Oh du tödliche ... - Karin Büchel - E-Book

Oh du tödliche ... E-Book

Karin Büchel

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Beschreibung

"Oh du tödliche ..." ist eine weihnachtliche Krimi-Anthologie mit humorvollen, manchmal bitterbösen und immer wieder überraschenden Kurzkrimis von folgenden neun Autorinnen und Autoren: Rosemarie Benke-Bursian (Hrsg.), Karin Büchel, Nina Camara, Magnus Haensler, Mona Moldovan, Christine Neumeyer, Rebecca Schneebeli, Petra Stangier, Ashley Wood.

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Seitenzahl: 184

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Über die Autorinnen und Autoren

Die Autorinnen und Autoren dieser Krimi-Anthologie kommen aus dem gesamten deutschsprachigen Bereich: Deutschland, Österreich und Schweiz.

Sie alle haben sich in der #KrimiSchmiede zusammengefunden, einer Schreibgruppe auf Facebook, in der auch die Idee zu dieser Krimi-Anthologie geboren wurde.

Und so breit gestreut die diversen Wohnsitze sind, so breit gestreut sind auch der Erfahrungsschatz und die Erzählstile, weshalb jeder Krimi seine ganz persönliche und einzigartige Note besitzt.

Über die Herausgeberin

Rosemarie Benke-Bursian ist eine Autorin, die bereits in unterschiedlichen Genres veröffentlicht hat, darunter auch mehrere Krimis.

Seit vielen Jahren leitet sie diverse Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, arbeitet als Autorencoach und freiberufliche Lektorin und hat 2019 die #KrimiSchmiede gegründet.

Über die #KrimiSchmiede

Die #KrimiSchmiede ist eine Arbeitsgruppe auf Facebook, in der sich alles ums Krimi schreiben, veröffentlichen und vermarkten dreht.

Inhalt

Rosemarie Benke-Bursian: Was für ein Schatz!

Karin Büchel: Tödliche Türchen

Nina Camara: Gilford

Magnus Haensler: Fichtenschlachten

Mona Moldovan: Ein todsicherer Plan

Christine Neumeyer: Tödlicher Weihnachtsfrieden

Rebecca Schneebeli: Plätzchen für den Hundemörder

Petra Stangier: In der Weihnachtsbäckerei

Ashley Wood: Eine irre Fahrt

Was für ein Schatz!

Rosemarie Benke-Bursian

»Anja?«

»Hier bin ich.« Anja winkte, um Chris auf sich aufmerksam zu machen, der mal wieder davongeeilt war, obwohl sie vor der Auslage des Juweliers Krüger stehen geblieben war. Durch die weihnachtliche Dekoration schien der Schmuck noch einmal mehr zu leuchten.

»Ist sowieso zwecklos«, ertönte Chris' Stimme neben ihr. »Ich habe dein Weihnachtsgeschenk schon.«

»Deswegen darf ich doch trotzdem mal gucken«, sagte Anja. »Genau dafür haben wir uns doch verabredet. Um mal zu gucken.«

»Auf dem Weihnachtsmarkt haben wir gesagt. Nicht bei teuren Juwelieren.«

»Wenn er doch auf dem Weg liegt … Sieh mal das Armband dort. Ist das nicht wunderbar? Würde das nicht genau zu meiner neuen blauen Bluse passen? Und ist gar nicht so teuer, neunhundertneunundneunzig Euro. Das ist genaugenommen sogar ein Schnäppchen für dieses Stück.«

»Vielleicht solltest du mal deine Brille aufsetzen. Dann würdest du sehen, dass da nicht drei, sondern vier Neuner stehen. Fast zehntausend Euro! Die Hälfte meiner Ersparnisse.«

Anja presste ihre Nase gegen die Scheibe. »Jetzt, wo du es sagst …«

»Komm weiter. Wir wollten noch eine Kleinigkeit für meine Mutter aussuchen. Außerdem wird mein Bruder auch zum Festessen kommen.«

»Henning? Und das sagst du jetzt erst? Wieso denn?« Sie zog die Nase kraus. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Dieser Nichtsnutz von Bruder. Ein kurzes Zusammentreffen hatte ausgereicht, um ihn zu ihrem Lieblingsfeind zu machen. Und diese Antipathie beruhte auf Gegenseitigkeit.

