Vormittag ein großes Bier getrunken. Weil er so nervös war. Die Mama hatte mit den Zähnen geknirscht, so wie unterm Tisch der Kiesel. Da war Liesl in etwa so alt gewesen wie dieses teilnahmslose Ding da vorne. Smartphones hatte es 1994 halt noch nicht gegeben. Wenn sie damals gewusst hätte, dass sie ihre Eltern niemals wiedersehen würde, welche Fragen hätte sie dann wohl gestellt? Da musste sie oft drüber nachdenken. Was sind die richtigen letzten Fragen? Was ist die letzte richtige Frage? Sie hatte bis heute noch keine Antwort darauf gefunden. Vielleicht wäre es ja auch gar keine Frage, vielleicht wäre es etwas ganz anderes. Vielleicht nur ein Blick, der alle Fragen dieser Welt erübrigte.

Sie wischte sich die Tränen weg, zählte das Geld ab und legte es neben den Teller. Beim Gehen blieb sie noch einmal kurz beim Tisch der Traxls stehen und fuhr dem jungen Ding wie zufällig mit der Hand über die Schulter. „So liebe Großeltern wie du sie hast, hätte ich auch gern. Grüß euch.“

Und schon saß sie wieder in ihrer gelben Rakete und brachte den Leuten die Post. Und wer heute, an ihrem Geburtstag, keinen Liebesbrief erhielt, der bekam zumindest ein Lächeln von der Liesl. Völlig analog.

Unter anderen Umständen …

… wäre es Liesl vielleicht gar nicht aufgefallen. Wenn sie nüchtern gewesen wäre, zum Beispiel. Genau. Wäre sie nüchtern gewesen, dann hätte sie in ihrem gelben Postauto gesessen, wie üblich kurz vor der langgezogenen Kurve einen Gang runtergeschaltet, das Gaspedal durchgetreten, bis sie den Rost vom Unterboden gespürt hätte, und ein paar Sekunden später wäre sie auch schon mitsamt ihrer gelben Rakete über die Stöttlbachbrücke gesprungen. Schwerelos durch die Nacht. Wie Helene Fischer, nur anders. Oder wie E.T. beim Nach-Hause-telefonieren. Auf einen kurzen Sprung zum Mond. Dann hätte sie gar kein Auge gehabt für das, was sie im nicht ganz so schwerelosen Zustand gesehen hatte. Kein Wunder, nach zwei Flaschen Wein, zwei Stunden nach Mitternacht mit ihrer besten Freundin Barbara, draußen auf der schönen Holzterrasse bei Mondenschein. Ach, wenn’s doch nur der Wein gewesen wäre …

Zehn Minuten zuvor war Öd noch in Ordnung gewesen. Was man von der Welt im Allgemeinen eher nicht behaupten konnte. Oder von Liesls Wahrnehmungszustand. Wenn es das Wort überhaupt gab. Jedenfalls war dieser Zustand doch ein wenig getrübt. Sie war sich im Nachhinein nicht so ganz sicher, konnte das aber später vor ihrer Freundin Barbara keineswegs zugeben, und vor dem Postenkommandanten Tröger erst recht nicht. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? War es eine Halluzination gewesen? Lag es vielleicht an dem vertrockneten Gras, das Barbara irgendwann zu späterer Stunde aus dem ehemaligen 400g-Nutellaglas gezogen und zu einem sentimentalen Joint verarbeitet hatte?

„Das waren noch Zeiten“, hatte Barbara mit einem leichten Grinser gesagt und sich dann rücklings aufs Sofa gleiten lassen. In Zeitlupe. Liesl wusste bis dahin gar nicht, dass sich ein Mensch so langsam bewegen konnte. Das war schon eher eine Zeitlupe in Zeitlupe. Da hatte Barbara gerade mal den ersten Zug genommen. Und dann kam lange nichts mehr. Nicht einmal ein Schnarcher, geschweige denn ein erleichterter Seufzer.