»Meine Mutter hat ihn und mich quasi dazu überredet. Ich weiß, er ist etwas unkonventionell, aber trotzdem mag ich ihn.«

»Unkonventionell nennst du das? Er ist ein Spieler und wenn du ihm nicht immer wieder aus seiner prekären Lage heraushelfen würdest, wären deine Ersparnisse auch nicht so zusammengeschrumpft.«

»Um dir dann so ein Armband zu schenken?« Chris lachte.

Wütend entzog Anja ihm ihren Arm, den er genommen hatte, um sie vom Schaufenster fortzuziehen. »Es gibt keinen Grund, mich auszulachen.«

»Aber ich lache dich doch nicht aus. Selbst wenn ich doppelt und dreifach so viel hätte, wären zehntausend Euro doch wohl ein bisschen viel für so ein Armband. Und überhaupt, wann wolltest du ein so teures Schmuckstück denn schon tragen?«

»Es gibt immer Gelegenheiten!« Anja steckte die Hände in die Manteltaschen und eilte mit großen Schritten davon. So zwang sie Chris dazu, ihr nachzulaufen, wenn er sie im zunehmenden abendlichen Gewühl nicht aus den Augen verlieren wollte.

»Meine Verehrung, schöne Frau«, sagte Henning und deutete eine Verbeugung an, die gerade noch als solche zu erkennen war. Die Arme hatte er dabei auf den Rücken gelegt, sodass Anjas ausgestreckte Hand ins Leere griff.

»Henning«, rief Chris und umarmte seinen Bruder. Dadurch drängte er Anja in den Hintergrund, die Henning gerade bitten wollte, nicht mit Schnee und Salz verunzierten Schuhen in die Wohnung zu trampeln,

Und schon war es zu spät. Henning stand bereits in der Wohnung, quetschte sich nach der Begrüßung seines Bruders auch noch unvermittelt an ihm und Anja vorbei, um die Arme nach seiner Mutter auszustrecken, die im Türrahmen zur Diele aufgetaucht war.

»Wieder mal kein Benehmen«, tadelte diese, nahm ihren Sohn aber dennoch kurz in den Arm. »Und nun zieh deine Schuhe aus, schau mal, was du angerichtet hast!«

»Oh sorry«, sagte Henning, schaute dabei aber nicht Anja, sondern seine Mutter an.

»Nicht so schlimm«, sagte Chris. Dann verschwanden alle im Wohnzimmer, während Anja Hennings Schuhe, unter denen sich eine große Pfütze auszubreiten begann, kurzerhand vor die Haustür stellte. Die Hand am Kinn betrachtete sie den schmutzigen Boden, den sie vor gut einer Stunde gewischt hatte.

Nun gut, wenn es nicht so schlimm war, musste sie es auch nicht wegputzen. Eigentlich war es ja auch Chris' Wohnung, nicht ihre. Obwohl sie vor einiger Zeit hier eingezogen war. Noch bevor sie seine Mutter und seinen Schmarotzer-Bruder kennengelernt hatte.

Das Weihnachtsessen verlief dann wider Erwarten recht fröhlich. Henning brachte seinen Bruder und seine Mutter immer wieder zum Lachen. Nur Anja schien aufzufallen, dass seine Kleidung noch schäbiger aussah als beim letzten Mal, dass er sich häufig umschaute und seine rechte Hand immer wieder leicht auf den Tisch klopfte.

Der will sicher wieder Geld, dachte sie. Doch sie sagte nichts, lachte mit, wenn es komisch war, und verzog den Mund zumindest zu einem künstlichen Lächeln, wenn sie es nicht witzig fand.

Schließlich bedankte sich Chris' Mutter überschwänglich für die Einladung, lobte das Essen und erwähnte dann mit einer kleinen Träne in den Augen, wie schade es doch sei, dass Chris' Vater das nicht mehr miterleben durfte.

»Ich schließe mich dem Dankeschön an«, sagte Henning und wischte sich mit seinem Hemdsärmel über seine fettigen Mundwinkel.

Angeekelt blickte Anja von ihm fort zu Chris.

Der wiederum verstand das offenbar als Signal und forderte alle auf, vom Esstisch ihn die Wohnecke zu wechseln, wo der geschmückte Christbaum stand. Chris knipste die Beleuchtung an und dann wünschten sie sich alle frohe Weihnachten. Nun reichte Henning auch Anja kurz die Hand. Dann tauschten sie Geschenke aus.

Henning hatte eine Flasche Rotwein für alle mitgebracht, die er kurzerhand auf den Wohnzimmertisch stellte. Chris Mutter schenkte ihren Söhnen je einen warmen Schal, in Anjas Päckchen war ein Halstuch eingewickelt.

Als alle Geschenke verteilt schienen, sich alle artig bedankt hatten und Anja sich anschickte, den süßen Nachtisch aus der Küche zu holen, schlug Chris klingend an sein Glas und alle waren augenblicklich mucksmäuschenstill, denn ganz offensichtlich hatte er etwas Wichtiges mitzuteilen.

»Liebe Mama, lieber Henning, aber vor allem meine liebe Anja«, begann er etwas unbeholfen. Seine Finger grabbelten dabei wie verzweifelt in seiner Hosentasche, gleichzeitig machte er einen Schritt nach vorne auf Anja zu, taumelte – hatte er etwa schon zu viel getrunken? – und stürzte nach vorn.

Gerade als Anja ihn stützen wollte, hatte er sich wieder gefangen, landete lediglich auf einem Knie. Aus dieser Position schaute er Anja ernst an und erst jetzt begriff sie, dass dieser Kniefall Absicht gewesen war, wenn auch in der Ausführung etwas ungeschickt. Wohl, weil Chris immer noch eine Hand in der Hosentasche stecken hatte, die er nun mühevoll herauszog. Im nächsten Augenblick hielt er ihr mit ausgestreckten Armen ein handtellergroßes Päckchen entgegen. »Meine allerliebste Anja, willst du meine Frau werden?«

Anja wurde erst rot, dann blass. Dann bekam sie keine Luft mehr. So musste sich sterben anfühlen. Ihre ganze vergangene Zeit mit Chris spulte sich in ihrem Hirn wie ein Film in Zeitraffer herunter: Ein attraktiver, athletischer Mann in ansehnlicher Position bei einer großen Optikfirma – früher nannte man so jemanden eine gute Partie – hatte ihr das Gefühl gegeben, das große Los gezogen zu haben. Eine unbeschwerte Zeit folgte und schließlich zog sie zu ihm.

Und lernte seine Mutter kennen, in deren Anwesenheit er immer ein bisschen zum Kind mutierte, später auch Henning, der sich immer wieder in finanzielle Notlagen brachte. Wenn Anja es richtig verstand, spielte er. Aber Chris schützte ihn, half ihm immer wieder auf die Beine und so machte Henning aus dem hoffnungsvollen jungen Mann an ihrer Seite im Nu das, was man wohl eher eine schlechte Partie nennen konnte.

Und genau da machte er ihr einen Heiratsantrag.

Anja klebte die Zunge am Gaumen, was es ihr unmöglich machte auch nur einen Ton zu sagen, geschweige denn, Chris eine Antwort zu geben.

Ihr Freund strahlte sie weiterhin erwartungsvoll an, öffnete die Schachtel und … zum Vorschein kam kein Ring, sondern das Armband. Dasjenige, welches sie im Schaufenster angehimmelt hatte und das viel zu teuer war, als dass Chris es auch nur eines einzigen weiteren Blickes gewürdigt hatte.

Was für ein Schatz!

Ihre Zunge löste sich, sie konnte wieder atmen und im nächsten Moment auch wieder sprechen.

»Ja«, hauchte sie filmreif, dabei war das Hauchen tatsächlich echt, so sehr war sie beeindruckt.

Dafür hatte es nun Chris' Mutter die Sprache verschlagen, während ihre Augen übergroß wurden.

»Ist aber nicht echt, oder?«, fragte Henning.

»Aber natürlich ist das echt!«, schnaubte Chris entrüstet. »Hier, seht ihr? Das Zertifikat. Ich werde meiner Zukünftigen doch nicht mit billigem Schmuck kommen, wenn ich um ihre Hand anhalte!«

Seine Mutter schluckte. »Das muss ja ein Vermögen gekostet haben.« Ihre Stimme klang keineswegs freudig, nicht mal wohlwollend.