Liesl hatte sich dramatische Geheimnisse aus Barbaras Jugendtagen erhofft, Geständnisse von exzessiven Eskapaden, Sexgeschichten oder illegalen Anarcho-Aktionen zur Rettung der Welt, die man nur der besten Freundin unter Drogeneinfluss gestand. Aber nichts. Gar nichts. Nix mit exzessiv. Nur ein banales und völlig nichtssagendes und absolut unexzessives „Das waren noch Zeiten“, um dann nach einer gefühlten Ewigkeit zu beichten, dass man mal „des Nächtens“ mit 16, „völlig verrückt, das musst du dir einmal vorstellen“, verbotenerweise über den Zaun vom Freibad gestiegen sei, um nackt (!!) schwimmen zu gehen. Und dass „dieser Wahnsinn“ beinahe daran gescheitert wäre, weil man mit der Jacke am Zaun hängen geblieben war, es dann aber doch geschafft hatte, und als man dann endlich drin war, bemerken musste, dass man das Handtuch vergessen hatte, und schon wieder umdrehen wollte. Hochdramatisch! Und dann aber, oh Heldentat, trotz einer Wassertemperatur von 23 Grad in Unterwäsche (!!) ins Wasser gestiegen (nicht gesprungen) sei und beim Verlassen des Freibads gemerkt habe, dass das Tor „eh nicht abgesperrt gewesen war“, „du kannst dir gar nicht vorstellen, was wir gelacht haben“.

Am Ende der nicht enden wollenden und von Pointen befreiten Nachtbadeaktion hatte sich Liesl wieder nach der Stille während der Zeitlupe gesehnt. Barbara hatte gar nicht mehr aufgehört zu reden, ohne Punkt und Komma. „Du musst dir vorstellen, die Jacke habe ich gerade erst gekauft gehabt, das war so ein bunter Strickpullover mit ganz vielen Löchern, also eigentlich war das gar keine Jacke und auch nicht bunt, eher nur weiß, so einMeshCrochet Top LongSleeve Schulterfrei Zeug, das hätte ich mir eigentlich denken können, dass ich damit hängen bleib, weil der so irre dicke Maschen hatte … blablabla …“

Irgendwann war Barbara dann still. Oder sie war geschockt, weil Liesl plötzlich nicht mehr aufgehört hatte zu reden und ihrer Freundin alle ihre Exzesse gebeichtet hatte. Am Anfang war Liesl das gar nicht aufgefallen. Erst nach einer Weile, quasi in einer Lufthol-Apnoe-Tauch-Pause, war die tiefe betretene Schockstarre Barbaras nicht mehr zu übersehen. Liesl glaubte sich zu erinnern, dass sie was von einer Weltreise erzählt hatte, von einer Flussfahrt in einem völlig überladenen gelben Kanu. Sie erinnerte sich an ihre Verwunderung darüber, dass Amazon nicht nur Pakete verschickte, sondern auch ein Gewässer war. Von einer Reise zu bisher unentdeckten Pygmäen hatte sie geredet, denen Liesl als allererste Briefträgerin der Welt das erste Paket überhaupt gebracht hatte, und dass in dem Paket ein funkelnagelneuer Dyson Supersonic Haarfön gelegen hatte, den logischerweise keiner von den Pygmäen gebrauchen konnte, schon allein, weil sie im Dschungel keinen Strom hatten und Fönfrisuren den Pygmäen sowieso ziemlich wurscht waren. Liesl hatte Gott sei Dank an einen Retourschein gedacht. So Zeug hatte sie geredet. Was so ein Nutella-Gras-Drogenrausch doch alles anrichten konnte.

So erging es ihr auch mit dem unheiligen Geist, den sie oben auf dem Omeshügel sah, als sie zu Fuß (oder auf allen vieren?) morgens um halb drei den Weg nach Hause antrat. Es passte aber auch alles zusammen, der Vollmond, der sternenklare Himmel und oben auf der Hügelkuppe die zaundürre Jesusgestalt, die wie bei der Oster-Prozession ein mächtiges Kreuz trug. Den Kreuzbalken wie zwei steife, gebrochene Flügel von sich gestreckt, als würde Jesus nicht nur übers Wasser gehen, sondern auch noch fliegen lernen wollen. Dazu noch das schleifende Geräusch des Holzbalkens am Schotter. Wie eine Ackerfurche, die den Tod säte. Da soll noch einer keine Angst bekommen. Und über alldem ragte auch noch ein unfassbar langer, einarmiger Riese pedantisch in den Sternenhimmel, durch den der große Wagen ratterte. Liesl wagte es gar nicht, sich zu bewegen. Sie starrte nur mit offenem Mund hinauf und krallte sich dabei mit beiden Händen in den Boden. Vielleicht weil sie glaubte, dass der Tsunami in ihrem Kopf sie dann nicht wegwehen konnte. Was für ein höllisches Zeug hatten sie da geraucht? Jetzt begann auch noch in ihrem linken Ohr ein mittelmäßiger Kirchenchor Jesus Christ Superstar zu singen, während sich im rechten Ohr Helene Fischers Stimme kurzatmig durch die Nacht quälte und was von Lucy in the Sky with Diamonds sang. Liesl wusste gar nicht, welche Ohrmuschel sie zuerst zuhalten sollte, damit sie nicht völlig verrückt wurde. Schließlich schlug sie sich mit den Händen auf die Ohren, damit der Wahnsinn in ihrem Kopf den Wahnsinn da oben auf dem Hügel nicht noch mehr anfütterte. Aber es hörte nicht auf. Im Gegenteil, jetzt sangen der Kirchenchor und Helene auch noch gemeinsam Sympathy for the Devil. Und der unheilige Heilige, der graue Bote da oben am Hügel, sah im Gegenlicht aus wie der Herr aller Ringe. Da hob er auch schon das schwere Kreuz, zuerst über seine Schultern, dann hoch über seinen Kopf, als wäre er nicht nur ein Halbgott, sondern Olympia, trotz seiner dürren, viel zu langen Arme. Oder war das vermeintliche Kreuz gar kein Kreuz? Sah es nicht eher wie eine große schwarze Sturmkrähe aus, die ihre gebrochenen Flügel von sich streckte, in die Höhe, dem Vollmond entgegen wie eine Opfergabe? Und genau in dem Moment, in dem der Kirchenchor und Helene den Refrain anstimmten, warf der mächtige Zauberer die leblose Frau in hohem Bogen in die Tiefe. Pleased to meet you. Hope you guess my name. But what’s puzzlin’ you. Is thenature of my game. Gleich darauf verlor Liesl ihr letztes bisschen Bewusstsein und fiel in ihrem inneren Düsterwald in einen tiefen, unruhigen Schlaf.