»Du spinnst«, sagte Henning und wandte sich ab.

Chris erhob sich endlich und blickte Mutter und Bruder finster an. »Das ist mein Geld und was ich damit mache, geht euch gar nichts an. Anja ist es mir jedenfalls wert!«

»Ich danke dir, mein Lieber«, sagte Anja. »Das ist das schönste Geschenk, das ich jemals erhalten habe.« Sie streckte ihm ihren linken Arm hin und Chris legte ihr das Schmuckstück an. Die Saphire und Brillanten glitzerten im Schein der künstlichen Kerzen vom Weihnachtsbaum um die Wette.

Dann fiel Anja ihrem Verlobten um den Hals und seine Mutter rang sich ein »Herzlichen Glückwunsch« ab.

»Darauf sollten wir anstoßen«, brummte Henning und öffnete just die Flasche Wein, die er zuvor als Geschenk abgestellt hatte.

Der Rest des Abends verlief dann mehr höflich als fröhlich, aber immerhin ohne Streitigkeiten, obwohl noch reichlich Wein floss.

Oder vielleicht gerade deshalb.

Schließlich fielen alle müde ins Bett. Chris Mutter im Gästezimmer, Henning auf der Couch im Wohnzimmer, Chris und Anja im Schlafzimmer.

Am ersten Weihnachtstag gingen alle zusammen essen, Anja trug stolz ihr Armband, die dazu passende blaue Bluse und eine edle schwarze Hose.

Wieder zu Hause gab es Kaffee und Kuchen und danach war das Armband weg.

»Was meinst du mit weg?«, fragte Chris irritiert. Seine Augen verrieten, dass er das, was Anja mit »weg« meinte, nicht wirklich verstand, nicht verstehen wollte.

»Ich habe es nur kurz abgelegt, als ich in der Küche hantiert habe. Damit ihm nichts passiert, ich nicht irgendwo hängen bleibe, es nirgends anschlägt …« Anja schlug die Hände vors Gesicht. »Und als ich es eben wieder anlegen wollte, war es nicht mehr da.«

»Ach Blödsinn«, sagte Chris' Mutter. »Du hast wahrscheinlich nicht aufgepasst, wo du es wirklich hingelegt hast, oder es versehentlich runtergeworfen.«

»So wird es sein«, krächzte Chris. »Aus der Küche kann es ja nicht verschwinden.«

Danach suchten alle in der Küche nach dem Schmuckstück. Henning zog sogar die Schubladen auf, bis seine Mutter missbilligend den Kopf schüttelte.

Das Armband blieb verschwunden.

»Bist du sicher, dass du es überhaupt in der Küche abgelegt hast?«, fragte Henning schließlich und schaute auf die Uhr. »Tut mir leid, ich wollte eigentlich wieder los.«

»Du kannst doch jetzt nicht fahren?«, sagte Chris und wirkte direkt verstört.

»Und bist du sicher, dass du es nicht gefunden hast?«, fragte Anja zischend in Hennings Richtung.

»Was willst du damit sagen?«, fauchte Henning und ballte eine Faust.

»Ruhe!«, schrie Chris' Mutter. »Vom Streiten kommt das Armband auch nicht zurück! Und bitte Anja, halt dich mit Anschuldigungen zurück.«

Anja schlug erneut die Hände vors Gesicht, ein lauter Schluchzer drang durch ihre Finger, dann drehte sie sich zur Tür, wollte hinausrennen.

Chris legte den Arm um sie. »Seht ihr nicht, wie gestresst sie ist?«, sagte er.

»Das kommt davon, wenn man so teure Geschenke macht«, sagte seine Mutter, »ich muss mich jetzt mal setzen.« Damit lief sie an ihnen vorbei ins Wohnzimmer.

»Wo sie recht hat, hat sie recht«, grummelte Henning und folgte seiner Mutter.

»Es tut mir so leid«, sagte Anja und rieb ihre Nase an Chris' Hemdkragen.

»Mir auch. Aber Henning hat ganz sicher nichts damit zu tun.«

»Dann müsste es ja irgendwo zu finden sein«, schniefte Anja.

»So ist es. Und deshalb taucht es auch früher oder später wieder auf.« Dann presste er die Lippen zusammen als glaube er selbst nicht an seine Worte.

Auf Bitten von Mutter und Bruder reiste Henning an diesem Tag nicht ab. Und auch nicht am nächsten, sondern beteiligte sich sogar daran, das ganze Haus zu durchsuchen. Ohne Erfolg.

Nach den Feiertagen meinte Anja, man müsse vielleicht doch die Polizei einschalten. Dabei schielte sie zu Henning.

»Wie bitte? Glaubst du etwa wirklich, jemand von uns hätte das Armband gestohlen?« Chris' Mutter schien so entrüstet, dass sie sich kurz ans Herz fasste und nach Luft japste.

»Mama, bitte, das ist nicht sehr hilfreich«, sagte Chris, eilte dann aber in die Küche, um ihr ein Glas Wasser zu holen.

»Ich lass mich hier nicht länger beschuldigen. Ich reise ab!«, rief Henning wütend.

»Ich habe dich ja gar nicht genannt«, sagte Anja.

»Ach? Hast du etwa an mich gedacht?«, fragte seine Mutter, griff sich erneut ans Herz und nahm dann mit einem »Danke« das Glas an, das Chris ihr gebracht hatte.

»Sie hat an mich gedacht«, sagte Chris und alle schauten mit großen Augen auf ihn. »War ein Scherz«, sagte Chris und kniff die Lippen zusammen.

Niemand lachte.

»Nur weil deine Tu…« Henning holte einmal tief Luft. »Verlobte nicht auf ihre Sachen aufpassen kann, stehen wir hier alle unter Generalverdacht. Das müssen wir uns doch nicht gefallen lassen«. Er war laut geworden und rannte nun im Zimmer auf und ab. »Und dass ich nicht abreisen darf, grenzt schon an Nötigung.«

»Wenn du wegfährst, weißt du, was passiert«, sagte seine Mutter und stellte das leere Glas auf dem Tisch.

»Natürlich. Dann werde ich zum Hauptverdächtigen und die da …«, er zeigte auf Anja, »rennt dann wirklich zur Polizei.«

»Was dir aber nichts ausmachen sollte, wenn du nichts zu verbergen hast«, sagte Chris.

»Wie bitte? Machst du mich jetzt etwa auch noch an?« Henning sah Chris mit gleichzeitig empörtem wie enttäuschtem Blick an. Dann lief er aus dem Zimmer und kurz darauf knallte die Haustür zu.

»Ist er jetzt tatsächlich gegangen?«, fragte Anja.

»Der kommt schon wieder«, sagte Chris' Mutter und schloss die Augen. »Ich brauche ein bisschen Ruhe.«

»Und ich muss einkaufen gehen«, sagte Anja. »Ich hatte ja nicht damit gerechnet, dass wir jetzt noch Gäste haben.«

»Wir können auch beide abreisen«, rief Chris' Mutter. »Was geht uns dieses blöde Armband überhaupt an?«

»Bitte Mutter, reg dich nicht auf. Anja hat es doch nicht böse gemeint. Sie freut sich, wenn ihr bleibt.« Chris seufzte. »Ruh dich aus. Ich suche noch ein bisschen. Ich glaube, in der kleinen Abstellkammer haben wir noch nicht nachgeschaut.«

»Abstellkammer? Wie soll es denn dahin gekommen sein?«, fragte Anja, ging in die Küche, musterte die Vorräte und verließ das Haus.

Chris' Mutter und Henning blieben. Die Mutter schnitt den Staubsaugerbeutel auf, schüttete den Inhalt auf Zeitungspapier, Henning schraubte das Abflussrohr von der Spüle ab, nachdem Chris ihm ein paar Scheine zugesteckt hatte, und nach einer kleinen Zulage auch noch die der anderen Waschbecken. »Deine Toilette baue ich aber nicht aus«, sagte er danach.

Am Ende der Woche war die Stimmung auf dem Tiefpunkt. Das Armband war und blieb verschwunden und inzwischen hatte bald jeder reihum jeden verdächtigt.