Zwei Wochen zuvor …

… war die Welt noch eine gänzlich andere. Die Sonne stand hoch und freundlich über Öd und bettete die kleine Tiroler Gemeinde in Idylle. Liesl parkte vor dem Nahversorger ihres Vertrauens, in dem auch die Postfiliale untergebracht war, und lud ihre tägliche Arbeit in ihre gelbe Rakete. Drinnen im Supermarkt hockte Liesls Kollegin Roswitha hinter dem kleinen Postschalter auf ihrem abgerockten Hocker gleich neben der Wursttheke. Jedes Mal, wenn sie auf die Delete-Taste an ihrem Computer drückte, flüsterte sie leise aber bestimmt „Basta“.

Liesl glaubte es bis nach draußen zu hören. Aber vielleicht war es auch nur Gewohnheit. Manchmal dachte sie, dass Roswitha nicht nur irgendwelche Mails löschte, sondern alles Böse, alles Schlechte außerhalb von Öd, und es mit ihrem basta ein für alle Mal ausradierte. Als könne sie jedes Unglück auf der Welt durch ein resolutes „Basta“ und einen festen Tastendruck ungeschehen machen. Roswitha wäre eine gute Päpstin geworden, resolut, aber gerecht. Was auch immer die Post-Päpstin löschte, niemand würde es wagen, die Entscheidungen der Heiligen Bastasia infrage zu stellen. Erst recht nicht Susi, in Öd allseits bekannt als Kleenex-Susi, weil sie so nah am Wasser gebaut war. Susi hatte immer ein Paket Taschentücher neben der Kassa stehen, falls ihr wieder mal irgendjemand eine rührende oder gar tragische Geschichte erzählte, während sie den Einkauf piepsend über den Scanner schob. Nicht selten mussten die Leute die Frage nach dem Rechnungsbetrag wiederholen, weil er in Susis tränenreichen Antworten erstickte.

„39,98 €“

„Was hast gesagt, Susi?“

„Gott, ist das tragisch, Andi, ich wünsch dir alles Gute. Dir und deiner Katz’. Neununddreißigschniefachtundneunzig.“ Und schon schniefte sie ins Taschentuch und Andi zahlte schließlich mit Karte, weil er vor lauter Rotz und Tränen immer noch nicht verstanden hatte, wie viel sie von ihm wollte. Dabei hatte er ihr nur von seiner Katze erzählt, die drei Tage nicht heimgekommen war. Aber so war die Susi. Sie saß zwar an der Kassa, aber noch näher am Wasser.

Das kleine Geschäft erinnerte Liesl an ihren Kaufmannsladen, mit dem sie als Kind so gern gespielt hatte, wo es alles wie in echt gab. Von winzig kleinen Persil-Packungen bis hin zum Melitta-Filterkaffee. Das Obst war aus Holz und die kleine gelbe Registrierkasse, bei der die Schublade immer geklemmt hatte, machte jedes Mal pling, wenn Liesl auf eine der sperrigen Tasten gedrückt hatte.