Von Vorfreude auf eine Hochzeit war man so weit entfernt wie der Nord- vom Südpol.

Silvester stand vor der Tür, keiner hatte richtig Lust zu feiern und dann hockten sie doch zusammen und tranken eine Flasche nach der anderen, bis jeder dort einschlief, wo er gerade saß.

Am Neujahrstag verkündeten Henning und seine Mutter, dass sie, wenn gewünscht, am nächsten Tag noch einmal eine gründliche Hausdurchsuchung mitmachen, am darauffolgenden Tag dann aber wirklich abreisen würden, Armband hin oder her.

Anja brachte erneut die Polizei ins Spiel, damit niemand das Armband außer Haus tragen könne, woraufhin Henning fast hysterisch lachte und sagte, dass ja wohl mittlerweile jeder dazu mehr als genug Gelegenheit gehabt hätte.

Die Hausdurchsuchung sollte diesmal ganz systematisch durchgeführt werden. Am Vormittag saßen sie zusammen und jeder bekam einen Raum zugeteilt, alle zwei Stunden sollte gewechselt werden, so dass jeder jeden Raum einmal gründlich durchgesehen hätte.

Nur Anja klinkte sich einmal mehr aus, um Einkäufe zu machen und um im Auftrag von Chris zur Bank zu gehen. Der lange Besuch hatte einige zusätzliche Kosten verursacht.

Schließlich kam der Morgen, an dem Henning und seine Mutter ihre Sachen packten. Anja und Chris halfen dabei, die inzwischen überall verstreuten Sachen seiner Mutter zusammenzutragen. Sie hatte die Angewohnheit, an jedem Sitzplatz eine Jacke hängen zu lassen. Für alle Fälle, falls es ihr zu kalt wurde. Dann konnte sie schnell in eine hineinschlüpfen, ohne aufstehen zu müssen.

»Hier am Erkerfenster ist noch ein Brillenetui von ihr«, sagte Chris und griff danach.

»Und die dicke Wolljacke«, sagte Anja, nahm sie in die Hand, schlug sie einmal kurz auf und – mit einem lauten KLING fiel etwas auf den Fliesenboden.

Chris, der gerade das Brillenetui geöffnet hatte, verharrte in seiner Bewegung wie schockgefroren.

Anja öffnete den Mund, doch bevor sie etwas sagen konnte, ertönte eine Stimme: »Was steht ihr denn da herum wie die Ölgötzen?«

Chris' Mutter war in den Raum gekommen, hinter ihr erschien Henning.

»Da ist es«, flüsterte Chris.

Seine Mutter kam näher und schaute auf den Boden.

»Ach, ist das nicht das verschwundene Armband? Wie kommt das denn jetzt hierher?«

»Das ist gerade heruntergefallen«, sagte Anja. »Als Chris das Brillenetui aufgemacht hat.«

»Als du die Jacke ausgeschüttelt hast«, sagte Chris.

»Von was redet ihr denn?«, fragte Chris' Mutter, bückte sich und hob das Armband auf.

»Dass es bei deinen Sachen war, Mama.«

»Wie bitte?«

»Es ist aus dieser Jacke gefallen, Mama!« Chris deutete auf die Wolljacke in Anjas Hand.

»Oder aus dem Brillenetui«, sagte Anja.

»Was für ein Unsinn«, schimpfte die Mutter. »Wie soll es denn in meine Jacke oder mein Brillenetui gekommen sein? Da müsst ihr euch getäuscht haben. Das ist von irgendwo anders heruntergefallen.«

»Von wo denn? Von der Decke vielleicht?«, fragte Chris

Seine Mutter schaute nach oben.

»Na ja, von dort vielleicht nicht. Aber die Spinnweben könntet ihr auch mal wieder wegmachen.«

»Mama!«

»Du willst doch wohl nicht allen Ernstes behaupten, dass unsere Mama das Armband eingesteckt hat!«, schrie Henning.

»Vielleicht aus Versehen?«, meinte Anja. »In Gedanken? Hast es vielleicht gefunden, eingesteckt und dann vergessen?«

»Bin ich etwa senil, oder was?« Böse funkelnd sah Chris' Mutter Anja in die Augen.

»Nein. Du hast recht. Senil bist du nicht«, sagte Anja und schaute zu Henning.

Der wich zurück. »Was glotzt du jetzt mich an? Ich war das auch nicht.«

»Und wieso verteidigst du dich, obwohl dich niemand angeschuldigt hat?«, fragte Anja.

»Du beschuldigst mich doch schon die ganze Zeit!«.

»Es wird vor allem Zeit, dass wir abreisen«, rief die Mutter. »Das Armband ist wieder da, alles andere ist jetzt egal. Und gebraucht werden wir auch nicht mehr. Komm Henning!«

Sie streckte Anja das Armband entgegen, wobei sie es wie automatisiert leicht in der Hand wog, zuckte, zog die Hand zurück, drehte das Armband nach innen und hielt es sich dicht vor die Augen. »Das ist ja doch nicht echt!«, sagte sie. »Pff! Und dafür so ein Theater. Also so was. Mir reicht es jetzt.« Sie ließ das Armband in Anjas immer noch ausgestreckte Hand gleiten. »Und von dir bin ich jetzt auch sehr enttäuscht!« Sie sah Chris an, schüttelte heftig den Kopf und blies die Luft zwischen den Zähnen aus.

»Wie bitte? Was redest du denn? Ich habe euch doch sogar das Zertifikat gezeigt!« rief Chris.

»Das ist leicht wie Blech und hat nicht mal einen Stempel«, sagte seine Mutter.

»Das kann nicht sein«, rief Anja und drehte das Armband in ihrer Hand.

Chris rannte zum Sideboard, auf dem noch immer die Schmuckschachtel lag, klappte sie auf und drehte sich zu ihnen um: »Das Zertifikat ist weg.«

»Das wird ja immer schöner«, rief Henning. »Mama, die verarschen uns. Vielleicht war es sogar deshalb verschwunden, damit wir nichts merken. Das war nie echt.«

»Oder …«, er blickte Anja scharf an, »... damit wir für einen Schaden aufkommen, den es nie gegeben hat! Deshalb auch die Drohung mit der Polizei.«

»So eine Frechheit«, rief Anja und suchte das Armband mit ihren Augen ab. »Es hat wirklich keinen Stempel.«

»Das Armband war echt«, flüsterte Chris und sank in den nächstbesten Sessel. »Ich schwöre es.«

»Und jetzt hat es sich, schwuppdiwupp, in ein unechtes verwandelt?« Sein Bruder lachte.

»Aber das Zertifikat …«, sagte Chris.

»Geh mir fort mit dem Zertifikat«, rief Henning. »Wer hat es richtig gelesen? Gab es das überhaupt?«

Niemand antwortete.

Anja blickte Chris an und sog hörbar die Luft ein. »Hast du es vielleicht verschwinden lassen, damit deine Mutter mich nicht drauf bringt, dass es unecht ist?«

»Waaaas? Ja spinnt ihr denn jetzt alle?« Chris lief rot an, ging im Zimmer auf und ab und raufte sich die Haare.

Henning schüttelte den Kopf und feixte: »Was für eine Familie. Aber zum Glück bin ich ja jetzt aus dem Schneider.«

»Von wegen!« Chris sprang auf und packte ihn am Kragen seines Polohemdes. »Hast du etwa ein billiges Imitat anfertigen lassen, um das echte zu Geld zu machen? Und hast es dann Mama in die Jacke gesteckt?«

»Lass – so–fort – deinen Bruder los! Sonst vergesse ich mich!«, zischte seine Mutter, nahm einen Kerzenständer und schlug Chris damit auf den Rücken.

Chris fuhr zu ihr herum. »Wusstest du etwa Bescheid?«

»Bescheid über was?« Seine Mutter ließ die Hand mit dem Kerzenständer sinken.

»Aber du glaubst mir doch, oder?«, wandte sich Chris an Anja.

»Ich weiß gar nicht mehr, was ich glauben soll«, erwiderte diese tonlos.

Henning zupfte seine Kleidung zurecht. »Ihr seid doch alle komplett bescheuert! Vielleicht bist du ja auch einfach einem Schwindler aufgesessen, Bruderherz. Daran schon mal gedacht?«